Die Sonne erhob sich über dem östlichen
Horizont und tauchte das raue Tal von Hamar in ein ungewöhnlich warmes
Licht. Die scharfen Felsen, zwischen denen nur gelegentlich einzelne Sträucher
und Bäume wuchsen, wirkten nicht mehr ganz so bedrohlich wie in der
Nacht, als die kleine Gruppe das Ende des Gebirgspfades erreicht hatte.
Migdo hatte sich sofort unbehaglich gefühlt, als die in der Dunkelheit
aufragenden Zinnen von Hamarsburg in Sicht gekommen waren, und auch jetzt,
bei Tageslicht, wirkte die Zitadelle vor allem bedrohlich.
Sie war auf einer kreisrunden Anhöhe
in der Mitte des Tals errichtet worden und erhob sich von dort aus in absolut
unwahrscheinliche Höhen. Fünf spitze Türme aus weißgrauem
Granit bildeten die Eckpunkte einer mindestens siebzig Fuß hohen
Mauer, hinter der mehrere palastartige Gebäude aufragten, von denen
das höchste die Wolken berühren zu wollen schien. Anders als
bei den anderen Türmen waren seine Wände jedoch mit goldfarbenen
Metallplatten gepanzert, und auf halber Höhe war es von einem gewaltigen
Ring aus glänzendem Stahl umgeben, der sich langsam drehte. An ihm
waren in Abständen von jeweils neunzig Grad drei riesige, achteckige
Kristalle angebracht, von denen zwei in intensivem Rot erstrahlten, während
der dritte seltsam farblos erschien. An der Stelle, an der sich einmal
der vierte Stein befunden hatte, war nur noch die Halterung zu erkennen,
eine komplexe, aus unzähligen Verstrebungen bestehende Mechanik.
"Da ist sie", meinte Malcolm nachdenklich.
"Die äußerste Verteidigungslinie gegen die Schrecken von Nargon..."
"Sie ist... atemberaubend", murmelte Migdo.
"Und sie ist bald hinüber, wenn das so
weitergeht", fügte Roban trocken hinzu. "Zwei Schutzkristalle in drei
Wochen, das ist nicht gut... wie lange haben sie vorher gehalten?"
Kijena schluckte. "Vierzehntausend Jahre."
Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen.
Dann gab Malcolm seinem Kamel einen kräftigen Tritt in die Seite und
ritt weiter. Die anderen folgten ihm nach und nach.
-
Knapp zwei Stunden später hatten sie,
von mehreren Patrouillen flankiert, die Strasse durch das Tal hinter sich
gebracht und ritten unter den gewaltigen, steinernen Torbögen des
Haupttors hindurch. Kurz darauf stiegen sie im äußeren Hof der
Zitadelle von ihren Tieren und wurden von einem Mann Mitte sechzig begrüßt,
der eine silbern schimmernde, reich verzierte Rüstung mit einem langen
roten Umhang trug. Ein Gewand, eines Königs würdig. Außerdem
wurde er von einer zehnköpfigen Wachmannschaft und einem halben Dutzend
weiterer Männer und Frauen begleiten, an Aufzug und Haltung allesamt
eindeutig als Edelleute zu erkennen.
Malcolm trat vor den Älteren, kniete
nieder und sagte: "Ich grüße euch, Lord Protektor."
"Und ich erwidere euren Gruß, Prinz
Malcolm", meinte der alte Offizier, wobei seine Stimme leicht amüsiert
klang. "Stellt ihr mir eure Begleiter vor?"
"Natürlich, Lord Protektor", antwortete
der Jüngere und wandte sich seinen Begleitern zu. "Ihr kennt meine
Adjutanten, Kijena Sukerion und Roban Jertefal." Er schob den Vulgoblin
nach vorn. "Und dieser kleine Herr hier ist Xergi vom Eikebaumhügel."
