Sie stand nahe am Abgrund, der Wind blies
ihr die langen Haare ins Gesicht, doch sie schien es nicht wahrzunehmen.
Bewegungslos verharrte sie dort, die Augen gebannt auf zwei Gestalten in
der Ferne gerichtet, die sich wie spielende Schmetterlinge am Himmel bewegten.
Doch waren dies alles andere als Schmetterlinge. Lysana betrachtete zwei
der mächtigsten Wesen, die sich ein Mensch nur vorstellen kann - Drachen.
Sie liebte es, hier zu stehen und sie zu beobachten.
Dieser Anblick erfüllte sie stets mit Freude und Ehrfurcht, ließ
ihr Herz wie im Rausch bis zum Zerbersten schlagen. Fast konnte sie sie
selbst spüren, diese Freiheit, die Kraft und die Anmut, die diesen
wunderbaren Wesen innewohnte.
Und wie jedes Mal überkam sie das Gefühl
der Verbitterung.
Sie gehörte dem Clan der Drachentöter
an. Und als Tochter des Clanoberhauptes waren ihr nicht einmal solche Gedanken,
geschweige denn solche Gefühle erlaubt. Traurig blickte sie zu den
beiden Drachen hinüber. Heute würde sie sie zum letzten Mal sehen,
nach dem heutigen Abend würde sie sich nie wieder hierher wagen können.
Denn dieses war der Tag ihres "Erwachens", was bedeutete, dass sie
nach den Feierlichkeiten endgültig zum Kreis der Erwachsenen zählen
würde und somit ihren ersten Drachen erlegen musste. Oh, wie sie diesen
Gedanken verabscheute! Tränen des Zorns und der Ausweglosigkeit traten
in ihre Augen. Ja, natürlich hatte man ihr oft Geschichten über
die Grausamkeit und die Mordlust von Drachen erzählt, Legenden von
Drachen, die ganze Dörfer vernichtet und Menschen versklavt hatten,
und von jenen, die Drachen getötet hatten, um dadurch ganze Landstriche
zu retten. Aber etwas in ihr weigerte sich, diesen Geschichten Glauben
zu schenken. Wie könnten solch vollkommene Wesen derart blutrünstig
sein? Nein, das konnte alles nicht wahr sein.
Mühsam wandte sie den Blick von den beiden
Gestalten ab und wischte sich müde die Tränen aus den Augen.
"Ein wunderbarer Anblick, nicht wahr?"
Die sanfte Stimme hinter ihr ließ sie
erschrocken zusammenzucken, und als sie sich herumdrehte, stand vor
ihr ein großer Mann. Von seinem Äußeren war nicht viel
zu erkennen, ein Umhang verhüllte seine Gestalt und sein Gesicht lag
im Schatten einer weiten Kapuze. Alles, was sie erkennen konnte, war ein
Paar hell leuchtender Augen – Augen, die ihr im ersten Moment den Atem
raubten. Sie schienen von längst vergangenen Zeiten zu erzählen
und eine Weisheit zu bergen, die einem einzelnen Menschen den Verstand
rauben konnte.
Vorsichtig trat der Mann auf sie zu und streifte
dabei die Kapuze von seinem Haupt. Langes dunkles Haar umwallte seine Schultern
und umrahmte ein feines aber markantes Gesicht. Lysana schüttelte
kaum merklich den Kopf. Diese Augen... sie wollten einfach nicht zu diesem
Gesicht passen, straften seine Jugend Lügen... Sie spannte ihre Muskeln
an, um sich auf ihn zu stürzen, falls er ihr zu nahe kommen sollte.
Aber je näher er ihr kam, um so geringer wurde ihre Abwehr, seine
Anwesenheit schien eher beruhigend denn gefährlich.
Unsicherheit schwang in ihrer Stimme als sie
ihn fragte: "Wer seid ihr? Was tut ihr hier?" Ein leises Lachen trieb
ihr Schauer über den Rücken, wohlige Schauer.
