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Der Drache und der Bischof (1) von Peter Lässig

Vorbemerkung:

Die Legende um den Heiligen Franziskus (1181 - 1226) und dessen Begegnung mit dem Wolf von Gubbio inspirierte mich zu dieser Geschichte.
Abgesehen davon ist die Handlung völlig frei erfunden und jede Übereinstimmung mit lebenden oder toten Personen rein zufällig und nur künstlerischer Natur.



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Ein kräftiger Nordwest peitschte die bleigrauen Wolken über das bewaldete, hüglige Land. Neben zahllosen Blättern des Herbstlaubes trieb ein von einem Baum abgerissener Steckbrief im Wind.
Giuseppes Stimmung war genauso trübe wie das Wetter draußen und seine trutzige Burg wirkte in diesem Dämmerlicht noch düsterer und bedrohlicher als sonst.
Der kleine, die Festung umgebende Ort jedoch wirkte dank der zahlreichen Lichter, die überall entzündet wurden, anheimelnd und freundlich, auch wenn niemand auf den Straßen zu sehen war. Kein Wunder, bei diesem Wetter jagte man nicht einmal einen Hund vor die Türe.

Dennoch wäre es falsch gewesen zu behaupten, alle Bewohner dieses Dorfes seien zu Hause geblieben.
Das Kaminfeuer verbreitete seine wohlige Wärme in der großen Halle und die drei Männer, die hier auf eine Audienz bei ihrem Fürsten warteten, waren wohlgemut. Sie saßen an einer üppig gedeckten Tafel und roter Wein funkelte in den Bechern.
Sie störten sich nicht im Geringsten an der Wache, die vor einer mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Holztür postiert war. Ihnen ging eher der ältliche Bedienstete auf die Nerven, der sich unter unzähligen Verbeugungen wiederholt vergewissert hatte, ob es den Gästen auch an nichts fehle.
Der Diener hatte von seinem Herren die strikte Anordnung bekommen, sich um das leibliche Wohl der Besucher, die um eine Audienz beim Fürsten ersuchten, zu kümmern. Dies tat er auch mit recht großem Eifer und erst als er sich noch einmal davon überzeugt hatte, dass er seiner aufgetragenen Pflicht auch wirklich nachgekommen war, widmete er sich seiner ursprünglichen Aufgabe, dem Polieren des Tafelsilbers und der edlen Kristallgläser.

Die Männer, einfache Bauern aus der Umgebung, waren jedoch viel zu sehr in ihr Gespräch miteinander vertieft, um dem Kastellan ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Der Anlass ihres Besuches auf der Burg war alles andere als erfreulich.
"Ich sag Euch, wenn das so weitergeht, weiß ich wirklich nicht mehr, wie ich meine Familie noch ernähren kann. Drei Muttertiere innerhalb einer Woche habe ich verloren", klagte einer von ihnen.
"Ja, es ist ein Drama. Aber selbst die Jäger Giuseppes können gegen das Untier nichts ausrichten. Ich sage Euch, das ist der Teufel oder ein Dämon."
"Unsinn, so etwas gibt es nicht! Das ist ein Tier aus Fleisch und Blut, nur klüger als alle anderen. Und unser Fürst widmet der ganzen Sache viel zu wenig Aufmerksamkeit. Anders als Pater Ponnicraccelone. Der ist wenigstens ein Mann der Tat. Und genau das werde ich ihm gleich sagen, natürlich in schöne Worte gekleidet."
"Ach, kommt schon, was lamentiert Ihr eigentlich alle? Immerhin entschädigt uns Giuseppe für jedes gerissene Schaf."
"Richtig, Piccollino, Schaf. Du hast ja nicht mal eine Schafsherde. Ich sag's Dir noch mal, lass ab von Deinem idiotischen Vorhaben. Ich kann nicht verstehen, dass Du trotz Deines Gestütes, das, so weit ich weiß, sehr profitabel ist, Deinen Hals riskierst, nur um noch ein bisschen mehr Geld zu verdienen. Unser Fürst ist weise und gütig, aber auch gerecht. Wenn er dahinter kommt, dass Du ihn mit Deinen Drachenmären betrügen willst, dann Gnade Dir Gott. Ich..."
"Rede vielleicht noch ein wenig lauter, Du Trottel", fauchte der Bauer, den der andere Piccollino genannt hatte. Doch weder der Diener noch die Wache schienen auf den Inhalt des Gesprächs geachtet zu haben.

Nachdem der Fürst eine Weile aus dem Fenster den über den Himmel jagenden Wolken hinterher gestarrt hatte, wandte er sich um und genehmigte sich einen Schluck Grappa.
Nachdenklich ließ er seinen Blick über seinen wuchtigen Mahagonischreibtisch gleiten. Er war bedeckt mit Büchern, Folianten und unzähligen Manuskripten.
Giuseppe war schon immer ein Mann des Studiums gewesen und dazu ein Schöngeist. Im nicht allzu weit entfernten Peruggia hatte er Theologie und Philosophie studiert. Auch beschäftigte er sich eine Zeit lang mit Naturwissenschaften. Man hatte ihm geraten, sich ebenfalls der Juristerei zu widmen, doch er verabscheute dieses Fach zutiefst.
"Das ist etwas für Menschen ohne Rückgrat", pflegte Giuseppe stets zu sagen.
"Und für Taugenichtse, die sich dann von ihren eigenen Verfehlungen freisprechen wollen."

Eigentlich hätte er noch sehr viel zu erledigen gehabt an diesem Tag.
Der Landstrich, über den er herrschte, Gubbio, ein idyllischer Flecken Erde mitten im Apennin, angeschmiegt an den Monte Ingino, wurde von einer unheimlichen Plage heimgesucht und die Menschen litten sehr darunter. Niemand konnte sagen was es war, doch viele Bauern, wohl angestachelt durch einen etwas verschrobenen Pfarrer, der gemeinhin nur als Pater Ponnicraccelone bekannt war, behaupteten steif und fest, ein Drache würde Not und Elend über sie bringen.
Aber anstatt sich mit einer konkreten Problemlösung beschäftigen zu können, musste er seine kostbare Zeit mit irgendwelchen regelmäßig stattfindenden Besprechungen vergeuden, zu denen sämtliche Fürsten und Grafen der umliegenden Regionen zusammenkamen, nur um heiße Luft zu produzieren. Dabei erzielten sie oft nicht einmal in den einfachsten Dingen einen Konsens.
Wenn er schließlich einmal - aufgrund glücklicher Fügung - nicht an einem dieser Possenspiele teilnehmen musste, dann ersuchte man justament um eine Audienz bei ihm.
Wie sehr er diese Audienzen verabscheute.
Aber es half alles nichts. Er war der Landesfürst und somit der Ansprechpartner für etwaige Probleme. Er nahm seine diesbezüglichen Pflichten sehr ernst und sein Handeln bestimmte in erster Linie die Liebe zu Umbrien, seiner Heimat, und die Fähigkeit der Weitsicht.
Auf diese Weise brachte er sein Fürstentum zu Wohlstand und eigentlich hätten alle zufrieden sein können, wenn das eine Problem nicht gewesen wäre.
"Also gut", seufzte er und rief nach der Wache.
Die Audienz konnte beginnen.

