Und wieder legte er sich in seiner dunklen
Höhle nieder und wieder wusste er, dass ihn Alpträume plagen
würden. Alpträume von dem Tag. Dem Tag vor 50 Jahren.
Er würde wieder ihr Gesicht sehen. So traurig und doch so ruhig.
Ein leises Jaulen entrann seiner Kehle.
Er fragte sich, wieso er sich überhaupt
noch die Mühe machte zu jagen, zu fliegen, zu... leben. Ohne sie
war doch alles sinnlos...
Endlich schlief er ein. Er träumte das,
was er jede Nacht träumte, schon 50 Jahre lang. Er träumte von
der schönen Zeit, als sie noch da gewesen war. Er träumte von
dem Wald, dem Plateau, von seinem Kampf gegen Drancor. Und dann davon,
wie Saradra vor ihm lag, die Augen schloss und ihre letzten Worte hauchte:
"Dann ist es gut..." Getötet von einem besiegten Urgetüm.
Sie hatten gewonnen... und doch verloren.
War es das wert gewesen? Es war der einzige
Weg gewesen. Ein Leben geopfert, um eine ganze Rasse zu retten. Warum hätten
es nicht zwei sein können? Dann wäre sein Leid nun Freud.
Er schritt durch einen langen Tunnel. An seinem
Ende war ein helles Licht. Es war Saradra. Er wollte zu ihr, doch umso
schneller er auf sie zustürmte, desto mehr schien sie sich zu entfernen.
Schließlich war sie wieder weg. Auch der Gang war weg. Lalec wollte
seine Flügel ausbreiten, doch er fiel und fiel und fiel...
Es war dunkel. Überall. Er spürte,
dass hier Verzweiflung lauerte; Verzweiflung, Trauer, Angst... Er wollte
weg von hier, davon fliegen, nur schnell weg. Doch es ging nicht. Da saß
er, umhüllt von dunklen Schatten, in ewiger Finsternis.
Lalec erwachte. Er hatte 50 Jahre Zeit gehabt,
doch hatte er es weder geschafft, die Ereignisse zu verarbeiten, noch hatte
er sich dazu durchringen können, wieder in seine Heimat zurückzukehren.
50 Jahre waren eine lange Zeit, selbst für einen Drachen. 50 Jahre
lang hatte er seine Heimat nicht gesehen, seine Freunde nicht gesehen,
überhaupt kaum einen Drachen gesehen.
Das Leben war trostlos geworden und Lalec
fragte sich immer wieder, weshalb er überhaupt noch leben sollte.
Einfach hinlegen und sterben, wäre das nicht viel einfacher? Doch
dann kam ihm immer wieder eins in Erinnerung: Immer, wenn er träumte
und Saradra vor sich sah, dann schien sie auf etwas zu warten. Einmal glaubte
er sogar gehört zu haben, wie sie ihm etwas zuflüsterte: "Bald
kommt der, der uns wieder vereint..."
Aber das war unmöglich! Saradra war tot,
gestorben am Gift eines uralten Monsters. Vereint könnten sie nur
im Tode sein. Sollte es bedeuten, dass bald jemand kommen würde, der
ihn töten würde? Jedes mal, wenn er darüber nachdachte,
zerbrach es ihm seinen Kopf. Irgendwie wäre es ja schön, wieder
mit Saradra zusammen zu sein, selbst, wenn Lalec dafür sterben müsste,
doch irgendetwas in Lalec wehrte sich dagegen, einfach zu sterben...
Dieser innere Konflikt begleitete Lalec überall
hin und bereitete ihm stets großen Schmerz. Und das schon 50 Jahre...
Er schlief wieder ein und träumte wieder
von Saradra. Sie stand vor ihm, in ihrer ganzen wunderschönen, blauen
Pracht. Sie sagte etwas, etwas was Lalec selbst im Traum nicht glauben
würde: "Ich bin da..." Sie drehte sich um und ging. Sie verschwand
in blauweißem Nebel. "Nein! Bleib bitte bei mir! Geh nicht weg! Nicht
schon wieder! Saradra!!!" Lalec wachte wieder auf, ließ aber die
Augen geschlossen.