Er streckte ihr beide Hände in einer
beschwichtigenden Geste entgegen, die geöffneten Handflächen
gen Himmel zeigend, so dass sie erkennen konnte, dass er keine Waffe trug.
"Verzeiht, wenn ich euch erschreckt habe,"
begann er ruhig, "das lag nicht in meiner Absicht. Wisst ihr, ich komme
oft hierher, um ihnen zuzusehen." Mit diesen Worten drehte er sich in die
Richtung der beiden Drachen, die nun kaum mehr als winzige Punkte am Horizont
waren. Auch Lysana richtete den Blick wieder dorthin und erneut liefen
ihr Tränen die Wangen hinab. Im Stillen nahm sie Abschied von diesem
Ort und von den beiden Wesen, denen sie so gerne zugeschaut hatte. Ein
kaum hörbares Schluchzen drang aus ihrer Kehle und sogleich wurde
sie zornig ob ihrer Schwäche gegenüber dem Fremden. Plötzlich
spürte sie die wissenden Augen des Mannes auf sich ruhen, spürte,
wie er sachte seine Hand an ihre Wange legte und eine Träne fort wischte.
Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
"Lysana, ich weiß, was in dir vorgeht,
welchen Kampf du austrägst. Und ich kann dir helfen, wenn du mir dein
Vertrauen schenken kannst..."
Obwohl seine warme Hand und seine ruhige Stimme
ihr den Trost spendeten, den sie so nötig brauchte, wallte bei seinen
Worten erneuter Zorn in ihr auf. Wütend schlug sie seine Hand zur
Seite und funkelte ihn an.
"Ihr versteht nichts! Gar nichts!"
Bebend vor Wut und Verzweiflung warf sie sich
herum und rannte so schnell sie konnte fort, irgendwo hin, nur weg von
diesem Ort, diesem Mann, der immer noch wie angewurzelt an der gleichen
Stelle stand. Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken als sie
durch das Gebüsch brach ohne auf die Zweige zu achten, die ihrer Haut
zerkratzten, und wie sie immer weiter floh war ihr, als höre sie noch
immer sein gutmütiges Lachen in ihrem Kopf widerhallen...
Zum Umfallen müde und leicht berauscht
von Wein und Rauch lag sie auf ihrem Lager und versuchte, Schlaf zu finden.
Das Ritual, das sie zu einem vollwertigen Mitglied des Clans gemacht hatte,
war vollzogen worden und nun trug sie für jeden sichtbar das Zeichen
ihres Clans an ihrer Schläfe. Es was ein Drache, durch dessen Herz
sich eine Lanze gebohrt hatte und der sich nun zum letzten Male aufzubäumen
schien. Wie sehr sie es verabscheute! Übelkeit stieg in ihr auf -
hätte sie sich doch nur dagegen gewehrt! Aber was wäre der Preis
dafür gewesen? Ihr Vater hätte sein Gesicht verloren und ihre
Familie hätte ihr Leben in der Verbannung fristen müssen. Nein,
sie hatte das nicht zulassen können. Oder doch? Immer größer
werdende Zweifel nagten an ihr, es war ihr nicht möglich, den erlösenden
Schlaf zu finden. Hinzu kam, dass ihre Gedanken immer wieder zu der merkwürdigen
Begegnung am Morgen zurückkehrten, immer, wenn sie ihre Augen schloss,
sah sie diese Augen vor sich, die sich in ihre Seele zu bohren schienen
und sein Lachen erklang in ihren Ohren. "Lysana, ich weiß, was in
dir vorgeht..." Mir einem Ruck setzte sie sich auf und der Rausch, der
bis eben ihre Sinne benebelt hatte, fiel von ihr ab wie ein Schleier. Er
hatte ihren Namen gekannt! Sie biss sich auf die Lippe und schüttelte
energisch den Kopf. Das konnte nicht sein, das musste sie geträumt
haben. Es war unmöglich, dass... Und wenn doch...? Erneute Zweifel
stiegen in ihr auf. Was, wenn sie nicht geträumt hatte? Wenn diese
Begegnung wirklich gewesen war und dieser Mann ihr hätte tatsächlich
helfen können?
