Diese Geschichte ist ab 2004 am Drachentaler Wettbewerb leider nicht mehr teilnahmeberechtigt,
da sie in den vorherigen Jahren zu wenig Punkte erhalten hat.
 
Die Entdeckung Tumarins von Dracessa

Wenn der Tod jemals über ein eigenes Reich geherrscht hatte, dann musste dies seine Hauptstadt sein. Da-Lean hatte es geschafft. Endlich, nach tagelangem Fussmarsch unter einer erbarmungslos brennenden Sonne. Das Pferd, ja, so etwas hatte es tatsächlich einmal gegeben. Es hatte sich geweigert, noch einen Schritt weiter in diese Wüste zu tun und war irgendwann einfach stehen geblieben. Es war ein gutes Pferd gewesen. Etwas zu alt vielleicht für solch ein Abenteuer, aber immer treu. Bis auf dieses eine Mal. Da-Lean war ihm nicht böse deswegen. Es hatte wahrscheinlich gespürt, dass alles besser sein würde, als ihn an diesen Ort zu begleiten. Vermutlich war es tot.
Damals, in einem anderen Leben, da war Da-Lean ein Held. Ein Draufgänger, der keine Gefahren scheute. In einer Kneipe hatten die Gerüchte über diesen Ort seine Neugier geweckt. Tumarin hatte der Alte ihn damals genannt. Oder war das der Name des Reiches gewesen? Da-Lean erinnerte sich nicht mehr. Es war nicht mehr wichtig.
Die Sonne hatte alles Unwichtige aus ihm herausgebrannt. Er musste Wasser finden. Wasser war wichtig! Eine Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm zu, dass er hier kein Wasser finden würde. Da-Lean sah sich trotzdem um.
Da waren die Häuser: Weiß gekalkt und ein wenig verfallen aber immer noch bewohnbar. Doch die Fenster waren blind. Kein Vorhang wehte im Wind und keine Türe öffnete sich freundlich dem müden Wanderer. Tumarin war eine Geisterstadt. Doch das hatte ihm schon der Alte in der Kneipe verraten. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das Da-Lean’s Verstand noch nicht benennen konnte. Etwas, das sich ihm immer wieder entzog, bis es ihm schließlich mit einem Mal klar wurde: Es gab hier nicht nur keine Menschen, es gab hier überhaupt nichts lebendiges mehr. Es gab keine Pflanzen; keine Kakteen, keine Flechten, nicht den allervertrocknetsten Dornbusch. Und es gab auch keine Tiere hier. Keine Vögel, keine Eidechsen, keine Schlangen. Aber auch keine Käfer, keine Spinnen und vermutlich noch nicht einmal Skorpione. Nicht einmal Wind schien es in dieser verfluchten Stadt zu geben.
"Wer die Stadt erreicht, kehrt nie zurück." Hatte der Alte gesagt. Da-Lean hatte es als Ammenmärchen abgetan, damals, in einem anderen Leben. In diesem Leben war er mehr als versucht, den Worten des Alten zu glauben. Auch er würde sicher nicht zurückkehren, wenn es ihm nicht gelänge, Wasser zu finden. Die Sonne brannte. Wasser war wichtig!
Da-Lean begann die Häuser zu durchsuchen. Und dort sah er sie: Die ersten Mumien seines Lebens. Keine einbalsamierten Könige, für die Ewigkeit in Leinen gewickelt, sondern ganz normale Menschen. Sie lagen in ihren Betten, saßen an ihren Tischen oder lagen ganz einfach auf dem Boden. Gerade so, als hätten sie genau dort ihren Tod erwartet. 
Da-Lean fand Weizenkörner. Da-Lean fand Salz. Er fand einen alten Webstuhl und sogar einen Tonkrug, in dem einmal Wein gewesen sein mochte. Aber er fand kein Wasser. 
Da-Lean erreichte den Mittelpunkt der Stadt und betrat schließlich auf seiner Suche nach Wasser den Tempel. "Menschenopfer", schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Warum kam er gerade jetzt darauf? Hatte der Alte damals davon gesprochen? Da-Lean konnte sich nicht mehr erinnern. War es wichtig gewesen? Die Sonne brannte. Wasser. Wasser war wichtig!
