Blazestorm 2007 (2) von Peter Lässig

Ein dunkler Schatten huschte über die im Mondlicht glitzernde Wasseroberfläche, als er seine Kreise über dem Genfer See immer enger zog und schließlich mit leichtem Plätschern in das kalte Wasser eintauchte. Der Drache begann sich zu säubern und genoss das Gefühl des kühlen Nasses an seinen Schuppen. Vorhin, beim Schlagen der beiden Hirsche als Beute, hatte er sich vorgestellt, er hätte diesen verdammten Menschen zwischen seinen Krallen. Wie war noch sein Name? René? Gut, sollte er ihm jemals begegnen, würde er dem Kerl die eine oder andere Lektion erteilen. Blazestorm war immer noch aufgebracht über das Verhalten dieses Reporters. Abgesehen davon musste er seinem Freund beistehen.

Nach dem Interview war Antonello völlig aufgelöst in den Stall zu dem Drachen gekommen und es bedurfte viel Geduld und Einfühlungsvermögen, bis sich der Mensch wieder ein wenig gefangen hatte.
Aber Blazestorm war weise genug, um zu erkennen, dass dieser Reporter wiederkommen würde, und dass Antonellos Leben von jetzt an nicht mehr dasselbe sein würde. Die einzige Lösung, die Blazestorm einfiel, war, den Hof und damit Antonello zu verlassen. Aber wie sollte er es Antonello beibringen? Er würde seinen Drachen niemals gehen lassen, nicht, nachdem sich zwischen ihnen dieses freundschaftliche Band entwickelt hatte. Würde er es in diesem Fall wirklich übers Herz bringen zu gehen? Wäre es wirklich das Beste für Antonello? Sicherlich, man würde keinen Drachen mehr auf seinem Hof vorfinden, aber die Leute waren nun mal abergläubisch und sie würden neidisch und verängstigt bleiben. Blazestorm seufzte.
Ja, Antonellos Leben hatte sich in der Tat seit der Ankunft des Drachens verändert.

Zum ersten Mal seit Monaten dachte Blazestorm wieder an seine ehemalige Heimat in einer vergangenen Zeit. Er erinnerte sich an sein früheres Leben, seine Gefährtin; der Verlust schmerzte noch nahezu unerträglich, aber der Wunsch nach Vergeltung war mittlerweile verflogen. 
Wäre es eine Option, ins sogenannte Mittelalter zurückkehren und Antonello einfach mitzunehmen?

Blazestorm erklomm einen natürlichen Damm aus großen Steinen und schüttelte sich wie ein Hund trocken, seine Schwingen dabei halb geöffnet.

Würde sich Antonello ihm anschließen?
Der Mensch empfand sehr viel für den Drachen und Blazestorm erwiderte diese Gefühle. Aber selbst wenn Antonello dem Plan zustimmen würde, wie könnten sie dorthin zurückkehren? Was hatte Blazestorm in diese Zeit katapultiert? Es musste doch eine Erklärung dafür geben.

Blazestorm seufzte.
"Menschen. Sie haben sich in den vergangenen Jahrhunderten kaum geändert. Es mag wohl ein paar Ausnahmen geben, aber die meisten von ihnen... nur Abschaum, so wie dieser Bastard von einem Reporter."
Der Drache blinzelte: Was hatte dieser Kerl doch nochmal auf Antonellos Frage, wie der Drache in diese Dimension gekommen sein sollte, geantwortet?
Nun, das ist genau der Punkt, wo ich noch am Grübeln bin. Aber ich kriege das schon noch raus, das verspreche ich Ihnen, zitierte Blazestorm.
Plötzlich schoss dem Drachen eine Idee durch den Kopf und er lächelte grimmig: "Ganz sicher wirst Du das, mein Freund. Aber Du wirst Dein Wissen dann mit uns teilen."

Blazestorm erhob sich in die mondhelle Nacht und flog zurück in die Berge. Ein ganz bestimmtes Auto, das auf einer der Straßen unter ihm entlang fuhr, entging dabei seinem scharfen Blick nicht...
 

***

René fühlte sich ein wenig unpässlich. Zwar hatte er die Party bereits vor Mitternacht verlassen, aber er hatte unvernünftiger Weise zu diesem Zeitpunkt bereits einiges an Alkohol intus. Er war auf einem Wohltätigkeitsball zugunsten von Waisenkindern gewesen, über den er einen Artikel für die Gesellschaftskolumne schreiben sollte. Nicht gerade die Art von Arbeit, die er schätzte, aber nichtsdestotrotz war das einfach sein Job als Reporter. Seine geplante Story über ein Fabelwesen, das tatsächlich in der modernen Welt lebte, würde noch so lange warten müssen, bis er mit ausreichend Beweismaterial wie Fotos und einer plausiblen Theorie aufwaten konnte. Er entschied sich, anstatt der Autobahn die Seeuferstrasse zu nehmen, um zu seinem Hotel zu gelangen. Dort war die Wahrscheinlichkeit einer Verkehrskontrolle wesentlich geringer, schließlich konnte er es sich nicht leisten, seinen Führerschein zu verlieren. Zu Recht hatte er ein schlechtes Gewissen, aber er hatte der Versuchung der erfrischenden Fruchtbowle, die auf dem Ball großzügig ausgeschenkt worden war, nicht widerstehen können.
 
Etwas glitt über sein Auto hinweg. Obwohl es nur für Sekundenbruchteile war, nahm René trotz der Promille davon Notiz. 
Er brachte seinen Wagen am Straßenrand zum Stehen und konnte noch flüchtig einen großen, schwarzen Vogel erkennen, der über dem See kreiste. Er sah aus wie ein riesiger Adler, oder war es eine große Fledermaus, oder aber... 
Noch bevor René einen klaren Gedanken fassen konnte, war der Schatten auch schon über dem dunklen Wasser des Genfer Sees verschwunden. Auf der Wasseroberfläche war trotz des hellen Mondlichts nicht die geringste Bewegung zu sehen. 
René wollte gerade den Zündschlüssel herumdrehen und die Fahrt fortsetzen, doch irgendetwas hielt ihn zurück. 
Schließlich stieg er aus und ging hinunter zum Wasser. Er setzte sich auf einen Steg und beobachtete das Glitzern des Mondlichts im Wasser. Es war eine sehr stille Nacht und nur das regelmäßige Plätschern des Wassers drang an seine Ohren. Plötzlich sah er es: Etwas Großes stieß durch die Wasseroberfläche und bewegte sich auf eine ufernahe Felsformation im Wasser zu. Instinktiv ging René im Ufergestrüpp in Deckung und starrte auf den Umriss im See: Ein Reptilienkörper, Flügel und glänzende Schuppen, die das Mondlicht reflektierten. Nur langsam fand die Erkenntnis ihren Weg in sein Gehirn: Er starrte gerade einen Drachen an, einen leibhaftigen Drachen. Mit seiner Geschichte, die Varini eigentlich nur aus der Reserve locken sollte, schien er der Wahrheit näher gekommen zu sein, als es sich René jemals hätte träumen lassen. Zutiefst fasziniert genoss er diesen unglaublichen Anblick. Die Versuchung war groß, zurück zum Wagen zu laufen, um die Kamera zu holen. Aber er wusste, dass er auf diese Weise die Bestie vertreiben würde. Er musste sich an ihre Fersen heften, um ihren Unterschlupf zu finden. Und wenn sie wirklich von diesem Varini versteckt gehalten würde, das wäre wirklich die Sensation. Einige Fotos von diesem Untier - er könnte sie an Zeitungen und Zeitschriften in aller Herren Länder verkaufen, Fernsehsender aus der ganzen Welt würden sich um das Material reißen. Vielleicht gab es ja sogar noch mehr Möglichkeiten, einen Drachen zu vermarkten. Auf alle Fälle konnte er nun eine Menge Geld damit verdienen und zudem noch berühmt werden.

René beobachtete, wie sich der Drache in die Lüfte schwang und spurtete zurück zu seinem Auto. Er wollte ihm auf seinem Weg zu seinem Zufluchtsort in den Bergen folgen. Es war nicht leicht für den Reporter, durch die Nacht zu fahren und gleichzeitig dabei den Drachen zu beobachten. Aber schon bald zeichnete sich das Ziel des Drachen ab und tatsächlich, knapp zwanzig Minuten später näherte er sich Antonellos Hof.
Also gut, Freundchen! Ich hab’s Dir gesagt, dass ich wiederkomme und ich werde wiederkommen. Jetzt hab ich Dich!

***

Blazestorm seufzte und schloss für einen Augenblick seine Augen. Vor der Landung auf dem Hof vergewisserte er sich noch, dass sein Verfolger seine Spur nicht verloren hatte. Danach brauchte er nur mehr geduldig abzuwarten; Menschen verhielten sich seit ehedem so vorhersehbar...
René wendete und parkte sein Auto einen guten Kilometer vom Hof entfernt. Er nahm seine Infrarotkamera, damit später kein verräterisches Blitzlicht den Bauern wecken würde. Langsam bewegte er sich auf das Anwesen zu. Er überkletterte ein paar Zäune und schlich sich vorsichtig zu dem großen Gebäude, das der Stall sein musste. Er nutzte jeden Schatten zur Deckung, um im hellen Mondlicht nicht entdeckt zu werden.
 
Der junge Mann schnappte nach Luft, als er plötzlich auf dem erdigen Boden etwas entdeckte. Es waren Fußabdrücke, sehr große noch dazu, und ohne Zweifel stammten sie von einem Reptil... 
Er kniete nieder und schoss einige Fotos von dieser Spur. Anschließend hastete er zu dem Stall. Er war davon überzeugt, darin dieses Untier vorzufinden und schon bald würde er die Fotos seines Lebens bekommen.

Als an seine empfindlichen Ohren das gedämpfte Geräusch von menschlichen Schritten drang, musste Blazestorm sich regelrecht zwingen, seine Augen geschlossen zu halten. Er konnte es sich bildhaft vorstellen, wie der Mensch versuchte, jeden Laut zu vermeiden und mit den nächtlichen Schatten zu verschmelzen, um nicht gesehen zu werden. Allerdings wusste der Mensch mit Sicherheit nichts über die schier unglaublich ausgeprägten Sinne eines Drachens: Mit seinen empfindlichen Nüstern hatte Blazestorm den Menschen bereits gewittert, als dieser sich immer noch am Zaun befand. Seinem Gehör würde nicht einmal eine Maus, die einen Kilometer entfernt durch eine Wiese huschte, entgehen und seine Sicht war bei Nacht um keinen Deut schwächer als bei Tageslicht. Schließlich öffnete sich langsam und vorsichtig die Stalltür. Blazestorm hatte sich zuvor vergewissert, dass er das Tor hinter sich nicht ganz geschlossen hatte, da Antonello um keinen Preis etwa durch ein quietschendes Scharnier geweckt werden durfte.