'Zu spät, zu spät,' hämmerte
es in ihrem Kopf. Nein, es war nie zu spät! Sie spürte, wie ihr
Herz bis zum Hals schlug. Aufgeregt warf sie die Decke zurück und
lauschte angestrengt in die Nacht. Im Dorf war alles still, auch der letzte
Bewohner schien sich zur Ruhe begeben zu haben, um seinen Rausch auszuschlafen.
Leise erhob sie sich, griff nach ihren Kleidern, die sie sich vorsichtig
überwarf, und schlich hinaus. Sie wollte sich auf den Weg machen nach...
abrupt blieb sie stehen. Wohin sollte sie gehen? Sie wusste weder, wie
der Fremde hieß, noch wo sie ihn finden könnte. Wieder drohten
sie Wellen der Verzweiflung zu überrollen und sie konnte sich ein
Schluchzen gerade noch verkneifen. Fast wäre sie wieder in ihre Hütte
zurückgekehrt, doch dann strafften sich ihre Schultern. Nein! Dies
hier war nicht der Ort, an den sie gehörte. Nicht mehr! Sie wusste,
sie konnte und wollte nicht zu dem werden, zu dem sie ihr Geburtsrecht
vorgesehen hatte. Langsam ertasteten ihre Finger die noch leicht
geschwollene Tätowierung an der Schläfe und Ärger über
sich selbst stieg in ihr auf. Hätte sie diese Entscheidung doch nur
schon vor Stunden getroffen! Nun, es war nicht mehr zu ändern. Ein
letztes Mal schweifte ihr Blick über das Dorf, das nun nicht mehr
ihre Heimat war. Sie wollte noch einmal zu ihrem Platz gehen, dann würde
sie sich auf die Suche nach dem Fremden machen, und wenn sie dazu ihr ganzes
Leben bräuchte...
Langsam betrat sie den Felsvorsprung, von dem
aus sie schon so oft die Drachen beobachtet hatte. Nachdem sie behutsam
die letzten Zweige zur Seite geschoben hatte, fiel ihr Blick auf eine Gestalt
am Felsrand, die sich dunkel gegen den mondhellen Nachthimmel abzeichnete.
Sie hielt die Luft an vor Schreck, dann erkannte sie die Gestalt. Er stand
mit dem Rücken zu ihr, dennoch schien er zu wissen, dass sie da war.
Sie glaubte, wieder sein leises Lachen zu hören.
"Ich hatte gehofft, dass du zurückkehren
würdest." Ruhig drehte er sich zu ihr herum und streckte ihr seine
Arme entgegen.
"Hast du dich entschieden? Glaubst du, dass
du mir vertrauen kannst?"
Forschend blickten seine Augen sie an, aber
in seiner Stimme lag nichts weiter als Wärme und verhaltene Freude.
Lysana nickte nur und schritt langsam auf ihn zu bis sie kurz vor ihm stehen
blieb. Ihre Augen suchten die seinen, die hell in der Dunkelheit zu strahlen
schienen und sie nun freundlich anblickten.
"Ich denke, ich habe keine andere Wahl." antwortete
sie und wusste, dass dies die Wahrheit war.
Er lächelte sie liebevoll an.
"Wir haben schon lange auf dich gewartet,
doch du warst noch nicht bereit." Sein Lächeln wurde breiter.
"Aber nun bist du soweit. Komm, nimm meine
Hände und schließe deine Augen. Du musst keine Angst haben,
es wird dir nichts geschehen, solange dein Vertrauen groß genug ist."
Lysana zögerte einen kurzen Moment, doch
sie spürte, dass sie sich bereits entschieden hatte. Ruhig legte sie
ihre Hände in die seinen und blickte ihm fest in die Augen.