Im Innern des Tempels herrschte dämmriges Licht. Aber es war so heiß und stickig wie in einem Backofen. Die riesige Halle war leer bis auf eine blendend weiße Statue, die einen Krug in der Hand hielt. Aus dem Krug tropfte eine durchsichtige Flüssigkeit in einen reich verzierten Kelch darunter. Der Kelch war übervoll und so versickerte ein Teil der kostbaren Flüssigkeit im Boden. "Gift!", schrillte es durch Da-Lean's Verstand. "In Tumarin nahmen die Menschen Gift, zu Ehren der Göttin und zum Wohl ihrer Kinder." So hatte es der alte Mann erzählt. Da-Lean wich ein wenig zurück.
Aber da war noch etwas gewesen in dieser Geschichte. Etwas wichtiges. Es hatte mit der Göttin zu tun. Wer war sie? Da-Lean näherte sich wieder der Statue, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Doch da war nichts. Es war einfach das steinerne Abbild einer Frau. Der Stein fühlte sich kalt an.
Ein Tropfen löste sich vom Rand des Kruges und fiel mit leisem Geräusch in den wunderbaren Kelch darunter. Kleine Wellen zogen ihre Kreise und Da-Lean in ihren Bann. "Trink mich!" schien die Flüssigkeit zu wispern. "Laß die Finger davon!" schrie jede Faser seines ausgedorrten Verstandes.
Da-Lean verließ den Tempel, um weiter in der Stadt nach Wasser zu suchen. Doch genau so gut hätte er versuchen können, die Sonne an ihrem Lauf zu hindern oder die Zeit zurückzudrehen. Schließlich fand er sich, zu seiner eigenen Überraschung, wieder vor dem Standbild der unbekannten Göttin und starrte wie hypnotisiert in ihren Kelch der Fülle, wie er das Gefäß in Gedanken schon nannte.
"Ich werde sterben!" Mit einer Gewissheit, wie nie vorher in seinem Leben sah Da-Lean seine Zukunft vor sich. Seine Gedanken waren klar, sie waren logisch und sie ließen keinen Platz für Alternativen. Er würde hier, am trockensten Platz der Welt verdursten. Oder er würde der lockenden Versuchung erliegen und sich vergiften. Viel mehr Möglichkeiten gab es nicht. Er würde sterben.
Doch Hoffnung kann sehr hartnäckig sein. Auch Da-Lean bildete da keine Ausnahme. Und so drängte sich bald eine kleine Stimme in seine Gedanken und begann ihm die unglaublichsten Phantastereien zuzuflüstern:
Was wäre denn, wenn es überhaupt kein Gift wäre, das da aus dem Krug der Statue tropfte? Vielleicht spielte ihm ja seine Erinnerung einen Streich, und der alte Mann hatte ihm von einem ganz anderen Ort erzählt. Vielleicht hatte er ihm auch gar nichts erzählt. Und überhaupt, wie glaubhaft sind schon Geschichten, die man von alten Männern in irgendwelchen Spelunken am Wegrand hört? Schließlich wäre es aber doch die größte Dummheit, am Rand einer gefüllten Wasserschale zu verdursten.
Andererseits war da die Stadt. Wenn in diesem Kelch tatsächlich Wasser war, dann müßte es hier doch wenigstens ein paar Käfer oder Ameisen geben. Plötzlich fielen Da-Lean die Weizenkörner wieder ein, die er gefunden hatte. Er ließ eines in den Kelch fallen. Es sank bis auf den Grund. Weiter geschah nichts.
Da-Lean war hin- und hergerissen. Vielleicht war ja Wasser in dem Kelch. Vielleicht auch nicht. Sollte er daraus trinken? Sein Durst war noch nie so groß gewesen, doch was, wenn der Alte Recht gehabt hatte und es war Gift in dem Kelch?
Aber die Stimme der Hoffnung (oder war es etwa die der Verzweiflung?) wurde immer lauter: "Du musst  aus diesem Kelch trinken!" schien sie ihm zuzurufen. "Wasser ist wichtig! Ohne Wasser wirst du ohnehin verdursten, denn der Weg aus der Wüste hinaus ist viel zu weit. Dieser Kelch ist deine einzige Chance."
Da-Lean griff nach dem Kelch. Wenn er schon hier sterben sollte, konnte er sich ebensogut vergiften. Es kam nicht mehr darauf an. Doch bevor er den Kelch an die Lippen setzte, kam ihm noch ein kühner Gedanke. Diese Göttin oder was immer es auch war, in dessen Tempel er sich befand, sollte sein Schicksal teilen. Sie sollte selbst ihr Teufelszeug kosten. Da-Lean hielt ihr den Kelch an die Lippen, benetzte den Stein mit der geheimnisvollen Flüssigkeit. Was immer er erwartet hatte, es geschah nicht. Alles war wie vorher. Ein wenig unsicher, was er jetzt tun sollte schickte Da-Lean ein kurzes Gebet an seinen persönlichen Schutzgott und nahm einen tiefen Zug und fiel in Ohnmacht.

