Dreimal schwarzer Kater vom Moordrachen
4. Kapitel

Ihre Hände waren bisher zu Fäusten geballt, doch jetzt öffnet sie diese und streckt auch sie langsam in die Höhe. Gleichzeitig tauchen – für mich völlig unerwartet – kleine Flammen am Rand des Nebels auf, die sich ringsum rasch ausbreiten und ihn schließlich nach wenigen Augenblicken komplett umschließen. Plötzlich, jetzt da sich die beiden Enden des Flammenbandes berühren, ändert sich die Farbe des bisher rötlichen Feuers in gelb und kurz darauf langsam in grün, vereinzelt mit bläulichen Flammen durchsetzt. Keine Flamme ist wesentlich höher als der gegenwärtige Abstand vom Boden zu meinem Bauch. Aber ich erkenne die gewaltige Magie, die in ihnen steckt. Ich spüre sie, obwohl ich so weit weg von den Flammen stehe. Auch meine Gefährten werden leicht unruhig, versuchen offenbar jedoch sofort, es – vor allem mir – nicht offen zu zeigen.
Jetzt senkt Hagadschusa ihre Arme langsam, streckt sie waagerecht nach vorne aus, zuerst mit den Handflächen nach innen, als wolle sie in ihre Hände klatschen, dreht sie dann aber nach unten.
Nur ein einziges Wort sagt sie nun so leise, daß ich es beinahe nicht hören kann; es klingt etwa wie „Ku-óra". Daraufhin lichtet sich der Nebel ein wenig, auch die Blitze lassen etwas nach, schlagen dafür wesentlich häufiger in den Boden ein – und zwar fast immer genau in die Mitte des Flammenkreises. Manchmal aber erscheint auch ein wirbelnder Kugelblitz – in Blau und Weiß schillernd – und zerplatzt schließlich exakt über diesem Mittelpunkt.
Nun erkenne ich auch weitere Geister, fünf, sechs oder noch mehr, alle innerhalb des Flammenrings. Wild fliegen sie umher, durchdringen sich vereinzelt gegenseitig, umschwirren die Blitze. Ob sie aber einen wirklichen Zweck erfüllen, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
Urplötzlich bebt die Erde unter unseren Füßen! Es kommt so überraschend, daß ich beinahe umgeworfen werde. Erst nach einigen Augenblicken – das Beben läßt inzwischen nach – schaffe ich es endlich, mich wieder auf die Ereignisse im Feuerkreis zu konzentrieren. Und es wirft mich erneut beinahe um – diesmal vor Schreck und Entsetzen!
Dort, wo eben noch die Blitze eingeschlagen haben, genau dort reißt gerade der Boden auf. Ein Loch öffnet sich, dicker, schwarzer Rauch steigt bis weit in die Wolken empor, ersetzt innerhalb weniger Augenblicke den gesamten Nebel; nur die hellsten der Blitze und die weiterhin umherfliegenden Geister kann ich noch gelegentlich erkennen. Doch auch der Rauch dünnt langsam aus, so daß nun die nahezu baumhohen dunkelroten und violetten Flammen zu sehen sind, die aus dem Loch herausschlagen, wild um sich zu peitschen scheinen.
Dann erschrecke ich schon wieder! Plötzlich sehe ich zwei Gestalten inmitten der Flammen und des Rauches auftauchen. Ich kann nur deren Umrisse undeutlich erkennen, doch eines sehe ich ganz genau: Menschen oder andere ‘normale’ Lebewesen sind dies nicht. Sie sind etwas größer als Menschen, haben einen langen, buschigen Schwanz – fast wie der von Füchsen –, und zwei kurze, gebogene Hörner wachsen aus ihren Schädeln. Dann erscheinen zwei weitere düstere, hochaufragende Gestalten, schließlich noch eine fünfte. Auch wenn sie sich in Einzelheiten von den beiden ersten etwas unterscheiden, so bin ich mir sicher, daß sie zu der gleichen ‘Art’ gehören. Gerade als auch noch ein sechster dieser Dämone erscheint, löst sich der Rauch endlich auf, auch die Flammen, aus denen die Dämone scheinbar entstanden sind, werden kleiner und wirken schließlich nicht gefährlicher, als die Flämmchen des Feuerrings. Auch das Loch in der Erde ist plötzlich nicht mehr zu sehen.
Nun sehe ich die sechs Gestalten besser. Sie haben rotbraunes, einer mehr schwarzes Fell, stehen wie die Menschen aufrecht auf ihren Hinterbeinen, bei vier sind die Hörner nach oben gebogen, bei den anderen nach unten oder schräg nach vorn.