"Ja, ich bin bereit." sagte sie leise und
schloss erwartungsvoll ihre Augen. Plötzlich erschienen vor ihrem
Augen die schönsten Bilder - Bilder ihrer Kindheit, in der sie noch
nichts von ihrem bevorstehenden Schicksal geahnt hatte und Bilder der von
ihr so geliebten Kreaturen. Sämtliche Farben des Regenbogens schienen
in ihrem Kopf zu explodieren, doch sie verspürte keine Angst. Im Gegenteil
- ihr Herz war erfüllt mit Freude, so dass sie am liebsten laut gejubelt
hätte. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder, die der Wind mit
sich fortträgt und in ihrem Geist hörte sie Garoths Lachen. Garoth?
Der Name ihres Begleiters, aber woher kannte sie ihn plötzlich? Egal,
das war unwichtig, sie fühlte sich sicher und geborgen und das Gefühl
seiner Anwesenheit ganz nahe bei ihr verstärkte dieses Gefühl
noch. Fast war sie traurig, als das intensive Gefühl der Leichtigkeit
langsam nachließ, sie wieder den Boden unter ihren Füßen
spürte und in die Realität zurückkehrte.
"Du kannst die Augen wieder öffnen,"
hörte sie Garoth sagen.
Enttäuscht ließ sie seine Hand
los. War das alles? War dies die versprochene Hilfe - ein kurzer Rausch
der Sinne? Wütend wollte sie ihn beschimpfen und ihn dafür hassen,
dass er mit ihrer Hoffnung ein so schäbiges Spiel getrieben hatte.
Sie öffnete ihre Augen und holte Luft, um ihm zu sagen, was er ihrer
Meinung nach sei, als sie sah... Nein, Lysana und Garoth befanden sich
nicht mehr auf dem Plateau, so wie sie es erwartet hatte. Sie standen inmitten
einer riesigen Höhle, deren Wände glitzerten wie abertausende
von Sternen, die das Licht vieler kleiner Fackeln in allen Farben des Lichts
reflektierten und den Raum in einem Glanz erscheinen ließen, den
sie sich in keinem ihrer kühnsten Träume hätte ausmalen
können. Stumm vor staunen stand sie dort und schaute ihren Begleiter
ungläubig an.
"Wie...?"
Garoth lachte leise.
"Genau so wie dir jetzt ging es mir, als ich
zum ersten Mal herkam. Und glaube mir, bis heute kann ich mich nicht satt
sehen an dieser Schönheit. Aber komm," wieder ergriff er ihre Hand,
"Ich muss dir etwas zeigen, was du noch nie gesehen hast und was das hier
noch bei Weitem übertrifft."
Er brachte sie zu einem Durchgang, den sie
zuvor nicht bemerkt hatte und der sie in eine weitere, noch größere
Höhle führte. Und was sie in der Mitte der Höhle sah, ließ
ihr den Atem stocken - zwei gewaltige, wunderschöne Drachen, der eine
von nachtblauer Farbe, der andere weiß, deren Schuppen im Schein
der Fackeln funkelten wie ein Feuerwerk. Als sie die beiden Menschen
bemerkten, zuckten ihre Köpfe hoch und blickten die beiden neugierig
an. Lysana hätte vor Schreck einen Satz zurück gemacht, doch
Garoths sanfter Griff hielt sie zurück. Dann entdeckte sie etwas,
was zuvor von den mächtigen Körpern verdeckt gewesen war. Vier,
nein, fünf Eier lagen dort, keine, wie sie Lysana je gesehen hatte.
Jedes einzelne war doppelt so groß wie sie selbst! Die Drachenbrut!
Der nachtblaue Drache kam näher zu ihnen.
"Endlich bist du zurück, Garoth, Hüter
des Horts." hörte sie seine Stimme. Dann blickte ein ausgesprochen
großes Auge auf sie hinab. Hatte sie sich bei einem Blick in Garoths
Augen schon gefühlt, als blicke sie auf den Grund eines tiefen Sees,
so schien dieses eine Auge das Weltenmeer zu sein mit dem Wissen all jener,
die jemals auf Erden gewandelt waren.
"Und wie ich sehe, hast du sie gefunden..."