"Dein Schicksal dauert mich, mein Freund."
In der Stimme des Fürsten lag aufrichtige Anteilnahme.
Giuseppe musterte sein Gegenüber, ein Mann, der offensichtlich hart arbeitend seinen Lebensunterhalt bestritt und sich abends dann an einfachen Freuden wie einem guten Glas Wein im Kreise seiner Familie erfreute.
Manchmal beneidete Giuseppe seine Untertanen. Regieren bedeutete sehr viel Verantwortung, zumindest wenn man redlich war.
Der Bauer wählte seine Worte mit Bedacht.
"Davon, edler Herr, bekomme ich jedoch nicht meine Familie satt. Alleine in der vergangenen Woche fielen der Blutgier dieses Monstrums drei meiner besten Schafe, eines davon sogar trächtig, zum Opfer. Eure ausgesandten Jäger scheinen überfordert zu sein. Bitte verzeiht meine offenen Worte, Herr, aber ich denke, Ihr habt die Lage unterschätzt. Ihr meintet, dieser Drache wäre nur eine Illusion und es würde sich um gemeine Viehdiebe handeln oder um einen Wolf. Aber Eure Steckbriefe, die nun überall die Landschaft zieren, bringen weder Dieb oder Wolf noch Drache zur Strecke."
In einem plötzlichen Anfall von Zorn hieb Giuseppe mit seiner Faust auf den Tisch, doch sofort fing er sich.
"Genug jetzt! Du bist nicht der einzige, dem Schaden durch was auch immer zugefügt wird. Seit Wochen höre ich nichts anderes mehr von Euch Viehhaltern. Ich will Dir etwas verraten: Auch ich verliere mein Vieh. Erst letzte Woche habe ich gleich vier Ziegen verloren. Aber ich kann nicht mehr tun, als auf bloße Vermutungen hin auf Jagd zu gehen. Es wurden einige Wölfe gesichtet, für ihre Verhältnisse wahre Ungetüme, auf diese konzentrieren sich meine Jäger. Ich hingegen halte es für wahrscheinlicher, dass wir von ganz gerissenen Viehdieben heimgesucht werden und aus der Gegend von Rom wurden mir ähnliche Vorkommnisse mitgeteilt. Dort sind Banditen flüchtig, deren Konterfeie die Steckbriefe zieren, die ich habe anbringen lassen. Was es aber auch immer sein mag, ich versichere Dir, ich werde nicht eher ruhen, bis seine Gebeine auf den Zinnen meiner Burg in der Sonne, sollte sie jemals wieder scheinen, bleichen. Bis dahin kann ich nicht mehr tun, als Dein Los zu bedauern und Dich mit etwas Gold aus meiner Schatzkammer entschädigen. Doch gebe ich Dir auch zu bedenken, Drachen gibt es schon lange nicht mehr!"

Giuseppe deutete in eine Ecke des Raumes, in der auf einem groben Holztisch kleine Ledersäckchen lagen.
"Nimm Dir einen davon. Das sollte Dich für Deinen Verlust mehr als reichlich entschädigen. Wenn Du gehst, schicke mir den nächsten Unglücksraben herein."
Mit einem Kopfnicken entließ der Fürst den Bauern und würdigte ihn keines weiteren Blickes mehr. Mit Sicherheit würde er es nicht wagen, mehr von dem Tisch zu nehmen als ihm zustand.

Ganz anders verhielt es sich jedoch mit dem Mann, der nun bei Giuseppe vorsprach.
"Und auch Dir wurden Schafe gerissen, nicht wahr?"
"So ist es, Eure Lordschaft", bekräftigte der Mann eifrig.
"Piccollino ist Dein Name, wenn ich mich recht entsinne?"
Piccollino nickte stumm, ein vages Unbehagen machte sich in seiner Magengegend breit.
Giuseppe trommelte mit seinen Fingerspitzen eine muntere Melodie auf seinem Schreibtisch. 
"Weißt Du, mein lieber Piccollino, ich hatte inständig gehofft, dass Du mir nicht unter die Augen treten würdest. Zumindest aber, dass Du bei Deinen Lügengeschichten ein wenig feinsinniger wärst. Wenn man schon seit Wochen in Gubbios Schänken herumerzählt, dass man meine Gutmütigkeit ausnutzen möchte, dann sollte man wenigstes so klug sein, sich den Gestank von Pferdemist abzuwaschen, wenn man vor meine Augen tritt und mir erzählt, man würde Schafe verloren haben. Hast Du wirklich geglaubt, ich kenne nicht einen der größten Pferdezüchter Umbriens, Deinen Vater? Gott hab ihn selig. Deine Mutter hat ihn ja ins Grab gebracht mit ihren schwachsinnigen Ideen... Aber lassen wir das."
"Ich verstehe nicht, was Ihr meint, Herr."
Piccollino schluckte schwer und Angstschweiß trat auf seine Stirn.
"Wirklich nicht? Dann lass es mich so ausdrücken. Dein Schwindel ist schon aufgeflogen, als Du durch diese Tür in mein Audienzzimmer gekommen bist. Ich lasse mich nur ungern für dumm verkaufen."
"Aber, ich... bitte...", stammelte Piccollino.
Ihm war klar, dass er zu hoch gepokert hatte und nun dabei war, alles zu verlieren.
"Ich würde sagen, das reicht jetzt, Du elender Betrüger! Du bist hierher gekommen, um Dir Leistungen von mir zu erschleichen, und das, obwohl Du selbst wohlhabend bist. Eigentlich wollte ich das Deiner jugendlichen Dummheit zuschreiben und Dich gehen lassen. Aber Deine Gier hat Dich jeglichen Anstand verlieren lassen, und Du weißt, dass es mein gutes Recht wäre, Dich vor Gericht zu stellen. Selbst einem Einfaltspinsel wie Dir sollte klar sein, welches Urteil Dich erwartet; da kann Deine Mutter noch so sehr versuchen, ihren Einfluss vor den Richtern geltend zu machen."
Giuseppe rief nach der Wache und Piccollino zuckte erschrocken zusammen, als sich ein wahrer Hüne vor ihm aufbaute, so breit wie hoch.
"Prasslov, der Kerl wollte mich hintergehen. Ich denke, ein paar Tage im Verlies werden ihn zur Vernunft bringen. Ach ja, bei den fünfundzwanzig Hieben, die ich für ihn vorsehe, braucht man auch nicht zimperlich sein. Und jetzt schaff mir den Idioten aus den Augen, bevor ich mich ganz vergesse."

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"Ah! Eure Eminenz."
In Giuseppes Stimme lag aufrichtige Freude, als er den Sitten entsprechend den Ring des Bischofs küsste.
"Nach dem heutigen Tag freue ich mich aufrichtig auf unseren Spieleabend."
Dieser Termin war eines der wenigen Dinge, für die sich der Fürst gerne Zeit nahm. Einmal pro Woche besuchte ihn der Bischof Pietro Pellegerò zu einer Partie Backgammon. In der Regel floss dabei so mancher edler Tropfen und man führte gute Gespräche.
"Ihr klingt jedoch besorgt, mein lieber Giuseppe", bemerkte der Bischof. "Ein Schatten liegt auf Eurer Seele."
"Nun ja, was soll ich sagen, diese Vorkommnisse rauben mir noch den letzten Nerv. Und dazu dieses Gerede von dem Drachen. Solche Ammenmärchen."
"Woher wollt Ihr das wissen, mein Sohn?"
Der Bischof zwinkerte Giuseppe vergnügt zu.
"Also, ich habe zumindest noch keinen gesehen, außer in meinen Schriften, die ich studiere", antwortete Giuseppe.
"Nun, Ihr habt wohl so wenig wie ich selbst jemals Gottes Antlitz gesehen, nicht wahr? Doch beide haben wir in den Schriften über ihn gelesen. Und beide glauben wir an ihn, nicht wahr? Weshalb sollte es also dann auch keine Drachen geben, wenn Gott uns schon so herrliche Geschöpfe geschenkt hat, die die Welt bevölkern - und so köstliche Trauben, aus denen dann dieser vorzügliche Wein gekeltert wurde, den ich mir erlaubt habe, für diesen Abend mitzubringen. Ich möchte dazu Euer Urteil hören, lieber Giuseppe, denn ich habe vor, ihn an die Kirchen als Messwein auszugeben."