Leise schwang das hölzerne Tor auf und sofort stieg René jener eigentümliche Geruch in die Nase, der scharfe Raubtierdunst gemischt mit dem Duft von Leder und nassem Eisen. Ihm bot sich der wohl beeindruckendste Anblick seines Lebens: Wie eine Skulptur lag genau in der Mitte des Raumes der Drache, mystisch beleuchtet von dem durch das kleine Fenster fallenden Mondlicht. 

René kostete es all seine Willensstärke, dem Drang zu widerstehen, seine Hand nach einer Flanke des Drachens auszustrecken und das Tier zu streicheln. 
Der junge Mann war durch und durch ein Drachennarr und sein sehnlichster Wunsch, einmal einem leibhaftigen Drachen zu begegnen, hatte sich in dieser Nacht erfüllt. Ein Hauch von Eifersucht schlich sich in Renés Herz. Weshalb hatte das Schicksal diesem Varini den Drachen geschenkt und nicht ihm? 
Schließlich gewann jedoch seine kühle Professionalität wieder Oberhand und er machte einige Fotos von dem Geschöpf, das offensichtlich schlief wie ein Stein. 

René hatte etliche Bücher über Fabelwesen gelesen und er wusste eine Menge über Drachen, dennoch entging ihm, dass sich dieser Drache nur schlafend stellte. Kein Drache hätte es einem ihm unbekannten Menschen gestattet, ihm so nahe zu kommen, wie es der Reporter jetzt war. Aber Blazestorm wollte, dass René seine Bilder bekam, schließlich brauchte der Drache die Hilfe dieses Menschen, um seine eigenen Pläne zu verwirklichen.

Nach getaner Arbeit zog sich René leise zurück. Jetzt brauchte er nur noch eine gute Story dazu zu schreiben; sein Chef würde mit dem Ergebnis sehr zufrieden sein.
René hatte auf der Fahrt zurück zum Hotel bereits den fertig geschriebenen Artikel im Kopf. Als er sein Auto in der Garage parkte, fiel ihm auch schon eine passende Schlagzeile ein.

***

"An was denkst Du, mein Freund?" fragte der Drache und ummantelte liebevoll seinen Freund mit seinen Flügeln. Es war ein lauer Herbstabend und sie genossen gemeinsam das leuchtende Farbenspiel, das der Sonnenuntergang auf die umliegenden Bergspitzen zauberte. "Seit jenem Tag, an dem Dich dieser Reporter besuchte, bist Du so schweigsam. Das ist jetzt fast zwei Wochen her - nach der Zeitrechnung von Euch Menschen." 
"Ich krieg diesen verdammten Perrier einfach nicht aus meinem Schädel. Er schien sich seiner Sache so sicher. Als ob er Lunte gerochen hätte. Am Ende hat er es doch schon irgendwie rausgefunden, dass hier ein Drache lebt." 
"Schhhhhh", zischte Blazestorm leise. 
"Du solltest Dir wirklich nicht so viel den Kopf darüber zerbrechen, Antonello." 
"Also, jetzt versteh’ ich gar nichts mehr!" fuhr Antonello auf. 
"Schließlich bist Du derjenige gewesen, der so Panik geschoben hat wegen dem Kerl! Erinnerst Du Dich? Ich flehe Dich an! Bitte verrate ihm nichts von meiner Anwesenheit hier. Du hast mir mal erzählt, was sie mit mir anstellen würden, wenn sich mich entdeckten. Bitte, Antonello, ich habe Angst zu sterben, das waren doch Deine Worte. Und jetzt tust Du so, als ob das Ganze irgendein Spiel wäre."
"Aber, das hier ist tatsächlich eine Art Spiel, mein Freund!"
"Was? Wohl übergeschnappt!? Hat Dir die Sonne Dein Reptilienhirn eingetrocknet? Das soll ein Spiel sein? Also, für mich ist das hier bitterer Ernst. Wenn sie Dich entdecken, bin ich nämlich auch fällig. Wenn Du unbedingt in einem Tierversuchslabor verrecken willst, dann ist das Deine Sache. Dann verpiss Dich gleich! Ach, Menno, warum bist Du jemals hier in unsere Dimension gekommen? Warum bist Du mir über den Weg gelaufen? Ich wünschte, ich hätte Dich nie getroffen!" 
Antonello sprang auf und hastete ohne einen Blick zurück auf das Haus zu. Der Drache seufzte. Ein paar Äußerungen seines Freundes hatten ihn wirklich verletzt, aber er konnte den Menschen nur allzu gut verstehen. Wie erwartet hatte sein Erscheinen Antonellos Leben total verändert. Das dumme Gerede der Leute im Tal, das Interview, das alles brachte das Fass für Antonello zum Überlaufen. Blazestorm wurde langsam klar, dass Antonello noch einsamer geworden war, als er es vor der Ankunft des Drachens ohnehin schon gewesen war. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie so enge Freunde geworden waren, Seelengefährten sozusagen. 
Blazestorm folgte Antonello und legte sanft seine gewaltige Pranke auf Antonellos Schulter. 
"Beruhige Dich, mein Freund."
Er stupste ihn sanft mit der Schnauze an. 
"Ich kann Deinen Kummer nachempfinden. Komm, lass uns miteinander vernünftig reden." 
Der Drache zog Antonello zu sich heran. Schließlich ging der Mensch ein wenig widerwillig mit ihm zurück zum Stall. Sobald sie drinnen waren, drückte ihn der Drache fest an seine schuppige Brust. 
"Du wirst sehen, mein Freund: Alles wird gut, für uns beide. Vertrau’ mir einfach. Glaub mir." 
Der Drache streichelte mit seinen Tatzen den Rücken seines Freundes und alleine durch Blazestorms weiche Stimme, seinen warmen Atem und seine Berührungen fühlte sich Antonello bald um einiges besser. 

***

Es war Sonntag, der einzige Tag in der Woche, an dem Antonello gewöhnlich erst um sechs Uhr aufstand und nicht wie sonst um halb fünf. 
Aber es war nicht sein Wecker, der ihn aus dem Schlaf klingelte, sondern das Telefon. "Dreiviertel sechs. Welcher Penner ruft mich um diese Zeit an. Es ist Sonntag", knurrte er und schlurfte gähnend zum Telefon. 
"Jahh, pronto?" 
"Hör zu, Du Arschloch", die Stimme am anderen Ende war verzerrt und klang blechern. 
"Ich bring Dich um. Im Namen des Herren, brennen sollst Du, Satan!" 
"Hallo? Was zum ...", aber der Anrufer hatte bereits wieder aufgelegt. 
Antonello schüttelte den Kopf. 
"So ein Depp", er zuckte mit den Schultern und wollte gerade zurück ins Bett, als erneut das Telefon läutete. 
"Pronto?" 
Diesmal war eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung zu hören: "Signore Varini? Im Namen der Kirche der Jungfrau Maria lade ich Sie ein, dass Sie zu uns kommen zum gemeinsamen Gebet. Noch können Sie erlöst werden von diesem unseligen Dämon, der Sie heimgesucht hat." 
"Entschuldigen Sie bitte, ich verstehe nicht ga..." 
Wiederum wurde am anderen Ende einfach eingehängt. 

Das Geräusch berstenden Glases ließ Antonello erschrocken zusammen zucken. Ein Ziegelstein mit einer daran befestigten Nachricht hatte das große Wohnzimmerfenster zerschmettert: 
Teufelsanbeter! Komm sofort mit dem Drachen raus oder Dein Hof brennt!
Antonello spähte aus dem Fenster und war entsetzt. Draußen standen dutzende Leute, bewaffnet mit Gewehren, Knüppeln, Stöcken und anderen Utensilien, offensichtlich entschlossen, das Haus zu stürmen.
"Tod dem Drachen!"
"Varini steht mit Luzifer im Bunde!"
"Schnappt ihn, Leute, ansonsten sind wir alle miteinander verloren!"
"Erschlagt den Drachen und verbrennt Varini!"
Das waren noch die harmloseren Parolen, die zu hören waren.
Einige der älteren Leute bekreuzigten sich, als er an das zerbrochene Fenster trat.
Das erste Mal in seinem Leben hatte Antonello Angst. Er fürchtete um sein Leben, als er sich langsam zurückzog und das Haus durch den Hintereingang verließ.

"Wer sind denn die?" fragte Blazestorm neugierig.
Sein Schwanz peitschte vor und zurück.
"Ich könnte sie ein bisschen rösten."
"Bloß nicht! Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre", gab Antonello zurück.
Er hatte es irgendwie fertiggebracht in die Scheune zu kommen, ohne sich vom Mob draußen sehen zu lassen. In der Gegenwart des Drachens fühlte er sich viel besser. 
"Sie sind Deinetwegen da!"
Antonellos Stimme wurde durch sein Schluchzen gedämpft. 
"Sie haben von Deiner Existenz Wind bekommen und jetzt wollen sie Dich umbringen." 
"Warum müsst ihr Menschen immer versuchen, uns Drachen zu töten? Was haben wir euch getan?" 
"Sie fürchten Dich... und in Deinem Fall, gut, muss ich Dich wirklich an den Ritter erinnern, den Du umgebracht hast, oder an das Flugzeug, oder an die eingeäscherten Soldaten?" gab Antonello bitter zurück und bedauerte im gleichen Augenblick seine Bemerkung. 
"Es tut mir Leid, mein Freund. Aber was sollen wir jetzt tun? Da! Die versuchen doch allen Ernstes, uns anzugreifen. Die haben alle miteinander einen solchen Klopfer! Ich hoffe bloß, dass die Gendarmerie bald da ist."
 