"Träumst du jede Nacht von ihr?"
Lalec schreckte auf, neben ihm war jemand.
Er sah zwei leuchtende Drachenaugen. "Wer bist du?"
"Erkennst du mich nicht wieder? Habe ich mich
so verändert?" Der Drache, er war männlich, lachte. Als er grün
funkelnd ins Mondlicht trat, erkannte Lalec ihn.
"Drancor! Was willst du hier? Willst du dich
darüber lustig machen, wie es mir geht?"
Der grüne Drache senkte den Blick. "Nein..."
antwortete er. Lalec meinte, Scham aus seiner Stimme herauszuhören.
"Es sind viele Jahre vergangen. Ich weiß nicht, wie du dich verändert
hast, aber ich weiß, zu was ich geworden bin."
Lalec fragte sich, ob er tatsächlich
den Drancor vor sich hatte, der sich vor 50 Jahren noch an ihm rächen
wollte... auf grausamste Weise... Doch "dieser" Drancor klang verständnisvoll,
man könnte sagen: weise. Hatte er sich in nur 50 Jahren dermaßen
verändert?
"Ich habe inzwischen verstanden, was du damals
für Saradra empfunden hast."
Lalec verspürte einen Stich in seinem
Herzen, wie immer wenn er auch nur an ihren Namen dachte.
"Ich... Du... Ich kann nur erahnen, wie schlimm
du dich fühlst, aber glaube mir, ich habe auch gelitten. Nachdem ich
von ihrem Tod erfahren hatte trauerte ich zuerst nur um sie. Du weißt,
ich habe sie auch begehrt..."
Lalec konnte sich gut entsinnen. Ein Lächeln,
ja tatsächlich ein Lächeln, huschte über sein Gesicht, als
er daran dachte, wie sie Drancor immer wieder Abfuhren erteilt hat.
"Ich lebte ja schon vorher zurückgezogen,
du weißt vermutlich wieso. Ich schämte mich für das, was
ich Saradra antun wollte. Ich... es... man kann die Gefühle, die ich
hatte, nicht in Worte ausdrücken..." Er sah zu Boden. "Ich fragte
mich damals immer wieder, wie ich auch nur an so etwas denken konnte. Ich
war nicht in der Lage, mir selbst in die Augen zu sehen. Aber dann dachte
ich an etwas anderes: Ich hatte mich schändlich benommen, so schändlich,
wie man es sich nur vorstellen kann, aber..."
"Das ist nicht wahr...", warf Lalec ein. Er
erkannte, dass dies ein Drancor war, mit dem man reden konnte. "Du hast
es nicht getan, du hast rechtzeitig verstanden, was du tun wolltest..."
Drancor lächelte ihn an. "...aber als
ich daran dachte, wie du dich fühlen müsstest, blieb mir fast
das Herz stehen: Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, alles
geschenkt zu bekommen und dann wieder alles zu verlieren. Ich zerbrach
fast an diesem Gedanken. Ich fühlte mich schuldig. Ich habe mir Vorwürfe
gemacht, weil ich nicht gegen Saradras Feinde, sondern gegen ihren Freund
gekämpft habe. Ich warf mir immer wieder vor: Hättest du sie
beschützt, wäre sie noch am Leben. Ich hab nicht nur sie, sondern
auch dich getötet..."
Lalec war sprachlos. Drancor war immer ein
egoistischer Idiot gewesen, doch jetzt...
"Ich brauchte fast zwei Jahre, um mir nur
dieser Sachen bewusst zu werden. Aber als ich soweit war, wusste ich, was
mein neues Lebensziel war: Dich zu finden und mich zu... entschuldigen.
Mehr noch, mich... Wie soll ich es sagen?"
Er verstummte. "Kennst du die Geschichte der
glänzenden Quelle?"