Sie hatten noch nicht einmal die erste Runde zu Ende gespielt, als sie durch einen Tumult im Vorzimmer gestört wurden.
Die Tür wurde aufgerissen und äußerst temperamentvoll betrat eine Dame den Raum. Giuseppe war im ersten Augenblick zu perplex, um sich höflich zu erheben und auch der Bischof blickte erstaunt von dem Spielbrett auf.
"Verzeiht, Herr", keuchte der Diener, der kurz hinter der Frau eintrat und sich verbeugte.
"Ich habe sie leider nicht abweisen können. Sie meinte, dass es um Leben und Tod ginge und sie Sie unbedingt sofort sprechen müsste. Es ist Con..."
"Ich weiß, wer sie ist", winkte Giuseppe unwillig ab und gab seinem Bediensteten ein Zeichen, sie alleine zu lassen.
Er wandte sich dem Überraschungsgast zu.
"Contessa?"
"Es geht um meinen Sohn", begann die Dame ohne Umschweife und ignorierte den anwesenden Bischof vollständig.
"Ihren Sohn? Was ist mit ihm?"
"Was wohl!"
Ihre Stimme wurde zu einem wütenden Zischeln.
"Sie haben ihn in den Kerker geworfen. Dabei ist der doch noch ein Kind!"
"Ich verstehe nicht ganz? Von welchem Kind sprechen Sie denn?"
Giuseppe war sichtlich verwirrt, doch der Bischof kam ihm zu Hilfe: "Sie meint Piccollino. Den Großgrundbesitzer. Der, der auch das Gestüt hat."
"Ja, mein liebes Piccolloncinochen. Und Sie haben ihm das angetan!"
Die Dame bebte förmlich vor Wut.
"Moment bitte...", begann Giuseppe.
Er musste sich auf die Lippen beißen, damit er nicht bei dem Kosenamen Piccolloncinochen lauthals lachen musste, obwohl der peinliche Auftritt dieser Frau alles andere als zum Lachen war.
"Ihr Sohn ist völlig zu Recht im Gefängnis und zwar wegen Betruges. Er hat steif und fest behauptet, dass mehrere seiner Schafe gerissen wurden und forderte dafür eine Entschädigung von mir."
"Ja, und? Die steht ihm ja wohl auch zu."
"Richtig, gute Frau..."
"Contessa, wenn ich bitten darf!"
"Auch gut. Macht ja nichts. Also, Sie haben durchaus Recht, nur, bedauerlicherweise besitzt Ihr Sohn keine Schafe. Eine Unmenge von Pferden, ja, aber keine Schafe. Noch dazu ist er einer der reichsten Männer hier in der Region. Daher ist sein Vergehen umso verwerflicher."
"Wollen Sie etwa sagen, mein liebes Piccolloncinochen hätte etwas Verwerfliches getan? Eben weil er wohlhabend ist und ich eine Contessa, die Contessa Gianna Virghuena, hat er ja wohl gewisse Privilegien. Wenn er sagt, dass ihm Schafe verloren gingen, dann haben Sie nicht das Recht, das anzuzweifeln und das arme Piccolloncinochen wie einen Verbrecher behandeln."
"Und doch tue ich das. Sonst noch was? Ich würde mich nämlich gerne wieder meinem Gast widmen, seiner Eminenz."
Contessa Virghuena warf dem Bischof einen Blick zu und runzelte die Stirn, gerade als ob er etwas wäre, das an ihrem Stiefelabsatz kleben würde.
Als Giuseppe gerade nach der kleinen Silberglocke greifen wollte, um seinem Diener zu läuten, schnäuzte sie sich geräuschvoll.
"Mein armes Piccolloncinochen. Der würde doch niemals etwas Schlechtes tun, er ist immer so ein lieber Junge gewesen."
Giuseppe krümmten sich die Eingeweide.
"Ihr Sohn ist immerhin schon um die Dreißig, meine Liebe. Und er hat es faustdick hinter den Ohren. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass die Strafe gerechtfertig ist."
"Nein. Man kann so mit ihm nicht umspringen. Er ist Ihnen schließlich gleichgestellt. Und davon abgesehen, er ist der Lieblingsschüler vom guten, alten Ponnicraccili. Der war auch schon mein Lehrer. Und er pflegt so wie ich immer zu sagen, dass man mit Kindern Geduld haben muss..."
"Wer bitte?"
Giuseppe hatte nun endgültig die Nase voll und läutete.
"Die gute Contessa meint unseren Hochwürden, Pater Ponnicraccelone", erklärte der Bischof gütig lächelnd.

"Diese Frau kostet mich noch den letzten Nerv", seufzte Giuseppe und wischte sich den Schweiß von der Stirne, nachdem die Frau endlich gegangen war.
"Regt Euch nicht auf, mein Sohn", beschwichtigte ihn Pietro und schob ihm den Würfelbecher hin.
"Hier! Ein Fünfer-Pasch wäre jetzt wohl von Vorteil."
"Wer ist eigentlich dieser Pater Ponnicraccelone genau?" wollte Giuseppe wissen. "Ich höre immer wieder seinen Namen."
Die Mine des Bischofs verfinsterte sich. Er lehnte sich zurück und beobachtete, wie Giuseppe nicht den benötigten Würfelwurf bekam.
"Dieser Pater Ponnicraccelone ist bei den Menschen nicht gerade beliebt. Dennoch ist er ein charismatischer Prediger und hat seine Beziehungen bis nach Rom. Auch die Contessa ist ihm verfallen, obgleich sie weitaus jünger ist als er. Aber er schießt gerne über das Ziel hinaus und damit dient er oft nicht mehr den Interessen der Mutter Kirche. Ich darf nicht näher darauf eingehen, aber dem bischöflichen Ordinariat liegen zahlreiche Beschwerden über ihn vor, doch er hat es stets geschafft, dass selbst der Heilige Vater seine Hand schützend über ihn hält. Ich weiß es nicht, wie er das hinbekommt. Jedenfalls, im Moment füllt er unsere Kirchen mit Menschen, die sich alle vor diesem ominösen Drachen oder Wolf oder was auch immer hier sein Unwesen treibt fürchten. Mit seinen Predigten und flammenden Reden macht er ihnen Mut und Hoffnung. Das wäre an sich ja nicht schlecht, schließlich ist das ja die Aufgabe eines Priesters. Aber, ich fürchte, es steckt da mehr dahinter. Ich vermag derzeit nicht zu erkennen, welches Spiel er spielt, aber ich bezweifle, dass es dem christlichen Gedanken entspricht. Doch ich habe keinerlei Beweise, nur vage Vermutungen."

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Der Wind hatte noch an Stärke zugenommen und die dahinrasenden Wolkenfetzen ließen den Mond bizarre Muster auf die Landschaft werfen. Das Rauschen der Wipfel und das Heulen des Sturms verschluckten das eigentümliche Geräusch, das ein offensichtlich schwerer Körper verursachte, der über den Boden geschliffen wurde.
Verstohlen näherte sich ein schwarzer Schatten einer abgezäunten Weide und überbrückte in geduckter Haltung das freie Feld zwischen dem Wald und dem Ziel dieser nächtlichen Wanderschaft. Eine Spur von Schwefelgeruch trug der Wind mit sich.
Wer oder was auch immer das war, es schlich sich gegen den Wind an, die Schafe grasten oder dösten friedlich und ahnungslos. Ein Schäfer war nirgendwo auszumachen, auch kein Schäferhund. Offenbar verließ sich der Eigentümer ganz und gar auf den hohen Zaun, der die Weide umgab.
Der Eindringling hatte auf heimlichen Streifzügen schon längst die Stelle ausfindig gemacht, an der er bequem darunter hindurch kriechen konnte - was waren Schafe doch für dumme Geschöpfe, blieben auf der Weide und dachten nicht einmal daran, sich unter den Zaun hindurch in die Freiheit zu bewegen.

Das Schlachtfest war blutig und kurz und ein voller Erfolg: Von der Herde bleib nicht viel mehr zurück als ein paar Wollfetzen und einige abgenagte Knochen.
Doch die Bestie war unersättlich diese Nacht. Es stand ihr der Sinn nach anderer Beute und ein schwerer Leib schob sich schlangengleich den mondbeschienenen Pfad entlang, an dessen Ende der alte, baufällige Palazzo stand, in dem eine verwahrloste Witwe vom fahrenden Volke mit ihren beiden kleinen Kindern hauste...
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"...Und der Herr sprach: Feuer wird vom Himmel regnen und Euer Hab und Gut und Euch verbrennen! Nur wer sich mir anschließt und dem Weg folgt, den ich Euch durch meine Propheten zeige, wird in das Paradies kommen."
Pater Ponnicraccelone ließ die Worte ein wenig auf die versammelten Menschen wirken, bevor er mit seiner Predigt fortfuhr. Er konnte zufrieden sein. Auch heute war die kleine Kirche wieder zum Bersten gefüllt. Er spürte, dass ihn seine Schäfchen nicht mochten, aber niemand würde es wagen, seinem Gottesdienst fernzubleiben. Der Glaube ist Opium für das Volk - wie wahr. Vor allem in Zeiten wie diesen. Es bedurfte nur eines geschickten Mannes - dafür hielt sich Ponnicraccelone -, um sich diese Tatsache zu Nutzen zu machen.
"Liebe Brüder und Schwestern! Was möchte der Herr uns allen damit sagen? Wie Ihr alle wisst, sind dunkle Zeiten angebrochen. Aber wir müssen alle zusammenstehen, damit wir die Prüfungen, die uns unser Herr auferlegt hat, ertragen. Satan persönlich marschiert unter uns umher. Bisher raubte er Eure Schafe und Rinder. Doch wurde ich informiert, dass auch schon Kinder dieser Bestie zum Opfer gefallen sind. Unschuldige Kinder, das Kostbarste, mit dem uns unser Herr gesegnet hat, in den Klauen dieses Untiers. Ja, liebe Brüder und Schwestern, Satan ist zurückgekommen und er hat seine Höllengeschöpfe mitgebracht. Engel der Nacht, gewaltige, blutrünstige Drachen. Noch vor einem Jahr als Vorhut schickte er jenen riesenhaften, schwarzen Wolf, eine furchtbare Geißel Gubbios. Doch der Herr hielt seine Hand schützend über uns und ich war in der glücklichen Lage, Francesco von der Abtei zu Assisi zu begegnen. Sofort unterstützte er mich in dem Kampf gegen den Wolf und Ihr alle wisst, dass dieses Untier durch Gottes Fügung fromm wurde und unsere Wälder verlassen hat. Aber, meine lieben Brüder und Schwerstern, in diesen Stunden der Not kann uns nicht einmal Bruder Francesco beistehen. Er wollte sich auf die Suche nach den Drachen machen, doch er wurde seitdem nicht mehr gesehen. Wir wollen uns nun erheben und für seine Seele beten."

