Der Wind peitschte die Wolken in Fetzen vor dem Vollmond Richtung
Norden. Das Mondlicht, das in silbernen Strahlen immer wieder die Wolkendecke
und das Blätterdach durchdrang, tauchte den nächtlichen Wald
in gespenstisches, silbernes Licht.
Sie waren zu dritt, als sie in tiefster Nacht diesen heiligen Wald
betreten hatten, aber es würden nur der Vater und der Schamane zurückkehren.
Winddorn schritt schweigsam neben ihrem Vater Angeldorn, stolz ihren
Kopf gereckt in aufrechtem Gang, wie es sich für eine Prinzessin geziemte.
Doch sie konnte nur mit Mühe und Not ihre Anspannung und vor allem
ihre von Augenblick zu Augenblick stärker werdende Furcht vor den
anderen verbergen. Nein, sie würde nicht um Gnade flehen, sie würde
nicht sich und ihren Vater vor ihrem Volke entehren. Dennoch konnte sie
es nicht verstehen, nein, sie wollte es nicht verstehen. Sie wusste
um die Notwendigkeit dieses Ganges, doch sie war überzeugt, dass es
niemals so weit hätte kommen müssen, hätte man in der Vergangenheit
weitsichtiger gehandelt. Und sie zweifelte am Erfolg dieses Unternehmens.
Es waren so viele gewesen, und sie alle wurden im Schlaf überrascht.
Nie zuvor waren sie so brutal angegriffen worden, und der Feind schlachtete
rücksichtslos alles ab, was ihm in die Quere kam: Wehrlose und Alte,
Kranke und die Jüngsten ihres Volkes.
Die meisten erst kürzlich wieder aufgebauten Behausungen waren
nach dem Angriff bis auf die Grundmauern niedergebrannt, kaum jemand hatte
mehr als sein nacktes Leben retten können. Die Ernte, oder besser
das, was bisher noch auf den Feldern gewachsen war, war nun endgültig
vernichtet.
Dieses Morden hatte vor einigen Monaten begonnen und obwohl sich
die Krieger ihres Volkes immer wieder tapfer zur Wehr gesetzt hatten, hatten
sie der Übermacht ihres Feindes im Grunde kaum etwas entgegenzusetzen.
Man hatte schließlich kapituliert und einen ziemlich brüchigen
Waffenstillstand ausgehandelt, der vor allem vom Feind, aber auch seitens
ihres Volkes, gebrochen wurde. Die Leidtragenden waren hauptsächlich
die Jüngsten und die Schwächsten ihres Volkes, denn die Nahrungsmittel
wurden knapp und die Verwundeten konnten nicht versorgt werden. Krankheiten
und Seuchen breiteten sich rasch aus und rafften diejenigen, die den Feuerstürmen
der ersten Nächte entkommen waren, dahin.
Der jüngste Angriff zeigte doch ganz deutlich, dass man dem
Feind nicht trauen konnte. Er hielt sich nicht an den ausgehandelten Waffenstillstand
und er würde augenscheinlich nicht eher ruhen, bis ihr Volk vom Antlitz
dieser Welt getilgt war.
Die Alten ihres Volkes waren zusammengekommen und hatten beratschlagt,
was zu tun sei. Wie immer in solchen Zeiten der Krise wurde der Schamane
befragt.
Sie konnte ihn noch nie leiden, er war ihr schon seit frühester
Jugend unheimlich. Sie hatte nie einschätzen können, wie alt
er sein mochte, aber höchstwahrscheinlich kannten nicht einmal die
Ältesten sein wahres Alter.
Es hieß, er sei schon immer da gewesen, von Anbeginn der Zeit,
und er sei so alt wie der Mond.
Der Schamane hatte ein Opfer gefordert. Seiner Ansicht nach würde
der Feind nur dann abziehen, wenn man ein Opfer darbringen würde,
so sei es auch der Wille der Götter.
Sie schnaubte. Wille der Götter. Weshalb sollte es irgendein
Gott wollen, dass eine Jungfrau geopfert, geschlachtet wurde? Nur weil
es irgendwo geschrieben stand?
Ihre Eltern waren freilich entsetzt, als das Los gerade sie getroffen
hatte. Um Aufruhr in der der Bevölkerung zu vermeiden, durfte auch
nicht die königliche Familie ausgeschlossen werden, als man eine Lotterie
veranstaltete, welche unglückliche Jungfrau dem sicheren Tod zugeführt
werden sollte.