Lalec dachte nach. "Du meinst dieses Märchen,
in dem ein Bruder seinen anderen von den Toten zurückholt, indem er
zu einer verzauberten Quelle geht?"
"Ja. Mir wurde klar, ich könnte dir nicht,
niemanden mehr unter die Augen treten, wenn ich dein Leben nicht wieder
`aufbauen` könnte. Also fragte ich Girdrar, ich fragte Irdrun, ich
fragte alle Drachen, die mir etwas sagen hätten können. Ich glaube
ich sollte dir danken, dass du niemanden von meinem `Ausrutscher` erzählt
hast, ich glaube, die hätten mich ansonsten zerrissen...
Auf jeden Fall sagten alle, es wäre nur
ein Märchen. Ich war aber wie besessen davon. Also flog ich weg. Ins
Land der Menschen." Er schauderte. "Warst du jemals dort? Zugegeben gibt
es Menschen, die ja in Ordnung sind, aber die meisten... `Oh nein, ein
Drache, hol doch jemand einen Drachentöter!`" Er hob einen Flügel.
An seiner Flanke verlief eine schnurgerade Narbe.
"Du kannst dir sicher denken, dass viele darauf
brannten, dieses gelbgoldene Zeug für meinen Kopf zu kriegen. Ein
Jäger schaffte es tatsächlich mich zu verwunden..." Er legte
sich wieder hin. "Also, wo war ich? Ach ja: Ich zog von einer Stadt zur
nächsten, immer versucht mit Magiern Kontakt aufzunehmen, ohne dass
diese gleich versuchten mich umzubringen. Sie sind bei den Menschen zweifelsfrei
die, die sich am meisten mit so etwas auskennen. Häufig musste ich
sie töten, weil sie mich für eine Bedrohung hielten und angriffen,
aber einige verstanden, dass ich auf einer Suche war. Doch konnten sie
mir alle nicht helfen. Bis auf einen...
Er hieß Israldakar. Er gehörte
zu den Mächtigsten unter den Menschen. Auch er verstand mein Anliegen
und er wusste, wonach ich suchte. Bis ich ihn fand, dauerte es jedoch weitere
30 Jahre..." Lalec zuckte zusammen. Drancor war 30 Jahre lang nur für
ihn im Land der Menschen umhergereist? "Er zwang mich ihm 15 Jahre zu dienen,
dafür gab er mir das, wonach ich suchte."
Lalec war sprachlos. Drachen dienten niemandem,
nicht einmal ihresgleichen und besonders keinem Menschen. Wieso hatte Drancor
es getan?
"Es kostete mich Mühe, meinen Stolz hinunterzuschlucken,
aber das war es wert:" Er fuhr mit seinem Kopf nach hinten und zog
einen Zettel, zwischen seinen Schuppen eingeklemmt, hervor. Lalec kam näher.
Es sah aus wie eine Karte.
Er blickte zu Drancor. "Die letzten drei Jahre
lang suchte ich dich, doch jetzt bin ich da... Das ist die Karte
zur glänzenden Quelle, an der selbst die Toten wieder lebendig werden..."
Lalecs Augen leuchteten auf. Die Toten lebendig?
"Bald kommt der, der uns wieder vereint..." Saradra hatte Drancor
gemeint. Lalec konnte es nicht fassen: Er würde Saradra wiedersehen!
Sie würde wieder bei ihm sein!
Er holte tief Luft und brüllte. Es war
ein freudiges Brüllen. Drancor lächelte. Lalec war drauf und
dran aus der Höhle zu stürzen. "Worauf wartest du? Los, lass
uns diese Quelle suchen!" Er schwang sich in die Lüfte. Drancor blieb
noch einen Moment am Boden. `Nun werde ich mich endlich entschuldigen können.
Ein Leben gegen zwei, ein fairer Tausch... Dann mal auf zum letzten Flug...`
Er hob ebenfalls ab.
Sie flogen und flogen, doch endlich machte
Lalec das Fliegen wieder Spaß. Endlich würde er Saradra wiedersehen!