Hatte sie da wirklich ein zufriedenes Schnauben gehört? Verständnislos
blickte sie zu Garoth. Doch dieser erwiderte ihren Blick nur kurz und antwortete:
"Ja, Seleron, das habe ich - nach langer Zeit."
"Weiß sie schon von ihrer Bestimmung?"
fragte das Wesen, das wohl Seleron hieß. Als Garoth den Kopf schüttelte,
glaubte Lysana wieder ein Schnauben zu hören und hätte geschworen,
dass Seleron unwillig eine Augenbraue hoch gezogen hatte. Nun war sie endgültig
verwirrt. Von welcher Aufgabe sprachen die beiden hier? Sie konnten nicht
sie meinen, sie mussten sich geirrt haben. Doch bevor sie widersprechen
konnte, kam der Kopf des Drachens noch näher an sie heran, schnupperte
und stieß sie sanft mit seiner Schnauze an. Sanft... die Berührung
beförderte Lysana ein gutes Stück nach hinten und sie wäre
gestürzt, wenn Garoth sie nicht gehalten hätte. Konnte ein Drachen
wirklich schuldbewusst blicken? Nun, Seleron schien es jedenfalls zu beherrschen,
anders konnte Lysana den Ausdruck, der auf seinem Gesicht erschienen war,
nicht deuten.
"Verzeih, ich vergaß, dass ich den Umgang
mit deinesgleichen nicht mehr gewohnt bin. Garoth hier" und er warf einen
kurzen Blick zu ihm hinüber "hat sich bereits daran gewöhnt und
ist nicht mehr so leicht aus der Balance zu bringen..." Schuldbewusst blicken,
das hatte sie sich ja vielleicht noch eingebildet. Aber was jetzt auf Selerons
Gesicht erschien, war tatsächlich ein breites Grinsen. Lysana starrte
ihn offenen Mundes an und erwartete, jeden Augenblick aus einem Traum zu
erwachen. Doch nichts dergleichen geschah, vielmehr ergriff nun Seleron
erneut das Wort.
"Lysana, ich habe eben von einer Aufgabe gesprochen.
Weißt du, von welcher ich spreche?"
Sie konnte nur fassungslos den Kopf schütteln
- eine Bewegung, die ihr langsam zur Gewohnheit zu werden schien.
"Nun, dann werde ich dir erklären, warum
du hier bist."
Lysana bemerkte, dass nun auch der weiße
Drache noch näher heran gerückt war.
"Seit Anbeginn der Zeit lebten Menschen und
Drachen friedlich nebeneinander, bis einige beider Seiten versuchten, die
Herrschaft über die andere Rasse zu erlangen. Es folgten heftige Kämpfe,
bei denen viele starben - Menschen wie Drachen. Das ging so lange, bis
es kaum mehr welche von unserer Art gab. So zogen wir uns zurück,
um in Frieden und Ruhe zu leben, weit weg von den Menschen. Aber ganz wollten
wir die Beziehung zu ihnen nicht aufgeben, immer noch gab es einige, die
uns schätzten. Wir schlossen einen Pakt mit denen, die uns nicht verdammten
und mit Hilfe ihrer und unserer Magie ernannten wir jene, die wir die Hüter
nennen." Ein kurzer Blick seiner Augen streifte Garoth, der gespannt zu
Lysana blickte, um ihre Reaktionen zu erkennen.
Seleron fuhr fort: "Doch sie sollten nicht
nur die Hüter des Horts sein, sondern auch das Bindeglied zwischen
unseren beiden Rassen. Es sind ihrer immer zwei, ein Mann und eine Frau,
denn beide ergänzen sich zu einer Vollkommenheit, die unseren Nachkommen
ein Überleben sichern kann. Doch das Leben der Menschen währt
nur kurz, ein Wimpernschlag verglichen mit dem Lebensalter, das unsere
Art erreicht. Also beschlossen wir, den Hütern ein Geschenk zu machen
- das Geschenk eines fast ewig dauernden Lebens."
