Der Reiter von Benedikt Julian Behnke
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... Und Blut fließt im Drachental ...

In den Tagen, in denen die Drachen begannen zu rebellieren, die Reiter von ihren imposanten Häuptern verbannten und Schreie des Zorns in den Himmel stießen, begann mir langsam zu dämmern, was die Menschheit schon immer falsch bei der Handhabung dieser grazilen Geschöpfe gemacht hatte und ich versuchte mein bestes, um meine Erkenntnis an die Spitze der Herrscher weiterzugeben.

Alles begann an einem eisigen Wintermorgen, als der Schnee sich wie ein endloser, weißer Teppich über die Landschaft geschwungen hatte und starre, verkrüppelte Schemen von morschen Bäumen daran erinnerten, dass der Wald, in dem ich mich befand, voll von mystischer Wunder und heroischer Abenteuer gewesen war. Doch in den frostigen Tagen des neuen Mondes zogen nur raue, kalte Winde durch die blattlosen Zweige und das andauernde Knacken und Knirschen der losen Äste hing als regelmäßiger Laut vor dem trüben, blassgrauen Schemen des Himmelszeltes. 
Mit mutigen Schritten trat ich aus dem steifgefrorenen Zeltgerüst, der Schnee umgab meine Füße wie feuchte Watte und das karge Licht der Sonne blitzte grell auf den leichten Wellen der Decke auf. Ich war nackt unter der waldgrünen Decke, die ich mir zum Schutz vor der Kälte um den Leib gewickelt hatte. Mein Haar war gut geschnitten, dennoch schweißverklebt und von der Farbe herbstlicher Kastanien und hinter meinen Augen verbarg sich Kraft und Ausdauer, und im Moment war mein Blick auf den Hauptmann vor mir gerichtet, dessen imposante Rüstung sich nicht einmal annähernd mit meiner kläglichen Bekleidung messen konnte. Seine Züge waren bedauernswert schroff, auf seiner Stirn schien ein Meer aus Falten gefangen zu sein und in seinen Augen spiegelte sich die Gutmütigkeit eines verständnisvollen Vaters. Die Farbe seiner Haut war weiß, dennoch gebräunt und von Wind und Wetter gegerbt und da seine Oberarme frei waren und nur annähernd von dem schützenden Wolfspelz um seine Schultern berührt wurden, sah ich seine Muskeln und erinnerte mich sogleich an meine kümmerliche, dürre Gestalt, die trotz ihrer hellen Reinheit und Unvernarbtheit keine echte Schönheit war und meine Züge waren eher einfach, dafür besaß ich große, knochige Hände, mit denen ich meinen Dolch wie einen verlängerten Arm und sogar noch besser schwingen konnte. Ein kleines Zucken hätte genügt und mein Gegner wäre ohne weiteres in den frischgefallenen Schnee gesunken, das Rot seines Lebenssaftes hätte sich wie eine Horde hungriger Wölfe in eine Schafherde in das blitzende Weiß gefressen.
"Ihr seid bereits wach, General, wie ich sehe." Ich nickte nur kurz und meine Brauen zogen sich fragend zusammen. Was vermochte Rùdger dazu getrieben haben, sich bei mir um diese Zeit des Tages blicken zu lassen? 
"Erklärt mir euer Anliegen, Hauptmann!" befahl ich kalt. "Ich toleriere es nicht, während dieser Tageszeit geweckt zu werden! Ihr wisst, dass ich mich nur nachts zu meinen Gäulen geselle! Was geht hier also vor?" Ich war nicht gerne freundlich zu meinen Untergebenen, denn dann erwies es sich oft, dass die Besagten sich über mein Wort erhoben und sich die Freiheit nahmen alleine zu entscheiden. Wenigstens wollte ich von neuen Plänen in Kenntnis gesetzt werden, aber wohlgemerkt nicht zu dieser Tagesstunde. Die Nacht war mein Element und ich bevorzugte nur dann zu reisen. Wir waren den Drachen bereits seit einigen Tagen auf der Spur und immer noch konnte ich das Heulen der riesigen, ledernen Schwingen in den Lüften hören. Es war eine Gabe, die sich wie von selbst nach einem Unfall ergeben zu haben schien. Was davor war, wusste ich nicht, es war, als wären einfach ein paar Jahre aus meinem Gedächtnis gestrichen worden, in denen viel passiert zu sein schien. Ich erinnerte mich nur knapp an den Unfall...