Dass den Eltern der Unglücklichen höchste Ehren und finanzielle
Unterstützung durch das Königshaus zugekommen wären, wäre
ohnehin nur ein sehr schwacher Trost für die betroffene Familie gewesen.
Doch das Schicksal wollte es, dass nicht eine Bauerstochter, sondern sie,
die Prinzessin, diesen Gang unternehmen musste. Für den Schamanen
eine weitere Bestätigung, wie wichtig dieses Opfer war. Wahrlich,
die Götter waren erzürnt.
Der grimmige Schamane schritt in einigem Abstand hinter Vater und
Tochter, sein grauer und narbiger Leib bewegte sich nahezu lautlos wie
ein Geist, sich ungerührt auf die bevorstehende Zeremonie einstimmend
mit Meditation und Gesang.
Vor ihnen tat sich eine kleine Lichtung auf, die gerade in silbernes
Mondlicht getaucht war. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine
gewaltige Weide, deren Blätter im leichten Wind raschelten.
"Hier", sagte der alte Schamane. "Er wird genau hierher kommen,
so steht es geschrieben, so will es der Brauch, so ward es vereinbart."
Als sie die Lichtung überquert hatten und unter der Weide standen,
fragte Winddorn leise: "Vater, bitte sage mir, warum musste es so weit
kommen?"
Angeldorn seufzte. "Mein Volk stirbt, der Feind hat uns in seinem
tödlichen Griff genommen. Es ist jedoch nicht so, dass mein Volk zum
ersten Male diese harte Prüfung erdulden muss. Doch es liegt schon
sehr, sehr lange zurück und ich hatte gehofft, meine Zeit würde
verstreichen, ehe dies geschehen würde. Aber die Götter haben
ihr Antlitz von uns abgewendet und uns ihre Boten des Verderbens geschickt,
damit wir uns unserer Pflichten ihnen gegenüber bewusst werden."
"Ach, und eine dieser Pflichten besteht wohl darin, ihnen mein junges
Leben zu schenken, oder wie darf ich das verstehen?"
"Er wird hierher kommen", mischte sich der Schamane ein,
den plötzlichen Wutanfall der Prinzessin schlichtweg ignorierend,
"und wenn er dich annimmt, werden uns die Götter wieder wohl gesonnen
sein und ihre Boten des Verderbens wieder von uns nehmen..."
Angeldorn blickte unbehaglich von seiner Tochter weg und murmelte:
"Glaube mir, geliebte Tochter, es dient dem Wohle des Volkes. Dein Opfer
rettet das gesamte Volk."
"Dann werde ich bleiben, Vater. Zum Wohle meines Volkes." Diese
Worte klangen kaum nach mehr als einem verächtlichen Schnauben.
Ihr Vater sah sie eindringlich ein: "Du wirst nicht versuchen zu
fliehen, mein Kind?"
"Nein", erwiderte sie gelassen und setzte sich unter den Baum. "Im
Gegensatz zu euch werde ich nicht weglaufen."
Angeldorn warf ihr einen flehenden Blick zu, doch sie sah weg. Nein,
sie würde ihm nicht die Absolution erteilen. Ihr Vater war davon gelaufen
vor dem Problem. Sie wusste, dass es eine andere Lösung gegeben hätte,
sie hatte einige Gespräche des Ältestenrates belauscht. Aber
diese Opfervariante war die einfachste Lösung, denn was bedeutete
schon ein Leben im Getriebe der Monarchie? Und beim Volk kam diese Geste
besonders gut an.
Sie hatte noch den Klang des Liedes in ihren Ohren, den man ihr zu
Ehren verfasst hatte.
Schreite in Würde, sei ohne Furcht
Denn du bist Hoffnung für alle
Sterbe in Würde, sei ohne Furcht
Dein Opfer erlöse uns alle
Erneut schnaubte sie. Statt ein Lied zu dichten hätte man sich
lieber um eine solidere Lösung bemühen sollen. Was, wenn ihr
Opfer vergebens war, der Feind sie weiter angreifen würde? Wer würde
dann als nächstes ausgelost werden? Und wenn es keine Jungfrauen mehr
gab in ihrem Dorfe?