In diesem Moment springt einer auf Hagadschusa zu… und schreckt schreiend zurück, als er sich genau über dem Flammenring befindet. Ein zweiter – der mit schwarzem Fell – beginnt zu brüllen wie ein Braunbär, steigt in die Luft empor und startet einen Angriff, halb fliegend und halb springend stürzt er auf Hagadschusa zu. Ein markerschütternder, nervenzerschmelzender Schrei entrinnt seiner Kehle… und er sinkt zu Boden – innerhalb des Feuerkreises. Sichtlich erschöpft und schwer nach Atem ringend stolpert er schließlich zu den anderen fünf zurück.
Deutlich kann ich die Wut und den unaussprechlichen Haß, den sie Hagadschusa entgegenbringen, aber auch das für sie vielleicht bisher unbekannte Gefühl von Angst in ihren Gesichtern lesen.
Hagadschusa selbst kann ich zwar nur von hinten sehen, doch ich bin mir sicher, daß sie siegesbewußt grinst.
Auf eine knappe Handbewegung von ihr hin bewegen sich plötzlich die Geister auf die Dämone zu und dringen in deren Körper ein. Diese versuchen zwar offensichtlich, sich dagegen zu wehren, aber genauso offensichtlich ohne jeden Erfolg. Von diesem Moment an sehen die Dämone zwar noch genauso furchteinflößend und haßerfüllt wie zuvor aus, doch sie scheinen ihren Widerstand gänzlich aufgegeben zu haben, bleiben ‘friedlich’ in der Mitte des Flammenkreises stehen.
In einer mir völlig fremden Sprache beginnt Hagadschusa, zu den Dämonen zu sprechen. Ich verstehe nichts von ihren Worten, aber deutlich kann ich einen herrischen, befehlenden und auch zugleich triumphierenden Tonfall erkennen.
Zudem kann ich mir lebhaft vorstellen, was sie ihren neuen Untertanen zu sagen hat. Schon seit ich sie kenne, ja sogar seit Schlitzohr in jungen Jahren zu ihr gekommen ist, träumt sie davon, die anderen Menschen ihre Macht spüren zu lassen. Aber sie hat sich nie damit begnügt, ein paar wenigen dieses zweifelhafte Vergnügen aufzuzwingen; nein, es mußten immer mehr werden, möglichst viele gleichzeitig wollte sie beherrschen und unterdrücken, ihr Hab und Gut, ihre Reichtümer an sich reißen. Nun ja, einfache Bauern und Dorfhandwerker haben mit Reichtum wenig zu tun. So erkannte sie bald, daß sie ganze Länder und Königreiche braucht, um ihre Gier nach Macht und Vermögen zu befriedigen. In den letzten Jahren ist ihre Macht immer weiter angewachsen. Nicht zuletzt durch die Wut, die sich in ihr jedesmal angestaut und vervielfacht hat, wenn sie einer der anderen Menschen wieder einmal als ‘Hexe’ bezeichnete. Das konnte sie noch nie ausstehen, dieses Wort. Warum, weiß ich bis heute noch nicht; auch diese unbändige Gier nach Macht wird mir wohl für immer völlig unverständlich bleiben.
Zwar reicht ihre magische Kunst sicher nicht aus, um Tausende von Menschen gleichzeitig zu beschwören oder auf andere magische Art zu beherrschen, doch für ein paar – wenn auch äußerst mächtige – Dämone scheint sie mittlerweile stark genug zu sein.
Jetzt wird sie ihnen vermutlich die ersten Anweisungen erteilen. Sie wird ihnen sagen, welches Dorf sie zuerst dem Erdboden gleich machen, welchen Wald sie als nächstes verwüsten und welchen Fluß sie gleich darauf verdampfen lassen sollen.
Dabei bedient sie sich offenbar der großen Macht, die sie über die Geister hat, die sich nun in den Dämonen eingenistet haben.
Ich spüre das unbestimmte Gefühl von Angst, Ohnmacht und Grauen in mir aufsteigen. Vor allem letzteres sollte einem Kater – einem schwarzen noch dazu – eigentlich fremd sein.
Dann spüre ich einen harten Stoß an meiner Seite und zucke erschrocken zusammen. Silberhaar drängt mich zu gehen.
Ja, wir müssen endlich handeln. Wenn wir es nicht tun, dann…
Ich sehe Schlitzohr nirgendwo! Gerade eben war er noch neben Silberhaar gewesen. Ich sehe ihn sorgenvoll an, doch der nickt nur beruhigend. Er muß wohl schon auf dem Weg sein.