`Ich werde Saradra wiedersehen, ich werde Saradra wiedersehen, ich werde
Saradra wiedersehen...` dachte er nur, von Glück erfüllt. Doch
ihm fiel auf, dass Drancor immer besorgter aussah und auch immer weniger
sprach.
Nachdem sie bereits sieben Tage geflogen waren,
sprach Lalec ihn darauf an.
"Ich kann mich nur immer noch nicht daran
gewöhnen, mit dir für etwas zu kämpfen. Immerhin warst du
der einzige, der mich je besiegt hat... und das zwei mal..."
Lalec wusste, dass mehr dahinter steckte,
aber er wollte seinen neugewonnenen "Freund" nicht dazu zwingen, ihm die
Wahrheit zu sagen.
Es dauerte weitere vier Tage, als sie ein
Gebirge erreichten, in dem sich, laut der Karte (die sie bei ihrem Flugtempo
zweimal fast verloren hätten), die Quelle befinden sollte. Der Eingang
zu der Höhle war auch gut sichtbar auf einer großen Lichtung
am Bergesrand. Sie landeten.
Lalec ging zuerst runter und hörte hinter
sich auf einmal ein "Whomb". Er fuhr herum. Drancor hatte sich auf einen
Hirsch gestürzt und biss bereits genüsslich hinein. Lalec wunderte
sich: elf Tage ohne Essen waren nicht wirklich viel für einen Drachen.
Drancor musste seine Gedanken erraten haben,
denn er sagte: "Ich sagte doch, ich war drei Jahre auf der Suche nach dir.
Ich war nicht soooo oft zum Jagen. Meine letzte Mahlzeit liegt mindestens
zwei Monate zurück, du hattest dich gut versteckt..."
Lalec grinste und beschloss, sich schon einmal
die Höhle anzusehen. Von außen schien sie vielleicht gerade
noch groß genug für einen Drachen zu sein, doch schon nach wenigen
Metern wurde der schmale Gang so groß, dass sich auch der Drache
ohne Probleme bewegen konnte. In weit erscheinender Ferne nahm Lalec ein
Schimmern wahr und begann, neugierig darauf zuzutrotten...
Er kam in eine gigantische Kammer und das
im wahrsten Sinne des Wortes: Er hätte ohne Probleme in die Lüfte
steigen und herumfliegen können. Jedoch blieb Lalec lieber am Boden
und bewunderte die Pracht, die diese Höhle zierte: Grässliche,
aber doch irgendwie schön anzusehende Dämonenstatuen, groß
wie Lalec selbst bildeten eine Art Gasse zum gegenüberliegenden Ende
der Halle. Auch gab es einige wirklich breite Säulen, die anscheinend
die gesamte Kammer abstützten.
Lalec hörte Drancors Stimme aus der Ferne:
"Ach ja; sei vorsichtig! Die Menschen erzählen sich seltsame Geschichten
über Gargoyle, die angeblich die Höhle bewachen sollen. Wer weiß,
ob da nicht vielleicht etwas dran ist..."
Lalec blickte sich um, bereit jeden Moment
angegriffen zu werden. Doch nichts geschah. Dort waren lediglich die sehr
lebendig gestalteten Dämonenstatuen.
"Was sind eigentlich Gargoyle, dieses Wort
habe ich noch nie gehört?" rief Lalec zurück.
"Der Legende nach sollen es Dämonen mit
großen Flügeln sein, die eine Haut aus Stein haben und sich
oftmals als Statuen tarnen, um anderen Lebewesen aufzulauern...", kam es,
begleitet von Schmatzern, zurück. Jeder der Lalecs Gesicht gesehen
hätte, wäre nun schon dabei sich über die dusselig Miene
des Drachen kaputtzulachen. Er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu
wissen, dass die ganzen Steinstatuen, die er eben noch bewundert hatte,
sich erhoben hatten, um ihn anzugreifen...