Schweigen. Lysana wurden die Knie weich und
sie setzte sich auf den Boden. Das, was sie bisher gehört hatte, war
für sie unfassbar... aber bevor sie wieder klare Gedanken fassen konnte,
erhob sich erneut eine Stimme. Es war nicht Seleron, der mit der Geschichte
fortfuhr. Die Stimme, die nun erklang, war weicher als die seine, weiblicher.
Sie gehörte dem weißen Drachen.
"Unser Geschenk war, wie du dir vielleicht
denken kannst, nicht ganz uneigennützig - es schmerzte uns, die zu
verlieren, die unserer Geburt beigewohnt und uns Schutz und Freundschaft
entgegen gebracht hatten. Es schien, als bestünde unser Dasein nur
aus Abschiednehmen von jenen, mit denen wir uns verbunden fühlten.
Und so beschlossen wir, den Hütern des Horts ein für ihre Verhältnisse
ewiges Leben zu ermöglichen. Bald mussten wir aber feststellen, dass
nicht jeder über dieses Geschenk glücklich war. Und waren sie
erst einmal verbittert, so versuchten sie, sich gegen uns zu stellen und
unsere Brut zu vernichten. Wir hatten nicht damit gerechnet und verloren
fast eine gesamte Nachkommenschaft. Nichts ist verwundbarer als ein ungeschlüpfter
Drache."
Gegen Ende war die Stimme immer leiser geworden,
bis sie kaum mehr war als ein Flüstern. In den Augen beider Drachen
glaubte Lysana eine Welle des Schmerzes zu erkennen, die sie unbarmherzig
mitzureißen drohte. Doch bevor sie sich völlig in dem Gefühl
der Traurigkeit verlor, fuhr Seleron mit der Erzählung fort und in
seiner Stimme schwang ein grimmiger Unterton mit.
"Die einzige Möglichkeit, uns dagegen
zu schützen, war, die Gunst des Lebens von der Gesinnung des Hüters
abhängig zu machen. Sobald er sich auch nur in Gedanken gegen uns
wendet, verwirkt er diese Gunst..."
"Ihr meint, ihr..." Lysana schluckte schwer
bei dem Gedanken daran, was ein Drache wohl mit einem Menschen tun würde,
der versuchte, ihn und seine Brut zu vernichten. Doch die Drachin schüttelte
nur müde den Kopf.
"Nein, wir fügen ihnen keinen Schaden
zu, dazu empfinden wir trotz allem zu viel Freundschaft für sie. Sie
verlieren einfach das Geschenk des ewigen Lebens. Geschieht dies innerhalb
ihrer natürlichen Lebensspanne, so passiert weiter nichts, als dass
er oder sie wieder sterblich wird und den Hort verlassen muss. Sobald er
den Hort verlässt, verliert er gleichzeitig auch jegliche Erinnerung
an das, was er war und was er getan hat, so dass er auch niemanden zu uns
führen kann, um uns Schaden zuzufügen. Hat er allerdings seine
natürliche Lebenszeit bereits überschritten, so..." sie ließ
die letzten Worte unausgesprochen, aber Lysana konnte sich vorstellen,
was mit jenen geschehen war.
Nun sprach Seleron: "Du, Lysana, bist dazu
auserkoren, als zweiter Hüter an der Seite Garoths unsere Brut zu
schützen und zwischen Menschen und Drachen zu vermitteln. Die Entscheidung
musst du alleine treffen. Solltest du glauben, du könntest dies nicht
tun, so wird dir nichts geschehen, außer dass Garoth dich zurück
zu deiner Familie bringen wird und du jegliche Erinnerung an uns und ihn
verlierst."
Abwartend blickten sie drei Augenpaare an.
Ewiges Leben und für die Wesen, die sie Zeit ihres Lebens bewundert
hatte, sorgen... dafür würde sie alle die, die sie liebte, sterben
sehen und auch deren Nachkommen überleben. Andererseits hatte sie
sich bereits gegen ihren Clan gestellt und ein Blick in die Augen der beiden
Drachen und Garoths zeigten ihr, wo ihr Platz, ihr neues Heim war. Bedächtig
erhob sie sich und blickte Seleron fest in die Augen - nein, eher in ein
Auge.