Zu Migdos Überraschung schien der Lord
Protektor nicht im Geringsten abgestoßen zu sein, als er die kleine,
aschgraue Kreatur erblickte. Die meisten Leute scheuten vor Vulgoblins
zurück, aber er ging respektvoll auf die Knie und sah direkt in die
viel zu kleinen, pechschwarzen Augen seines Gegenübers. "Ich grüße
euch, Herr Xergi. Vor vielen Jahren hatte ich das Vergnügen, eure
Heimat zu besuchen, es ist wirklich faszinierend dort."
Niemand schien von diesen freundlichen Worten
überraschter zu sein als Xergi selbst, er lächelte fröhlich
und wollte zweifellos gerade zu einer längeren Ausführung über
die Magmahügel seiner Heimat ansetzen, als Roban ihn energisch beiseite
schob, so dass Malcolm mit der Vorstellung fortfahren konnte. "Dies ist
Migdo Bärenklinge, Minentechniker aus dem Zwergenreich", erklärte
er und schob die beiden Zwerge nach vorn. "Und hier haben wir den ehrenwerten
Zurgin Muspelmeister, Ehrenmitglied der Minengilde und Meisteringenieur.
Zurgin, dies ist Lordprotektor Halion Anthulius, oberster Heerführer
der Grenzstreitkräfte und Wächter über die Zitadelle von
Hamarsburg."
Erneut verbeugte sich der alte Mann. "Es ist
mir eine Ehre, Meister Zurgin. Eure Dienste werden zweifellos sehr wertvoll
für uns sein. Und ihr, junger Herr Bärenklinge..." Seine Züge
wurden plötzlich seltsam sanft. "Ihr seht eurem Vater erstaunlich
ähnlich... ich würde mich freuen, wenn ihr beide heute Abend
mit mir und Prinz Malcolm speisen würdet. Aber jetzt will Meister
Zurgin sicherlich als erstes den Kristallring inspizieren."
Der alte Zwerg nickte und wandte sich seinem
Gehilfen zu und meinte: "Komm, Migdo, lass uns das Nötigste in unser
neues Labor schaffen, dann sehen wir uns die Schutzkristalle an."
Migdo hörte ihn kaum, er sah immer noch
dem Lordprotektor nach, der sich mit Malcolm - Prinz Malcolm? - und den
anderen Offizieren entfernte. Woher um alles in der Welt kannte er seinen
Vater?
-
Das Laboratorium, das man Zurgin für die
Dauer seines Aufenthalts zur Verfügung gestellt hatte, war überwältigend:
Es war ein regelrechter Ballsaal, angefüllt mit allen nur vorstellbaren
Arten von Flaschen, Kübeln, Kisten und Geräten. Ein ganzes Regal
war mit Pyrolitfackeln, -kerzen und -bomben gefüllt. Die Wände
bestanden an allen Seiten aus riesigen Regalen, in denen alle Bücher
von ganz Mul Añwar gesammelt zu sein schienen. Die Mitte des Raums
nahmen mehrere mit allerlei Krimskrams vollgestellte Tische – in Zwergengröße,
wie Migdo erstaunt bemerkte, mit passenden Stühlen – und ein knapp
zwei Meter hohes Modell des Hauptturms ein. Zurgin besah sich Letzteres
sogleich mit großem Interesse, er umrundete es von allen Seiten und
murmelte schließlich: "Hm... ganz passabel... ich habe zwar schon
mit Besserem gearbeitet, aber das wird gehen..."
Migdo und Xergi luden die Kisten, die sie
die zahllosen Treppen und Gänge der Zitadelle hinaufgeschleppt hatten,
auf eine freie Stelle auf einem der Tische, dann strich der junge Zwerg
sich erschöpft über seinen Bart. "Du... du bist schon in Labors
gewesen, die noch größer waren...?"
"Nein", gab der alte Meisteringenieur zurück.
