Lena summte leise vor sich hin, während
sie den kiesbedeckten Waldweg entlang schritt. Es war Frühling. Ein
ganzer Chor aus Vogelstimmen zwitscherte im Geäst über ihr, der
Wind rauschte in den frischen, grünen Blättern. Äste splitterten,
als ein massiger Körper sich seinen Weg bahnte. Lächelnd drehte
sich Lena zu der grossen, schwarzen Neufundländermischung um, die
gerade aus dem Dickicht aufgetaucht war. Bei Streifzügen durch die
freie Natur war der Hund seit Jahren ihr ständiger Begleiter. Ausserdem
war es wohl der Einzige, der den Wald mindestens so liebte wie sie.
Für einige Minuten trabte der Hund beinahe
gesittet hinter ihr her, dann jedoch schien er etwas zu riechen und war
sogleich wieder in den Büschen verschwunden. Lena konnte kurz darauf
sein aufgeregtes Gekläff hören, dem hellen Ton nach musste er
auf irgendeine interessante Spur gestossen sein. Einen Augenblick dachte
sie darüber nach, ihn zu sich zu rufen, doch dann entschied sie sich
dagegen. Früher oder später würde er von selbst wieder auftauchen.
Erschöpft, aber mit einem Hecheln, das beinahe schon einem Grinsen
glich.
Gemächlich schlenderte sie weiter, stiess
hin und wieder einen grösseren Stein vor sich her und sang jetzt leise
Textstellen aus einem Lied, das zur Zeit immer im Radio zu hören war.
Es verstrich fast eine ganze Minute, bis sie
bemerkte, dass etwas nicht mehr stimmte. Die Vögel waren verstummt
und das fröhliche Gekläff ihres Hundes war zu wütendem Gebell
angeschwollen. Aber da war noch mehr... eine ungute Vorahnung. Lena spürte,
wie sich die Härchen auf ihrem Rücken aufrichteten.
"Balou! Balou, komm her!" Sie erschrak, wie
zittrig ihre Stimme klang. Mit einem Male erschien der Wald ihr düster
und feindlich. Der unbesorgte frühlingshafte Hauch war verschwunden.
Der Hund kam nicht. Statt dessen hörte
sie, wie sein Gebell sich zu wütendem Knurren wandelte. Äste
knackten, das Geräusch von aufeinanderschnappenden Kiefern war zu
hören, dazwischen tiefes Grollen. Dieses Mal musste Balou tatsächlich
das Ende seiner Spur gefunden haben. Aber was ihn dort erwartete, war nicht
das, was er gesucht hatte. Das Knurren verwandelte sich in ersticktes Winseln,
dann war nichts mehr zu hören.
Lena wurde es übel. "BALOU!!!"
Ihr erster Impuls war, ins Dickicht zu stürzen
und nach ihrem Hund zu sehen, doch dann gewann die Vernunft noch einmal
die Oberhand. Irgendetwas versteckte sich im Gebüsch. Etwas, das gerade
ihren Hund getötet hatte. Langsam, starr die Büsche fixierend,
wich sie Schritt für Schritt zurück.
Im Unterholz war es absolut still, kein Blatt
raschelte, nichts. Zu still. Etwas lag auf der Lauer, dunkle Augen waren
auf sie gerichtet, sie konnte es fühlen.
Panik, die sie bis jetzt mühsam nieder
gehalten hatte, stieg würgend in ihr hoch. Sie drehte sich um und
begann zu laufen. Gleichzeitig kam das Gebüsch rund um sie in Bewegung.
Aus den Augenwinkeln glaubte sie einen Schatten zu erkennen, dann versperrte
ihr eine Gestalt den Weg. Wie angewurzelt blieb das Mädchen stehen.
Vor ihr, mitten auf dem kiesbedeckten Waldweg, stand ein Wolf.
Ungläubig starrte sie das Tier an. Das
war doch nicht möglich! Ein Wolf, hier!
Langsam und mit gefletschten Zähnen kam
das Tier auf sie zu. Lena konnte die kräftigen Muskeln sehen, die
unter dem grauen Fell spielten.
Sie musste sich nicht umdrehen, mehr als dass
sie es sah, fühlte sie, dass auch hinter ihr Wölfe aufgetaucht
waren. Wie eine stumme Mauer umringten sei das Mädchen.
