Seraphina von Ayashi

 So weit ich zurückdenken kann, lebte ich auf der Straße. Ich wuchs auf, inmitten den Gassen der Stadt Winterfall, hoch im Norden von Faêrun, und musste mich unter den anderen Gassenkindern und Bettlern behaupten. Das Gesetz des Stärkeren regierte hier, und als Kind hatte ich es sehr schwer. Nur durch das seltene Mitleid und der noch selteneren Güte der anderen Bettler überlebte ich so die ersten Jahre.
 Später, als ich älter wurde und auf meinen eigenen Beinen stehen konnte, wurde auch ich hineingezogen in dieses Milieu, wo Diebstahl gang und gäbe war und Mord nur noch einen Schritt entfernt. Ich verabscheute dieses Leben und träumte immer von einem behüteten Leben und genügend Nahrung zum Überleben.
 Meinen Lebensunterhalt verdiente ich in dieser Zeit mit kleinen Diebstählen: Unaufmerksamen Händlern stahl ich ein paar saftige Früchte, ahnungslosen Marktbesuchern die Geldbörse. Doch obwohl ich mich tief unten auf der gesellschaftlichen Leiter befand, versuchte ich nicht noch tiefer zu sinken, indem ich meinesgleichen beklaute. Viele meiner Bekannten scheuten sich nicht, schlafende, meist auch schwächere Bettler um deren Beute zu erleichtern, obwohl diese so gut wie nichts besaßen.
 Die Jahre vergingen, meine Freunde wurden größer, doch ich hatte noch immer die Größe eines menschlichen Kleinkindes. Ich wurde verspottet, nicht beachtet und so manche versuchten mich zu übertölpeln, maßen wohl meine Fähigkeiten anhand meiner Größe, doch wie irrten sie sich!
 Ja, mein Glück war wohl, dass ich begnadet war: niemand war so geschickt, ausdauernd und klug wie ich. Mit meinem Alter bildete ich meine Fähigkeiten weiterhin aus, so dass ich bald eines der meist bewunderten, gefürchteten und respektierten Gassenkinder war. Jüngere blickten zu mir auf, und die anderen wagten es nicht, mir in die Quere zu kommen, sie fürchteten um ihre Beuten.
 Ich vollzog noch immer Diebstähle, doch wurde ich mutiger und suchte mir nun dickere Fische aus. Die reicheren Bewohner von Winterfall nahm ich ins Visier. Sie versprachen eine weitaus größere Beute zu liefern, doch erhöhte sich gleichzeitig auch das Risiko gefasst zu werden.
 Umso erfolgreicher ich wurde, umso mehr wurde ich bewundert und so manche fingen an, sich bei mir einzuschmeicheln, mir Honig um den Mund zu schmieren, in der Hoffnung, ich würde wohl meine Gewinne mit ihnen teilen.
 Zu dem Zeitpunkt wurde mir erst bewusst, wie einflussreich ich war und dass ich nun die Macht hätte, das Leben in den Straßen zu vereinfachen. Meine Freunde und ich gründeten eine kleine Bande und stellten Regeln auf: es gab eine gemeinschaftliche Kasse, das heißt, das Geld wurde gleichmäßig, den Bedürfnissen angepasst unter den Mitgliedern aufgeteilt, andere Bettler wurden nicht mehr ausgeraubt.
 Bei vielen anderen stießen wir auf Unverständnis und sie weigerten sich, sich uns anzuschließen. Doch es gab auch einige, die sich uns anschlossen. Die jüngeren, unerfahrenen Kinder profitierten wohl am meisten davon, sie waren nun von uns geschützt und bekamen unsere Hilfe, sowie Nahrung, soweit wir die entbehren konnten.
 So vergingen die Jahre und meine Bande vergrö?erte sich zusehends. Andere Bettler, die sich uns nicht anschlossen und uns beraubten, wurden von uns wieder beraubt, doch nahmen wir nur das weg, was uns sowieso gehört hatte. Mit der Zeit wurden wir erfolgreich und hatten auch schon einiges an Geld gespart. Unser Ziel war es, ein Haus zu besitzen, in dem wir leben könnten.
 