Antonello und Blazestorm warfen einen Blick hinaus auf drei zu Allem entschlossen wirkende Gestalten, die dabei waren, den gepflasterten Platz vor der Scheune zu betreten. 
Der Drache begann zu knurren. 
Sie sahen zu, wie das Trio das Tor öffnete. 
Der Drache konnte sich nun nicht länger beherrschen. 
Mit glühenden Augen trat er einen Schritt aus der Scheune heraus und die Leute draußen schrieen in Panik und Zorn auf. 
"Da! Der Drache! Kommt. Los, lasst uns ihn hier und jetzt töten!" 
Aber niemand wagte es, sich auch nur einen Fingerbreit zu bewegen. 
Antonello schaute starr zu, als sein Freund tief einatmete, um sich für das Ausspeien seines tödlichen Atems vorzubereiten. Blazestorm wirkte immer bedrohlicher und seine Absicht war ziemlich offenkundig. 
Die Männer zögerten, berieten sich mit einander, zogen sich zurück - nur, um mit einer Schusswaffe auf den Drachen zielend, zurückzukehren. Aber bevor der Mann in der Lage war, den Abzug zu ziehen, hörten sie alle mehrere Polizeisirenen, direkt vor dem Gutstor, jaulend ausklingen. 
"Nun, die haben sich echt Zeit gelassen", seufzte Antonello. 
"Bitte, um unser beider Willen, bleib jetzt ruhig, Blazestorm. Und egal was passiert, ich liebe Dich, mein Freund." 
Der Drache atmete vorsichtig aus und erwiderte: "Ich liebe Dich auch, mein Mensch."
 Er stupste den Menschen sanft mit der Schnauze an, als sechs Polizisten erschienen.

"Sie haben sich wirklich ganz schön Zeit gelassen zu kommen", sagte Antonello sauer. 
"Ich werde heimgesucht von..." 
"Monsieur Varini?" unterbrach ihn ein Polizist überheblich. 
Antonello nickte. 
"Ich habe hier einen auf Ihren Namen lautenden Haftbefehl. Illegales Halten eines gefährlichen Tieres und Begünstigung eines terroristischen Aktes. Nebenbei, das Halten dieses Dings", er deutete auf den Drachen, "ist das Verbergen eines Staatsfeindes. Und das ist ebenfalls strafbar, Monsieur!" 
Antonello riss den Haftbefehl aus der Hand des Gesetzeshüters. Als die Beamten vortraten, gab Blazestorm ein warnendes Knurren von sich, kleine Funken sprühten aus den Nüstern des Drachens. Antonello überflog hastig das Dokument. 
"Jesus! Das ist alles ein schrecklicher Irrtum! Lassen sie mich erklären..."

"Sie kommen jetzt erst mal mit uns, Monsieur Varini, und dann können Sie alles dem Haftrichter erzählen. Sie haben das Recht auf ein Telefonat mit einem Angehörigen oder Ihrem Anwalt." 
"Ja! Zerrt den Wichser vor Gericht, der steht mit dem Teufel im Bunde! Und erschießt diesen Drachen!" schrie der Mob. 
Drei Polizisten versuchten, die Leute unter Kontrolle zu bringen und drückten sie zurück. 
"Meine Damen und Herren. Wir haben hier alles unter Kontrolle. Bitte gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit räumen Sie bitte unverzüglich dieses Gelände." 
"Tötet den Drachen!" schrie ein Mann. 
"Wir wollen den Drachen sterben sehen, erst dann werden wir gehen", fügte ein hysterisches Mädchen hinzu. 
"Das ist Angelegenheit der Polizei und nicht die Ihre, bitte gehen Sie jetzt." 
Aber die Meute dachte nicht daran, den Schauplatz zu räumen.
"Ja, nieder mit dem Drachen - wir wollen seinen Kopf!"

Nur Blazestorms Ohren vernahmen in all diesem Lärm die schwachen Kinderstimmen: 
"Nein! Bitte tut ihm nichts! Wir wollen den Drachen sehen." 
"Wow! Ein Drache!" 
"Wie heißt er? Darf ich ihn streicheln?" 
Aber die Kinder hatten keine Chance gegen die aufgebrachten Erwachsenen und auch die Polizisten konnten sie nun nicht mehr länger abdrängen. 

Und dann fiel dieser eine Schuss.

Später gab es dazu verschiedene Meinungen. 
Die einen waren davon überzeugt, dass einer der Polizisten einen Warnschuss in die Luft abgegeben hatte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, die anderen behaupteten, es wäre irgend jemand aus der Menge gewesen, der versucht hatte, den Drachen zu erschießen.

Wie auch immer, nach diesem einen Schuss geriet alles außer Kontrolle. 
"Passt auf, der Drache!" 
Das war das Letzte, was Antonello hörte. 
Antonellos verzweifeltes "Neeeiiinnn!" ging in einem ohrenbetäubende Brüllen unter. 
Der Mann bemerkte kaum, dass die Polizisten auf ihn zielten. Um ihn herum gab es nur noch das Drachengebrüll und die Panik erfüllten Schreie dutzender Menschen. Einige Angstschreie verwandelten sich plötzlich in Schmerzens- und Todesschreie. Blazestorm verschwendete keine Energie damit, die Leute mit seinem höllischen Feueratem zu vernichten. Er spielte lapidar mit ihnen, sie dabei mit seinem peitschenden Schwanz und seinen Klauen niedermetzelnd. 

Nach einigen Augenblicken war es auch schon wieder vorbei: Die Menschen flüchteten wie eine Rinderherde von Antonellos Hof, nur drei Leute blieben zurück, zwei von ihnen als zerfetzte Leichen in einer Pfütze aus dunklem Blut. 

"Oh mein Gott! Du hast sie umgebracht! Verdammt! Du hast sie alle umgebracht!" schrie Antonello, bevor er weinend und schluchzend zusammenbrach. 
Immer noch am ganzen Leib zitternd trat Blazestorm langsam zu seinem Freund und blickte auf ihn herab. Er wollte seine Flügel um den Mann legen, aber er wurde brüsk zurückgestoßen. 
"Du hast mein ganzes Leben ruiniert. Das Leben dieser Männer hier und das ihrer Familien. Die Leute haben Recht. Drachen sind böse Kreaturen des Teufels. Wir sehen uns dann in der Hölle!" 
Antonello schnappte sich eine herumliegende automatische Handfeuerwaffe und wollte gerade abdrücken, als er einen festen Griff auf seiner Schulter verspürte. 
"Varini! Nein! Hören Sie auf! Beruhigen Sie sich. Es ist vorbei!"

Antonello erkannte die eindringliche, aber doch zugleich auch besänftigende Stimme. 
"Perrier!"
Er wandte sich zu dem jungen Reporter um und funkelte ihn zornig an. 
"Sie verdammtes Schwein! Sie wagen es... Sehen Sie nur, was Sie mit Ihrem verdammten Artikel angerichtet haben. Sind Sie nun zufrieden? Jetzt haben Sie ja endlich Ihre Schlagzeile, was?" 
Der Landwirt versetzte dem anderen Mann einen Kinnhaken. Gleich darauf landete er einen Treffer mit der Faust direkt in Renés Magengegend. Dieser fiel in sich zusammen wie ein Sack Kartoffeln, aber Antonello war nicht mehr zu bremsen. Als er den nun hilflos am Boden liegenden Reporter mit Fußtritten traktieren wollte, schob sich der Drache zwischen ihn und René.
"Hör auf, er hat genug! Hör mich an, Mensch!"
Der Drachenblick hypnotisierte Antonello nahezu.
"Es tut mir Leid, was eben geschehen ist", keuchte René.
"Na toll! Es tut ihm Leid! Hat man das gehört? Ihm tut es Leid!" schrie Antonello hysterisch. 
"Ruhig jetzt, Antonello."
Obwohl der Drache mit ruhiger und sanfter Stimme sprach, spürte Antonello die darin liegende Autorität und er verstummte gehorsam.
"Dieser Mann hier ist gekommen, um Dir zu helfen. Um uns zu helfen."
"Uns zu helfen? Guter Witz!"

"Doch, genau deshalb bin ich hergekommen", stöhnte René und rieb sich sein Kinn, als er langsam aufstand.
"Sie? Und wie Sie uns geholfen haben! Schauen Sie sich doch mal um. Vielen, vielen Dank auch!" 
Antonellos Stimme troff vor Hass und Bitterkeit.
"Würden Sie vielleicht so nett sein und mir eine Chance zur Rechtfertigung geben?"
René tat sein Bestes, ruhig zu bleiben.
"Abgesehen davon liegt es in Ihrem eigenen Interesse, dass Sie mich anhören, uns läuft nämlich die Zeit davon."
"Er spricht die Wahrheit", sagte der Drache leise zu Antonello.
"Er hat keine bösen Absichten, das kann ich in seinem Herzen lesen."
"Ach so, ich verstehe, alles ganz harmlos, so wie damals bei dem Interview. Alles, was den interessiert, ist doch nur ein neuer Knüller für seine Zeitung!" 
Antonello schaltete auf stur. 
"Nein!" rief René. 
"Es geht um den Drachen!" 
"Also gut. Erschlagen Sie ihn und behalten Sie seinen Kopf als Trophäe!" 
"Sie sturer Bock! Haben Sie’s noch nicht kapiert? Ich will sein Leben retten... und dabei wohl oder übel auch noch Ihren Arsch."

***

Antonello schenkte sich noch einmal nach und las den Zeitungsartikel über Blazestorm zu Ende. 
"Sehen Sie, das ist alles. Ich habe mit keinem Wort den Drachen als Ungeheuer dargestellt. Ich schrieb nur über Drachen im Allgemeinen und dass auf Ihrem Hof möglicherweise ein Drache Unterschlupf gefunden hat. Und dass dieser Drache wahrscheinlich den Flugzeugabsturz verursacht hat", sagte René, nachdem Antonello ihm die Zeitung zurückgegeben hatte. 
"Das war aber genug für die Leute, um auf die Barrikaden zu gehen. Und nun fürchten sie mich nicht nur, jetzt hassen sie mich auch. Sie hätten niemals diesen Artikel schreiben dürfen." 
"Ich weiß. Und es tut mir auch wirklich unsagbar Leid, aber jetzt ist es nun mal passiert." Nach einigen Augenblicken fuhr René fort: "Auch wenn Sie’s mir nicht glauben. Aber ich liebe Drachen. Seit meiner Kindheit träume ich von diesen edlen Geschöpfen. Ich hätte alles dafür gegeben, einmal nur ein solches Wesen mit meinen eigenen Augen zu sehen." 
"So, so. Dann schau mich nur ganz genau an", knurrte der Drache freundlich und posierte prahlerisch vor René.

Sie saßen zusammen im Stall und berieten bei starkem Tee mit Rum und Keksen über die verworrene Situation.