Er kauerte sich nieder. Sie kamen bereits
von allen Seiten. Grimmig rief er zum Eingang der Höhle: "Meinst du
Statuen wie die, die mich anscheinend gerade umbringen wollen?" Lalec hörte
ein ersticktes Brüllen und laut stampfende Schritte, Drancor war unterwegs...
Die Gargoyles verharrten um Lalec. Das verwunderte
ihn. Vermutlich war es doch nur eine List, um ihn hinterrücks attackieren
zu können. Unter lautem Gebrüll stieß er zwei Gargoyles
mit seinem Schwanz nieder und faltete ruckartig die Flügel aus. Dabei
traf er einen weiteren. Blitzartig fuhr Lalec in den Himmel. "Haha, holt
mich doch!" rief er ihnen übermutig zu. Und tatsächlich machten
einige der Wesen Anstalten, ihre steinernen Flügel auszufalten.
`Lächerlich, wie wollen die denn fliegen,
wenn sie aus Stein sind?`, dachte Lalec. Sein Gedanke wurde von Schmerz
abgelöst, als er auf seinen Flügeln schwere Gewichte und scharfe
Steinkrallen spürte: einige Gargoyles waren von hinten zu ihm hinaufgeflogen.
Krachend stürzte Lalec zu Boden und schon
war er von einer Schar dieser seltsamen Monster begraben, nur sein Kopf
war noch zu sehen. Er brüllte, denn schließlich war es nicht
gerade angenehm, von dutzenden Klauen traktiert zu werden. Doch plötzlich
spürte er neben dem brennenden Schmerz etwas anderes, warmes irgendwo
in seiner Magengegend. Instinktiv wandte er seinen Kopf den Steinwesen
auf seinem Rücken zu und erschrak zunächst, als aus seinen Nüstern
kleine Flammen schossen und einen Gargoyle auf seinen Hals ankokelten.
Er hatte noch nie Feuer gespiehen. Eigentlich
wäre diese Fähigkeit schon seit Jahren überfällig gewesen,
doch er nahm an, dass ihn seine fortwährende Trauer in seiner Entwicklung
gebremst hatte. Das klang einleuchtend: Nun, wo er ganz und gar nicht mehr
traurig war, konnte er anscheinend Feuer speien. Lalec wollte wieder brüllen,
doch diesmal vor Freude über sein neu entdeckte Fähigkeit, als
ihn schmerzhafte Krallen wieder in die Realität zurückholten.
Doch nun konnte er sich wehren, auch wenn
er seinen Körper, der ja unter dem steinernen Gewicht begraben war,
sich nicht rühren konnte. Lalec holte tief Luft und beim Ausatmen
schoss den Gargoyles ein Flammenmeer entgegen. Lalec hatte sich schon gefragt,
wie sich Drachenfeuer anfühlt, aber es schien für ihn nicht mehr
als wohlige Wärme zu sein. Die Gargoyles waren aber anscheinend nicht
dieser Ansicht: Einige zerfielen zu Staub, andere in ihre, sich trotzdem
bewegenden, Einzelteile, während wiederum andere kreischend davonstoben.
Lalec richtete sich wieder auf, gerade als
Drancor hereingestürmt kam. "Wer hat dich so zugerichtet, ich hab
Kampflärm gehört!"
Lalec lächelte trotz allem. "Ach, das
waren nur ein paar dutzend Steinmonster, die ich für Statuen gehalten
habe, weil mir ja niemand gesagt hat, dass die gefährlich sein könnten..."
Drancor sah betreten zu Boden. "Ups, das hab
ich dann wohl zeitweilig vergessen..." Er kam näher heran. "Die Wunden
sehen schlimm aus, geht es dir noch gut?"
"Du weißt, dass ich schon schwerere
Wunden hinnehmen musste... ich werds schon schaffen..."
Drancor ging nun voraus, immer wachend die
Umgebung betrachtend. Häufiger blitzten ihnen aus Ecken rote Augen
entgegen, doch niemand griff sie an. Sie erreichten das andere Ende der
Halle. Dort wurde die große Kammer wieder zu einem schmalen Gang.