"Aber in wesentlich besser ausgestatteten. Die Instrumente in diesem Raum
sind größtenteils aus anderen Teilen der Welt zusammengesucht
und passen kaum zusammen." Er deutete auf einen kleinen Goldkäfig,
der mit allerlei metallischen Einzelteilen gefüllt war. "In dieses
Ding gehören Vögel, keine Zahnräder. Tja... wir werden einiges
zu tun haben, bevor wir hier arbeiten können. Fang damit an, die Tische
frei zu räumen, stell alles vor die Südwand. Dann packst du unsere
Geräte aus und verteilst sie. Und Xergi, du ordnest die Gefäße
in den Regalen nach Größe und Form. Und passt auf mit den blau
markieren Kisten, ihr Inhalt ist zerbrechlich."
Migdo nickte und machte sich an die Arbeit.
Während sie in den nächsten zwei Stunden das ganze Laboratorium
umzukrempeln begannen, erklärte Zurgin ihm die Umgangsformen der Menschen
von Hamarsburg und wies ihn an, beim abendlichen Mahl ein nicht zu auffälliges,
aber doch elegantes Kleidungsstück zu tragen. Als sein Gehilfe ihm
daraufhin eröffnete, dass er überhaupt nichts zu einem solchen
Anlass passendes besaß, schüttelte der Ältere nur den Kopf
und durchsuchte einige seiner Kisten. Schließlich zog er eine dunkelblaue
Robe aus einem alten Koffer und hielt sie ihm hin. "Du hast ungefähr
meine Größe. Zieh das nachher an."
Migdo rechnete jede Sekunde damit, dass Xergi
fragte, was er denn tragen sollte. Zu seinem Erstaunen enthielt sich der
Goblin jedes Kommentars und beschäftigte sich weiter intensiv mit
dem Einsortieren riesiger, unförmiger Glaskolben in ein uraltes Holzregal.
"Wenden wir uns den wirklich wichtigen Dingen
zu", meinte Zurgin. "Es ist recht ungewöhnlich für eine erste
Lektion, aber du hast ja einige Vorkenntnisse auf dem Gebiet... komm hier
herüber." Er winkte ihn zu dem Turmmodel im Mittelpunkt des Saals
und wies ihn mit Blicken an, es näher zu betrachten. Erst jetzt nahm
Migdo wahr, wie detailliert es war - zu detailliert, um genau zu sein.
Nicht nur dass alles bis auf die winzigste Fahne genau nachgebildet war,
die bewusste Fahne flatterte im Wind! Winzige Vögel, nicht
größer als Mücken, schwebten um den Turm, während
zwei daumennagelgroße Wachleute auf dem sich langsam drehenden Kristallring
entlang schritten.
"Das ist keine Nachbildung", flüsterte
er fasziniert.
"Ganz recht", lobte Zurgin. "Es ist ein magischer
Zwilling, ein durch Zauberkraft erschaffenes Ebenbild des echten Turms.
Sie sind in allen Einzelheiten identisch und erlauben es uns, ein bisschen
herum zu experimentieren."
Migdo wand ein: "Heißt das, wenn ich
dem Modell die Spitze abreiße, fliegt die echte auch davon?"
"Kluger Einwand, und normalerweise wäre
genau das der Fall", erklärte der alte Zwerg zufrieden. "Aber dieses
Modell ist mit einem Bannkreis versehen, der die Beeinflussung des anderen
Zwillings nur in eine Richtung zulässt: Der kleine Turm passt sich
Veränderungen des großen an, aber nicht umgekehrt."
"Gut zu wissen..."
"Da hast du recht, mein Junge", meinte Zurgin
leise, war aber bereits wieder in die Details des verzauberten Mini-Bauwerks
vertieft. Seine dicken Finger zeichneten magische Runen in die Luft, die
die Wände des Gebäudes verblassen ließen und das Innere
preisgaben. "Schau her: so eindrucksvoll der Kristallring auch sein mag,
das wahrhaft einzigartige liegt hinter den Mauern des Turms verborgen..."