Wieder hatte Ponnicraccelone einen geschickten Schachzug ausgeführt. Diese Bauerntölpel verehrten diesen Francesco von Assisi bereits wie einen Heiligen. Nun, mit der Nachricht über dessen Tod würde er ihnen wieder ein Stückchen Hoffnung geraubt und damit seine eigene Position gestärkt haben. Das Schöne an der ganzen Sache war, dass der Pater nicht einmal gelogen hatte. Tatsächlich hatte man seit geraumer Zeit nichts mehr von Francesco gehört. Dass er aber tot wäre, davon hatte Ponnicraccelone schließlich nie etwas gesagt.
Jetzt war es an der Zeit, den Trumpf auszuspielen, den er für den heutigen Tag vorbereitet hatte.

"... Amen! Ihr seht, meine Brüder und Schwestern, Gott selbst will, dass Ihr alle, Ihr Menschen Gubbios, diese Prüfung annehmt. Die Drachen, die Ausgeburten der Hölle, werden mit ihrem giftigen, stinkenden Atem die Pest über uns bringen. Ihre Feuer, heißer als das Fegefeuer im tiefsten Höllenschlund, zerstören Eure Ställe und Häuser. Sie vernichten Eure Ernte. Sie verschlingen Eure Ziegen, Eure Schafe, Eure Pferde. Ja, sie rauben Eure Weiber und sogar Eure Kinder. Man sagt, dass sich die Drachen zunächst an ihnen auf schlimmste Weise vergehen und sie dann qualvoll in Stücke reißen. Habt Ihr nicht die Schreie ihrer Opfer gehört, Nacht für Nacht trägt sie der Wind mit sich..."

"Ich dachte immer, die Geräusche in der Nacht würden aus der Sakristei kommen, wenn unser guter Pater einen seiner Ministranten oder eines der Chormädchen ins Gebet nimmt", sagte ein älterer Mann irgendwo im hinteren Teil des Kirchenschiffs.
In seiner Stimme lag große Bitterkeit und Verzweiflung. Zustimmendes Gemurmel erhob sich, denn Gerüchte gab es viele. Angeblich hielt dieser Pater Ponnicraccelone seinen Wolfshund auch nicht nur als Wachhund der Sakristei, zumindest sagte das die Bäckersfrau, die es wiederum von dem Lehrmädchen des Fleischers wusste. Ihr hatte es die Pfarrersköchin unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt.
Man hatte Beschwerdebriefe geschrieben an den Bischof, doch es erfolgte keinerlei Reaktion. 
Den Fürsten wollte man nicht damit  belästigen, zumal dieser nicht das Recht hatte, sich in die Angelegenheiten der Kirche einzumischen. Abgesehen davon hatte dieser genug damit zu tun, dem Albtraum, der Gubbio zur Zeit geißelte, ein Ende zu bereiten.

Dem Pater entging die Unruhe keineswegs und er konnte deren Ursache erahnen. Schnell trat er die Flucht nach vorne an.
"Mir ist natürlich bekannt...", begann er mit einem drohenden Unterton in seiner Stimme, "...dass man über mich nahezu blasphemische Lügen verbreitet. Ich aber sage Euch, liebe Brüder und Schwestern, diejenigen, die auf diese Weise Verrat an der Kirche, an Gott oder gar an mir - verzeiht - an mir, der Kirche und damit an Gott Verrat begehen, werden dafür in der Hölle schmoren. Ihr alle wisst, dass ich ein Ehrenmann bin, ein demütiger Diener vor dem Herrn! Und Gott segnete mich, indem er meine Gebete erhört hat. Der Herr wird uns bei unserer Prüfung beistehen. Er schickte uns einen edlen Recken, der den oder die Drachen, die irgendwo in den unzugänglichen Schluchten des Apennins hausen, erschlagen wird.
Daher spendet, im Namen des Herren, ein jeder wie er nur kann, damit wir diesem tapferen Ritter in seinem Kampf gegen das Böse, gegen Satan unterstützen können: Sein Pferd muss beschlagen sein, er braucht eine Rüstung und was sonst noch so an Kosten anfällt.
Gott wird Euch dafür segnen, liebe Brüder und Schwestern! Auf dass die Sonne wieder scheinen wird in dieser Zeit der Finsternis, wenn wir den Schädel der teuflischen Schlange vor unserer Kirche verbrannt haben werden. Gehet nun hin in Frieden!"

Zielstrebig ging Ponnicraccelone auf den Mann zu, der ihm zuvor im Gottesdienst aufgefallen war.
"Buon Giorno, Cercandore. Warum waren Sie schon so lange nicht mehr in der Sonntagsmesse? Ich habe die Unruhe, die Sie jedesmal hereinbringen, schon vermisst."
"Weil mir da zu viele blöde Leute sind", entgegnete der Mann, der so zwischen fünfzig und sechzig sein mochte. "Da kümmere ich mich lieber um meinen Wein."
Nicht umsonst war Cercandore der reichste Weinbauer in der Gegend. An den Hängen des Monte Ingino gediehen die Reben prächtig und der Wein war geschätzt und berühmt weit über die Region hinaus. Daher war es für ihn eine herbe Enttäuschung gewesen, dass ausgerechnet der Bischof seinen Wein nicht als Messwein wollte und auf die Erfahrungen eines anderen Winzers zurückgriff.
"Ja, unser Herr hat Dich wahrlich mit herrlichen Rebstöcken gesegnet, mein Sohn."
Sofort roch Cercandore die Lunte und giftete: "Keine einzige Lira bekommt Ihr von mir. Soll sich doch der Fürst drum kümmern."
"Das Drachenfeuer wird auch vor Deinen Weinbergen nicht Halt machen, mein Sohn."
Doch der Winzer hörte das schon nicht mehr. Mit einem verächtlichen Schnauben hatte er sich umgedreht und den Pater einfach stehen lassen.

Die Laune des Paters änderte sich erst, als sich ihm der Messner schnellen Schrittes näherte.
"Gute Nachricht, Hochwürden. Ich denke, Sie werden zufrieden sein. Sie warten in der Sakristei."
Pater Ponnicraccelone lächelte: "Sehr schön. Und für alles andere ist gesorgt?"
"Natürlich. Sie können mit ihnen machen, was Sie wollen. Niemand wird Fragen stellen."
"Ah ja, wunderbar. Also die übliche Quelle, nehme ich an?"
Der Messner schüttelte den Kopf.
"Diesmal nicht, Hochwürden. Niemand würde ein Balg aus dem fahrenden Volk, diese Zingari, diesen Abschaum, vermissen."
 