Die Drachen waren kaum eine Minute unterwegs, als der Gang abrupt in eine
Felswand endete. Verblüfft sahen sich die Drachen an.
Drancor drehte sich um und schlug mehrmals
heftig mit seinem Schwanz auf die Wand ein, doch nichts passierte. Auch
als sie es mit Drachenfeuer probierten, kamen sie nicht weiter. Plötzlich
vernahmen sie hinter sich ein bekanntes Schlurfen: Die Gargoyles waren
wieder da!
Lalec wollte sie erneut mit Flammen bedecken,
doch da fiel ihm auf, dass sie wieder gut zehn Meter von ihnen entfernt
stehen blieben. "Warte, Drancor! Ich glaub, die wollen uns gar nicht angreifen."
Drancor hielt inne und sah erstaunt zu Lalec.
Dieser trat mehrere Schritte vor und senkte seinen Kopf, um auf der Höhe
der Steinwesen zu sein. Ein dunkelgrauer Gargoyle, der sich sogar noch
langsamer bewegte als die anderen, trat ebenfalls vor. Er hob eine Hand.
Lalec kam näher und schnupperte an ihr.
Sie roch modrig, dieses Wesen war sicherlich uralt. Er ließ zu, dass
der Gargoyle seinerseits Lalecs Schnauze und dann seine Stirn berührte.
Plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch Lalecs Kopf, als ob
sich die Klauen des Gargoyle geradewegs in sein Gehirn gebohrt hätten.
Bilder schossen vor seinem inneren Auge vorbei: Sein Kampf gegen Drancor,
Saradra, ihr gemeinsamer Kampf gegen den Phönixlindwurm, die Jahre
seiner Abgeschiedenheit, sein Gespräch mit Drancor, bevor sie aufgebrochen
waren...
Dann war es auch wieder vorbei und Lalec stolperte
jaulend zurück. Drancor knurrte: der Gargoyle kam bereits wieder auf
Lalec zu, nein; er ging an den beiden Drachen vorbei zur Felswand. Er strich
sanft über sie und schon trauten die Drachen ihren Augen nicht: Die
Felswand war verschwunden, einfach weg. Der Gargoyle-Älteste - dass
er dies war, wurde Lalec nun klar - trat wieder vor die Drachen, verbeugte
sich laut knackend und schlurfte hinter seinen Brüdern hinterher,
die den Gang wieder verließen.
"Was war denn das? Erst schlitzen sie dich
fast auf und dann machen sie uns die Tür auf?" meinte Drancor ungläubig.
Lalec glaubte zu verstehen: "Ich nehme mal
an, sie sollen testen, wer zur Quelle darf. Hätte ich sie nicht angegriffen,
hätten sie uns vermutlich auch nichts getan..."
"Das klingt irgendwie einleuchtend... Komm,
lass uns weitergehen, ich glaube ein Rauschen zu hören."
Lalec spitzte die Ohren. Tatsächlich,
auch er konnte ein fernes Plätschern vernehmen... War das die Quelle?
Die beiden Drachen eilten los und es dauerte
nur wenige Minuten, bis sie zu einem unterirdischen Bach kamen, der ihnen
munter glucksend entgegenfloss. Er roch frisch, nach Wald, nach Kräutern,
nach... Saradra. Für einen Moment meinte Lalec, Saradra in dem Wasser
gesehen zu haben. Er schleckte über das Wasser und zuckte zurück.
Es schmeckte warm, aber zugleich eiskalt, geschmacklos und zugleich nach
irgendetwas wirklich leckerem...
Lalec fühlte sich pudelwohl und bemerkte
plötzlich, dass sich all seine Wunden, die er in seinen Kampf gegen
die Gargoyles davongetragen hatte, blitzschnell schlossen.
Drancor beobachtete das Geschehen verblüfft.
Auch er senkte den Kopf, um etwas zu trinken, doch er stutzte. "Das Wasser
schmeckt genauso, wie jedes andere..." sagte er.
