Die Entdeckung Tumarins von Dracessa |
Wenn der Tod jemals über ein eigenes Reich geherrscht hatte, dann musste dies seine Hauptstadt sein. Da-Lean hatte es geschafft. Endlich, nach tagelangem Fussmarsch unter einer erbarmungslos brennenden Sonne. Das Pferd, ja, so etwas hatte es tatsächlich einmal gegeben. Es hatte sich geweigert, noch einen Schritt weiter in diese Wüste zu tun und war irgendwann einfach stehen geblieben. Es war ein gutes Pferd gewesen. Etwas zu alt vielleicht für solch ein Abenteuer, aber immer treu. Bis auf dieses eine Mal. Da-Lean war ihm nicht böse deswegen. Es hatte wahrscheinlich gespürt, dass alles besser sein würde, als ihn an diesen Ort zu begleiten. Vermutlich war es tot. Damals, in einem anderen Leben, da war Da-Lean ein Held. Ein Draufgänger, der keine Gefahren scheute. In einer Kneipe hatten die Gerüchte über diesen Ort seine Neugier geweckt. Tumarin hatte der Alte ihn damals genannt. Oder war das der Name des Reiches gewesen? Da-Lean erinnerte sich nicht mehr. Es war nicht mehr wichtig. Die Sonne hatte alles Unwichtige aus ihm herausgebrannt. Er musste Wasser finden. Wasser war wichtig! Eine Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm zu, dass er hier kein Wasser finden würde. Da-Lean sah sich trotzdem um. Da waren die Häuser: Weiß gekalkt und ein wenig verfallen aber immer noch bewohnbar. Doch die Fenster waren blind. Kein Vorhang wehte im Wind und keine Türe öffnete sich freundlich dem müden Wanderer. Tumarin war eine Geisterstadt. Doch das hatte ihm schon der Alte in der Kneipe verraten. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das Da-Lean’s Verstand noch nicht benennen konnte. Etwas, das sich ihm immer wieder entzog, bis es ihm schließlich mit einem Mal klar wurde: Es gab hier nicht nur keine Menschen, es gab hier überhaupt nichts lebendiges mehr. Es gab keine Pflanzen; keine Kakteen, keine Flechten, nicht den allervertrocknetsten Dornbusch. Und es gab auch keine Tiere hier. Keine Vögel, keine Eidechsen, keine Schlangen. Aber auch keine Käfer, keine Spinnen und vermutlich noch nicht einmal Skorpione. Nicht einmal Wind schien es in dieser verfluchten Stadt zu geben. "Wer die Stadt erreicht, kehrt nie zurück." Hatte der Alte gesagt. Da-Lean hatte es als Ammenmärchen abgetan, damals, in einem anderen Leben. In diesem Leben war er mehr als versucht, den Worten des Alten zu glauben. Auch er würde sicher nicht zurückkehren, wenn es ihm nicht gelänge, Wasser zu finden. Die Sonne brannte. Wasser war wichtig! Da-Lean begann die Häuser zu durchsuchen. Und dort sah er sie: Die ersten Mumien seines Lebens. Keine einbalsamierten Könige, für die Ewigkeit in Leinen gewickelt, sondern ganz normale Menschen. Sie lagen in ihren Betten, saßen an ihren Tischen oder lagen ganz einfach auf dem Boden. Gerade so, als hätten sie genau dort ihren Tod erwartet. Da-Lean fand Weizenkörner. Da-Lean fand Salz. Er fand einen alten Webstuhl und sogar einen Tonkrug, in dem einmal Wein gewesen sein mochte. Aber er fand kein Wasser. Da-Lean erreichte den Mittelpunkt der Stadt und betrat schließlich auf seiner Suche nach Wasser den Tempel. "Menschenopfer", schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Warum kam er gerade jetzt darauf? Hatte der Alte damals davon gesprochen? Da-Lean konnte sich nicht mehr erinnern. War es wichtig gewesen? Die Sonne brannte. Wasser. Wasser war wichtig! Im Innern des Tempels herrschte dämmriges Licht. Aber es war so heiß und stickig wie in einem Backofen. Die riesige Halle war leer bis auf eine blendend weiße Statue, die einen Krug in der Hand hielt. Aus dem Krug tropfte eine durchsichtige Flüssigkeit in einen reich verzierten Kelch darunter. Der Kelch war übervoll und so versickerte ein Teil der kostbaren Flüssigkeit im Boden. "Gift!", schrillte es durch Da-Lean's Verstand. "In Tumarin nahmen die Menschen Gift, zu Ehren der Göttin und zum Wohl ihrer Kinder." So hatte es der alte Mann erzählt. Da-Lean wich ein wenig zurück. Aber da war noch etwas gewesen in dieser Geschichte. Etwas wichtiges. Es hatte mit der Göttin zu tun. Wer war sie? Da-Lean näherte sich wieder der Statue, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Doch