Sie spürte immer noch die Blicke ihres Vaters auf sich ruhen
und erwiderte nun doch seinen Blick. Zu sagen gab es jedoch jetzt nichts
mehr, und so gingen sie schließlich wieder und ließen sie unter
der Weide zurück. Angeldorn warf einen letzen, schmerzerfüllten
Blick zurück, doch schon bald hatte die Finsternis ihren Vater und
den Schamanen verschlungen und sie war nun ganz allein.
Sie wartete zitternd unter der Weide, noch nie in ihrem Leben zuvor
hatte sie eine solche Angst verspürt, nicht einmal bei den furchtbaren
Angriffen des Feindes.
Viele schlimme Geschichten hatte sie über den Feind gehört,
von Folter und Schändung - angeblich sei der Tod das gnädigste,
was einem durch den Feind widerfahren würde.
Der Mond hatte sich nun wieder hinter dunkle Wolkenschleier gehüllt,
am Horizont erhellte Wetterleuchten für Sekundenbruchteile die Nacht.
Eine Feldermaus flatterte unmittelbar vor ihrem Gesicht vorbei und
sie zuckte erschrocken zusammen. Irgendein Tier heulte in der Dunkelheit,
ein klagender Schrei, ein Schrei voller Schmerz und Tod.
Ängstlich blickte sie sich um, ihr Kopf drehte sich unablässig,
während sie versuchte, in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen und
mit aufgerissenen Augen die Finsternis zwischen den Bäumen zu durchdringen.
Wenn doch der Mond wenigstens wieder sein silbernes Licht spenden würde.
Sie könnte einfach aufstehen und fliehen. Aber sie blieb sitzen.
Sie war eine Prinzessin.
Sterbe in Würde, sei ohne Furcht
Genau das würde sie tun, sie würde der Angst nicht nachgeben,
sie würde tapfer sein, sie...
Sie zuckte zusammen. Das Geräusch schwerer, schleifender Schritte
war an ihre Ohren gedrungen und ließ ihr das Blut in ihren Adern
gefrieren. Waren schon die üblichen Geräusche in einem nächtlichen
Wald gespenstisch genug, sei es das Heulen des Windes oder das Rascheln
von Zweigen und Laub oder das Rufen eines Kauzes, so wurden diese noch
unheimlicher und bedrohlicher, wenn man in diesem Wald seinen eigenen Tod
erwartete.
Und der Tod näherte sich unerbittlich, bahnte sich rücksichtslos
einen Weg durch das Unterholz, ließ Zweige brechen und den Waldboden
vibrieren.
Sie wandte den Blick ab, kaum fähig zu atmen. Die Nachtluft
war nun erfüllt von unbeschreiblichem Gestank - der Gestank von Tod
und Verderben.
Etwas kam. Sie wollte es nicht sehen, aber sie konnte ihren Blick
nicht lassen von den sich bewegenden Zweigen unmittelbar in ihrer Nähe.
Sie schloss kurz ihre Augen, um ihr letztes Gebet zu sprechen, und
als sie sie wieder öffnete, sah sie ihn: stolz, grausam, unerbittlich.
Er stand nun direkt vor ihr und schaute auf ihren prächtigen,
mit silbernen Schuppen besetzten, wohlgeformten Drachenleib herab.
Er war groß und stattlich und sein muskulöser
Körper strahlte innere Ruhe und den Stolz aus, der seiner Rasse so
zu eigen war.
Ihre Blicke begegneten einander, ihre Augen schüchtern und
sittsam, seine Augen voll brennendem Verlangen und Leidenschaft. Sie fühlte,
wie ihr Herz ihm entgegen flog, sie wollte nur noch bei ihm sein, mit ihm
vereinigt sein bis zu dem Augenblick ihres Todes.
Winddorn warf nun ihren Kopf zurück, einzelne Mondstrahlen,
die sich ihren Weg durch die dichte Wolkendecke bahnen konnten, ließen
ihre Schuppen silbern glänzen und funkeln. Mit einer krallenbewehrten
Tatze scharrte sie nervös am Boden.
Dann kam er zu ihr, langsam, Schritt für Schritt, ging vor ihr
auf die Knie und streckte seine Arme nach ihr aus. Ein wohliger Schauder
durchlief ihren Körper, als er ihre Schnauze zu seinem Gesicht heranzog
und sie sanft küsste, er, der schreckliche Mensch.
© Peter
Lässig
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