Lalec nahm noch einen Schluck. "Seltsam, jetzt
schmeckt es tatsächlich ganz `normal`..."
Immer noch über den verwunderlichen Bach
nachdenkend zogen sie weiter durch die unterirdischen Gänge. Es schienen
Stunden zu vergehen, doch plötzlich weitete sich der Gang und ihnen
schien ein helles Licht entgegen: sie waren wieder in einer großen
Kammer, doch diese war von einem hellen, warmen Licht erfüllt. An
der Decke tanzten wundersame Lichtflecken und als Lalec sah, woher sie
kamen, verschlug es ihm die Sprache:
Inmitten der Halle war eine Quelle. Die Fontänen,
die aus ihr herausschossen, waren deutlich größer als er selbst.
Umgeben war die Quelle von einer weißen, vollkommen makellosen Marmorwand,
die nur einen Eingang aufwies: einen großen, selbst für Drachen
überragenden, schillernden Marmorbogen direkt vor den beiden staunenden
Drachen.
Langsam, immer noch die Schönheit dieses
Ortes bewundern, traten die Drachen durch den Torbogen ein und wateten
durch das angenehm warme Wasser. An der gegenüberliegenden Seite des
Torbogens entdeckten sie einen glänzenden, silbernen Kreis. Als sie
näher kamen, erkannten sie eine Art Spiegel. Lalec japste nach Luft.
Dort war Saradra im Spiegel. Sie sah genauso aus, wie in seinen Träumen.
Sie wartete...
"Was führt euch her?" hörten beide
auf einmal eine durchdringende, laute, aber trotzdem sanfte Stimme. Sie
blickten sich um. Niemand war hier, außer ihnen. Doch Lalec hatte
bereits aufgehört, begreifen zu wollen: friedliche Dämonen, ein
Bach mit selbstveränderndem Geschmack, riesige Marmorbildnisse, wieso
denn nicht auch eine körperlose Stimme...
"Wir sind hier, ich bin hier, um dich zu bitten,
mir meine Partnerin Saradra wiederzugeben..." sprach Lalec laut in die
Leere.
Sofort antwortete ihm die Stimme: "Du kennst
die Gesetzte dieses Ortes?"
Bevor Lalec fragen konnte, was das bedeuten
sollte, warf Drancor ein: "Ja, die kennen wir!"
"Was kennen wir?", fragte Lalec an Drancor
gewandt.
Dieser sah ihn mit einem seltsamen Blick an.
Erst war er Mitleid erregend, doch dann kehrte eine nie gesehene Entschlossenheit
in Drancors Blick zurück.
"Wer von euch wird es sein?", fragte die Stimme.
Lalec war verwirrt. Wer sollte was sein? "Was
meint die Stimme?"
Drancor ignorierte ihn. "Ich bin es!"
"Du bist dir der Folgen deiner Entscheidung
bewusst?"
Er zögerte einen Moment, dann aber sagte
er: "Ja, ich bin mir der Folgen voll und ganz bewusst und ich werde sie
mit Stolz auf mich nehmen."
"So sei es!" sprach die Stimme gebieterisch.
Drancor sah wieder zu Lalec. "Der Magier erzählte
mir noch etwas: Man kann Leben nicht einfach geben. Leben kann nur durch
den Tod entstehen..."
Lalec ahnte, was Drancor sagen wollte, doch
er wollte es nicht hören. "Du meinst doch nicht... Drancor!"
Doch ein blauweißer Rauch waberte bereits
um die Beine des Drachen. Er lächelte: "Doch: Für jedes Leben,
dass gegeben wird, muss ein anderes genommen werden. So lautet das wichtigste
Gesetzt des Lebens."
Eine Träne lief über Drancors Wange.