"Ich danke euch für euer Vertrauen und
hoffe, ich werde mich würdig erweisen." Mehr hatte sie nicht zu sagen
und verneigte sich vor den beiden Drachen. Als sie wieder aufschaute sah
sie in drei lächelnde Gesichter. Bei zweien von ihnen entblößte
dieses Lächeln wahrlich furchterregende Fänge, doch das machte
Lysana keine Angst - nicht mehr.
Garoth trat freudestrahlend zu ihr und nahm
sie vorsichtig in die Arme.
"Willkommen, Hüterin des Horts. Ich bin
glücklich, dich an meiner Seite zu wissen." Er hielt sie ein Stück
von sich weg. "Doch zunächst musst du die Weihe und die Gunst empfangen."
Als er ihren erschrockenen Blick sah, musst
er unwillkürlich lächeln. "Keine Angst, es ist nichts, was du
fürchten müsstest, das verspreche ich dir."
Behutsam zog er sie weiter, die Drachen stets
hinter ihnen. Lysana kam ein Gedanke.
"Garoth, sie haben gesagt, dass es immer zwei
Hüter gibt. Deine Gefährtin, ist sie...?"
Er blieb kurz stehen und nahm ihr Gesicht
in seine Hände. Dann blickte er sie ernst an.
"Sie hat ihr Schicksal selbst gewählt..."
Sie suchte nach einer Spur von Schmerz oder
Bedauern in seinem Blick, doch sie fand keine. Sie begriff, dass dieser
Abschnitt seines Lebens vorbei war und für sie wie für ihn heute
ein neues Kapitel in ihrem Leben, ihrem langen Leben, begann. Und sie spürte,
dass es für Drachen wie Menschen keinen besseren Hüter geben
konnte als Garoth.
Endlich betraten sie eine weite freie Fläche
außerhalb der Höhle. Sie hatten große Umwege gehen müssen,
damit die beiden Drachen ihnen folgen konnten und nun standen sie an einem
wunderbaren Ort, friedlich und ruhig, in dessen Mitte ein großer
klarer See lag. Garoth führte Lysana an das Ufer und bedeutete ihr,
sich auf ihre Knie nieder zu lassen. Er reichte ihr einen Pokal, den er
mit Wasser aus dem See gefüllt hatte. Langsam führte sie ihn
an ihre Lippen und die Flüssigkeit rann kühl ihre Kehle hinab.
Dieses Getränk schien ihr der süßeste Nektar zu sein, den
sie jemals gekostet hatte. Sie fühlte mit jedem Schluck, wie das Blut
in ihren Adern pochte bis ihr Herz zu zerspringen drohte. Stärke und
Wissen flossen in sie hinein und sie spürte die Veränderung klar
und deutlich, war sich dessen bewusst und genoss es, bis alles in einer
Explosion weißen Lichts endete. Als sie die Augen wieder aufschlug
sah sie Garoth neben sich knien, die Arme schützend um sie gelegt
als habe er Angst, sie wieder zu verlieren. Aber sie sah noch etwas. Nicht
nur Seleron und seine Gefährtin standen bei ihnen am Ufer. Noch mindestes
zehn weitere ihrer wunderschönen Artgenossen, schillernd in allen
Farben, hatten sich dort versammelt, um der Ernennung der neuen Hüterin
beizuwohnen. Sprachlos starrte sie in die vielen wissenden Augenpaare und
ein Schauer überlief ihren Rücken.
Langsam löste sich ein einzelner Drache
aus der Gruppe und schritt auf sie zu. Er war etwas kleiner als die anderen
und seine Farben leuchteten in den verschiedensten Rot- und Gelbtönen,
wie die aufgehende Sonne. Vorsichtig beugte er seinen mächtigen Schädel
zu ihr hinab und wieder erhielt sie einen zarten Stüber - diesmal
jedoch war sie gewappnet, ergriff zärtlich den riesigen Kopf und schmiegte
instinktiv ihre Wange an die seine. Dann erklang seine Stimme, als er liebevoll
zu ihr sprach.