Migdo beugte sich vor und betrachtete die
winzigen Hallen und Zimmer, in denen zahllose kleine und große Maschinen
aufgestellt waren. "Ich sehe einen Energiegenerator für Schutzkristalle,
wie wir ihn im Abwehrturm der Mine hatten... magische Leitungen... Titanenmechanika
aus Weltenkernstahl..."
"Du warst schon immer ein guter Beobachter",
warf Zurgin ein. "Kannst du mir die Aufteilung der einzelnen technischen
Elemente erklären?"
Der jüngere Zwerg lehnte sich noch etwas
weiter nach vorn und besah sich alles. "Also", murmelte er. "Der untere
Teil des Turms beherbergt die drei großen Generatoren, die die vier
Kristalle mit Energie versorgen. Magische Leitungen verlaufen an den Außenwänden
nach oben. Darüber liegt ein Zwischengeschoß mit Kontrollelementen,
es sieht eher improvisiert aus. Wahrscheinlich wurde es nachträglich
hinzugefügt."
Der alte Meisteringenieur nickte eifrig. "Weiter,
nur weiter!"
"Über dem Zwischengeschoß sind
zwei zusätzliche Generatoren eingebaut, wahrscheinlich zur Versorgung
der Ausrichtungsmechanismen, die sich darüber, auf Höhe des Rings,
befinden. Von ihnen sind alle bis auf einen in Betrieb, sie drehen den
Ring und halten die Kristalle in Balance. Nur ein System steht still, dieser
große, schwarze Zylinder hier - das muss die Maschine sein, die den
zerstörten Schutzkristall ausgerichtet hat. Die, von der Malcolm in
Bolgos Büro gesprochen hat."
"Ganz genau. Und sie ist es auch, mit der
wir uns als nächstes befassen. Lass uns in den Turm hinauf gehen."
-
Die nächsten Stunden verbrachten sie auf
den uralten Gerüsten, die die Zwerge um die Titanenmaschinen herum
gebaut hatten, um deren Bedienung zu erleichtern. Sie durchstreiften zylindrische
Kontrollröhren, inspizierten uralte Schalter und Hebel, überprüften
dicke magische Energieleitungen. Zurgin erläuterte ihm die komplexe
Mechanik und die noch viel komplexere Magie dieses Turms, der seit so langer
Zeit die östlichen Reiche vor dem Unheil beschützte. Migdo erkannte,
was einen Meisteringenieur wirklich von einem gewöhnlichen Techniker
unterschied: Zurgin war nicht nur ein Genie im Umgang mit Hebeln und Zahnrädern,
er war auch ein ziemlich begabter Zauberer.
Schließlich erschien Xergi bei ihnen
und erinnerte sie an ihr Essen mit Lordprotektor Anthulius. Sie begaben
sich in die Quartiere neben ihrem Labor und kleideten sich ein. Zurgin
musste Migdo helfen, sich in die Robe zu quetschen, die er ihm geliehen
hatte; obwohl der junge Zwerg längst nicht so rundlich war wie die
meisten seiner Art, spannte sich der dünne, dunkelblaue Stoff ziemlich,
als er ihn über seinen Wanst zog. Außerdem schmerzte die noch
nicht ganz verheilte Wunde in seinem Arm.
"Ui..." grunzte er leise. "Das ist aber ziemlich
eng..."
"Da kannst du mal sehen, wie schlank und drahtig
ich mal war", meinte Zurgin.
"Es ist eingelaufen, stimmt’s?"
"Halt den Mund, Junge."
