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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern zur
zweitbesten Fantasy-Story 2008 im Drachental gewählt!

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Das Opfer von Peter Lässig

Der Wind peitschte die Wolken in Fetzen vor dem Vollmond Richtung Norden. Das Mondlicht, das in silbernen Strahlen immer wieder die Wolkendecke und das Blätterdach durchdrang, tauchte den nächtlichen Wald in gespenstisches, silbernes Licht.

Sie waren zu dritt, als sie in tiefster Nacht diesen heiligen Wald betreten hatten, aber es würden nur der Vater und der Schamane zurückkehren.
Winddorn schritt schweigsam neben ihrem Vater Angeldorn, stolz ihren Kopf gereckt in aufrechtem Gang, wie es sich für eine Prinzessin geziemte. Doch sie konnte nur mit Mühe und Not ihre Anspannung und vor allem ihre von Augenblick zu Augenblick stärker werdende Furcht vor den anderen verbergen. Nein, sie würde nicht um Gnade flehen, sie würde nicht sich und ihren Vater vor ihrem Volke entehren. Dennoch konnte sie es nicht verstehen, nein, sie wollte es nicht verstehen. Sie wusste um die Notwendigkeit dieses Ganges, doch sie war überzeugt, dass es niemals so weit hätte kommen müssen, hätte man in der Vergangenheit weitsichtiger gehandelt. Und sie zweifelte am Erfolg dieses Unternehmens.

Es waren so viele gewesen, und sie alle wurden im Schlaf überrascht. Nie zuvor waren sie so brutal angegriffen worden, und der Feind schlachtete rücksichtslos alles ab, was ihm in die Quere kam: Wehrlose und Alte, Kranke und die Jüngsten ihres Volkes.
Die meisten erst kürzlich wieder aufgebauten Behausungen waren nach dem Angriff bis auf die Grundmauern niedergebrannt, kaum jemand hatte mehr als sein nacktes Leben retten können. Die Ernte, oder besser das, was bisher noch auf den Feldern gewachsen war, war nun endgültig vernichtet.

Dieses Morden hatte vor einigen Monaten begonnen und obwohl sich die Krieger ihres Volkes immer wieder tapfer zur Wehr gesetzt hatten, hatten sie der Übermacht ihres Feindes im Grunde kaum etwas entgegenzusetzen. Man hatte schließlich kapituliert und einen ziemlich brüchigen Waffenstillstand ausgehandelt, der vor allem vom Feind, aber auch seitens ihres Volkes, gebrochen wurde. Die Leidtragenden waren hauptsächlich die Jüngsten und die Schwächsten ihres Volkes, denn die Nahrungsmittel wurden knapp und die Verwundeten konnten nicht versorgt werden. Krankheiten und Seuchen breiteten sich rasch aus und rafften diejenigen, die den Feuerstürmen der ersten Nächte entkommen waren, dahin.

Der jüngste Angriff zeigte doch ganz deutlich, dass man dem Feind nicht trauen konnte. Er hielt sich nicht an den ausgehandelten Waffenstillstand und er würde augenscheinlich nicht eher ruhen, bis ihr Volk vom Antlitz dieser Welt getilgt war.

Die Alten ihres Volkes waren zusammengekommen und hatten beratschlagt, was zu tun sei. Wie immer in solchen Zeiten der Krise wurde der Schamane befragt.
Sie konnte ihn noch nie leiden, er war ihr schon seit frühester Jugend unheimlich. Sie hatte nie einschätzen können, wie alt er sein mochte, aber höchstwahrscheinlich kannten nicht einmal die Ältesten sein wahres Alter.
Es hieß, er sei schon immer da gewesen, von Anbeginn der Zeit, und er sei so alt wie der Mond.