Ein dunkler Schatten huschte über die im Mondlicht glitzernde Wasseroberfläche als er seine Kreise über dem kleinen Bergsee immer enger zog und schließlich mit leichtem Plätschern in das kalte Wasser eintauchte. Der Drache begann sich zu säubern und genoss das Gefühl des Wassers an seinen Schuppen. Seine Jagd war erfolgreich gewesen und nach über einer Woche ohne Fressen war nun endlich wieder sein Bauch gefüllt. Vorhin, beim Schlagen der beiden Hirsche als Beute, hatte er sich vorgestellt, er hätte einen dieser verdammten Menschen zwischen seinen Krallen, die ihn schon seit geraumer Zeit belästigten. Ritter waren es gewesen und ausgebildete Drachentöter, aber auch einfache, verzweifelte Bauern, die sich ihm entgegen stellten mit nichts als einer Heugabel bewaffnet und ihrem selbstmörderischen Mut. 
Buonsensello war den Konflikten ausgewichen, so gut es ging. Die Anfeindungen betrübten ihn, denn er war ein friedliebender Drache.

Er lebte schon sehr lange in den Bergen des Apennins und er war niemals eine Bedrohung gewesen für die Leute, die in dieser Region lebten. Im Gegenteil, indem er sich von den unzähligen Wildschweinen und Hirschen ernährte, die in den Wäldern lebten, bewahrte er die Felder der Menschen vor den Schäden, die das Wild ansonsten unweigerlich angerichtet hätte. Anfangs wollten einige der Bauern ihm aus Dankbarkeit Opfergaben bringen. Er hatte dies jedoch strikt abgelehnt und er war damals ziemlich ungehalten gewesen, als irgendjemand auf die unsägliche Idee gekommen war, ihm eine Jungfrau an einen Baum vor seiner Höhle zu fesseln. Er hatte das arme Ding, das sich bei seinem Anblick beinahe zu Tode erschrocken hatte, unverzüglich losgebunden und nach Hause geschickt.
Stillschweigend wurde übereingekommen, dass der Drache sich nicht an dem Herdenvieh der Menschen vergreifen würde und dafür sich die Menschen von Buonsensellos Behausung fernhielten.
Manchmal aber suchte der eine oder andere Mensch, der mutig - oder leichtsinnig - genug war, den Drachen trotz dieses Abkommens auf. Meist kamen sie, um ihn nach Rat zu fragen, galten Drachen doch als sehr weise Geschöpfe. Buonsensello fühlte sich durch diese gelegentlichen Besuche eher geschmeichelt denn belästigt und so kam es, dass sich zwischen ihm und so manchem Menschen eine tiefe Freundschaft entwickelt hatte.
Auf diese Weise lernte er viele Gebräuche der Menschen kennen und wurde auch mit deren Glauben konfrontiert. Es faszinierte den Drachen, Geschichten über einen Menschen zu hören, der sich von Seinesgleichen kreuzigen hatte lassen, nur um die gesamten Sünden der Menschheit auf sich zu nehmen und damit ihr einen Neuanfang zu ermöglichen.
Allerdings war es für den Drachen schwer begreiflich, dass die Menschen für die Grundsätze des Zusammenlebens überhaupt solche Geschichten, sie nannten sie Religion, benötigten. Einen dieser Menschen, die sich besonders intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzten, hatte er besonders ins Herz geschlossen.
Immer wieder gerne erinnerte er sich an den Tag ihrer ersten Begegnung. Damals war der Mann noch ein kleiner, aufgeweckter Knabe gewesen, der nicht die geringste Spur von Scheu gezeigt hatte.
Bereits zu diesem Zeitpunkt erkannte Buonsensello, dass in diesem Menschen großes Potential schlummern würde. In der Tat suchte der Junge den Drachen schon sehr bald wieder auf und verblüffte ihn mit dem ernsthaften Wunsch, sein Schüler zu werden.
Buonsensello willigte ein und wurde auf diese Weise zu einem ständigen Begleiter dieses Menschen und damit zu seinem engsten Vertrauten und Freund.

Seufzend erklomm der Drache einen natürlichen Damm aus großen Steinen und schüttelte sich wie ein Hund trocken, seine Schwingen dabei halb geöffnet. In den letzten Monaten konnte er nur noch wenig Zeit mit seinem Freund verbringen und wenn, dann konnten sie sich nur in den Nachtstunden treffen, da es sonst für beide zu gefährlich gewesen wäre.
Buonsensello war es leid, sich verkriechen zu müssen, schließlich war er unschuldig, das wusste auch sein Freund, nur kein anderer Mensch würde ihm das glauben.
Vor allem dieser Pater Ponnicraccelone, von dem er schon so manches gehört hatte, hetzte den Mob gegen ihn auf.
"Aber irgendwann erwischen wir den wahren Übeltäter!" rief er beinahe trotzig aus und stieß sich kraftvoll ab. Schon bald war Buonsensello nur noch eine schwarze Silhouette vor der bleichen Mondscheibe.
Morgen Abend würde ihn endlich wieder sein Freund besuchen, hoffentlich hatte er Neuigkeiten.
 