Der Mann lag bewegungslos unter einem direkt in der Mitte zerborstenen Stamm. Das Holz war morsch und überhangen mit Schlick und Algen, der nur ansatzweise feste Boden des Sumpfes war mit kleinen, silbernen Blättern übersäht, die den Schuppen der Drachen in den höchsten aller Lüfte glichen, silberweiß und makellos. Der Stamm selbst war bereits umgestürzt gewesen, noch bevor der rasante Unfall je stattgefunden hatte, und helles Kraut und Farngewächs spross hier überall empor, entfaltete sich wie zu neuem Lebe und öffnete seine Knospen in einer Kaskade der Herrlichkeit. Das Surren und Schwirren der kleinsten Insekten lag in der Luft und mischte sich mit dem zarten an- und abschwellen des Westwindes. Glasklare Perlen liefen wie Regentropfen über sein Gesicht und das Haar war windzerzaust und in den dunklen Strähnen hatten sich kleine, kostbare Blätter verfangen. Blut hatte sich hier und dort mit den vertrockneten Körperflüssigkeiten vermischt und löste bereits den verkrusteten Schlamm und den Dreck von der Haut.
Der Mann war bewusstlos und an seinem Hinterkopf klaffte ein großer, dunkelroter Fleck, und Lebenssaft tränkte die Erde. Er trug die Gewänder eines einfachen Gefreiten, ein rotes Wollhemd und darüber einen kleinen Lederschutz, Handschuhe und Stiefel aus dem gleichen, nussbraunen Material. Seine Gestalt war drahtig und abgekämpft, und in dem mit Eisen beschlagenen Gürtel hing ein schartiger, abgewetzter Dolch.
Der Mann öffnete die Augen und sein Blick blieb sofort an einem drohenden, riesigen Schatten am Himmel hängen, der von einem schnellen, blitzenden Etwas geworfen wird, das sich windschnell über das blanke Firmament des morgendlichen Himmels bewegt...