Vorsichtig schleichen wir uns näher an Hagadschusa heran, gerade so, als pirschten wir uns an eine leichtsinnige Maus an. Wir beschleunigen allmählich unseren Gang, denn sie scheint jeden Augenblick mit ihren Befehlen fertig zu sein, ihre Stimme klingt nun mit jedem Wort schärfer und unnachgiebiger.
Jetzt sehe ich auch Schlitzohr endlich. Er ist bereits bei ihr, nähert sich ihr von der Seite, ganz offen, als wolle er sie nur mal eben besuchen…
„Branka!" sagt sie halblaut ohne erkennbare Gefühlsregung, als sie ihn bemerkt. „Du warst lange weg – einfach so… Du mußt aber noch etwas warten, ich bin gerade beschäftigt. …wichtig."
Wir schlagen einen leichten Bogen ein, um weiterhin in ihrem Rücken zu bleiben, beschleunigen erneut, bis wir schließlich schneller als jemals zuvor rennen – genau auf Hagadschusa zu.
Doch sie hört uns, dreht sich zu uns um. Nur ihren Augen kann ich ihre Überraschung ansehen.
In diesem Moment springen wir. Aber sie schafft es, unseren Krallen einigermaßen auszuweichen; ich zumindest treffe sie nur am Arm – es reicht nicht, sie umzureißen. Auch Silberhaar gelingt es nicht; er jagt ihr seine Krallen nur irgendwo seitlich in die Hüfte.
Sobald ich wieder den Boden unter meinen Pfoten spüre, wende ich und hole in weitem Bogen zum nächsten Angriff aus. Ich schaue mich kurz um.
Silberhaar ist dicht hinter mir, Schlitzohr sitzt wie unbeteiligt neben Hagadschusa. Diese schäumt förmlich vor Wut, schreit uns hysterisch in der fremden Sprache an, die sie den Dämonen gegenüber bereits verwendet hat. Ihr Blick allein könnte uns töten, wenn sie diese Kunst beherrschen würde.
Dann erst fällt mir etwas auf: hatte ich nicht etwas ungewöhnliches gesehen, als ich sie angesprungen habe, als ich sie umzustoßen versuchte? Etwas weißes… Licht.
Ja! Der Mond! Er muß jeden Augenblick hinter dem erhöhten, zerklüfteten Rand dieses Gipfels aufgehen. Der Vollmond! Ein kleines Fleckchen von ihm konnte ich gerade eben sehen. Aber das allein gibt mir schon wieder neuen Mut!
Ich schaue mich nochmal zu Silberhaar um, doch der scheint den Mond noch nicht gesehen zu haben, das würde mir sein Blick verraten…
Wieder stürmen wir gemeinsam auf Hagadschusa zu, diesmal etwas weiter voneinander entfernt. Hagadschusa setzt zu einem Zauber an. Erstaunlicherweise vernachlässigt sie dabei in keiner Weise die Kontrolle der Dämone – oder besser: die Kontrolle der Geister, die ihr die Dreckarbeit abnehmen.
Ein gelbes Licht erscheint unmittelbar vor ihrer offenen Hand, formt sich augenblicklich zu einer weißen Lichtkugel. Plötzlich schreit sie auf! Schlitzohr hat ihr die Krallen in die Beine gejagt, daß sie sich beinahe nicht mehr aufrecht halten kann – aber nur beinahe.
Gleichzeitig mit Schlitzohrs Treffer schießt die Lichtkugel auf Silberhaar und mich zu, doch die Kugel schwirrt fast ziellos im Zickzack umher, fliegt zischend und drohend genau auf mich zu. Ich renne weiter, lasse mich nicht von meinem Angriff abbringen. Dann rauscht die Kugel zitternd nur um Haaresbreite an mir vorbei.
Ich springe erneut! Diesmal höher als zuvor, meine Krallen treffen ihr Gesicht, schneiden sich tief in ihr Fleisch hinein; sie schreit schmerzerfüllt auf. Und der Mond hilft mir! Jetzt sehe ich ihn wieder! Ich kralle mich an Hagadschusas Kopf und Brust fest… Genau in diesem Moment schafft sie es irgendwie, mir in die Augen zu schauen. Besser kann es nicht kommen! Ihr Blick ist voller Haß und Unverständnis, doch von Furcht keine Spur… Ein eigenartiger Mensch.