Als der alte Meisteringenieur mit ihrem Aussehen
zufrieden war, machten sie sich auf den Weg. Vor der Tür des Laboratoriums
erwartete sie ein junger Unteroffizier, der sie höflich bat, ihm zu
den Gemächern des Lordprotektors zu folgen. Auf dem Weg stellte Migdo
fest, dass jeder, der ihnen begegnete, sich tief verbeugte und Zurgin mit
dem Titel "Exzellenz" grüßte. Unter Zwergen waren Meisteringenieure
sicherlich an eine derartige Behandlung gewöhnt, aber dass Menschen
in dieser Art reagierten, war zumindest Migdo neu. Allerdings waren die
meisten Menschen, denen er bisher begegnet war, unzivilisierte kyrische
Bauern gewesen...
Der junge Mann stoppte vor einer von zwei
Wachen mit Hellebarden flankierten Holztür.
"Tretet ein, werte Herren", bat er und schob
einen der schweren Flügel auf. Sie nickten ihm dankend zu und betraten
den Speisesaal. Dieser war längst nicht so gewaltig wie das Labor
unter dem Turm, aber wesentlich großzügiger eingerichtet. Lange,
mit Goldmustern durchwebte Vorhänge und Wandteppiche zierten die grob
gemauerten Wände, die Mitte nahm eine breite hölzerne Tafel ein,
an der vier schwere Stühle standen. Grüne und gelbe Pyrolit-Fackeln
verbreiteten ein angenehmes Licht. Der erste Gang mit Suppen und frischem
Gemüse war bereits aufgetragen, der Lordprotektor erhob sich gerade
von seinem Platz am Nordende des Tisches, kam ihnen entgegen und reichte
jedem von ihnen noch einmal die Hand.
"Willkommen, meine Herren", sagte er freundlich.
"Prinz Malcolm lässt sich entschuldigen, er wurde gebeten, an der
Heerschau der uwarischen Truppen teilzunehmen."
Migdo beschloss, einige Fragen, die ihm auf
der Seele brannten, auf der Stelle zu klären. Während er dem
viel größeren Menschen zum Tisch folgte, fragte er höflich:
"Verzeiht, Herr Anthulius, aber mir war nicht bekannt, dass Malcolm einen
königlichen Titel trägt. Was hat es damit auf sich?"
Der Alte lächelte und erklärte:
"Wisst ihr, Malcolm macht daraus keine große Sache, aber er ist der
jüngste Sohn von König Haiftan von Uwarien. Sein ältester
Bruder, Kelftan, ist der Thronfolger und dient als General der königlichen
Gardisten. Der zweite Sohn, Haiftan II., bereitet sich auf seine Rolle
als Oberhaupt der uwarischen Tempelkirche vor." Er lächelte mitleidig.
"Nach den beiden Söhnen, die er brauchte, hatte der König auf
eine Tochter gehofft, um sie mit einem der reichen Fürstenhäuser
von Lurria zu verheiraten. Stattdessen gebar seine Frau einen weiteren
Jungen und starb nur drei Wochen später im Kindbett. Setzt euch, bitte."
Sie nahmen Platz - die Stühle waren aus
edelstem Eichenholz geschnitzt und perfekt an die Größe eines
durchschnittlichen Zwerges angepasst - und entfalteten ihre Servietten.
Der Lordprotektor nahm zuletzt Platz und wünschte ihnen guten Appetit,
bevor er schließlich mit seiner Erklärung fortfuhr. "Aus diesem
und noch manch anderem Grund hat Malcolm kein sehr herzliches Verhältnis
zu seinem Vater und seinen Brüdern. Er hat sich direkt nach seiner
Mündigwerdung zum Grenzdienst gemeldet und sich unter falschem Namen
ins Meldebuch des Anwerbers eingetragen. Als die ganze Sache ans Licht
kam, verzichtete er freiwillig auf alle Bevorteilungen, die er durch seine
Abstammung in Anspruch hätte nehmen können, und trat seinen Dienst
als einfacher Soldat an. Sein Vater ließ ihn gewähren, ich glaube,
er war fast froh, ihn los zu sein."
"Das... klingt wie ein Märchen", bemerkte
Migdo.