"Schon seltsam: Selbst nach ihrem Tod tue ich alles für sie und doch
werde ich sie nicht mehr lebend zu Gesicht bekommen... schade. Aber trotzdem
wünsche ich euch beiden Glück. Glück, das ich niemals hätte
haben können, würde ich jetzt nicht das hier tun. Endlich kann
ich meine Schuld begleichen... Leb wohl, Lalec. Bitte richte Saradra aus,
dass ich mich für das entschuldige, was ich früher im Zorn getan
habe. Und bitte sage ihr auch... dass ich sie immer noch liebe. Aber sie
ist nun einmal für dich bestimmt... seid einfach glücklich und
denkt hin und wieder an mich..." Er lächelte.
Lalec stand nur da und konnte es nicht fassen.
Drancor wollte sein Leben geben, um Saradra zurückzuholen, die Saradra,
die er fast... das konnte nicht sein. Aber es war so, der Rauch stieg immer
höher und nur noch Drancors grünes Haupt war zu sehen. "Ich werde
dir niemals vergessen, was du für mich getan hast. Niemand soll jemals
wieder schlecht von dir sprechen, Drancor. Du wirst der legendäre
Drache werden, der nicht nur über seinen eigenen Schatten sprang,
sondern auch noch sein Leben für das Glück seines Erzrivalen
opferte..."
Drancor sah nur noch glücklich aus. "Lebe
wohl..."
"Lebe wohl...", flüsterte Lalec zurück.
Der Rauch verschwand und Lalec wusste, dass er Drancor nicht mehr sehen
würde. Er warf den Kopf in den Himmel und stieß ein wehleidiges
Brüllen aus, das so oft echote, dass man meinen könnte, es wäre
ein ganzer Klagechor gewesen...
Doch da waberte wieder Nebel auf. Lalec sah
zum Spiegel: Saradra war verschwunden! Hieß das?!
"Ich wusste, dass du kommen würdest..."
Lalec konnte nicht anders: er stürmte
zu Saradra und warf sie fast um. Die beiden Drachen tobten und tollten
umher, erfüllt von einer Wiedersehensfreude, die sich 50 Jahre lang
gesammelt hatte. Doch schließlich hielt Saradra inne. "Mir war, als
hätte ich noch jemand anderes gehört oder warst du allein hier?"
Mit bitterer Grausamkeit kam Drancor wieder
in Lalecs Gedächtnis und selbst seine Wiedersehensfreude konnte ihn
nicht völlig darüber hinwegtragen. Er schilderte Saradra kurz,
was geschehen war und was Drancor zu ihm gesagt hatte. Auch auf Saradras
Schnauze schimmerten Tränen. "Ich wusste, er war kein schlechter Drache.
Ich wusste es, trotz dem, was er mir einst antun wollte." Sie wandte sich
zum Spiegel. Dort war Drancor zu sehen. Er lag friedlich da und blickte
glücklich ins Nichts.
"Wir werden dich nie vergessen, das schwöre
ich", sagte Lalec mit einer todernsten Stimme. "Wenn wir jemals Kinder
kriegen sollten, werde ich ihnen als erstes beibringen, Drancors Namen
mit nichts als dem Wort `Ehre` zu verbinden..."
Saradra kuschelte ihren Hals an den seinen.
"Seine letzten Worte waren, dass wir glücklich werden sollen. Wir
sollten ihm den Gefallen tun..." Sie wechselte auf ihre fröhliche,
schelmisch neckende Tonart: "Und was das mit den Kindern angeht... Sowas
könnte ich mir sehr gut vorstellen..." Sie brummte in einem Tonfall,
den Lalec bei ihr noch nie gehört hatte, auf den er aber schon immer
gewartet hatte. "Ich glaube, wir sollten uns eine neue Höhle suchen,
meine liegt sehr weit abgelegen und ist viel zu klein..."
Sie wandten sich um.
"Ich könnte dich gleich ein paar alten
Freunden von mir vorstellen. Wir waren zwar erst recht... kratzig
zueinander, aber dann waren sie doch ganz nett..." meinte Lalec grinsend.
Drancors Augen folgten ihnen. Er lächelte.
"Werdet glücklich...", murmelte er und schlief ein...
© Arihpas
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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