Der Schamane hatte ein Opfer gefordert. Seiner Ansicht nach würde der Feind nur dann abziehen, wenn man ein Opfer darbringen würde, so sei es auch der Wille der Götter.
Sie schnaubte. Wille der Götter. Weshalb sollte es irgendein Gott wollen, dass eine Jungfrau geopfert, geschlachtet wurde? Nur weil es irgendwo geschrieben stand?
Ihre Eltern waren freilich entsetzt, als das Los gerade sie getroffen hatte. Um Aufruhr in der der Bevölkerung zu vermeiden, durfte auch nicht die königliche Familie ausgeschlossen werden, als man eine Lotterie veranstaltete, welche unglückliche Jungfrau dem sicheren Tod zugeführt werden sollte.
Dass den Eltern der Unglücklichen höchste Ehren und finanzielle Unterstützung durch das Königshaus zugekommen wären, wäre ohnehin nur ein sehr schwacher Trost für die betroffene Familie gewesen. Doch das Schicksal wollte es, dass nicht eine Bauerstochter, sondern sie, die Prinzessin, diesen Gang unternehmen musste. Für den Schamanen eine weitere Bestätigung, wie wichtig dieses Opfer war. Wahrlich, die Götter waren erzürnt.

Der grimmige Schamane schritt in einigem Abstand hinter Vater und Tochter, sein grauer und narbiger Leib bewegte sich nahezu lautlos wie ein Geist, sich ungerührt auf die bevorstehende Zeremonie einstimmend mit Meditation und Gesang.

Vor ihnen tat sich eine kleine Lichtung auf, die gerade in silbernes Mondlicht getaucht war. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine gewaltige Weide, deren Blätter im leichten Wind raschelten.
"Hier", sagte der alte Schamane. "Er wird genau hierher kommen, so steht es geschrieben, so will es der Brauch, so ward es vereinbart."

Als sie die Lichtung überquert hatten und unter der Weide standen, fragte Winddorn leise: "Vater, bitte sage mir, warum musste es so weit kommen?"
Angeldorn seufzte. "Mein Volk stirbt, der Feind hat uns in seinem tödlichen Griff genommen. Es ist jedoch nicht so, dass mein Volk zum ersten Male diese harte Prüfung erdulden muss. Doch es liegt schon sehr, sehr lange zurück und ich hatte gehofft, meine Zeit würde verstreichen, ehe dies geschehen würde. Aber die Götter haben ihr Antlitz von uns abgewendet und uns ihre Boten des Verderbens geschickt, damit wir uns unserer Pflichten ihnen gegenüber bewusst werden."
"Ach, und eine dieser Pflichten besteht wohl darin, ihnen mein junges Leben zu schenken, oder wie darf ich das verstehen?"
"Er wird hierher kommen", mischte sich der Schamane ein, den plötzlichen Wutanfall der Prinzessin schlichtweg ignorierend, "und wenn er dich annimmt, werden uns die Götter wieder wohl gesonnen sein und ihre Boten des Verderbens wieder von uns nehmen..."
Angeldorn blickte unbehaglich von seiner Tochter weg und murmelte: "Glaube mir, geliebte Tochter, es dient dem Wohle des Volkes. Dein Opfer rettet das gesamte Volk."
"Dann werde ich bleiben, Vater. Zum Wohle meines Volkes." Diese Worte klangen kaum nach mehr als einem verächtlichen Schnauben.
Ihr Vater sah sie eindringlich ein: "Du wirst nicht versuchen zu fliehen, mein Kind?"
"Nein", erwiderte sie gelassen und setzte sich unter den Baum. "Im Gegensatz zu euch werde ich nicht weglaufen."
Angeldorn warf ihr einen flehenden Blick zu, doch sie sah weg. Nein, sie würde ihm nicht die Absolution erteilen. Ihr Vater war davon gelaufen vor dem Problem. Sie wusste, dass es eine andere Lösung gegeben hätte, sie hatte einige Gespräche des Ältestenrates belauscht. Aber diese Opfervariante war die einfachste Lösung, denn was bedeutete schon ein Leben im Getriebe der Monarchie? Und beim Volk kam diese Geste besonders gut an.

Sie hatte noch den Klang des Liedes in ihren Ohren, den man ihr zu Ehren verfasst hatte.

Schreite in Würde, sei ohne Furcht
Denn du bist Hoffnung für alle
Sterbe in Würde, sei ohne Furcht
Dein Opfer erlöse uns alle

Erneut schnaubte sie. Statt ein Lied zu dichten hätte man sich lieber um eine solidere Lösung bemühen sollen. Was, wenn ihr Opfer vergebens war, der Feind sie weiter angreifen würde? Wer würde dann als nächstes ausgelost werden? Und wenn es keine Jungfrauen mehr gab in ihrem Dorfe?