"Mein Chef hat mich in diese Gegend geschickt. Bring mir eine Geschichte! Eine Gute, sagte er zu mir. Es sollte mein Karrieresprung werden. Als ich dann hierher kam und von dem Flugzeugabsturz hörte und diese Gerüchte über ein hier lebendes Ungeheuer aufschnappte... Naja, den Rest können Sie sich ja denken."
Antonello nickte und seufzte resigniert. 
Langsam erhob sich Blazestorm und schritt auf René zu. Nachdenklich betrachtete er den Menschen und legte schließlich behutsam seine riesige Tatze auf die Schultern des Mannes. René gab kaum einen Mucks von sich, als sich die Drachenkrallen kurz schmerzhaft in sein Fleisch gruben. 
"Das ist eine kleine Lektion für Dich. In Zukunft bedenke alle Konsequenzen, bevor Du handelst. Beherzige das, dann können wir Freunde werden", knurrte der Drache.
Der Reporter nickte und blickte zu Antonello.
"Ihr beide müsst hier so schnell wie möglich weg. Man wird sicherlich schon sehr bald wiederkommen, höchstwahrscheinlich mit dem Heer."

"Mag sein, aber, wo sollen wir hin? Sie werden uns jagen, egal wo wir uns aufhalten und schließlich auch finden. Und was ist dann? Abgesehen davon kann ich nicht so einfach abhauen! Was wird aus meinem Hof?" 
"Aber Ihr müsst von hier verschwinden! Machen Sie sich keine Gedanken um ihren Hof. Da wird sich sicherlich eine Lösung finden. Aber Ihr müsst gehen, und zwar sofort." 
"Und was schlagen Sie vor? Wo soll ich mit einem Drachen hin?"
"Natürlich dorthin zurück, von wo der Drache hergekommen ist." 
Die eingetretene Stille nach dieser Aussage war geradezu greifbar. 
"Zurück? Was meinen Sie damit?" fragte Antonello stirnrunzelnd. 
"Zurück in meine Zeit", sagte der Drache an Renés Stelle. 
Antonello schaute den Drachen an. 
"Du möchtest gehen, nicht wahr?" 
Blazestorm antwortete nicht auf diese Frage, er erwiderte nur Antonellos Blick. 
"Ich verstehe", schluckte Antonello. 
"Ich hätte es mir eigentlich denken können. Aber wie sollen wir Dich zurück in Deine Zeit bringen?" 
Antonello konnte kaum noch seine Tränen zurückhalten. 

Er hatte immer den Zeitpunkt gefürchtet, an dem Blazestorm ihm mitteilen würde, dass er zurück in seine Welt wolle, zurück ins sogenannte Mittelalter. Er konnte sich nur allzu gut erinnern, wie euphorisch sein Freund gewesen war, als sie nach mühevollen Recherchen im Internet und in Bibliotheken herausgefunden hatten, dass der Drache sozusagen eine Zeitreise, - freilich unfreiwillig - unternommen hatte. Wenn Blazestorm in Antonellos Zeit gelangen konnte, dann war es nur logisch, dass er diese Reise auch in umgekehrter Richtung antreten konnte. Es war nur noch eine Frage des Wie. Doch weder Mensch noch Drache hatte irgendeine Ambition gezeigt, dafür eine Antwort zu finden. Blazestorm schien glücklich genug mit dem Wissen, potentiell jederzeit zurückkehren, zumindest aber jederzeit nach einem Rückweg suchen zu können.
Antonello hingegen hatte stets damit gerechnet, dass der Drache einmal den entsprechenden Wunsch äußern würde. Aber nicht jetzt, nicht in dieser Situation. Der Drache konnte ihn doch unmöglich in diesem Chaos alleine lassen.

Blazestorm stupste seinen Freund sanft mit der Nase an. 
 "Nicht mich, Freund Antonello. Uns."
Antonello schluckte. 
"Du meinst, Du meinst, ich soll mit Dir mitkommen?" 
Der Drache nickte. 
"Nicht sollen. Du wirst mit mir kommen."

"Aehm, Ihr zwei Hübschen. Ich unterbreche Euer Gesäusel nur ungern, aber wir haben noch einige kleine, aber doch bedeutsame Details zu besprechen", unterbrach sie René. "Wissen Sie, Monsieur Varini, wir haben da noch ein kleines Problem." 
"Was für eins?" 
"Also, wir wissen weder, wie der Drache in unsere Dimension gekommen ist, noch wissen wir, wie wir Euch in die seine zurückbringen sollen."
Antonello seufzte. 
"Stimmt, das habe ich ganz verdrängt, sorry. Und was jetzt?"
"Jetzt?" 
René lächelte grimmig. 
"Jetzt ist es an mir, einen Lösungsansatz zu finden. Das muss ich ohnehin, weil mein Chef von mir eine Fortsetzung meines Artikels will. Darin soll ich erläutern, wie der Drache in die gegenwärtige Eidgenossenschaft gekommen ist. Ich werde also die notwendigen Nachforschungen anstellen. Aber das kostet Zeit. Viel Zeit, und ich fürchte, die haben wir nicht." 
"Und was sollen Blazestorm und ich in der Zwischenzeit tun? Warten, bis hier ein paar Soldaten auftauchen und den Drachen erschlagen?" 
"Wie ich schon sagte, Monsieur Varini. Ihr müsst schleunigst weg von hier. Ich wüsste einen sicheren Ort, ungefähr hundert Kilometer von hier entfernt. Meiner Frau gehört eine hübsche Villa am Bodensee. Sie werden dort bleiben, bis ich Sie anrufe." 
"Moment mal", bremste Antonello, "Ihre Frau hätte kein Problem damit, wenn plötzlich ein wildfremder Mensch bei ihr auftaucht, der wahrscheinlich schon per Interpol in ganz Europa als Terrorist gesucht wird, und eine überdimensionale Eidechse bei sich hat?"
Blazestorm stieß Antonello bei seiner letzten Bemerkung mit gespielter Entrüstung mit seiner Schnauzenspitze vor die Brust: "Wie war das?"
"Hey, lass das, Du Wurm."
"Auch nicht besser, soll ich Dich fressen?" gab Blazestorm vergnügt schnaubend zurück.
Der Reporter ignorierte geflissentlich die Blödelei und sagte: "Wenn ich ehrlich bin, dann war das auch die Idee meiner Frau. Sie hält es wie die Chinesen: Ist ein Drache im Haus, erwächst Freude daraus."
"Eine weise Frau", sagte Blazestorm anerkennend und fügte zwinkernd hinzu:
"Ich frage mich allerdings, wie sie dann an einen Mann wie Dich geraten ist."

René drückte Antonello ein Handy in die Hand. 
"Hier, meine Geschäftsnummer; im Notfall können Sie mich auch da erreichen. Und hier, meine Autoschlüssel. Sie nehmen besser meinen Wagen, weil sie sicherlich schon überall Straßensperren errichtet haben und nach Ihrem Fahrzeug Ausschau halten."

René faltete eine Landkarte auf und beschrieb den Weg. Er deutete auf Blazestorm. 
"Findest Du den Weg? Du wirst hoch über den Wolken fliegen müssen. Deinem Freund stelle ich noch mein Navigationssystem im Auto ein, der sollte also zurechtkommen." 

Der Drache nickte, stupste den Reporter freundschaftlich mit der Nase an und leckte Antonello zum Abschied über das Gesicht. 
"So sei es denn", seufzte er. 
"Wir sehen uns dann später, Freund Antonello. Und Dir -", er zeigte auf René "- sei unser Dank gewiss. Wir werden dort auf Dich warten."

***

"Ha! Ich hab’s!" rief René aus. Er hatte tagelang in verschiedenen Bibliotheken in Genf, Zürich und Bern zahllose Archive und Mikrofiches durchforstet, aber erst im deutschsprachigen Ausland wurde er fündig. Im bayerischen Staatsarchiv in München fand er endlich eine halbwegs rationale Erklärung für das Erscheinen des Drachens. Was er jetzt noch brauchte, war ein Beweis für seine Theorie. 
Erneut las er die Schlagzeile des großen deutschen Boulevardblattes vom Mai 1995: 
EuroCity 616 München - Brig verschollen 
Der Artikel irritierte ihn.
Obwohl der Zug offenbar im Lötschberg-Tunnel, der direkten Verbindung des Berner Oberlandes mit dem Kanton Wallis, verschwunden war, hatten die Schweizer Medien damals nicht über diesen Vorfall berichtet. Zwar kursierten vor einigen Jahren etliche Gerüchte über seltsame Vorgänge während der Tunnelbauarbeiten am Lötschberg, aber ihm war niemals zu Ohren gekommen, dass dort tatsächlich ganze Züge verschwinden würden. In diesem Zeitungsartikel stand es jedoch schwarz auf weiß: Der Zug mit der Nummer 616 war in den Tunnel eingefahren, war aber auf der Walliser Seite nicht mehr aufgetaucht. Damit aber nicht genug, dieser Artikel berichtete auch über zwei weitere Züge (einer davon war zum Glück nur ein Güterzug), die ebenfalls auf ihrem Weg nach Brig verschwunden waren. Ein anderer Zeitungsartikel, der einige Monate später erschien, setzte dem Ganzen die Krone auf: Man hatte den EuroCity 616 im Berg wieder gefunden, allerdings waren die Umstände mehr als bizarr. Den Bergungsteams hatte sich ein absurder und grausamer Anblick angeboten. Alle Fahrgäste einschließlich des Zugpersonals waren tot, jedoch gab es keinerlei Anzeichen für irgendeine Einwirkung von außen. Es gab weder Anhaltspunkte für einen Brand oder einen anderen Unfall, noch irgendwelche Indizien für einen Terroranschlag. Die gefundenen Leichen waren mumifiziert und es hatte den Anschein, dass die Menschen in kürzester Zeit um Jahrzehnte gealtert waren. Der Zug selbst sah aus, als habe er für Jahrhunderte in dem Berg gestanden: Rostig und vom Zahn der Zeit zerstört. Etwas Schreckliches jenseits jeder Vorstellungskraft war geschehen und offensichtlich sahen die Schweizer Behörden darin ein so großes Gefahrenpotential, dass man beschlossen hatte, zur Vermeidung von Panik die Bevölkerung uninformiert zu lassen. 
Für diese Theorie sprach auch, dass dieses Deutsche Boulevardblatt das einzige Medium war, das über diesen Vorfall berichtet hatte. Also hatte man auch in Deutschland, und wohl auch in Österreich, versucht, in dieser Angelegenheit den Ball flach zu halten. Vor allem, gerade als Journalist hätte René diesbezüglich etwas zu Ohren kommen müssen...

Am Ende des Artikels stand der Name des Wissenschaftlers, der sich mit diesen mysteriösen Vorfällen rund um den Lötschberg eingehender beschäftigt hatte: Dr. Massikoff von der Berliner Universität, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Physik und auch der Metaphysik, zudem ein Experte im Bereich paranormaler Aktivitäten.