"General?" Erst jetzt erwachte ich aus meiner Trance und starre den besorgt vor mir stehenden Rùdger entsetzt an. Eher aus Scham als aus Wut warf ich ihm einen abfälligen Blick zu, machte eine wegwerfende Handbewegung und wollte ihn erregt anfahren, doch ich änderte meine Meinung, brach mitten in der Geste ab.
"Es ist nichts", sagte ich und schloss dabei kurz die Augen. "Was ist nun euer Begehr?" Etwas schien sich abrupt in dem Mann gewandelt zu haben, denn auch er schien plötzlich erstaunt und erschrocken zugleich zu sein. Doch schließlich fing auch er sich wieder und ich machte die gewohnte Gelassenheit Rùdger’s in seinem Gesicht aus. Seine blauen Augen blitzten beklemmt und er schien einige Zeit zu brauchen, um sich zu sammeln und dann vollends mit seinem Anliegen herauszurücken. Wie ich aber schnell an meinem unbehaglichen Gefühl erkannte, musste es eine schlechte Nachricht sein, die er mir überbrachte, oder es wurde mir einfach nur kalt unter den Fußsohlen. Schließlich wackelte ich etwas mit den Zehen und trat einige Schritte ins Zelt zurück, damit ich meine Füße an der tannengrünen Fußbodendecke meines Privatzeltes abstreifen konnte.
"Die Drachen, Sir, wir haben ihre Spuren entdeckt!" Ich lauschte auf. "Dreißig große Fußabdrücke zwei Meilen westlich von hier!" In meinem Hirn raste es. Sollten wir wirklich in den nächsten Tagen auf Drachen treffen?
"Wie lange?" fragte ich bestimmt und unterbrach den Hauptmann somit, der sich aber nicht beirren ließ und mit leicht gekränkter Miene weitersprach, während er den Kopf schüttelte und dabei das Haupt senkte, seine Blicke ruhten auf dem plattgetrampelten Schnee vor meinen Füßen:
"Das dürfte nicht unser einziges Problem sein..." Während ich Rùdger mit angestrengt zusammengekniffenen Augen - ich wollte sie vor der Helligkeit schützen - maß, fiel mir das große Schlachtross auf, das breitbeinig hinter dem Hauptmann stand und das nun lautstark zu wiehern begann, und die blonde Mähne hob und senkte sich im Wind, der Sattel bestand aus rotgefärbtem Leder und Silberknöpfen. Die weiteren Worte des Soldaten gingen fast in dem energischen Scharren des ungeduldigen Hengstes unter... "Sie kommen alle direkt auf uns zu, fünfzehn Drachen, die Feuer speien wie der Vulkan die Lava..."
Ein gellender Aufschrei zerriss die angeregten Unterhaltungen der Krieger, deren General momentan nichts besseres zu tun hatte als halbnackt im Schnee zu stehen und wild in seiner Phantasie zu kramen. 
Stille trat augenblicklich ein, als sich alle Hälse zum Himmel reckten.
Ein Heulen ertönte, unsagbar laut und markerschütternd, als würden tausend Schneeleoparden gleichzeitig Fauchen, und wie durch ein Wunder stimmten weitere, wie Pfeilgeschwirr sirrende Sirenen ein.
Und dann tauchten sie auf, duzende von sich schnell bewegenden Schatten, die unaufhaltsam näher kamen, der Klang von ledernen Schlingen hing in der flammenerhitzten Luft, und Krallen, Zähne und Klauen stießen beinahe im gleichen Moment aus den nebligen Schwaden herab, wie ein heißer Draht durch Butter... 
Die Drachen griffen an.
"Aufstellung, Männer!" brüllte ich so laut ich konnte und riss Rùdger’s Schwert aus der Scheide und als die Sonne auf das blankpolierte Metall traf, blitzte es auf wie in einer Sturmnacht. Die Waffe war sichelförmig und mehr als einen halben Meter lang und der silberne Griff war mehr als nur mit Edelsteinen verziert. Schnell stülpte ich mir die Stiefel über und legte den schweren Waffenrock an, das schwarze, verwitterte Leder war das einzige, was ich in den Momenten der Aufregung fand. Kurzerhand schwang ich mich auf das Ross des verblüfft dreinschauenden Hauptmanns und gab ihm die Sporen. Das Tier stieß ein lautes Wiehern aus und bäumte sich auf, doch ich hielt mich fest entschlossen im Sattel und trieb es zur Höchstform an, stürmte mit ihm in wildem Blutrausch über den Lagerplatz und erreichte mein Heer Soldaten, das sich bereist kampffähig gemacht hätte. Ein hellgleißender Feuerball aus gebündelter Hitze schoss aus den Wolken und ließ einige Zelte in einem Flammenmeer explodieren, Männer schrieen auf und stürzten von ihren Positionen. Die Luft war erfüllt von sengender Hitze, schwarzem Rauch und es regnete Holzsplitter und verkohlte Fetzen von Zeltplanen. "Wo bleiben die Enterhaken?" schrie ich wutentbrannt und hetzte meinen Gaul an, einmal um das halbe Lager zu jagen, um dann endlich die vermeintlichen hölzernen Geschütze, verknotet mit Seil und auf Rädern zu erblicken, die von ein paar Männern hergewälzt wurde. Insgesamt waren es dreizehn Enterhaken und nach einem kontrollierenden Blick langte ich mein Pferd um und ließ es halten, erhob die Schwerthand so, dass die Männer an den Geschützen mich sehen konnten.
Als die Hälfte der Drachen gedreht hatten und wieder zum Angriff ansetzten, riss ich die Klinge herunter und in der gleichen Sekunde, in dem sich die Enterhaken aus ihren Fassungen lösten und zischend in den grauen Himmel rasten, raste ein weiterer Feuerball heran, geschossen von einem dieser schuppenbedeckten Wesen, deren Kräfte weit über die der Menschen hinausgingen.
Flammen explodierten, eine Hitzewelle überflutete das Lager und Metallwinden und dicke Holzbalken wurden durch die Luft geschleudert und landeten krachend im Schnee. Die Explosion riss mein Tier von den Füßen und mich mit weg, schützend riss ich noch den Arm vors Gesicht und spürte, wie sich noch im gleichen Moment glühende Splitter mit der Präzision eines Scharfschützen in meinen Unterarm bohrten. Der Schmerz jaulte in mir auf und mein Arm schien innerlich zu brennen, Blut rann aus meinen Wunden und bildete seltsame Muster im Schnee, als ich direkt in das eiskalte Bett geschleudert wurde. Ich vernahm das sirrende Geräusch der Enterhaken und die der hinterherhuschenden Seile. Stahl bohrte sich durch schuppige Panzer und kreischte auf, als Funken stoben und riesiger Schatten den Halt verlor, vom Himmel fiel wie eine silberleuchtende Rakete. Durch meine von Schneeschleiern verdeckten Augen erkannte ich schwach, was geschah:
Der Drache stürzte. 
Und mit seinem Fallen schien etwas in meinem Hirn Klick zu machen...