da war nichts. Es war einfach das steinerne Abbild einer Frau. Der Stein fühlte sich kalt an. Ein Tropfen löste sich vom Rand des Kruges und fiel mit leisem Geräusch in den wunderbaren Kelch darunter. Kleine Wellen zogen ihre Kreise und Da-Lean in ihren Bann. "Trink mich!" schien die Flüssigkeit zu wispern. "Laß die Finger davon!" schrie jede Faser seines ausgedorrten Verstandes. Da-Lean verließ den Tempel, um weiter in der Stadt nach Wasser zu suchen. Doch genau so gut hätte er versuchen können, die Sonne an ihrem Lauf zu hindern oder die Zeit zurückzudrehen. Schließlich fand er sich, zu seiner eigenen Überraschung, wieder vor dem Standbild der unbekannten Göttin und starrte wie hypnotisiert in ihren Kelch der Fülle, wie er das Gefäß in Gedanken schon nannte. "Ich werde sterben!" Mit einer Gewissheit, wie nie vorher in seinem Leben sah Da-Lean seine Zukunft vor sich. Seine Gedanken waren klar, sie waren logisch und sie ließen keinen Platz für Alternativen. Er würde hier, am trockensten Platz der Welt verdursten. Oder er würde der lockenden Versuchung erliegen und sich vergiften. Viel mehr Möglichkeiten gab es nicht. Er würde sterben. Doch Hoffnung kann sehr hartnäckig sein. Auch Da-Lean bildete da keine Ausnahme. Und so drängte sich bald eine kleine Stimme in seine Gedanken und begann ihm die unglaublichsten Phantastereien zuzuflüstern: Was wäre denn, wenn es überhaupt kein Gift wäre, das da aus dem Krug der Statue tropfte? Vielleicht spielte ihm ja seine Erinnerung einen Streich, und der alte Mann hatte ihm von einem ganz anderen Ort erzählt. Vielleicht hatte er ihm auch gar nichts erzählt. Und überhaupt, wie glaubhaft sind schon Geschichten, die man von alten Männern in irgendwelchen Spelunken am Wegrand hört? Schließlich wäre es aber doch die größte Dummheit, am Rand einer gefüllten Wasserschale zu verdursten. Andererseits war da die Stadt. Wenn in diesem Kelch tatsächlich Wasser war, dann müßte es hier doch wenigstens ein paar Käfer oder Ameisen geben. Plötzlich fielen Da-Lean die Weizenkörner wieder ein, die er gefunden hatte. Er ließ eines in den Kelch fallen. Es sank bis auf den Grund. Weiter geschah nichts. Da-Lean war hin- und hergerissen. Vielleicht war ja Wasser in dem Kelch. Vielleicht auch nicht. Sollte er daraus trinken? Sein Durst war noch nie so groß gewesen, doch was, wenn der Alte Recht gehabt hatte und es war Gift in dem Kelch? Aber die Stimme der Hoffnung (oder war es etwa die der Verzweiflung?) wurde immer lauter: "Du musst aus diesem Kelch trinken!" schien sie ihm zuzurufen. "Wasser ist wichtig! Ohne Wasser wirst du ohnehin verdursten, denn der Weg aus der Wüste hinaus ist viel zu weit. Dieser Kelch ist deine einzige Chance." Da-Lean griff nach dem Kelch. Wenn er schon hier sterben sollte, konnte er sich ebensogut vergiften. Es kam nicht mehr darauf an. Doch bevor er den Kelch an die Lippen setzte, kam ihm noch ein kühner Gedanke. Diese Göttin oder was immer es auch war, in dessen Tempel er sich befand, sollte sein Schicksal teilen. Sie sollte selbst ihr Teufelszeug kosten. Da-Lean hielt ihr den Kelch an die Lippen, benetzte den Stein mit der geheimnisvollen Flüssigkeit. Was immer er erwartet hatte, es geschah nicht. Alles war wie vorher. Ein wenig unsicher, was er jetzt tun sollte schickte Da-Lean ein kurzes Gebet an seinen persönlichen Schutzgott und nahm einen tiefen Zug und fiel in Ohnmacht. Als Da-Lean wieder erwachte, befand er sich
im Freien und hatte keine Vorstellung davon, wie er hierher gekommen sein
könnte. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war eine bleiche
Götterstatue in einem dunklen Tempel.
Als die Sonne sich mit ihren ersten Strahlen
anschickte, die ausgekühlte Wüste wieder in einen glühenden
Ofen zu verwandeln, lag Da-Lean tot im Sand. Von dem Mädchen und ihren
Ziegen fehlt jede Spur. Im dämmrigen Licht des Tempels ließ
die Statue des Todes eine kristallklare Flüssigkeit in einen reich
verzierten Kelch tropfen. Das stärkste Gift der Welt würde vielleicht
einmal den Tod selber töten, doch dieses mal hatte sie nur kurz geträumt.
© Dracessa
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