Für René stand sofort fest, dass er direkt mit Dr. Massikoff sprechen musste, wollte er Antonello und dem Drachen helfen. Auf diese Weise hätte er auch gleich einen wissenschaftlichen Hintergrund für seine eigene Story.

***

"Mein Mann hat mich gerade angerufen, Monsieur Varini. Er war ziemlich gut aufgelegt, morgen Abend kommt er her", informierte Claudine Perrier Antonello. 
Antonello nickte. 
"Sehr schön", sagte er zu Frau Perrier. 
"Ich frage mich schon die ganze Zeit, wann sie Blazestorm und mich entdecken. Es grenzt doch an ein Wunder, fast zwei Wochen lang unentdeckt zu bleiben, wenn die ganze Schweizer Armee und Gendarmerie einem Drachen auf den Fersen ist." 
"Ach, die finden Euch hier bestimmt nicht", lächelte Claudine. 
Tatsächlich war die Villa, eigentlich schon ein kleines Schlösschen, so abgelegen, dass selten jemand dort vorbeikam. Abgesehen davon, wer würde schon einem gemeingefährlichen Drachen Unterschlupf gewähren? 

Gottlob hatte Renés Frau keinerlei Einwände gehabt, als ihr Mann vorgeschlagen hatte, die Villa, die sie normalerweise nur in der Ferienzeit bewohnten, als Drachenversteck zu nutzen. Im Gegenteil, sie brannte darauf, einen echten Drachen zu sehen. 
"Wissen Sie was, ich glaube, vor allem Jacqueline wird traurig sein, wenn Sie beide uns wieder verlassen. Der Drache und meine Tochter sind ein Herz und eine Seele geworden", sagte Claudine. 
Antonello sah Blazestorm und Jacqueline spielerisch miteinander raufen. 
Die Reaktion dieses zehnjährigen Mädchens auf die Ankunft des Drachens war faszinierend gewesen. 
Anders als so viele andere Leute sah sie in Blazestorm kein gefährliches Ungeheuer, sondern nur ein großes Tier, das vielleicht ein neuer Spielgefährte sein könnte. Blazestorm hingegen betrachtete sie als ein Junges, um das er sich kümmern und beschützen musste. So wurden sie sehr bald dicke Freunde und Antonello und auch Claudine genossen es, Jacqueline und Blazestorm spielen und herumtoben zu sehen. Beide Erwachsenen waren beeindruckt und fasziniert davon, wie behutsam und vorsichtig der riesige Drache im Umgang mit dem Kind war. Blazestorm ließ es sogar zu, dass Jacqueline ihn als ihr Reittier benutzte und nur ein einziges Mal knurrte er sie warnend an: Sie hatte angefangen, auf seinem Rücken zu tanzen.
"Mir wird er auch fehlen", seufzte Antonello.
Claudine hob eine Augenbraue.
"Ich dachte, Sie gehen mit ihm?"
"Ihm in seine eigene Welt folgen? Nein, Madame Perrier. Ich habe schon die ganze Zeit darüber nachgedacht. Ich kann’s nicht. Ich kann einfach nicht mein Leben hier aufgeben. Ich bin nun mal ein Mann der Gegenwart. Was sollte ich außerdem im Mittelalter tun? Nein, ich bleibe besser hier bei meinen Tieren."
"Aber man wird Sie verhaften?"
"Von mir aus nehmen die mich fest. Aber was soll mir schon groß passieren? Wenn sie keinen Drachen finden, können sie mir nichts anhängen."
"Sie vergessen die toten Polizisten."
"Das war ein Unfall."
Claudine wollte nicht mit ihm streiten; es war schließlich Antonellos Leben, es war seine eigene Entscheidung.
Vielleicht trifft ja der Drache die richtige Entscheidung für ihn, schoss es ihr durch den Kopf, als ihr Blick wieder auf Blazestorm fiel, der nun das Mädchen zwischen seinen Vorderpfoten hielt und ihr sanft das Gesicht leckte.

***

"...Und genau das ist dem Zug passiert, als er in den Tunnel hinein fuhr. Dr. Massikoff hat in diesem Zusammenhang von einer Brücke gesprochen, aber Albert Einstein, der dieses Phänomen entdeckt hatte, nannte es Das Parallele Raum-Zeit-Kontinuum.
"Aber ich verstehe immer noch nicht, was das alles mit unserem Problem zu tun haben soll", gab Antonello zurück.

René, seine Frau, Antonello und Blazestorm saßen zusammen in dem sehr geräumigen Wohnzimmer (im Gegensatz zu Antonellos Haus bot die Villa genug Platz, sogar für den Drachen) bei der mittlerweile dritten Flasche Rotwein und diskutierten über das, was René bei seinen Nachforschungen in München und Berlin herausgefunden hatte.

"Aber das ist ganz simpel: Die Züge sind nicht wirklich verschwunden. Sie gelangten nur in eine andere Zeit. Was immer auch Blazestorm in unsere Zeit geholt hat, hat auch die Züge in eine andere Zeit gebracht." 
"Schon, aber sie verschwanden vor einigen Jahren, Blazestorm kam jedoch gerade mal vor ein paar Monaten hierher. Und es war auch ganz woanders." 
"Freund Antonello, René versucht Dir zu erklären, dass der gleiche Zauber, der mich in Eure Welt brachte, diese... Züge in eine andere Welt geschickt hat", brummte der Drache sanft. 
Blazestorm verfolgte Renés Ausführungen mit größter Aufmerksamkeit. Er begann allmählich, den Reporter in sein Herz zu schließen. 
Antonello war immer noch nicht überzeugt. 
"Na schön, aber wir können nicht sicher sein, dass es wirklich so passiert ist. Es ist alles nur Spekulation. Da sind mehrere Züge auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Was macht Dich so sicher, dass sie jetzt irgendwo in einer anderen Zeit oder Dimension stehen, vielleicht gar im Mittelalter?" 
"Nun, diese Züge sind nicht zwangsläufig ins Mittelalter geraten", antwortete René. 
"Wenn man dem glauben darf, was Dr. Massikoff gesagt hat, könnten sie jetzt genauso gut irgendwo in der Zukunft sein - oder in einem anderen Sonnensystem. Die einzige Erklärung für dieses Phänomen ist Einsteins Theorie. Mit dieser Thematik haben sich schon große Philosophen und auch etliche Schriftsteller auseinander gesetzt. Gerade im Bereich der Science Fiction hat diese Theorie eine große Verbreitung gefunden." 
"Aber es gibt doch keinerlei Beweise dafür!" rief Antonello.
"Sie haben diesen einen Zug vergessen, den man gefunden hat. Wo sowohl der Zug als auch seine Fahrgäste mit einem Schlag gealtert waren", warf Claudine ein. 
"Stimmt", pflichtete René seiner Frau bei. 
"Das ist in der Tat der einzige akzeptable Beweis für diese Theorie. Unsere Aufgabe ist es nun, so eine Brücke zu finden und Euch zwei da hinüber zu schicken. Danach seid Ihr dann auf Euch selbst gestellt." 
"Aber wo können wir so eine Brücke finden?"
"Das weiß ich nicht", gab René zu. 
"Dr. Massikoff vertritt die Ansicht, dass diese parallelen Raum-Zeit-Kontinua ziemlich beständig sind. Unsere einzige Chance ist, dass diese Brücke oder dieser Übergang, der uns unseren schuppigen Freund brachte, immer noch passierbar ist." 

"Nicht gerade ermutigend, oder?" lamentierte Antonello.
"Ssschhhh, mein Freund, Du wirst sehen, alles wird sich für uns zum Guten wenden. Sei doch nicht immer so negativ eingestellt, Freund Antonello."
Der Drache stupste seinen Freund sanft mit der Schnauze an.
Dann hob Blazestorm seinen Kopf und nickte erst Claudine und dann ihrem Mann zu: "Mein Freund und ich sind sehr dankbar für das, was Ihr für uns tut. Vor allem ich stehe tief in Eurer Schuld."
"Drache, bitte warte damit, dankbar zu sein, bis Du wirklich zurück im Mittelalter bist. Wir sind noch lange nicht am Ziel", antwortete René.
"Trotz allem bin ich überzeugt, dass sich alles zum Guten wenden wird."
Blazestorms Schwanz klopfte bekräftigend auf den Boden.

"Bleibst Du nicht bei mir, Blazy?" schluchzte das kleine Mädchen.
Von den Erwachsenen unbemerkt war Jacqueline ins Wohnzimmer gekommen.
"Liebling! Du solltest doch längst schlafen!" Claudine erhob sich.
"Bitte lassen Sie mich, Lady Perrier", warf Blazestorm ein.
Der Drache blickte zärtlich auf das Mädchen.
"Komm her zu mir, kleine Schwester", grollte Blazestorm sanft.
Als Jacqueline in seine Reichweite kam, packte er sie ganz behutsam und hob sie hoch. 
"Na, na, meine Kleine. Du brauchst doch nicht zu weinen. Du musst wissen, ich werde Dich niemals verlassen. Du wirst immer in meinem Herzen sein und solange Du an uns Drachen glaubst, werde ich immer in Deiner Nähe sein. Hast Du wirklich geglaubt, dass ich Dich alleine lassen werde, mein Liebling?" 
Blazestorm leckte liebevoll ihr Gesicht. 
"Schließlich bist Du meine Königin, hast Du das vergessen? Und jetzt, Eure Majestät, solltet Ihr wahrlich schlafen gehen." 
Blazestorm warf einen Blick auf Jacquelines Mutter und als diese zustimmend nickte, verließ er mit dem Mädchen in seinen riesigen Tatzen den Raum. 
"Was hältst Du von einer kleinen Gute-Nacht-Geschichte oder einem kleinen Lied vor dem Schlafen, meine kleine Königin? Ich kenne ein sehr schönes, das hatte immer mein Vater für mich und meine Geschwister gesungen." 
Der Drache brachte das Mädchen in ihr Zimmer und das Letzte, was die Erwachsenen im Wohnzimmer noch hörten, war  Jacquelines Antwort: 
"Beides! Erst die Geschichte und dann das Lied."