"Was... was wollt ihr?"
Fast als hätte er sie verstanden, hob
der Wolf den Kopf und sie sah direkt in seine braunen Augen. Die Härchen
in ihrem Nacken sträubten sich erneut, irgendetwas war in diesem Blick,
das nicht da sein sollte, nicht in den Augen eines Tieres. Instinktiv machte
sie einen Schritt rückwärts, doch tiefes, drohendes Knurren liess
sie sofort wieder erstarren.
Eine Bewegung im Gebüsch zu ihrer Linken
liess ihren Kopf herumrucken. Die Blätter teilten sich erneut, doch
diesmal erschien kein weiterer Wolf. Zu Lenas Erleichterung war es ein
Mensch, der aus dem Dickicht auftauchte.
"Zum Glück sind sie hier! Schnell, helfen
sie mir!" Lenas Stimme überschlug sich beinahe. Sie zitterte jetzt
am ganzen Körper.
Der Mann zeigte keine Reaktion. Ruhig musterte
er sie von oben bis unten.
"Schnell...", ihre Stimme versagte, als ihre
Augen über seinen Körper wanderten. Der Oberleib war unbekleidet,
um die Hüfte trug er etwas, was wohl einmal eine Hose gewesen war.
Die Haare waren schwarz und fast schulterlang. Kleine Zweige und Blätter
hatten sich in ihnen verfangen.
Zeit für eine längere Inspektion
hatte sie nicht. Der Unbekannt kam auf sie zu, durchschritt den Kreis der
Wölfe, die ihm bereitwillig Platz machten. Kaum einen halben Meter
von ihr entfernt blieb er stehen und sah ihr jetzt direkt ins Gesicht.
Sie wollte den Blick abwenden, doch sie konnte es nicht. Die fremdartigen
Augen zogen sie in ihren Bann, schmal, ein wenig schräggestellt und
so schwarz wie seine Haare.
Als der Fremde schliesslich zu sprechen anhob,
liess der Klang seiner Stimme sie zusammenzucken, obwohl er so leise sprach,
dass sie die Worte mehr erraten musste, als dass sie sie wirklich hörte.
"Komm mit!" Er drehte sich um und verschwand
vor ihr im Unterholz.
Lenas Gedanken begannen zu rasen. Die ganze
Situation war so unmöglich, die Wölfe, der Mann... Sie war knapp
zehn Minuten von der nächsten Siedlung entfernt, Wölfe im ganzen
Land seit Ewigkeiten ausgerottet...
Ungeduldiges Knurren zwang sie zum Handeln.
Wie in Trance bog Lena einige Äste zur Seite und zwängte sich
dazwischen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dem Unbekannten zu
folgen. Sie wollte gar nicht wissen was er dort im Unterholz mit ihr vorhatte.
Die Wölfe schienen entschlossen, ihr
keine Wahl zu lassen. Ob der Mann sie wohl abgerichtet hatte? Sie wichen
ihr nicht von der Seite, während sie sich durch das verfilzte Unterholz
kämpfte. Von dem Mann selbst war nichts mehr zu sehen, er war so plötzlich
verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Sie konnte später nicht sagen, wie lange
sie sich durch das Unterholz gemüht hatte. Es konnten Stunden gewesen
sein, oder vielleicht auch nur einige Minuten. Jedenfalls blieben die Wölfe
plötzlich stehen und bildeten hinter ihr einen Halbkreis, der ihr
jeden Fluchtweg in diese Richtung abschnitt. Wie aus dem Nichts tauchte
vor ihr ein weiterer Wolf auf und vertrat ihr den Weg nach vorne. Erneut
sah sich Lena umringt von Wölfen. Würde der Mann jetzt erneut
auftauchen? Sie hielt den Atem an, aber es tat sich nichts. Die Wölfe
starrten sie einfach nur an, als würden sie auf etwas warten. Lenas
Blick blieb an dem Tier vor ihr hängen. Es war vorher nicht dabeigewesen,
da war sie sich sicher. Der Wolf war deutlich grösser als seine Artgenossen
und kohlrabenschwarz. Aus seinen schmalen, leicht schräggestellten
Augen blickte er sie unverwandt an. Lena konnte den Blick nicht mehr abwenden,
die Augen so schwarz wie das Fell.