"Sei willkommen, Gefährtin Garoths, Vermittlerin
zwischen den Rassen, Hüterin des Horts. Mein Name ist Ronagh. Du und
ich werden gemeinsam zu den Menschen gehen und versuchen, sie von der Unnötigkeit
ihres Hasses unserer Art gegenüber zu überzeugen."
Mit großen Augen blickte sie zuerst
Ronagh, dann Garoth an. Dieser nickte ihr zu und sagte lächelnd:
"Ja, dies wird deine erste Aufgabe als Hüterin und Vermittlerin sein
- du wirst zu deinem Clan reisen und ihnen diesen Drachentöterunsinn
austreiben!" Als er ihren Schreck erkannte, legte er ihr einen Arm um die
Schultern und sagte beruhigend: "Keine Angst, du wirst nicht alleine sein.
Furlagh und ich werden dich begleiten." Bei diesen Worten trat ein weiterer
Drache, schwarz wie die Nacht mit goldfarbenen Sprenkeln auf der Brust,
aus den Reihen der anderen vor. Er betrachtete sie eingehend, besonders
ihre Tätowierung erregte seine Aufmerksamkeit. Alles in seinem Gesicht
drückte Unmut aus, als er sich zu Garoth beugte und grollte: "Bevor
wir losziehen, müssen wir noch etwas erledigen."
Dann stieß sein riesiges Maul auf sie
zu und Lysana war sich sicher, dass er sie nun verschlingen würde.
Aber kurz vor ihrem Gesicht machte er halt und dann spürte sie eine
sanfte Berührung an ihrer Schläfe, ein zärtliches Kitzeln
wie von einer Feder, und als Furlagh seinen Kopf wieder zurückzog
schien es, als bertrachte er zufrieden ein Kunstwerk, das er geschaffen
hatte.
"Ja," hörte sie ihn schmunzeln, "so ist
es schon besser... viel besser!"
Unsicher schaute sie zu ihrem Gefährten,
und dieser nickte ihr aufmunternd zu. Sie kniete sich erneut nieder, diesmal,
um ihr Spiegelbild in der glatten Oberfläche des Sees zu betrachten.
Zunächst war sie enttäuscht. Die Tätowierung war immer noch
an ihrer Schläfe. Aber als sie genau hinsah, merkte sie, dass sie
sich verändert hatte. Die Lanze, die das Herz des Drachens druchstoßen
hatte, war nun verschwunden und der Drache, der sich zuvor in Agonie aufgebäumt
hat, öffnete stolz seine Schwingen zum Flug und es schien, als würde
er sich jeden Augenblick voller Stolz und Anmut in die Lüfte erheben.
"Ja," dachte sie, "so hätte es von Anfang an sein müssen." und
ein Lächeln überstrahlte ihr Gesicht.
Zufrieden drehte sie sich zu den anderen um.
"Ich danke dir, Furlagh. Du hast mir ein großes Geschenk gemacht,
größer, als du vielleicht vermutest."
Dann begab sie sich zu Ronagh, der sich so
klein wie möglich machte, um ihr das Aufsitzen zu erleichtern. Ein
kurzer Blick zu Garoth verdrängte das aufkeimende Gefühl der
Unsicherheit. Sie wusste, dies hier war einfach... richtig. Und sie wollte
es genießen, so lange sie nur konnte.
Als Ronagh sich vorsichtig in die Luft erhob,
brauchte sie einige Augenblicke, um sich an das ungewohnte Gefühl
zu gewöhnen. Dann spürte sie seine Kraft unter sich und das Wehen
ihres Haares und hätte platzen können vor Glück. Laut juchzte
sie voller Freude auf und schob den Gedanken an den Besuch ihres Clans
weit von ihr weg. Es würde eine schwierige Aufgabe werden, aber noch
brauchte sie sich darüber keine Sorgen zu machen. Nun war sie tatsächlich
"erwacht" - und für diesen Augenblick war sie einfach nur frei...
endlich frei!!!
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