Als Da-Lean wieder erwachte, befand er sich im Freien und hatte keine Vorstellung davon, wie er hierher gekommen sein könnte. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war eine bleiche Götterstatue in einem dunklen Tempel. 
Langsam fanden sich die Bruchstücke in seinem Kopf zu einem Bild zusammen. Er hatte den Kelch geleert und er war noch immer am leben. Er hatte also doch Wasser gefunden. Ganz allmählich nur wurde ihm die Tragweite dieser Entdeckung bewusst. Wasser – das bedeutete erst mal Überleben. Aber es bedeutete auch, dass er seine Reise würde fortsetzen können. Als erster Mensch würde er die Wüste durchqueren und andere Menschen würden erfahren, dass dies möglich war. Die alten Ammenmärchen, die in den Tavernen erzählt wurden, würden die Menschen nicht mehr aus der Wüste heraushalten, denn es gab hier Wasser. Sie würden sich hier niederlassen. Hier im alten Tumarin. Die Stadt würde in neuer Pracht erstrahlen, die Märkte würden wieder öffnen und Menschen würden die Straßen füllen. Lebendige Menschen.
Und ihn würden sie im Triumphzug zum Palast geleiten, denn er war der Entdecker dieser verloren geglaubten Stadt. Und mit Pauken-, Trompeten- und Schellenklang würde man seinen Einzug in die Stadt feiern.
Da-Lean glaubte schon die Musik hören zu können, als er plötzlich merkte, dass er tatsächlich Glockenklänge hörte. Das Läuten kam die Strasse heraufgezogen. Schlagartig fiel ihm wieder ein, dass er weder wussste, wo er sich genau befand, noch wie er hierher gelangt war. Für eine Flucht war es bereits zu spät, denn weder kannte er die Umgebung gut genug, noch war er in seinem geschwächten Zustand in der Lage, schnell voranzukommen.
Doch was immer sich dort auch näherte, schien es nicht eilig zu haben. Schließlich konnte Da-Lean es nicht mehr ertragen, im Strassenstaub auf sein Schicksal zu warten und ging dem Geräusch entgegen. Er bog um die nächste Häuserecke und wäre beinahe mit einer mageren schwarz-gescheckten Ziege zusammengestoßen. Als er sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, brach er in erleichtertes Lachen aus. Ihm war, als würde auf einmal die Last der letzten Wochen  von ihm genommen. Zu überleben war ihm bisher wie ein ferner Traum erschienen. Nun wurde dieser Traum vor seinen Augen Wirklichkeit. 
Eine Ziege! Das bedeutete nicht nur Wasser. Das war Nahrung! Und diese Ziege hier trug eine Glocke um ihren Hals. Sie war das Haustier von irgendjemandem. Es mußte also Menschen geben in dieser unwirtlichen Welt. Wenn es ihm gelang, diese Menschen zu finden, so bestand vielleicht die Aussicht auf Hilfe, endlich dieser trostlosen Wüste entfliehen zu können...
Da-Lean’s Gedanken überschlugen sich fast, während er sich auf die Suche nach dem Besitzer der Ziege machte. Menschliche Hilfe, oder auch nur Gesellschaft, das schien ihm jetzt das wichtigste zu sein.
Er folgte einfach dem Tier und als die Sonne ihre Tagesreise beinahe vollendet hatte, fand er sie. Sie war gerade dabei, Holz für ein Feuer aufzuschichten und es schien, als habe sie ihn schon erwartet. Da sonst weit und breit niemand zu sehen war, musste sie es wohl gewesen sein, die ihn aus dem Tempel hinaus auf die Straße getragen hatte. Die Entbehrungen der Wüste mussten ihm doch mehr zugesetzt haben, als er bisher angenommen hatte, denn wie sonst hätte dieses zierliche Ding ihn aus dem Tempel tragen können. 
Da-Lean schätzte sie auf höchstens 20. Ihre äußere Erscheinung war alles andere als verführerisch: Von der Sonne braun gebrannt, voller Staub und Dreck, mager wie ihre Ziegen und schlacksig und ungelenk in ihren Bewegungen. Da erkannte er, dass er sich geirrt hatte. Dieses Mädchen zählte ganz sicher noch keine 20 Sommer. Es war ja fast noch ein Kind!