Erst nach einer knappen Stunde kehrte der Drache wieder zurück. 
"Jetzt schläft sie aber wirklich", grinste er. 
"Schön", sagte René schlicht. 
"Zurück zu unserem Vorhaben. Wir haben nicht viel Zeit. Drache, erinnerst Du Dich vielleicht noch, wo genau Du in unserer Dimension aufgetaucht bist?" 
René breitete vor ihm eine große Karte von der Gegend des Genfer Sees aus. 
Blazestorm knurrte belustigt: "Mensch, ich erinnere mich an den Ort, aber ich kann ihn Dir nicht auf diesem Stück Papier zeigen. Wir Drachen brauchen keine Karten zu unserer Orientierung." 
"Aber wie und wo sollen wir den Übergang suchen, wenn Du mir den Ort nicht auf einer Karte zeigen kannst?" fragte René ungeduldig. 
"Ganz einfach, Du brauchst mir nur zu folgen. Du hast schon einmal Deine Fähigkeit unter Beweis gestellt, mit Deinem Auto einem fliegenden Drachen zu folgen", gab Blazestorm zurück. 
"Keine Panik, Freunde. Das ist wirklich unser kleinstes Problem. Ich kann mich noch genau an die Stelle erinnern, wo ich ihn das erste Mal traf. Und ich vermute, dass dort in der Nähe auch das Flugzeug explodierte", sagte Antonello. 
"Aber glaubst Du nicht, dass die Absturzstelle großräumig abgeriegelt ist und da überall Soldaten postiert sind? An deren Stelle würde ich doch zuerst an den Orten suchen, die dem Drachen irgendwie vertraut sind." 
"Deine Frau hat Recht", nickte Blazestorm. 
"Dort werden sicher Menschen sein, die nur darauf warten, dass ich auftauche. Diese verdammten edlen Ritter. Drachentöter, das ist es, was sie in Wirklichkeit sind." 
"Soldaten", verbesserte Antonello. 
"Es gibt schon lange keine Ritter mehr. Wir haben jetzt Soldaten." 
"Ist doch egal, ob Ritter oder Soldaten", warf René ein. 
"Diese Kerle sind der Hauptrund, weshalb wir nicht noch mehr Zeit verplempern dürfen. Wir sollten uns schleunigst auf die Socken machen!" 
"Ja, Schatz, ich denke auch, Ihr solltet nun los. Abgesehen davon wird es wohl besser für Jacqueline sein, wenn sie nicht mitbekommt, dass der Drache uns verlässt. Es wird leichter für sie sein, wenn sie morgen aufwacht und der Drache ist verschwunden." 
"Nun, Du könntest mit ihr morgen in den Zirkus gehen. Sie sagte mir vor einiger Zeit, dass sie die Clowns und die Elefanten sehen möchte." 
"Das ist die Idee. Danke, Lord Blazestorm. Das wird sie ablenken vom Trennungsschmerz." 
Blazestorm knurrte sanft und senkte seinen Kopf. 
Zahnig grinsend schnaubte er: "Lady Perrier, wie oft habe ich Dir und Deinem Mann schon gesagt, dass ihr aufhören sollt, mich Lord zu nennen? Wir sind Freunde, bitte vergesst das nicht, wenn ich weg bin."
"Wie sollte ich das jemals vergessen?" sagte Claudine und wandte sich ab, damit niemand sehen konnte, wie ihre Augen feucht wurden.
"Tja dann", seufzte Antonello.
"Ich glaube, nun heißt’s Abschied nehmen."

***

Bis zum Sonnenaufgang waren es noch knapp drei Stunden, als eine Gruppe Soldaten durch den Wald patrouillierte.
"Scheiß Regen! Seit Wochen nur Regen, nichts als Regen. Leutnant, glauben Sie wirklich, dass jemand so bescheuert ist und bei diesem Sauwetter heute Nacht sein Haus verlässt?" 
"Gefreiter! Schweigen Sie! Ansonsten gibt’s die nächsten vier Wochenenden Ausgangsverbot und täglichen Stubenappell." 
Der Zugführer, Leutnant Beck, blieb stehen. 
"Das hier ist die Straße, wo unsere Zielperson den ersten Kontakt mit dem Drachen aufgenommen hatte. Diese Straße zweigt von der Hauptstraße am See ab und führt direkt zu Varinis Hof. Die Trümmer des abgestürzten Flugzeugs hat man in einem Umkreis von fünf Kilometern geborgen. Folglich muss der Eintrittspunkt des Drachens in unsere Zeit-Dimension hier in dieser Gegend liegen." 
Der Leutnant machte einen Schritt vorwärts und begann zu erklären: "Irgendwie hat es der Drache geschafft, in unsere Dimension einzutreten und wurde in diesem Augenblick mit dem zivilen Luftfahrzeug konfrontiert. Wie jedes andere Tier auch betrachtet der Drache das Flugzeug entweder als Bedrohung für sich selbst, als Beute oder als einen Rivalen. In der Absicht, sich und sein Territorium zu verteidigen, greift er den vermeintlichen Eindringling an. Zu spät bemerkt er, dass sein Opfer so ganz anders war als alles, was er bisher kannte und geriet in Panik. Das Biest läuft Amok und trifft schließlich auf den Landwirt Varini. Es grenzt an ein Wunder, dass unser Mann diesen ersten Kontakt mit dem Feind überlebt hat und es ist ein noch viel größeres Wunder, dass sich dieser Mann mit dem Biest angefreundet hat und es wochenlang unentdeckt als Haustier halten konnte. Die Menschen unten im Tal halten Varini für einen Zauberer oder gar für den Leibhaftigen, genau wie diesen Drachen. Das ist natürlich Schwachsinn. Aber ich möchte unbedingt herausfinden, wie Varini dieses Kunststück gelungen ist..." 
Nach einer Weile, fuhr er fort: "Meine Herren! Denken Sie daran! Egal was auch passiert. Der Drache muss unter allen Umständen lebend gefangen werden. Varini sollte ebenfalls lebend ergriffen werden, weil er uns mit nützlichen Informationen über das Biest versorgen kann. Und jetzt: Ausschwärmen. Halten Sie Ausschau nach dem Übergang!"

Ohne weitere Fragen zu stellen gehorchten die Soldaten. Sie waren für Aufgaben dieser Art bestens ausgebildet und in diesem Bereich sehr erfahren. 
Bereits vor einigen Jahren untersuchte genau dieses Team unter der Leitung von Leutnant Beck jene eigenartigen Vorfälle um und im Lötschberg. Zusammen mit dem deutschen Wissenschaftler Dr. Massikoff entdeckten sie den Beweis für Albert Einsteins Theorie über das parallele Raum-Zeit-Kontinuum, eine Brücke in eine andere Dimension von Zeit oder Raum. Aber jener Übergang war nur ein Teil ihrer Entdeckung. Die Wahrheit hinter den verschollenen Zügen war viel phantastischer und erschreckender als irgendjemand ahnte. Sogar der amerikanische CIA und auch das FBI waren an ihrer Enthüllung interessiert. Die Ereignisse um den Lötschberg wurden bald als die Bridge To Paradise-Akte bekannt.

Nun schien die Zeit reif für ein weiteres Kapitel dieser sogenannten Bridge To Paradise-Akte
Nicht aber eines über Außerirdische, wie man sie sich gemeinhin vorstellt, kleine grüne Männchen mit Wasserköpfen aus einer weit entfernten Galaxis, sondern über Aliens, die uns so vertraut und bekannt sind, als hätten diese Wesen schon immer unter uns geweilt. Über Geschöpfe, wie man sie aus der Welt der Mythen und Sagen seit Urzeiten kennt: Über Engel, Greife, Einhörner und... Drachen. Über magische Fähigkeiten und Zauberkräfte.

***

"Hier! Gleich da vorne ist der genaue Ort. Ich erinnere mich an den Anblick dieser drei Berggipfel. In diesem Bergmassiv begrub ich einst meine Geliebte Starbolt. Hier traf ich auch auf das Flugzeug, das ich damals fälschlicherweise für einen Artgenossen gehalten hatte."

Das Trio, zwei Männer und ein Drache, trafen beinahe gleichzeitig ein.
René hatte die gute Idee gehabt, den Drachen mit einem kleinen Sender auszustatten. Auf diese Weise konnten sie mit Blazestorm in Verbindung bleiben, während er hoch über den Wolken flog.

Nachdem der Drache die Gegend um Antonellos Hof ausgekundschaftet hatte, fuhren Antonello und René zu dem Anwesen, wo Blazestorm schon ungeduldig auf sie wartete. 
"Ich nehme den Geruch von fremden Menschen wahr", knurrte er, "aber sie sind jetzt fort. Der Hof ist bis auf das Vieh verlassen." 
Antonello warf einen besorgten Blick in den Stall und stellte erleichtert fest, dass jemand die Tiere versorgt hatte. 
"Das war meine Schwester. Ich bat sie, die Tiere zu füttern und die Ställe auszumisten. Sie hätte am liebsten selber einen Bauernhof", erklärte René. 
"Ist das nicht eigenartig?" wunderte sich Antonello. 
"Ich hatte zumindest ein paar Polizisten als Wache erwartet." 
"Jaah. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Ich glaube, die wollen uns in eine Falle locken", stimmte René zu. 
Der Drache schnaubte ein kleines Rauchwölkchen, wie er es immer tat, wenn er angespannt war. 
Er knurrte: "Also, sie sind nicht hier, aber ich kann ihre Gegenwart spüren. Ich vermute, sie werden auf uns unweit der Stelle warten, wo ich in Eure Welt gekommen bin." 
"Höchst wahrscheinlich. Wir haben aber keine andere Wahl. Wir müssen diese Brücke finden, um Dich zurückzubringen", sagte René. 

Sie gingen gemeinsam die Straße entlang bis zu der Stelle, an der Antonello einst seinen Kleinlaster angehalten hatte, weil der Drache die Strasse blockierte. 
Blazestorm blähte seine Nüstern. 
"Menschen. Sie waren erst kürzlich hier. Wir müssen in der Tat sehr vorsichtig sein." 
"Drache, jetzt ist es an Dir, flieg los und versuche die Stelle zu finden, an der Du das Flugzeug angegriffen hast. Wenn Du sie gefunden hast, gib uns mit dem Sender Bescheid und lotse uns hin; wir werden uns einen Weg durch den Wald bahnen", wies René Blazestorm an.

***

"Und was jetzt?" fragte Antonello. 
"Jetzt müssen wir Ausschau nach dem Übergang halten", antwortete René. 
"Leider habe ich keine Ahnung wie so was aussieht, ob es etwas Schimmerndes oder ein Loch in der Luft oder was anderes ist. Hast Du vielleicht eine Idee, Drache?" 
Blazestorm gab keine Antwort. Seine Schnauze hoch in die Luft gereckt, starrte er in die Finsternis. 
"Blazestorm?" 
Der Drache reagierte nicht, Antonello aber konnte sehen, wie der Drache am ganzen Leib zitterte. 
"Blazestorm, lieber Freund? Was ist los?" 
Endlich schenkte der Drache seinen Freunden seine Aufmerksamkeit. 
"Ich bin mir nicht sicher. Ich fühle eine unbekannte Präsenz. Und nicht nur die Gegenwart fremder Menschen." 