Der Mann stürzt, über ihm ein großer Schatten; er rudert verzweifelt mit den Armen, Silber blendet seine Augen... Dann wird ihm schwarz und er hat einen Traum in der Kühle der sausenden Luft...:
"Du bist es, nicht wahr?" Die Stimme des Drachen ist voll und wohltönend. "Ich habe dich gesucht..." Er lächelt und seien mächtige, krallenbewehrte Hand legt sich auf die Brust des Mannes, der mit Eisenketten gefesselt auf dem kalten, harten Stein liegt, seine Gedanken sausen. Der Drache ist groß, seine feinen, ledernen Schwingen sind halb ausgebreitet und seine Augen sind gutmütig. Er spürt das Gewicht des silbernen Drachen, dessen Hautfarbe wie gesplittertes Eis leuchtet. Der Schwanz peitscht prächtig die Luft. "Es gibt nicht viele, die auf mir reiten durften. Doch du durftest, viele Jahre... Doch alles hat seinen Preis. Ich, Dragon, genannt die Silberschwinge, werde nun dein Gedächtnis löschen, sodass du keinem anderen erzählen kannst, was dich in den hohen Lüften hat ereilt. Und erst mit meinem Tod wirst du dich an alles erinnern können... Schlafe nun und wach jetzt auf!" Die Pranke drückt zu, fest und obsidianschwarze Krallen bohren sich durch den Brustharnisch des Mannes und Blut wird sichtbar...
Etwas hartes schlägt auf den Kopf des Mannes, ruft ihn für einen Moment in die Wirklichkeit des Lebens zurück, doch dann fällt er wieder, ein Regen aus silbernen Drachenschuppen und Holzsplittern begleitet ihn...

Nun wusste ich, was es mit diesen geheimnisvollen Geschöpfen des Himmels auf sich hatte, und ich bedauerte, dass Dragon nun tot war. Ich war Drachenreiter gewesen, und zwar der letzte aus diesem edlen Volk, doch aus irgend einem Grund hatte ich plötzlich begonnen, diese wunderbaren Geschöpfe zu jagen und nun hatte ich seine Quittung bekommen... Silberschwinge war tot und mit ihm, dem mächtigsten aller Drachen, verloren sich die anderen in den Lüften. Trauer erfüllte mein Herz so sehr, dass es zu zerreißen drohte und meine Augen sich mit Tränen füllten. Dort lag der geschundene Leib des Drachen, doch noch immer lag dieses mystische Glitzern auf seinem Panzer und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass das Tier mich anblicken und sagen würde: "Verräter! Reiten durftest du auf mir, die Geheimnisse der Lüfte erforschen und nun haben die Leute unter deinem Kommando eiserne Blitze in den Himmel gesandt, um mich und meine Brüder zu stürzen..." Ich versuchte mich zu verteidigen und schrie fast:
"Mein Gedächtnis war ausgelöscht! Was konnte ich denn anderes tun?" Ich wusste, dass ich nur phantasierte, doch der tote, blutüberströmte Drache ließ mir keine Ruhe und so stritt ich mich weiter mit mir selbst, bis es Abend wurde und meine Leute mich widerwillig aus dem eisigen Frost zogen. 
Aber kreischend schwang ich mein Schwert und erwischte einen Krieger nach dem anderen, während ich immerzu Mörder! Mörder! rief...

Dieser Tag ging in die Geschichte ein, als ein Mann allein Hunderte seiner eigenen Leute niedermetzelte und versuchte, sie von dem geschundenen Drachenleib fernzuhalten...

"Es ist ein Verbrechen etwas Schönes zu vernichten"

. -- Mergéth, Drachenreiter
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© Benedikt Julian Behnke
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