 Es war tiefe Nacht und die ganze Stadt schlief, außer den Wachen, die auf den Palisaden oder in den Straßen patrouillierten. Ich hockte unter dem Fenster des Gasthofes "zur Eiche", und beobachtete ein Fenster. Dahinter wohnte seit ein paar Tagen ein reicher Händler, der in Saus und Braus lebte, soweit er es sich leisten konnte.
 Das Kerzenlicht, das hinter dem Fenster stand, wurde von einer dunklen, großen Silhouette ausgeblasen. Es war still, nichts rührte sich. Ich wartete ein paar Minuten, bis der Händler meiner Meinung nach eingeschlafen sein müsste. Entschlossen kletterte ich am Efeu hinauf zum Fenster und geräuschlos untersuchte ich es nach Fallen, Alarmen. Ich fand eine kleine mechanische Falle und runzelte die Stirn, als ich deren Komplexität bemerkte. Ich zögerte kurz, war dieser Geldbeutel das Risiko, das ich auf mich nahm, wirklich wert? Doch als ich daran dachte, wie schwer der Beutel heute Abend gewesen war, als der Händler die Treppe hinaufgestiegen war, verflogen alle Zweifel. Ich biss auf die Zähne und untersuchte den Mechanismus. Dafür nahm ich mir sehr viel Zeit, denn ich wollte kein unnötiges Risiko auf mich nehmen und die Wache würde sobald nicht mehr hier vorbeikommen.
 Ganz vorsichtig, so als würde ich ein rohes Ei in den Händen halten, versuchte ich den Mechanismus zu entschärfen. Ein paar Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn, doch nach kurzer Zeit vernahm ich das typische Geräusch der Riegel, die einrasteten, wenn eine mechanische Falle entschärft war. Erleichtert wischte ich mir den Schweiß aus der Stirn und öffnete geräuschlos das Fenster. Dann stieg ich lautlos und flink in den Raum ein und schloss das Fenster wieder.
 Auf Zehenspitzen näherte ich mich der großen Truhe, die am Fuße des Bettes stand, da ich vermutete, dass der Händler seine Geldbörse darin verstauen würde. Ich warf einen Blick auf die im Bett liegende Gestalt. Die Bettdecke hob sich in gleichmäßigen Abständen: der Händler schlief tief und fest.
 Doch gerade als ich mich vor die Truhe hocken wollte, um sie aufzusperren, da ertönte eine tiefe Stimme: "Nun, bist du endlich gekommen?"
 Erschrocken fuhr ich hoch und entdeckte, dass der Mann im Bett sich aufgerichtet hatte.
 Verwirrt wich ich nach hinten aus, näher zur Tür, die in einen Flur führte.
 "Die Tür ist versperrt, da kommst du so schnell nicht heraus!", meinte der Mann, "warte einen Moment, ich zünde nur schnell die Kerze an, damit ich dich mal sehen kann."
Während er seinen Worten Taten folgen ließ, plapperte der Mann munter weiter. "Weißt du, du bist mittlerweile eine kleine Berühmtheit, hier in den Straßen von Winterfall. Die Bettler haben nur noch deinen Namen im Munde, so dass ich nicht umhin konnte, mich zu vergewissern, dass all diese Geschichten über dich auch stimmen. Aber komm doch näher, und setze dich zu mir aufs Bett!"
 Zögernd trat ich näher zum Bett in den Lichtschein der Kerze, was blieb mir auch anderes übrig? Kritisch beäugte ich den Halbelf, der auf dem Bett saß und eine Kerze in der Hand hielt. Er trug noch immer die Kleidung, die er auch im Schankraum getragen hatte, doch hatte er die Schuhe ausgezogen.
 "Setz dich nun zu mir!", sein Tonfall wurde schon befehlender und mit einem Seufzer gehorchte ich, hielt jedoch meinen Abstand zu ihm.
 "So, ich bin Soveliss und Mitglied der hiesigen Diebesgilde, 'the Valerious Knives'", stellte er sich vor.
 Erstaunt und perplex starrte ich ihn an. Von dieser Gilde hatte jeder Einwohner schon gehört. Es waren zwar Diebe, doch besaßen sie einen strengen Kodex, schlugen sich auf die Seite der Bestohlenen und setzten ihre Fähigkeiten ein, um Gutes zu vollbringen. Doch niemand wusste, wo sich diese Gilde befand, wer Mitglied war und vor allem hatte niemand in dieser Stadt gewusst, dass es hier einen Sitz geben würde.
 "Nun, ich weiß nicht, ob du schon von uns weißt, schließlich haben wir unsere Niederlassung in dieser Stadt vor einer eher kurzen Zeitspanne eröffnet, doch..."
 "Natürlich habe ich von dieser Gilde gehört!", unterbrach ich ihn.
 Ein Lächeln huschte über sein Gesicht: "Nun, das erspart mir ja wohl einiges. Seraphina, deine Fähigkeiten, sowie vollbrachte Taten sind im Munde aller einfacheren Leute. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, wärest du sogar imstande, einem Drachen das Ei unter der Nase weg zu stehlen, doch ich denke nicht, dass deine Fähigkeiten schon so weit ausgebildet sind. Jedoch ist nicht zu leugnen, dass du ein großes Potential besitzt und unter der richtigen Anleitung und Führung es sehr weit bringen kannst. Wir haben beschlossen, dich in unsere Gilde aufzunehmen, und dir die beste Ausbildung zukommen zu lassen, die wir aufzubieten haben, wenn du den Aufnahmetest bestehst."
 "Einen AUFNAHMETEST?", gedehnt sprach ich dieses Wort aus.
 "Ja, einen Aufnahmetest", nickte Soveliss. "Aber bevor du mich wieder unterbrichst, lass dir eines sagen, du hast ihn mit Bravour bestanden!"
 "Wie bitte?"
 "Ja, dein Test bestand darin, hier einzubrechen, was dir nicht nur gelungen ist, sondern du hast es auch in äußerst kürzester Zeit vollbracht. Ich denke, dass nicht mal unser bester Novize es so schnell geschafft hätte... Doch dies tut hier nichts zu Sache. Ich biete dir nun die Mitgliedschaft in unserer Gilde an, nimmst du an?"
 "Ähm... ich, ich denke schon." Meine Augen strahlten: Was waren das für Aussichten! Offizielles Mitglied in der Gilde! Die Bezahlungen für Aufträge waren bestimmt sehr hoch... Damit könnte ich schnell meinen Traum verwirklichen...
 "Gut, dann ist ja alles geklärt. Morgen Abend, wenn die Sonne untergeht, treffen wir uns hier, dann besprechen wir alles Nötige. Du kannst jetzt gehen."
 
 Das war die Wende in meinem Leben. Natürlich nahm ich dieses Angebot an. Leider musste ich mich damit von meiner Bande verabschieden, doch meine Freunde versprachen mir, sie am Leben zu erhalten und mich weiterhin zu unterstützen.
 Jahre der Ausbildung warteten auf mich und ich hatte nur noch selten Zeit, mich mit meinen alten Bekannten zu treffen, doch war ich froh, denn ich wusste, dass sie meine Bande weiterführten und wir unseren Traum sehr bald verwirklichen könnten.
 
© Ayashi
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