Der Drache bewegte sich unsicher vorwärts, immer noch die Luft mit seinen Nüstern prüfend. Ganz langsam hob er seine Vorderpfote und zuckte gleich darauf zurück, als hätte er einen elektrischen Weidezaun berührt. 
Vorsichtig kamen Antonello und René näher. 
"Was ist los?" 
"Da liegt etwas in der Luft. Ich kann Euch nicht sagen, was. Es fühlt sich auf meinen empfindlichen Schuppen so seltsam an. Ich kann es nicht beschreiben." 
Der Drache hob seine Tatze erneut. 
"Hast Du schon mal dieses Gefühl gespürt?" fragte René aufgeregt. 
War das vielleicht schon die Brücke, nach der sie suchten? Das wäre fast schon zu einfach. 
Der Drache deutete ein Kopfschütteln an. 
"Nein, ich bedauere, Freund René. Ich erinnere mich nicht an dieses Gefühl."

Antonello war der erste von ihnen, der die Entdeckung machte: Wo die Tatze des Drachens in der Luft ruhte, war ein kleiner Punkt, kaum erkennbar, schwärzer als die regnerische Nacht und gerade stecknadelgroß. Dieser Punkt schien zu pulsieren. 
"Blazestorm, bitte lass mich mal ran." 
Der Drache zog seine Tatze zurück und Antonello legte vorsichtig eine Fingerspitze auf die pulsierende Stelle. Er spürte ein Kribbeln, als ob tausende Ameisen seinen Arm hochkrabbeln würden und in seinem Mund hatte er plötzlich einen metallischen Geschmack. Seine Haare sträubten sich ein wenig, als sich die Luft elektrostatisch auflud. 
"René, versuch’s Du mal", flüsterte Antonello. 

"Hast Du eine Erklärung dafür?" fragte Antonello, als Renés Haare ebenfalls zu Berge standen. 
René trat einen Schritt zurück. 
"Hmmm, ich kann’s Dir auch nicht genau sagen. Da ist definitiv ein Energiefeld, ein ziemlich starkes sogar. Ich bin mir nicht sicher, aber nach Dr. Massikoffs Beschreibung könnte es durchaus diese Dimensionsbrücke sein, nach der wir suchen." 
"Ein bisschen klein für eine Brücke, findest Du nicht? Außerdem habe ich mir irgendwie ein richtiges Bauwerk darunter vorgestellt, so mit Pfeilern und so weiter." 
Antonello beäugte skeptisch die pulsierende Stelle. 
"Ich behaupte mal, die Größe spielt keine Rolle, schaut her!" 
René legte seine  Fingerspitze wieder auf diesen Punkt und drückte sanft dagegen. Ein knatterndes Geräusch begleitete einige blaue und weiße Funken, die René zurückspringen ließen. Die Funken verglühten, aber der Punkt schien ein wenig gewachsen zu sein. René machte einen zweiten Versuch, dieses Mal drückte er mit zwei Fingerspitzen dagegen. Erneut knatterte es, ein paar Funken mehr erfüllten die Luft und plötzlich fühlte René seine Finger in das Loch gleiten. Er hatte das Gefühl, mit seinem Finger in einem Wackelpudding zu stochern. 

Mit einem Schrei zog er die Hand zurück und schnappte nach Luft. 
"Oh Gott! Es ist der Übergang! Jetzt ist mir auch klar, wie diese Züge im Lötschberg verschwunden sind: Also, da waren diese... Punkte im Tunnel, einer von ihnen hätte schon genügt. Als der erste Zug den Tunnel mit hoher Geschwindigkeit durchfuhr, passierte noch gar nichts, das heißt, nur der Punkt hat sich vergrößert. Auch der nächste Zug konnte problemlos durchfahren, aber irgendwann erreichte der Punkt eine kritische Größe und der nächste Zug... hmmm... fiel in das buchstäbliche schwarze Loch und ging irgendwo in Zeit und Raum verloren." 
"Aber was ist mit dem verrotteten Zug und den gealterten Leuten, die man gefunden hat?" warf Antonello ein. 
René zuckte mit den Schultern. 
"Das kann ich mir auch nur so erklären, dass vielleicht der Zug mittels dieser Brücke irgendwo in die Vergangenheit geschleudert wurde. Doch genau an dieser Stelle, wo der Zug sozusagen aufschlug, war ein anderer Übergang, der den Zug wieder zurück in unsere Zeit schickte. Aber dieses Brücke hätte den Zug wohl genauso gut auch irgendwo anders hin katapultieren können."

"Ich spüre die Nähe von Menschen", knurrte Blazestorm warnend. 
"Na schön, ich glaube, wir sollten Blazestorm und Dich jetzt schleunigst auf die andere Seite bringen." 
René brachte seine Hand zurück zu dem Punkt in der Luft. 
"Ich werde es für euch öffnen. Jetzt heißt es wohl Abschied nehmen..." 
"Wart’ mal! Wenn wir Deinen Gedankengang konsequent weiterdenken, René, wie können wir den Übergang hinter Blazestorm wieder schließen?" unterbrach ihn Antonello. 
René rieb sich nachdenklich die Schläfen. 
"Gute Frage, nächste Frage. Aber mir wird dann schon was einfallen... Moment, was hast Du gerade gesagt? Ich dachte, Du und Blazestorm, Ihr würdet beide zusammen hinübergehen?" 

Der Kopf des Drachens fuhr wie elektrisiert herum zu seinem Freund. 
Blazestorm kniff seine Augen zusammen und sah ihn an: "Das dachte ich eigentlich auch, Freund Antonello." 
Antonello schluckte schwer und Tränen schossen ihm in die Augen. 
"Es tut mir so leid, Freund Blazestorm. Ich liebe Dich mit ganzem Herzen und ich werde Dich unsagbar vermissen, aber ich kann einfach nicht mit Dir kommen. Wie ich vor einigen Tagen schon Claudine sagte, ich bin nun mal ein Mensch des Einundzwanzigsten Jahrhunderts. Abgesehen davon, was würde aus meinem Hof werden?" 
"Ohne Dich werde ich auch nicht gehen", knurrte der Drache. 
"Was soll ich dort alleine anfangen, ohne irgendeinen Freund? Außerdem würde man Dich hier sofort einsperren, wenn Du hier bleibst!" 
"Na und?" erwiderte Antonello und musste sich zusammenreißen, damit seine Stimme halbwegs fest klang.
"Dann stecken die mich eben ins Zuchthaus oder ins Narrenhaus. Nach ein paar Jahren würden sie mich ohnehin entlassen. Mach Dir da also keine Sorgen. Und nun lauf schon los, Du alte, dumme Eidechse!"
Blazestorm entblößte drohend sein Gebiss: "Was fällt Dir eigentlich an? Nun hör mir mal gut zu. Du wirst mit mir mitkommen, ich..."
"Mensch, Leute! Wir haben keine Zeit, das auszudiskutieren. Ihr müsst jetzt los, sie werden hier bald auftauchen, um uns aufzuhalten. Antonello, was Deinen Hof betrifft, meine Schwester übernimmt ihn gerne für Dich, mach Dir keine Gedanken deswegen. Und jetzt, ab mit Euch. Drückt einfach gegen diesen Punkt und taucht ein, der Drache zuerst", drängte René. 
"Ich werde Dich hier nicht zurücklassen, Antonello. Ich weiß, wie unwohl Du Dich unter Deinesgleichen fühlst, wie sehr Du unter der menschlichen Gesellschaft leidest, auch wenn er Ausnahmen wie René gibt", sagte Blazestorm bestimmt. 
"Verdammt nochmal, Du dummes Vieh! Du gehörst in Deine Welt zurück, doch dort brauchst Du mich nicht. Du wirst eine andere Drachin als Gefährtin finden und kannst mit ihr eine neue Familie gründen. Ich hingegen würde dort immer einsam sein und ein Fremder bleiben. Auch in Gesellschaft von Euch Drachen. Jetzt geh endlich!" rief Antonello. 

"Habt Ihr beide ‘nen Klopfer? Macht vielleicht noch ein bisschen mehr Krach! Ihr führt sie direkt zu uns her! Entweder Ihr geht jetzt oder sie haben uns alle am Arsch. Blazestorm, schnapp Dir Deinen Freund und nimm ihn einfach mit. Mach schnell!" beschwor René seine Freunde und mit beiden Händen begann er, diesen Punkt zu strecken und zu dehnen, Funken stieben um den Übergang herum. 
"Aber...", wandte Antonello ein.

Niemand sollte jemals erfahren, was er gerade sagen wollte.