Sie spürte immer noch die Blicke ihres Vaters auf sich ruhen und erwiderte nun doch seinen Blick. Zu sagen gab es jedoch jetzt nichts mehr, und so gingen sie schließlich wieder und ließen sie unter der Weide zurück. Angeldorn warf einen letzen, schmerzerfüllten Blick zurück, doch schon bald hatte die Finsternis ihren Vater und den Schamanen verschlungen und sie war nun ganz allein.

Sie wartete zitternd unter der Weide, noch nie in ihrem Leben zuvor hatte sie eine solche Angst verspürt, nicht einmal bei den furchtbaren Angriffen des Feindes.
Viele schlimme Geschichten hatte sie über den Feind gehört, von Folter und Schändung - angeblich sei der Tod das gnädigste, was einem durch den Feind widerfahren würde.

Der Mond hatte sich nun wieder hinter dunkle Wolkenschleier gehüllt, am Horizont erhellte Wetterleuchten für Sekundenbruchteile die Nacht.
Eine Feldermaus flatterte unmittelbar vor ihrem Gesicht vorbei und sie zuckte erschrocken zusammen. Irgendein Tier heulte in der Dunkelheit, ein klagender Schrei, ein Schrei voller Schmerz und Tod.

Ängstlich blickte sie sich um, ihr Kopf drehte sich unablässig, während sie versuchte, in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen und mit aufgerissenen Augen die Finsternis zwischen den Bäumen zu durchdringen. Wenn doch der Mond wenigstens wieder sein silbernes Licht spenden würde.
Sie könnte einfach aufstehen und fliehen. Aber sie blieb sitzen. Sie war eine Prinzessin.
Sterbe in Würde, sei ohne Furcht
Genau das würde sie tun, sie würde der Angst nicht nachgeben, sie würde tapfer sein, sie...

Sie zuckte zusammen. Das Geräusch schwerer, schleifender Schritte war an ihre Ohren gedrungen und ließ ihr das Blut in ihren Adern gefrieren. Waren schon die üblichen Geräusche in einem nächtlichen Wald gespenstisch genug, sei es das Heulen des Windes oder das Rascheln von Zweigen und Laub oder das Rufen eines Kauzes, so wurden diese noch unheimlicher und bedrohlicher, wenn man in diesem Wald seinen eigenen Tod erwartete.
Und der Tod näherte sich unerbittlich, bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch das Unterholz, ließ Zweige brechen und den Waldboden vibrieren.

Sie wandte den Blick ab, kaum fähig zu atmen. Die Nachtluft war nun erfüllt von unbeschreiblichem Gestank - der Gestank von Tod und Verderben.
Etwas kam. Sie wollte es nicht sehen, aber sie konnte ihren Blick nicht lassen von den sich bewegenden Zweigen unmittelbar in ihrer Nähe.
Sie schloss kurz ihre Augen, um ihr letztes Gebet zu sprechen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie ihn: stolz, grausam, unerbittlich.

Er stand nun direkt vor ihr und schaute auf ihren prächtigen, mit silbernen Schuppen besetzten, wohlgeformten Drachenleib herab.
Er war groß und stattlich und sein muskulöser Körper strahlte innere Ruhe und den Stolz aus, der seiner Rasse so zu eigen war.
Ihre Blicke begegneten einander, ihre Augen schüchtern und sittsam, seine Augen voll brennendem Verlangen und Leidenschaft. Sie fühlte, wie ihr Herz ihm entgegen flog, sie wollte nur noch bei ihm sein, mit ihm vereinigt sein bis zu dem Augenblick ihres Todes.
Winddorn warf nun ihren Kopf zurück, einzelne Mondstrahlen, die sich ihren Weg durch die dichte Wolkendecke bahnen konnten, ließen ihre Schuppen silbern glänzen und funkeln. Mit einer krallenbewehrten Tatze scharrte sie nervös am Boden.

Dann kam er zu ihr, langsam, Schritt für Schritt, ging vor ihr auf die Knie und streckte seine Arme nach ihr aus. Ein wohliger Schauder durchlief ihren Körper, als er ihre Schnauze zu seinem Gesicht heranzog und sie sanft küsste, er, der schreckliche Mensch.
 

© Peter Lässig
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