Da-Lean hatte nicht erwartet, sich mit dem Mädchen verständigen zu können. Die Sprache der Wüstenbewohner war ihm so fremd, wie die Wüste selbst ihm immer fremd geblieben war. Doch zu seiner großen Überraschung sprach sie seine Sprache. Zwar war ihre Betonung eine völlig andere und viele Redewendungen hatte er noch nie gehört, doch es war, als hätten beider Sprachen einmal den gleichen Ursprung gehabt. Ihm war, als spräche er mit einem Boten längst vergangener Zeiten, als sie ihm von sich erzählte.
Ihr Name sei Kàr-in-nàh und sie sei mit einem ganz besonderen Auftrag hier. Der Ort heiße Tûm-Rih in der Sprache ihres Volkes und würde eigentlich gemieden, um die Ruhe der Toten nicht zu stören und um keinen Fluch auf den Stamm zu laden. 
Ja, es sei wahr, dieser Ort sei verflucht und nur an wenigen festgelegten Tagen war es einer Jungfrau des Stammes gestattet, die Ziegen hierhin zu treiben, wo sie Salz finden konnten. Ein Schatz in der Wüste. Für dieses einmalige Vorrecht musste anschließend aber der schönste Ziegenbock der Göttin geopfert werden.
Sie erzählte ihm noch vieles mehr, von ihrem Stamm und von ihrer Göttin. Es klang sehr fremd und kompliziert in seinen Ohren und es fiel ihm schwer, den fremd klingenden Worten zu folgen, doch Da-Lean beschloss, sich so viel wie möglich davon zu merken. Er dachte daran, dass ihm die Gelehrten im fernen Blauenburg dieses Wissen gern mit klingender Münze vergolden würden. Die Riten der Naturvölker waren zur Zeit  sehr gefragt.
Kàr-in-nàh schnitt derweil mit einigen fachmännischen Handgriffen dem Ziegenbock die Kehle durch und fing sein Blut in einer silbernen Schale auf. Als sie die Schale dem aufgehenden Mond entgegen hielt, erinnerte ihr Anblick Da-Lean kurz an die Statue, die er im Tempel entdeckt hatte. Dabei sahen sie sich überhaupt nicht ähnlich! Vielleicht lag es ja am Mond, der das Mädchen jetzt blasser erscheinen ließ.
Nachdem sie das Blut feierlich in ein Loch im Boden gegossen hatte, briet Kàr-in-nàh das Fleisch. "Du bist ein Auserwählter der Göttin", sagte sie. "Sie wird wohl nichts dagegen haben, wenn ich dieses Mahl mit dir teile." Sie bot Da-Lean Ziegenfleisch und kühles Wasser aus ihrem Schlauch an. Und tatsächlich kam es ihm so vor, als habe er niemals vorher in seinem Leben etwas so köstliches gegessen oder getrunken.
Als sie sich beide satt gegessen hatten, musste Da-Lean dem Mädchen von seinen Reisen erzählen und sie hörte staunend von einer Welt, in der die Hügel grün sind und in welcher der Regen manchmal tagelang vom Himmel fällt. Als Da-Lean ihren staunenden Blick bemerkte, erzählte er ihr noch mehr von den Bächen und Seen seiner Heimat. Von Blauenburg  und vom Meer und seinen Bewohnern: den Fischen, Muscheln, Schnecken, Walen und Ungeheuern.
Kàr-in-nàh tauchte ein in diese phantastische neue Welt und sog alle Informationen begierig auf. Sie meinte, die Menschen, die am Meer lebten, müßten die glücklichsten der Welt sein. Da-Lean hütete sich davor, ihr diesen Gedanken auszureden und als er weiter erzählte, flüchtete sie sich vor der heraufziehenden Kälte der Nacht in seine Arme. Er küßte sie zärtlich und war sogleich überwältigt von der Leidenschaft, mit der sie seinen Kuss erwiderte. Im weiteren Verlauf der Nacht spielte er ernsthaft mit dem Gedanken, endlich seßhaft zu werden und in einen unentdeckten Nomadenstamm einzuheiraten.

Als die Sonne sich mit ihren ersten Strahlen anschickte, die ausgekühlte Wüste wieder in einen glühenden Ofen zu verwandeln, lag Da-Lean tot im Sand. Von dem Mädchen und ihren Ziegen fehlt jede Spur. Im dämmrigen Licht des Tempels ließ die Statue des Todes eine kristallklare Flüssigkeit in einen reich verzierten Kelch tropfen. Das stärkste Gift der Welt würde vielleicht einmal den Tod selber töten, doch dieses mal hatte sie nur kurz geträumt.
 

© Dracessa
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