Ohne Vorwarnung schnellte der Wolf plötzlich
vom Boden hoch. Der Aufprall brachte sie zu Fall. Sie spürte die harten,
bekrallten Vorderpfoten auf ihrer Brust, als er sich über sie beugte.
Dann schlossen sich seine Fänge um ihre Kehle. Brennender Schmerz
durchzuckte sie. Sie wollte sich wehren, wollte schreien, aber ihr Körper
war wie gelähmt. Schwärze waberte auf, umfasste ihre Sinne bis
sie nichts mehr erkennen konnte.
Der Wolf öffnete seine Kiefer. Er schenkte
dem schlaffen Körper einen letzten Blick aus seinen schwarzen Augen,
dann drehte er sich um und verschwand im Dickicht. Der Rest des Rudels
folgte ihm.
Wirbelnde Dunkelheit, Nebelfetzen, schwarz,
dazwischen rot, quälender Schmerz...
Vorsichtig bewegte Lena ihren rechten Arm,
trockenes Laub knisterte, unter ihren Fingern fühlte sie festen Waldboden.
Blinzelnd schlug sie die Augen auf. Über ihr bewegten sich sanft die
Äste im Wind. Vögel zwitscherten, hin und wieder war zwischen
den Blättern ein Stückchen blauer Himmel zu sehen. Was war geschehen?
Ein dumpfer Schmerz pochte in ihrer Kehle.
Zögernd hob sie die Hand. Ihre Finger tauchten in warme, klebrige
Flüssigkeit. Blut.
***
Nervös ging Lena in ihrem Zimmer auf und
ab. Es war mitten in der Nacht und stockdunkel, durch den schweren Vorhang
drang nur ein schwacher Schimmer Mondlicht, doch sie kannte den Raum gut
genug, um nirgendwo anzustossen.
Was war nur los mit ihr? Sie war doch sonst
nicht so, normalerweise ging sie zu Bett und schlief bereits Minuten darauf
tief und fest. Wieso wollte ihr das heute nicht gelingen?
Seufzend setzte sie sich auf eine Stuhl. Nur,
um kurz darauf wieder aufzustehen und ihre ruhelose Wanderung fortzusetzen.
Sie konnte es einfach nicht ertragen, ruhig zu sitzen, geschweige denn
zu liegen. Ein seltsames Kribbeln war in ihrem Bauch, manchmal hatte sie
das Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Wurde sie
krank?
Das Mondlicht malte verlockende Muster auf
den dunklen Teppich. Lena trat ans Fenster und zog den Vorhang beiseite.
Der Vollmond leuchtete so hell, dass sein Licht sie beinahe blendete. Sie
fühlte, wie das Kribbeln in ihrem Bauch sich verstärkte und dann
plötzlich auch auf ihren restlichen Körper übergriff. Warme
und kalte Schauer rannen ihr über den Rücken. Ihre Haut fühlte
sich an, als wären Tausende von Ameisen darauf unterwegs.
Beunruhigt wich sie einen Schritt zurück.
Einen Moment später fand sie sich auf dem Boden wieder, wieso war
sie gestrauchelt?
Das Kribbeln wurde stärker, es war beinahe
schon schmerzhaft zu nennen. Lena stützte sich mit der Hand ab, um
wieder auf die Beine zu kommen. Es gelang ihr nicht. Mit einem kurzen Japsen
fiel sie wieder zurück. Was war hier nur los?
Draussen heulte ein Wolf. Der tiefe, wehmütige
Ton erfüllte für einen Moment den Raum. Lena erstarrte, das war
doch unmöglich! Dann, ganz langsam, begann sie zu verstehen. Die unheimliche
Begegnung im Wald, ihre Verletzung...
Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sie
sich auf ihre vier Läufe. Die Tür war nur angelehnt, Lena stiess
sie kurz mit der Schnauze an und zwängte sich in den düsteren
Korridor. Es kostete sie noch eine kleine Anstrengung, bis sie in ihrer
neuen Gestalt die Hautür geöffnet hatte, dann verschwand sie
in der Dunkelheit.
© Deya
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