Die blaue Spinne von Ludwig Luderskow

Der Bruder des Todes ist der Schlaf. Es muß sehr kalt sein im Grab, so dachte ich mir, wie hier in diesem Zimmer. 

Das Haus, in dem ich mich befand, war kein kleines Haus, es verfügte über sieben einzelne Wohnungen. Der Komfort ließ zu wünschen übrig, aber ich hatte nicht das Geld für eine bessere Unterkunft und so fand ich mich damit ab, daß die Wände dünn waren und die Menschen, die mit mir im Haus wohnten, niederer Herkunft waren als ich selbst. Es zog der Wind durch die Fenster und Türen und nachts war es immer extrem kalt, so daß ich mich, in Decken eingewickelt, ins Bett legte oder auf den Stuhl an meinen Schreibtisch setzte. 

Das Haus war alt und hellhörig. Vor dem Kriege geschaffen, sah es durch seine Fenster, die wie Augen auf die Straße vor dem Haus schauten, Tod, Blut, Liebe und Krankheit.

In der Straße vor dem Haus stank der Rinnstein nach den Fäkalien der Einwohner; der Fußweg bestand aus gestampftem Lehm und die Straße war mit Schotter aus dem nahegelegenen Steinbruch versehen, der, festgestampft, der Straße das Bild einer riesigen gemusterten Schlange verlieh.

Die Fenster blickten starr auf die Szenerie, die ihnen geboten wurde. Frauen in langen schweren Kleidern huschten über die Straße. Kutschen holperten ihren Weg entlang. Ein Hund der nahe gelegenen Schmiede bellte und nachts hüllten die Gaslaternen die Szenerie der Eile und Hast in ein gespenstisches Licht... und der Mond sah stumm herab und summte leise sein Lied vom Tod.

Ich lebte in der untersten Wohnung, die anzumieten eine schlechte Wahl gewesen war. Das eine Zimmer blickte auf die Straße, das andere auf den großen Bogen einer Brücke.

Erstere Räumlichkeit war von der Farbe Blau durchzogen: blaue Vorhänge, ein blauer Teppich. An den Wänden hing eine Tapete aus blauer Seide, die meine Liebste mir mit blauem Samt überdeckt hatte, da die Tapete so alt schien wie das Haus selbst. Ein Schreibtisch aus schwarzem Ebenholz stand dem Fenster zugeneigt, vor ihm ein Stuhl, mit Leder überzogen; die Armlehnen verliefen sich in Verzierungen. Eine Petroleumlampe auf dem Tisch spendete mir oft bis spät in der Nacht Licht, da ich lange meine Arbeit nur nachts ausüben konnte. Tagsüber nämlich schob eine Unruhe meinem Denken einen Riegel vor.

Ich schlief beizeiten Morgengrauen ein und erwachte dann nach todesähnlichem Schlaf erst am frühen Abend. Ich liebte das Dunkel, so daß die Vorhänge im blauen Zimmer nie der Sonne Platz bieten durften. Bis auf ein Bild befand sich beinahe nichts mehr in diesem Zimmer, das ich für meine Studien der Medizin nutzte. Schreibpapier, ein Buch über die Anatomie des Menschen und das Tintenfaß mit Feder. Das Bild bot allerdings einen seltsamen Anblick, denn es war blau wie die Wand. Eine riesige Spinne war in der Mitte des Bildes in Blautönen in Szene gesetzt, auch ihr Netz ein Spiel der blauen Farben. Der Rahmen aus schwerer Eiche wirkte ein wenig erdrückend, doch ich liebte dieses Bild, das schon in dieser Wohnung hing, als ich einzog. Es faszinierte mich und doch überkam mich, so oft ich es betrachtete, ein leises Frösteln.

Ein Flur, klein, mit holzverkleideten Wänden und ebensolchem Boden, lebte jeden meiner Schritte in seiner eigenen Art mit. Oft bemühte ich mich, lautlos dahinzugleiten, aber wie ich auch immer den Boden berührte - er stöhnte wie die Stimme des Todes: dumpf, kalt und drohend. Er wehklagte dem Lebenden sein Leid, dem Toten seine Freude.

Der andere Raum, der sich hinter dem Flur befand, erschien dem Betrachter warm und herzlich. Gäste bevorzugten ihn, weil er in blutrot gehalten war. Dieser Farbton erschien wie der Puls des Lebens: klopfend und atmend. Das Fenster hier bot nur sehr ungenügend Licht, so daß auch hier zumeist die Vorhänge geschlossen waren. Alles war in einer Farbe in diesem meinen Heiligtum. Eine Wand mit Büchern umzog das Zimmer; bis an die Decke gestapelt war das Wissen der Zeit aus Medizin, Technik, Liebe, Zauberei und vielem mehr. 

Hier war eine große Petroleumlampe, ein schwerer, mit Leder überzogener Eichensessel und ein Waschtisch sowie ein Bett.

Meine Wohnung war klein, aber ich versuchte, es mir gemütlich zu machen. Ich hatte kaum Geld; mein Vater, ein reicher Graf, scherte sich nie auch nur einen Deut um mein Ergehen. Ein lästiges Übel war ich, seit ich mit der Liebe meines Lebens zusammengelebt hatte. Ohne Ehevertrag und ohne Segen der Familie hatte ich es gewagt, mich mit einer Bürgerlichen einzulassen. 