"Ihr sagt es, und ich versichere euch, dass
viele der jungen Frauen von Hamarsburg ihn auch als genau diesen Märchenprinzen
betrachten... aber die Wahrheit ist, dass er ein Meister mit dem Schwert
ist und für sein Alter erstaunlich weise und bescheiden. Er spricht
alle wichtigen Sprachen und hat sich durch Mut und Tatkraft das Vertrauen
der Soldaten und den Rang eines Leutnants erarbeitet. Es ist längst
kein Geheimnis mehr, dass ich die Hoffnung hege, dass er mir eines Tages
nachfolgt... aber ihr habt noch etwas anderes, was ihr mich fragen wollt,
oder?"
Migdo schluckte eine Würzgurke herunter
und räusperte sich. "Ja, Herr..."
"Nun, um euch ein wenig Vorschub zu leisten:
ich habe euren Vater vor knapp zwanzig Jahren kennen gelernt, als er die
´Katalogisierung der Schutzkristalle` verfasste. Er hielt sich mehrere
Monate in der Zitadelle auf, bevor er nach Mendrul weiterreiste. Wie ich
gehört habe, ist er auf dem Weg dorthin ums Leben gekommen - es tut
mir sehr Leid."
"Danke, aber das ist nicht nötig", gab
Migdo in brüskem Ton zurück. "Wie ihr euch vorstellen könnt,
hat er nie viel Zeit mit mir oder meinen Schwestern verbracht, geschweige
denn mit unserer Mutter. Das Erforschen toter Sprachen und die Vermessung
riesiger Glaskugeln waren ihm immer wichtiger..." Seine Stimme wurde ungewollt
lauter, seine Wangen röteten sich. Ruhig bleiben, dachte er.
"Ihr hattet kein gutes Verhältnis zu
ihm", stellte der Lordprotektor fest. "Das kann ich verstehen, angesichts
der Art, wie er seine Familie zurückließ. Aber ich versichere
euch, wenn er jemals seine Kataloge und Bestimmungsbücher beiseite
legte, sprach er nur über ein Thema: seine wunderschöne Frau
und seine geliebten Kinder. Und ich glaube, er freute sich auf einen Lebensabend
in ihrer Mitte."
Eine bedrückende Stille kehrte ein. Dieses
ganze Thema gehörte eigentlich nicht hierher, und Anthulius Worte
stimmten Migdo mehr als nachdenklich. Mehr um das Gespräch in eine
andere Richtung zu lenken, als aus wirklichem Interesse, fragte er: "Wie
steht es eigentlich um die Zitadelle? Werdet ihr oft angegriffen?"
Diener traten heran und tischten mehrere große
Teller mit Wurst und dampfendem Fleisch auf. Die Sorgenfalten auf der Stirn
des alten Mannes schienen ein wenig tiefer zu werden, als er schließlich
antwortete. "Bis zur Zerstörung des ersten Kristalls dachte ich, wir
würden alles wieder unter Kontrolle bekommen, aber nun sieht es schlecht
aus. Die Dunkelelben schicken jeden Tag Späher, und jeden Tag wissen
sie genauer über die Zyklen Bescheid, während denen die westliche
Talebene ungeschützt ist. Unsere Patrouillen müssen Sonderschichten
schieben, um alle feindlichen Spione aufzuspüren und unschädlich
zu machen. Und nun dieser zweite Ausfall..."
Mittlerweile war Migdos Neugier geweckt. "Gibt
es denn noch mehr Probleme, abgesehen von den defekten Kristallen?"
Der alte Offizier seufzte. "Ihr mögt
diese Worte schon des Öfteren gehört haben, junger Herr Bärenklinge,
aber es sind harte Zeiten. Die Grenzstreitkräfte sind geschwächt
wie nie zuvor, immer weniger Rekruten folgen dem Ruf unserer Anwerber.