Unbeirrt schaue auch ich ihr tiefer und tiefer in die Augen, dringe in ihr Bewußtsein ein, breche ein, dränge ihre Gedanken zurück, zerbreche ihren Willen, verzehre wie ein Feuer ihre faulige Seele – und der Vollmond hilft mir, gibt mir Kraft.
Sie schreit wieder auf, schrill und unnatürlich, als entfliehe der Schrei den Tiefen der Hölle; mit letzter Kraft versucht sie, sich gegen mein Eindringen zu wehren, doch es reicht nicht…
Schlitzohr springt sie an, bringt sie so endlich zu Fall. Noch während sie dem Boden entgegenstürzt, stoße ich mich von ihr ab, springe von ihr und dem Feuerkreis fort.
Hart schlägt ihr Kopf auf der Erde auf, umhüllt vom aufwirbelnden schwarzen Staub. Ihr Kopf liegt nun innerhalb des Feuerrings. Nochmal brüllt sie wie ein Unwesen aus der Unterwelt, wälzt sich kraftlos hin und her, ihre Arme verkrampfen sich. Mit einem Mal fliegen wieder die sechs Geister umher, verlassen den Feuerkreis und eilen davon, als hätten sie noch ein Leben zu verlieren.
Die Dämone aber lassen sich nicht zweimal einladen und stürzen sich sofort auf Hagadschusa.
Ich wage nicht mehr hinzusehen, doch sie scheint ohnehin schon tot zu sein, ich höre sie nicht mehr schreien.
Erst nachdem ich auch die Freudenschreie – wenn es denn welche sind – der Dämone nicht mehr höre, schaue ich wieder hin. Die Flammen des Ringes fallen langsam in sich zusammen, dort wo eben noch Hagadschusas Körper lag, dort rauchen nun nur noch die verkohlten, nicht mehr einem Menschen zuzuordnenden Überreste vor sich hin. Das Loch im Erdboden hat sich wieder geöffnet und die erneut aufflackernden baumhohen Flammen verzehren langsam wieder die Dämone, doch sie scheinen sich nicht dagegen zu wehren. Vielleicht sind sie ganz froh, von unserer Welt nicht mehr allzuviel miterleben zu müssen, wer weiß…
Kurz darauf sind sie verschwunden, mit ihnen auch das Feuer, das Loch schließt sich, als ob es nie existiert habe. Nun hauchen auch die Flammen des Kreises ihre letzte Energie aus, die Wolken darüber lösen sich zusehends in Luft auf oder verteilen sich in alle Himmelsrichtungen.

Schlitzohr und ich sehen uns gegenseitig an. Wir sind beide erleichtert, erst jetzt spüre ich die gewaltige Kraftanstrengung, merke, daß meine Beine mich nicht mehr lange tragen werden, wenn ich mich nicht bald ausruhe.
„Wo ist Silberhaar?!"
Erschrocken folge ich Schlitzohrs besorgt suchendem Blick. Da sehe ich etwas, ein dunkler… Körper auf dem Boden… reglos…
Wir laufen sofort hin. Und erstarren vor Schreck!
Es ist Silberhaar. Die Lichtkugel…
Trauer erfüllt mich. Ich fühle, daß kein Leben mehr in ihm ist…
Als trauere die ganze Welt mit uns um ihn, legt sich ein sanfter Lichtschein auf ihn; der Mond steigt endlich langsam über den Bergrand, überflutet allmählich das ganze Tal mit silbergrauem Glanz.
Anders als Schlitzohr kann ich meinen Blick einfach nicht von ihm abwenden; ich kann – ich will nicht glauben, daß er sterben mußte… Wie entrückt starre ich in sein durch das Mondlicht leicht schimmernde Auge…
Sein Auge? War es nicht gerade noch geschlossen gewesen?
Wie ein Blitz durchzuckt mich ein Gedanke – nein, ein Gefühl, wie ich es noch nie erfahren durfte.
Ich schaue nochmal genauer hin… und Silberhaars Auge schließt sich kurz, um sich gleich darauf wieder zu öffnen – sein Auge scheint zu lachen. Langsam dreht er seinen Kopf, jetzt bemerkt auch Schlitzohr die Veränderung. Gemächlich setzt er sich auf, betrachtet uns erfreut und wendet schließlich seinen Blick dem Vollmond zu.
Die Freude, die mich, die uns erfüllt, verschlägt uns schlicht die Sprache.
Die Macht des Mondes, niemals hätte ich sie für so groß gehalten…
…und mir fällt auf, daß die silberweiße Strähne auf seinem Rücken ein klein wenig breiter und länger geworden ist… nur ein klein wenig…
 

...und nun gibt's noch  den Epilog!