Die Sonne schien hell auf den Hof der bischöflichen Residenz und ließ die Rüstung des Ritters glänzen.
"Ich bin Ritter Giovanni Murone. Ich wünsche augenblicklich Deinen Herren zu sprechen, seine Eminenz, den Bischof."
Herablassend blickte er auf den herbeigeeilten Stallburschen, der gerade das Reittier des Ankömmlings versorgen wollte. Doch bevor der Junge etwas erwidern konnte, ertönte bereits die Autorität ausstrahlende Stimme des Bischofs.
"Ich bin schon da. Friede sei mit Euch. Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?"
"Ich bin hier, um Euch von dem Teufel, der dieses schöne Fleckchen Land mit seiner Anwesenheit verpestet, zu befreien."
"Von was genau sprecht Ihr?"
Der Bischof ließ seinen Blick über den Ritter streifen. Er mochte ihn nicht. In seinen Augen war dieser Mann nichts als ein eitler Pfau, ein Emporkömmling, wie so viele, denen er bei seinen Fahrten nach Rom begegnen musste.
"Von dem Drachen, der Eure Gegend heimsucht, das Vieh Eurer Bauern zerreißt und Eure Kinder und Frauen schändet."
"Ich fürchte, ich verstehe Euch immer noch nicht", erwiderte der Bischof verwirrt. "Wie kommt Ihr darauf, dass wir von einem Drachen heimgesucht werden?"
"Nun, ich wurde von meinem lieben Freund, Pater Ponnicraccelone, gerufen. Er erzählte mir von dem Untier, das in den finsteren Höhlen des Monte Ingino hausen würde."
"Und woher wisst Ihr, dass es sich bei diesem Untier um einen Drachen handelt?"
Der Ritter warf einen herablassenden Blick auf den Bischof.
"Eure Eminenz, Ihr beliebt zu scherzen. Bestimmt hat doch ein Mann der Kirche in Eurer Position Theologie studiert? Ihr erinnert Euch doch sicher daran, dass es der Teufel in Gestalt einer Schlange war, der Eva dazu verführte, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu kosten? 
Schon bei den Assyrern gab es nur ein Wort für Teufel und Schlange, nämlich drakon. Es liegt doch auf der Hand, dass dies gleichbedeutend ist mit dem Wort dragone, also Drachen."
"Ach ja", lächelt der Bischof und schüttelte unmerklich den Kopf, "natürlich, wie dumm von mir."
Wieder einmal hatte sich Pietro Pellegeròs Menschenkenntnis bestätigt. In der Tat war das Studium alter Sprachen ein Hauptbestandteil seines Studiums gewesen und ihm war das Wort drakon mehr als geläufig, nur dass es aus dem Griechischen stammte und in der Tat eine große Schlange beschrieb, aber noch viel mehr gleichbedeutend war mit scharfem Blick. Oder aber Weitsicht...
"Pater Ponnicraccelone hat Euch also herbeigerufen? Wie verwunderlich, bedenkt man den Umstand, dass eigentlich ich solche Entscheidungen zu treffen habe. Aber der gute Pater war schon immer jemand, der in seinem Ehrgeiz, unserem Herrn auf beste Weise zu dienen, die einfachsten Regeln außer Acht zu lassen pflegt. Aber damit will ich Euch nicht belästigen. Mich interessiert allerdings nur, weshalb Ihr nun zu mir gekommen seid. Solltet Ihr nicht bereits hoch zu Ross dem Untier entgegen reiten, anstatt die wertvolle Zeit mit Plaudereien zu verschwenden?"
Der arrogante Gesichtsausdruck des Ritters verschwand als er entgegnete: "Wegen des Fürsten."
"Giuseppe Cacciatore?"
"Genau."
Wütend spie Ritter Murone bei dem Klang dieses Namens aus.
"Was habt Ihr gegen den Mann?"
"Er gab mir diese Ausrüstung."
Mit einer übertriebenen Geste deutete Murone auf sich und sein Streitross, eine kräftig gebaute Haflingerstute, die mit Sicherheit an der Seite des Ritters treue Dienste leisten würde.
"Was soll damit sein?" fragte der Bischof. "Euer Ross scheint mir ohne Tadel und auch Eure Rüstung ist in einwandfreiem Zustand. Ihr habt einen Schild mit dem Wappen des Fürsten, in dessen Diensten Ihr nun vorübergehend steht, ein solides Schwert und, wie ich sehe, auch eine Lanze, gut genug, um damit Drachen zu spießen. Wo ist also das Problem und weshalb kommt Ihr damit zu mir?"
Allmählich verlor der Bischof die Geduld. Es war heiß in der Mittagssohne und Pietro sehnte sich nach einem kurzen Nickerchen in seinem kühlen Arbeitszimmer oder zumindest nach einem erquickenden Becher Wein. Wenn zumindest sein Freund jetzt hier wäre.
"Seht Ihr das denn nicht?" begehrte der Ritter auf.
"Diese Mähre hier ist eher ein Maultier und in den gottlosen Regionen Ägyptens oder vielleicht noch in den bayerischen Alpen zu Hause, aber mit Sicherheit nicht eines Ritters meines Ranges würdig. Ich brauche ein wendigeres Pferd, denn Geschwindigkeit ist alles beim Drachenkampf. Oder das Schwert hier. Es ist rostig und stumpf. Ich kann damit nicht einmal von einem Laib Parmesan etwas herunter schneiden. Und beim Anblick meiner Lanze lacht sogar meine Verlobte, die Baronesse Giulietta Erpèllé im fernen Rom. Sie meinte, jeder andere Ritter, den sie kennt, hätte eine größere Lanze und eine bessere Klinge."
"Dann wendet Euch doch an den Fürsten und erklärt ihm dies."
"Ich versuchte es, doch er meinte, für meine Aufgabe wäre diese Ausrüstung ausreichend. Mein lieber Freund Ponnicraccelone hat mich dann zu seiner lieben Freundin, Contessa Gianna Virghuena, geschickt. Sie hatte meine Ausrüstung begutachtet und ebenfalls meine Lanze als zu kurz befunden. Sie sandte mich zu Euch, damit Ihr mir eine bessere Ausrüstung gebt."
Der Bischof seufzte - aus der gemütlichen Siesta würde es nichts werden.
"Nun gut, kommt mit in mein Arbeitszimmer. Wir wollen das bei einem Glas Wein besprechen. Allerdings kann ich Euch schon im Vorfeld sagen, dass ich Euch nicht weiterhelfen werden kann. Die Contessa mag Euch viel erzählen, doch ich glaube nicht, dass sie der richtige Ansprechpartner ist in Bezug aufs Drachentöten. Das ist alleine Sache des Fürsten, und wenn er Eurem Anliegen nicht entspricht, so wird er wohl seine berechtigten Gründe haben. Gerne aber höre ich mir an, was Ihr zu sagen habt und werde gegebenenfalls mit Giuseppe Cacciatore sprechen."
Als sie den Korridor zum bischöflichen Arbeitszimmer betraten, fiel Pietro noch etwas ein, vielleicht würde er damit den ungebetenen Gast abwimmeln können.
"Welche Reputationen habt Ihr bisher so erworben, Herr Ritter?"
"Ich kämpfte Seite an Seite mit dem edlen Ritter Georg im Heiligen Land gegen Drachen, Eure Eminenz. Ich half ihm, dieses Gewürm vom Antlitz dieser Welt zu tilgen."
"Wie bitte? Ihr meint tatsächlich jenen berühmten Ritter Georg, den Drachentöter, der in Byzanz dann den Märtyrertod starb?"
"Genau diesen", bestätigte Murone.
"Und wie genau habt Ihr ihm beigestanden? Ritter Georg - möge er dereinst heilig gesprochen werden - war sehr oft in gefährlichen Kämpfen mit Drachen verwickelt, so sagt man zumindest."
"Das stimmt auch. Ich habe ihn gestärkt in diesen Kämpfen."
"Wie das?"
"Nun", erwiderte der Ritter wichtigtuerisch, "ich habe zum Beispiel sein Pferd gesattelt, seine Rüstung poliert und seine Stiefel auf Hochglanz gebracht, mit meinem eigenen Speichel."
Der Bischof verdrehte seine Augen, sagte aber nichts mehr weiter.

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"So, so, dann war der Kerl also auch bei Euch?" Giuseppe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Wahrscheinlich hat er sich über die Ausrüstung beschwert, die ich ihm gegeben habe. Welchen Eindruck habt Ihr von ihm?"
"Nun, sagen wir mal so", begann der Bischof lächelnd und bewegte seine Steine auf dem Backgammonbrett entsprechend der gewürfelten Zahl, "ich fand seine Ausrüstung angemessen, zumal ich denke, dass dieser Mann noch nie einem Drachen gegenüber gestanden ist."
"Natürlich nicht", erwiderte der Fürst und griff nach dem Würfelbecher. "Kann er aber auch nicht, weil es nämlich keinen Drachen gibt, weder hier noch anderswo."
"Wenn es keine Drachen gibt, dann hättet Ihr ihm doch gar nichts zu geben brauchen?"
"Das ist richtig, aber sonst würde mir wieder die gute Contessa in den Ohren liegen. Irgendwie hat sie überall ihre Finger mit ihm Spiel. Na, egal, ich sehe es mal so, wenn die Menschen der Meinung sind, dass ein Drache die Wurzel allen Übels ist und dieser Ritter ihnen helfen kann, dann ist es nur recht und billig, dass ich ihn ausrüste. Das verschafft uns Luft, um nach dem wahren Übeltäter zu suchen."
"Ihr seid also auch der Meinung, dass es kein Untier ist, das den Bauern so zusetzt?" erkundigte sich Pietro.
"Allerdings. Ihr habt ja auch mal so Andeutungen gemacht, dass Ihr denkt, dass es sich dabei auch nicht um einen Wolf handeln würde. Aber wenn es ein Mensch ist, dann müsste das fast eine ganze Bande sein. Einer alleine kann gar nicht so sehr wüten. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass dieser Piccollino irgendwas von dieser Sache weiß."
"Apropos. Was ist nun eigentlich aus dem geworden?"
Giuseppe seufzte.
"Ich musste ihn laufen lassen. Aber ich denke, die paar Nächte im Kerker werden ihm eine Lehre gewesen sein."
Nach einem Schluck Wein erkundigte sich der Fürst: "Sagt mal, hat Euch dieser komische Mulino, oder wie der Kerl heißt, auch erzählt, wie er den angeblichen Drachen erlegen wollte?"
Der Bischof lächelte. "Der Ritter heißt Murone. Ja, er hat es mir erzählt, aber ich wurde nicht ganz schlau aus dem Gefasel. Irgendwas von Feuerwänden, mit denen er nicht mehr arbeiten wollte, und Fangnetzen, die nichts taugen. Hauptsächlich aber hat er sich bei mir darüber ausgelassen, wie unwirtlich es in der Ferne war und er von nun an nur noch in seiner Heimat seiner Betätigung als Drachentöter nachgehen möchte. Er wollte da irgendwelche neuen Wege beschreiten, irgendwas mit Beschwörungen und ähnlichem Hexenwerk. Ihr könnt Euch denken, mein lieber Giuseppe, als Bischof hört man dann solche Sachen etwas weniger gerne."
"Hexenwerk? Ihr meint damit die Beschwörung von Dämonen?"
"So etwas in der Art, ja. Wie gesagt, ich habe da nicht weiter zugehört. Abgesehen davon ist das nicht mit den Lehren der heiligen Mutter Kirche vereinbar."