Auf einmal war der Platz taghell erleuchtet und eine Gruppe schwer bewaffneter Soldaten trat aus der Dunkelheit, ihre Automatikwaffen hatten sie auf Antonello und René gerichtet. Zwei Soldaten hielten je mit einem großen, eigenartig geformten Gerät, das irgendwie an einen Dreizack erinnerte, den Drachen in Schach. 
"Keiner bewegt sich auch nur einen Millimeter!" brüllte der Kommandant und gab einen Warnschuss in die Luft ab. 
"Und Du, Drache, wenn Du auch nur mit Deiner Schwanzspitze zuckst, werden Deine Menschenfreunde sterben! Wir wollen nur Dich." 
"Flieg, Blazestorm, flieg!" 
Antonello war sich nicht sicher, ob er es war, der diese Worte geschrieen hatte, oder René. 
Er dachte an die erste Begegnung mit der Armee vor einigen Monaten - Gott, das schien eine Ewigkeit her. Damals waren die Soldaten unvorbereitet gewesen und der Anblick des Drachens hatte sie gelähmt. Aber diesmal kamen sie gerade wegen des Drachens und waren daher entsprechend gewappnet. 
Bevor Antonello auch nur mit der Wimper zucken konnte, packten ihn zwei Soldaten und hielten ihn im Polizeigriff. 
"Blazestorm! Pass auf! Hau ab, kümmere Dich nicht um uns..." 
Renés Worte gingen in einem surrenden Geräusch unter und nahezu im selben Augenblick wurde aus dem furchteinflößenden Drachengebrüll ein ersticktes Wimmern. Einer der Männer hatte die Dreizackwaffe betätigt und nun war der Drache in einer Art Netz gefangen. 
"Versuch erst gar nicht, das Netz zu zerreißen, Drache. Selbst für einen Drachen ist es unzerstörbar und auch Dein Feuer durchdringt seine Maschen nicht. Es ist drachensicher. Unsere amerikanischen Kameraden der Area51 sind Profis, weißt Du?" lächelte der Kommandant. 
"Beck!" rief René aus. 
"Ich hätte es wissen müssen. Was wollen Sie mit dem Drachen?" 
Drohend näherte sich der Leutnant René. 
"Können Sie sich das nicht denken? Ein Wesen, das es eigentlich außer in den Köpfen von einigen Märchenerzählern nicht geben dürfte, kommt zu uns auf diesen Planeten. Was für ein unermesslicher Schatz für die Wissenschaft." 
Er wandte sich an Antonello: "Und Sie, Varini, werden mir alles über Ihre erste Begegnung mit dem Drachen erzählen. Wo kommt er her?" 
Antonello schüttelte den Kopf. 
"Lecken Sie mich doch!" 
"Falsche Antwort, Freundchen!" erwiderte der Leutnant ruhig und einer der Soldaten rammte brutal den Gewehrkolben in Antonellos Magen. 
"So weit ich weiß, haben Sie keinen Dienst an der Waffe geleistet."
Obwohl der Leutnant versuchte, möglichst unbeteiligt zu klingen, war die Verachtung, die in dieser Feststellung lag, unüberhörbar.
Antonello biss sich auf die Lippen.
Lass dich nicht provozieren.
In der Tat hatte er keinen Wehrdienst im Bundesheer geleistet, für einen braven Schweizer Staatsbürger nahezu undenkbar. Aber auch wenn man es tatsächlich irgendwie schaffte, nicht einrücken zu müssen, brachte das für den Kriegsdienstverweigerer meist massive Nachteile im späteren zivilen Leben mit sich. Viele Unternehmer weigerten sich schlichtweg, solche in ihren Augen Fahnenflüchtigen zu beschäftigen.  
"Das ist bedauerlich, Varini", fuhr Leutnant Beck fort, "denn da hätten Sie gelernt, Dienstgrade zu respektieren. So können Sie vielleicht mit dem Pressefritzen sprechen, aber nicht mit mir, einen Repräsentanten der Eidgenossenschaft. Daher werde ich nun meine Frage wiederholen, Varini: Wie ist dieser Drache zu uns gekommen und wie haben sie mit ihm kommunizieren können?"
"Lecken Sie mich, äh... General, Sir. So sagt man doch, oder? Zumindest in Hollywood!"
"Ich denke, Ihnen ist der Ernst Ihrer Lage nicht bewusst. Aber ich bin mir sicher, dass wir Mittel und Wege finden werden, Sie dazu zu bewegen, mir erstens den erforderlichen Respekt zu erweisen und zweitens - ...", ein weiterer Kolbenstoß in Antonellos Brust "... - werden Sie meine Fragen beantworten."

"Beck! Sie Bastard! Ich werde an die Öffentlichkeit bringen, was Sie hier veranstalten. Wie sie Zivilisten unter Druck setzen und misshandeln. Haben Sie mit ähnlichen Methoden auch die Geheimnisse um den Lötschberg gelüftet?" fuhr René dazwischen. 
"Ich weiß über Sie Bescheid, Leutnant! Sie haben diese Übergänge in andere Dimensionen entdeckt. Sie taten alles, um diese Entdeckung geheim zu halten. Sie haben das Gefahrenpotential dieser Dimensionspünktchen erkannt. Aber die Bevölkerung wurde nicht informiert, geschweige denn gewarnt. Und nun breiten sich diese Punkte überall aus! Oh ja! Ich weiß alles über diese Bridge To Paradise-Akte. Ich habe mit Dr. Massikoff gesprochen. Ich weiß genau, was mit den Zügen im Tunnel passiert ist." 
"Ach, wirklich?" lächelte der Leutnant. 
"Dann können Sie sich ja sicherlich auch denken, warum wir unsere Entdeckung geheim gehalten haben. Wir wollten verhindern, dass solche neugierigen Idioten wie Sie die Übergänge aktivieren. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was alles passieren kann?" 
Der Kommandant zeigte auf den Drachen, der vergebens in wilder Raserei versuchte, sich von dem Netz zu befreien. 
"Da, der Drache. Er ist schon über diese Paradiesbrücke in unsere Dimension gewechselt. Wissen Sie, was das heißt? Heute gelangt ein Drache in unsere Welt. Und was folgt als nächstes? Ein neuer Godzilla? Ein alles versteinernder Basilisk? Sie Trottel! Glauben Sie wirklich, dass wir die Zivilbevölkerung einer solchen Gefahr aussetzen? Diese Punkte, wie Sie diese Brücken nennen, wir bezeichnen sie als Wurmlöcher, gibt es derzeit nur hier in dieser Gegend. Wir haben sie vollständig unter Kontrolle. Ich versichere Ihnen, nichts und niemand wird jemals wieder in unsere Dimension wechseln. Und das einzige Wesen, das es durch das Wurmloch geschafft hat, nun, das wird bald wieder ein reines Fabelwesen sein, wie es eigentlich schon vorher immer eines gewesen ist. Ein lustiger Zufall, ein Wurm ist ein Wurmloch geraten."

Antonello versuchte, sich aus dem eisernen Griff der Soldaten, die ihn immer noch festhielten, zu befreien. Schmerzen benebelten seine Sinne und er war kaum in der Lage, dem Streit zwischen dem Leutnant und dem Reporter zu folgen. Er blickte zu dem Drachen hinüber und der Anblick schnürte ihm die Kehle zu: Sein majestätischer Freund, einst so mächtig und furchteinflößend, war hilflos in einem Netz gefangen, dessen Material Antonello völlig unbekannt war. 

"Nein! Diesmal wird die Öffentlichkeit die Wahrheit darüber erfahren, wie die Züge verschwunden sind und man wird über die Wurmlöcher und deren Potential lesen!" 
Renés Aufbegehren löste Antonellos Blick vom Drachen. 
Der Leutnant lächelte kalt: "Das glaube ich allerdings nicht, Perrier." 
"Neeiiin! René!" 
Antonellos Schrei verhallte in der Nacht, als Renés lebloser Körper rückwärts zu Boden fiel. 
Leutnant Beck schob seine Dienstwaffe zurück in das Halfter und wandte sich an Antonello. 
"Ein bedauerlicher Kolateralschaden, wie es so schön heißt. Nun, wo waren wir stehen geblieben, mein Freund?" 

Renés Tod und auch der Anblick des gefangenen Drachens setzten ungeahnte Kraftreserven in Antonello frei. 
Er überwältigte seine völlig überraschten Wächter und in einer fließenden Bewegung sprang er auf den Drachen zu in dem Versuch, seinen Freund zu befreien. Er wollte gerade eine Ecke des schweren Netzes anheben, da durchschlugen schon mehrere Kugeln seine Schulter, seine Oberschenkel und auch seinen Bauch. 
Antonello schrie auf vor Schmerz und brach bewusstlos zusammen. 
Der Drache brüllte auf in rasendem Zorn und im tiefen Schmerz um seinen Freund. 
"Feuer einstellen! Idioten! Ich brauche ihn lebend!" 
Leutnant Beck fühlte Antonellos Puls. 
"Er lebt noch. Sie!" Er zeigte auf einen Soldaten in seiner Nähe. "Sie rufen den Sanitätswagen. Sie beide werden als Wachen bei ihm bleiben. Und Sie, Sie werden den Drachen ruhig stellen und ihn zum Flughafen bringen. Unsere amerikanischen Freunde werden sich sicher über das kleine Präsent aus der Schweiz freuen. Wir könnten ja noch einige Tafeln Schokolade dazu packen."

Die vier zu dieser Aufgabe abgestellten Soldaten näherten sich dem Drachen. 
Gebrochen durch den Verlust seines Freundes verebbte seine Raserei. Die Drachenaugen schimmerten feucht und er bebte am ganzen Körper. 
"Antonello. Mein geliebter Freund Antonello, ich habe Dich geliebt und ich werde Dich immer lieben. Du wirst für immer in meinem Herzen sein." 
Der Drache schluckte schwer. 
"Ich hab’s Dir doch gesagt, mein Freund. Ohne Dich werde ich nicht in meine Dimension zurückgehen. Ich bleibe bei Dir, für immer." 

Der Drache schloss seine Augen und ignorierte die Injektionen, die ihm die Soldaten in seinen Körper jagten.

***

Stimmen drangen in sein Bewusstsein und um ihn herum war alles in grelles Licht getaucht. Er war nicht in der Lage, seine Augen zu öffnen, dennoch wusste Antonello genau, wo er sich befand. Zwei Soldaten saßen als Wache an seiner Seite, während der Krankenwagen auf dem Weg zum Militärkrankenhaus am Stadtrand von Genf war. 
"Was werden sie mit dem Drachen tun?" fragte einer der Soldaten. 
"Keine Ahnung. Angeblich bringen sie ihn in die Staaten, zur Area51. Werden dort wohl die entsprechenden Labors haben." 
"Labor? Aber warum?" 
"Mann, bist Du wirklich so naiv? Sie werden einige Experimente mit ihm anstellen, schätze ich mal." 
"Das ist mir schon klar. Aber ich frage mich halt nur, warum?" 
"Jetzt mach Dir nicht ins Hemd. Ist doch nicht unser Bier."
"Naja, es ist nur... er ist so ein prächtiges Geschöpf. Hast Du sein Gesicht gesehen? Das ist nicht das Gesicht einer Bestie. Es ist das Gesicht eines empfindenden Wesens..." 
"Hey Mann, was ist eigentlich los mit Dir? Ist doch nur ein Reptil." 
"Wie lange, glaubst Du, wird er durchhalten?" 
"Woher soll ich das wissen? Interessiert mich auch nicht sonderlich. Vielleicht fünf Tage. Sie werden wohl recht vorsichtig sein, verstehst Du? Sie werden alles tun, damit er nicht zu früh abkratzt, damit sie in der Zeit möglichst viel rausfinden. Vielleicht wird er die Experimente auch sechs Tage überleben? Wer weiß schon, was so ein Vieh aushält?" 
"Fünf Tage lang quälen. Das ist doch barbarisch!" 
"Ehrlich, ich versteh Dich nicht. Das ist doch nur ein Drache, ein Ungeheuer. Ein Ding, das nie existiert hat und nie wieder existieren wird. Nur ein Drache", lachte der Soldat und Antonello umfing eine gnädige Dunkelheit...
 

© Peter Lässig
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