Noch vor einer Generation war es Brauch, dass der König von Kyrien
seinen Erstgeborenen für drei Jahre zum Grenzdienst nach Hamarsburg
schickt, um seinen Untertanen ein Beispiel zu geben. Doch Ulwaith IV. lässt
jeden fähigen Mann zum Farmer ausbilden, um die südlichen Marken
zu kultivieren. Er würde seinem Volk verbieten, in unsere Dienste
zu treten, wäre er nicht so ein furchtbarer Feigling."
Zurgin ließ deutlich hörbar einen
Hühnerknochen auf seinen Teller fallen und bemerkte: "In den Frieden
zu investieren statt in den Krieg, erscheint mir nicht unbedingt feige.
Vielmehr... weise."
Einen Moment lang herrschte Stille. Migdo
kaute unsicher auf einen Stück Ziegenfleisch herum. Schließlich
lächelte der Lordprotektor und meinte: "Ihr wisst, was ich meine,
Zurgin. Ulwaith ist ein kluger Mann und hat Kyrien zu nie gekannter wirtschaftlicher
Blüte geführt. Aber er ist während seiner Dienstzeit hier
in der Zitadelle nicht einmal ins Freie gegangen, sondern hat über
Büchern und Berichten aus der Heimat gebrütet. Wenn die Dunkelelben
uns angriffen, hat er sich in seinem Zimmer versteckt und den damaligen
Lordprotektor Liata Oberthson von der Frontlinie rufen lassen, damit er
ihn in einer Eilkutsche nach Hause schickt! Er hat keine Ahnung, wie es
ist, gegen die Schrecken hinter den schwarzen Gipfeln zu kämpfen."
Der alte Mann griff nach seinem Humpen und nahm einen tiefen Zug, bevor
er weitersprach. "Die Macht der Dunkelelben erstarkt, ihre Schlachtfürsten
schicken sie zu immer waghalsigeren Manövern in unser Hoheitsgebiet.
Die Grenzposten von Kel Ivtan und Kel Utaz sind überfallen worden,
wir mussten mehrere Truppenverbände umverteilen, um den Verlust auszugleichen.
Und wenn unsere Kristalle erst alle ausgefallen sind und die Armeen von
Nargon die östlichen Reiche niederbrennen, wird das Heulen und Zähneklappern
in Kyrien am größten sein."
"Haben die Reiche keine eigenen Streitkräfte,
um einen Angriff abzuwehren?" fragte Migdo.
Der alte Offizier seufzte erneut. "Kyrien
hat die Feldergarde, aber die taugt eigentlich nur zum Verhaften von Viehdieben.
Und die Volksarmee von Lurria existiert schon seit fünfzig Jahren
nur noch auf dem Papier."
"Ihr scheint fest davon auszugehen, dass die
übrigen Kristalle auch bersten werden", bemerkte Migdo.
Der Blick ihres Gastgebers wurde immer nachdenklicher.
"Ich habe allergrößten Respekt vor der technischen Fertigkeit
sowohl der Titanen als auch der Zwerge, die deren Technik für uns
in den letzten Jahrhunderten gewartet haben. Aber wenn uns der Untergang
des Titanenreiches eines gelehrt hat, dann dass nichts ewig währt.
Wir hätten schon viel früher alternative Verteidigungsmethoden
entwickeln müssen, statt uns im Schatten der Zitadelle auszuruhen.
Und nun ist die Zeit gekommen, da diese uralte magische Technologie in
sich zusammenfällt..."
"Da muss ich euch Recht geben", warf Zurgin
ein. "Aber ihr solltet unsere Lage nicht zu negativ sehen. Ich glaube immer
noch, dass es möglich ist, die verbliebenen Systeme zu reparieren."
"Ich hoffe, dass ihr Recht habt", entgegnete
der Lordprotektor und hob seinen Humpen in Richtung der beiden Zwerge.
"Ich hoffe wirklich, dass ihr Recht behaltet, Meister Zurgin..."
© Imladros
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