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Buonsensello schreckte auf. Sein sensibles Gehör hatte ein entferntes, gedämpftes Geräusch aufgefangen. Offensichtlich war er nun doch eingeschlafen, nachdem er den ganzen Abend und die Nacht über gewacht und auf seinen Freund gewartet hatte. Er war nicht gekommen. Knurrend richtete sich der Drache auf und er spürte, wie sich sein Rückenkamm aufstellte. Zorn glomm in seinen Augen. Egal, ob dieser Mensch ein Mann der Kirche war oder nicht, ihm würde er schon die Leviten lesen. Schließlich war es unschicklich, einen Drachen lange - und dazu noch vergebens - warten zu lassen.
Er reckte den Kopf und prüfte witternd die Luft. Nein, sein Freund hatte ihn auch nicht aufgesucht, während er geschlafen hatte.
Enttäuscht stieß er ein kleines Rauchwölkchen aus seinen Nüstern. Buonsensello brannte  darauf, über die geheimnisvollen Vorgänge in diesem Landstrich auf dem Laufenden gehalten zu werden. Außerdem hatte er seinem Schüler auch etwas mitzuteilen: Man hatte doch tatsächlich die Stirn, heimlich in seine Höhle einzudringen und ihn, den Drachen Buonsensello, den angeblich alle fürchteten, zu berauben. Zwar war es niemals etwas wirklich Wertvolles gewesen, das seinem Hort entwendet wurde, aber ärgerlich war es trotzdem. Vor allem konnte sich der Drache beim besten Willen nicht erklären, weshalb jemand Interesse an seinen alten, abgeworfenen Schuppen haben sollte. Sicherlich, an seinem Körper glitzerten sie glühend golden im Schein der hellen Sonne und bildeten einen nahezu undurchdringlichen Panzer. Aber einmal abgeworfen verloren sie jeglichen Glanz und waren brüchig wie altes, trockenes Holz.
Anders als Schlangen, die sich häuteten, verloren Drachen von Zeit zu Zeit ihre alten Schuppen, wenn sich darunter neue gebildet hatten. Auf diese Weise war sichergestellt, dass ihr Schuppenpanzer weich und geschmeidig aber dennoch stabil blieb.
Er schüttelte sich missmutig, als der Morgennebel seine kalt-feuchten Finger nach seinem Drachenleib ausstreckte.
Da war erneut dieses Geräusch und nun fingen seine Nüstern auch schon einen Geruch auf, der ihm zwar fremd war und dennoch auch vertraut. Menschengeruch.
Doch es war nicht der seines Freundes. Da durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz: Spuren exakt dieses Duftes waren immer dann in seiner Höhle wahrzunehmen gewesen, wenn er von der Jagd oder vom nächtlichen Baden im See zurückkehrte und er kurz darauf feststellen musste, dass wieder einmal ein Eindringling sich an seinen Schuppen vergriffen hatte. Buonsensello ärgerte sich zwar jedesmal ob dieser Dreistigkeit, die dieser Mensch besaß, trotzdem hatte er niemals das Bedürfnis gehabt, ihm aufzulauern - so lange nichts Wertvolles entwendet wurde.
Diesmal aber würde er den unwillkommenen Besucher in Flagranti ertappen.
Er verbarg sich tief in den schwarzen Schatten der Höhle und sein schuppiger Leib verschmolz nahezu vollständig mit der Dunkelheit.
Nach einigen Minuten, die wie Würmer über Buonsensellos Rücken zu kriechen schienen, betrat der Mann die Höhle. Der Drache roch Angst, Feigheit, aber auch Entschlossenheit an ihm. Die Zielstrebigkeit, mit der sich der Eindringling in der Höhle vorwärts bewegte, verriet Buonsensello, dass der Mensch offensichtlich genau wusste, wonach er suchte.
Mit Absicht kickte der Drache einen kleinen Silberpokal aus seinem Versteck, so dass dieser scheppernd vor die Füße des Menschen kullerte, gerade als sich dieser nach einer Schuppe bücken wollte.
Entsetzt hielt der Eindringling inne und starrte auf den Pokal. Er lauschte in die Dunkelheit, aber außer seinem Blut, das ihm in den Ohren rauschte, war nichts zu hören. Er bückte sich schnell, griff nach einer Schuppe und ließ sie in seinem mitgebrachten Lederbeutel verschwinden. Ein paar Schritte weiter lagen wieder zwei dieser Hornplatten. Er musste sich beeilen, denn das Untier konnte jeden Augenblick zurück sein von seinem nächtlichen Streifzug.
"Oooh nein! Diese Nacht habe ich meine Höhe nicht verlassen. Welch eine glückliche Fügung. Nun ja, für Dich jedoch nicht so gut."
Das heisere Zischen hinter ihm ließ den Mann zusammenzucken und er ließ vor Schreck den Beutel fallen.
Als er sich zitternd umwandte, starrte er in ein Reptilienauge, das ihn rubinrot anfunkelte aus einem wuchtigen, mit Stacheln und Hörnern versehenen Schädel.
Der heiße Drachenatem strich durch sein Gesicht.
"Bitte, tut mir nichts", flehte der Mann.
"Nicht nur dreist, sondern auch noch feige", stellte der Drache grollend fest, als er den Eindringling beschnupperte.
"Du stinkst nach Niedertracht", erklärte Buonsensello schließlich und drückte mit seiner Vordertatze den Mann auf die Knie. Es war reiner Zufall, dass sich dabei eine seiner sichelförmigen, scharfen Krallen in die Schulter des Menschen bohrte.
"Du dringst in meine Behausung ein und bestiehlst mich. Zwar nimmst Du nichts von den Schätzen, die hier überall herumliegen, aber dennoch kann ich dieses Verhalten nicht dulden. Es ist nur recht und billig, wenn ich Dich auf der Stelle in ein Häufchen Asche verwandle. Findest Du nicht auch?"
"Nein! Bitte, verschont mein Leben. Ich... ich..."
Donnerndes Drachengebrüll brachte den Menschen zum Schweigen. Der Drache hatte seine Augen zu schmalen Schlitzen verengt, dahinter glomm es wie Feuer.
"Vielleicht ziehe ich Dir aber auch einfach die Haut ab", flüsterte Buonsensello.
Nicht, dass er es wirklich im Sinn gehabt hätte, diesen Mann zu töten. Aber ein wenig Angst einjagen musste schon sein.
Das ängstliche Wimmern vermischte sich mit dem Geräusch des zerreißenden Stoffes, als die Drachenkrallen das Hemd des Menschen bearbeiteten. Buonsensello achtete jedoch sorgfältig darauf, dass dabei die empfindliche Menschenhaut nicht einmal geritzt wurde. Trotzdem entdeckte der Drache schorfige und zum Teil immer noch blutige Striemen auf dem nun entblößten Männerrücken.
Offensichtlich hatte man diesen Menschen vor nicht allzu langer Zeit aufs Schwerste misshandelt.
Die Überlegungen des Drachens wurden unterbrochen, als der penetrante Gestank nach Urin in seine Nüstern drang. Vor Angst hatte sich der Eindringling buchstäblich in die Hosen gemacht.
Angewidert schnaubte Buonsensello auf.
"Lauf schon los, bevor ich es mir anders überlege. Und wage es nicht, Dich hier noch einmal blicken zu lassen."

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Pietro sprang erschrocken zurück, der plötzliche Feuerstoß hatte ihn beinahe erfasst.
"Was sollte das denn? Wohl übergeschnappt, was?" schimpfte der Bischof.
"Ich hoffe, Du hast eine gute Erklärung parat, weshalb Du gestern nicht gekommen bist", grollte Buonsensello, aus dessen Nüstern sich kleine Rauchschwaden kräuselten. "Was fällt Dir eigentlich ein, Deinen Freund und Lehrer warten zu lassen?"
"Friede sei zwischen uns, mein Freund", beschwichtigte Pietro und schlug mit der rechten Hand ein Kreuz. "Ich verstehe ja, dass Du enttäuscht warst, dass ich nicht gekommen bin. Aber das ist noch lange kein Grund, mich zu rösten."
"Enttäuscht?" Der Drache schnaubte. "Ärgerlich trifft es wohl eher."
Der Drachenschwanz peitschte den Boden und wirbelte Staub und Sand auf.
"Du solltest es eigentlich besser wissen, als einen Drachen unnütz warten zu lassen. Ich hoffe, Du hast dafür eine Erklärung, die mich zufrieden stellt."
"Ja, die habe ich", entgegnete der Bischof und tätschelte die Schnauze seines Freundes. "Komm, reg Dich wieder ab, Du aufgeplusterte Eidechse. Hier - ich habe von dem Messwein mitgebracht, den Du so gerne hast."
Buonsensello richtete einen begehrlichen Blick auf das kleine Holzfass, das der Bischof auf seinen Rücken geschnallt hatte. Eilig suchte der Drache nach zwei Trinkgefäßen, einen silbernen Kelch für den Menschen, einen Goldpokal für sich selbst.