Hier in diesem Bett war ihr junges Leben in meinen Armen gestorben. Ich hatte geliebt, wie ich nie zuvor geliebt hatte und nie geglaubt hatte, fühlen zu können. Ihre Haut war von der Sonne leicht gebräunt - anders als der Teint der jungen Damen aus dem Salon, der eher leichenähnlich anmutet. Ihr Haar - strohfarben - leuchtete hell auf, wenn das Licht darauf traf. Ihre Gestalt war zart, fast zerbrechlich, ihre Finger waren trotz der Arbeit, die sie verrichtete, zart, und ihre Füße schwebten nahezu über den Boden. Wir liebten uns, seit wir uns das erste Mal gesehen hatten. Sie war Marktverkäuferin, bot Flechtarbeit, Flachs und Wolle feil. 

Als ich noch in meines Vaters Schloß wohnte, scheute ich Menschen. Meine Gemächer dort boten mir Schutz und Zuflucht und gaben mir keinen Anlaß, die Stadt aufzusuchen.

Aber an dem Tag, als ich sie kennenlernen sollte, zog mich etwas Unsichtbares nach draußen. Ich setzte mich auf mein Pferd und das Unsichtbare trieb mich direkt in ihre Arme. Wir sahen uns. Vergessen war der Lärm des Marktes, vergessen Ärger, Leid, oder Stand. Wir redeten nicht, wir sahen uns an. Sie schloß ihren Stand. Ohne zu sprechen, erreichten wir ihr Haus. Sie wohnte allein und wir liebten uns vor dem Feuer in ihrer Küche. Glücklich wollten wir andere an unserem Glück teilhaben lassen. Doch meine Familie lehnte meine Braut ab.

So zog ich mit ihr in diese Wohnung und wir verlebten eine schöne Zeit. Meinen Vater konnten wir nicht zu seinem Segen für uns bewegen. So zögerten wir auch trotz Liebe mit der Heirat.

Eines Tages klopfte an der Wohnung, erhellt vom Engel meiner Liebe, der Tod. Er trat ein, erfaßte das Herz der Liebsten und ließ mich Tage mit Hoffnung auf Heilung verbringen. Neben ihr schlafend, hielt ich ihren fiebernden Körper fest umschlungen. Der Tod klopfte zum zweiten Mal und raffte sie hinweg. Meine Liebe, meine Freude, mein Leben löschte er aus. Ich bahrte sie auf in meinem Bett. Mit weißem Linnen bezogen, lag sie dort für mich... auf ewig. Das Rot des Zimmers fand seinen Widerschein auf ihrem fahlen Gesicht und das Flackern der Lampe ließ ihre Züge lebendig erscheinen.

Die Trauer schwelte in meinem Herzen wochenlang. Das blaue Zimmer sah mich eines Tages wieder in die Studien der Medizin vertieft. Wortlos barg dieser Raum meine Trauer, langsam spürte ich wieder die Lust am Leben.

Eines Tages kehrte ich von der Universität heim. Ich öffnete die Haustür, trat ein. Ich begriff nicht gleich. Da war jemand im Treppenhaus. Das verzerrte Gesicht der alten Frau, die über mir wohnte, starrte mich aus Tiefen der Todesangst an. Ihre Arme und Beine waren grotesk verrenkt, zur Unnatürlichkeit verurteilt. Die Augen lagen in den Höhlen des Schädels und ihr Mund war aufgerissen, wie zum ewigen Schrei verflucht. Ihr alter, dünner Körper war umhüllt von etwas Blauem. Ungläubig schritt ich näher. Feine, blaue Farbtöne schillerten kalt von ihrer Kleidung und - setzten sich auf den Treppenstufen fort. Auch das Geländer - blaue Spinnweben hüllten das gesamte Treppenhaus in einen Irrgarten. Die Gestalt eines anderen Bewohners warf von oben einen Schatten. Zum Kotton verklebt, war er erstarrt. Die Gesichter dieser Menschen waren zu grauenhaften Masken geworden. 

Die blaue Spinne saß nicht weit von mir entfernt und sah mich an. Trotz der Szenerie des Verfalls hatte ihr Blick etwas nahezu Freundliches und plötzlich war mir, daß sie zu mir sprach:

"Du meinst, ich habe gemordet. Du warst und bist verschreckt. Diese Menschen, die du hier siehst, waren schon lange vorher tot. Ihre Gesichter waren Masken, die ich mir erlaubte, ihnen zu nehmen. Und dich lähmt der Schreck erst jetzt? Ist es nicht der Tod, der die Masken der Menschen abnimmt, ihnen ihre eigentliche Gestalt zurückgibt und sie alle gleichmacht? Ihr Menschen befindet euch seit langen in einem Spinnennetz eures Tuns, aus dem ihr für alle Zeit eures Daseins gefangen seid."

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Ich erwachte, kalten Schweiß auf der Stirn. Sollte ich dies alles nur geträumt haben, war mein Traum nicht so real, daß ich dies alles für Wirklichkeit hätte halten müssen. Ich wußte nicht mehr, ob Fiktion oder Wahrheit mir meine Liebste gaben und dann für immer entrissen. Und die blaue Spinne... ich fühlte mich so unwirklich wie in einem Traum, mein Kopf fühlte sich an wie ein Bergwerk.

Ich hatte Schmerzen in den Gliedern, dennoch zwang ich mich, vom Bett aufzustehen und ich wankte mit zitternden Schritten in das blaue Zimmer hinüber. Ich trat ein, es war kalt, und ich befand mich - inmitten eines Labyrinths aus dünnen blauen Fäden. Meine Augen suchten die Tür, erblickten aber nur die blaue Spinne aus meinem Traum. Bevor meine Sinne schwanden, hörte ich sie sagen: "Ich habe lange auf dich gewartet, Menschlein...."
 

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