"Nun gut, es hatte auch sein Gutes, dass Du nicht da warst", meinte Buonsensello etwas versöhnlicher, als er einen großen Schluck genommen hatte. "Immerhin konnte ich endlich diesen Dieb stellen."
"Was für einen Dieb?" fragte Pietro alarmiert.
"Du weißt schon, ich habe Dir doch erzählt, dass irgendwer meine alten, abgeworfenen Schuppen entwendet hat. Gestern habe ich den Mann auf frischer Tat ertappt."
"Und? Wer war es? Wer sollte so dumm sein, in eine Drachenhöhle einzudringen, dort aber die Schätze liegen zu lassen und nur ein paar alte Hornplatten mitzunehmen?"
"Ich weiß es nicht. Interessiert mich auch nicht weiter, dem habe ich eine Lektion erteilt." 
Hätte der Drache Schultern gehabt, hätte er damit gezuckt.
"War wohl ein verhinderter Drachentöter oder Ritter. Überhaupt suchen mich in letzter Zeit immer wieder so seltsame Zweibeiner auf, so wie dieser eine alte Mann vor ein paar Wochen, der meine schönen Schuppen ruiniert hat."
"Moment! Immer schön der Reihe nach", bremste der Bischof.
Was er da zu hören bekam, waren alarmierende Neuigkeiten. Noch vor einigen Monaten hätte es kaum jemand gewagt, die Drachenhöhle aus freien Stücken zu betreten, aber anscheinend zeigten die Predigten von Pater Ponnicraccelone ihre erste Wirkung.
"Man hat Dich also schon mehrfach bedroht? Denn das war der Grund, weshalb ich gestern nicht zu Dir kommen konnte, mein Freund. Ein angeblicher Ritter und Drachentöter wurde bei mir vorstellig und..."
"Nein!" unterbrach der Drache ein wenig unhöflich den Bischof und schüttelte seinen Kopf. "Nicht bedroht. Eher belästigt, naja, auch ein wenig amüsiert, vor allem dieser alte Mann." 
"Was für ein alter Mann?"
Buonsensello stieß einen tiefen Seufzer aus.
"Der, der mein schönes Schuppenkleid ruiniert hat. Verstehst Du denn gar nichts, Mensch? Ehrlich, manchmal seid Ihr Zweibeiner wirklich schwer von Begriff."
"Verzeih", lächelte der Bischof, "aber Dein Erzählstil ist leicht verwirrend und..."
"Es sei Dir verziehen", erwiderte Buonsensello großspurig und überhörte geflissentlich den zweiten Teil von Pietros Bemerkung. "Also, ich lag gerade vor meiner Höhle, die noch wärmenden Strahlen der untergehenden Abendsonne genießend. Du weißt doch, dass meine prächtigen, goldenen Schuppen besonders schön funkeln, wenn die Sonne..."
"Ja, ja", winkte der Bischof ab, der seinen Drachen mittlerweile kannte. Drachen waren sehr eitle Geschöpfe. "Du lagst also vor Deiner Höhle und dann tauchte dieser Mann auf."
"Genau", erwiderte der Drache gekränkt. "Erzählst Du die Geschichte oder ich?"
Pietro verbiss sich grinsend eine Antwort.
"Also, dieser Mann schien völlig ohne Furcht zu sein, als er mir entgegentrat. Er war in ein schäbiges Gewand gehüllt. Ich nehme mal an, dass er ein Mönch war, er selbst bezeichnete sich jedenfalls als Mann Gottes und Diener des Herren. Und er machte so eine Geste mit seiner Hand wie Du eben. Er sagte auch so etwas wie Friede sei mit Dir."
"Das ist das Kreuzzeichen. Er hat das Kreuz geschlagen", erklärte der Bischof geduldig. "Allmählich solltest Du das wissen. Und ja, das wird wohl ein Mönch gewesen sein. Hat er Dir seinen Namen verraten?"
"Wenn Du nicht immer dazwischen reden würdest, hätte ich Dir das schon längst erzählt", wies ihn Buonsensello zurecht. "Ja, er nannte sich Bruder Francesco."
Pietro verschluckte sich an dem Wein, als er den Namen hörte.
"Bruder Francesco! Er wird seit Wochen vermisst, die ganze Gegend ist in Aufruhr. Du hast ihn doch nicht gefressen, oder?"
"Wo denkst Du hin? Wofür hältst Du mich eigentlich?" knurrte Buonsensello und sein Rückenkamm sträubte sich.
"Aber verdient hätte er es, so wie er mich zugerichtet hat."
"Bruder Francesco? Der Mann ist doch hoch betagt? Wie soll er Dir ein Leid zufügen können?"
"Sieh mich doch an!" klagte der Drache und erhob sich.
Er stellte sich so hin, dass ihn der Bischof in seiner vollen Pracht bewundern konnte.
"Da! Siehst Du denn nicht diese matte Stelle mitten auf meiner Brust? Hier, diese Schuppen, sind total stumpf und funkeln nicht mehr, nachdem dieser Mönch das getan hat."
"Dir werden auch da neue Schuppen wachsen", versuchte Pietro seinen Freund zu beschwichtigen. Dieser Drache verblüffte ihn immer wieder.
"Also, was hat Bruder Francesco Dir denn so schreckliches angetan?"
"Das ist überhaupt nicht komisch! Also, zuerst hat dieser Mönch sehr respektvoll mit mir gesprochen. In der Tat, wenn ich so zurück denke, dann hatte dieser Mann weitaus bessere Manieren als ein gewisser Schüler von mir, der sich auch noch Bischof schimpft und sich für meinen Freund hält. Wie dem auch sei, er erzählte mir, dass auch Drachen Gottes Geschöpfe seien und er wäre sehr glücklich, einmal einem leibhaftigen Drachen zu begegnen. Nun gut, ich kann ihn da sehr gut verstehen. Schließlich sind wir Drachen die Krone der Schöpfung. Ich werde nie verstehen, warum Ihr Menschen zum Beispiel so sehr für Einhörner schwärmt, diese dummen Pferde..."
Der Bischof hüstelte ein wenig und Buonsensello nahm wieder seinen Erzählfaden auf.
"Wir haben uns angeregt unterhalten, dieser Francesco und ich, über dieses und jenes. Er erzählte mir etwas von einem großen, bösen, schwarzen Wolf, der hier anscheinend einmal die Gegend unsicher gemacht hatte. Vieh und Kinder hätte er gemordet, so wie es jetzt irgendwer tun würde. Tja, und dann wurde er unverschämt. Er fragte mich doch glatt, ob ich es sei, der diese Untaten begehen würde, anscheinend erzählen sich die Leute in Gubbio das. Natürlich habe ich mich gegen diese infame Verleumdung verwahrt, aber er zückte so ein eigenartiges Schwert, das aber nicht aus Metall war und überhaupt ganz komisch geformt. Auch war es viel zu klein, damit hätte er mich nicht einmal kitzeln können. Er tauchte dieses Etwas dann in ein kleines, goldenes Töpfchen, ein wirklich hübsches Kleinod, es liegt dort hinten, er hat es da gelassen."
Buonsensello deutete mit einer Kralle auf die kunstvoll gestaltete Weihwasserschale und den dazugehörigen Wedel.
"Und bevor ich mich irgendwie schützen konnte, hat er mich schon mit irgendwas bespritzt, als er dabei dieses - wie Du sagst - Kreuz geschlagen hat."
"Das war Weihwasser. Und Bruder Francesco wollte Dir nichts Böses. Er hat Dir Gottes Segen zuteil werden lassen", erklärte der Bischof.
"Na toll, und was ist das für ein Zeug, das dieses Wasser weiht? Das mag ja gut für das Wasser sein, aber meine Schuppen sind jetzt dafür stumpf. Oder ist das vielleicht dieser Segen Gottes? Ich muss schon sagen, die Menschen und ihre Gebräuche, ich werde sie wohl nie verstehen."

Pietro verzichtete darauf, sich in diesem Punkt auf eine Diskussion mit seinem Freund einzulassen. Stattdessen fragte er nach dem gestrigen Besucher, diesem Schuppendieb.
"Du hast vorhin noch von einem Drachentöter gesprochen, der bei Dir war..."
"Drachentöter, Ritter, keine Ahnung, was der nun wirklich war. Jedenfalls in meinen Augen ein Dieb, und keiner von der klugen Sorte. Feige obendrein", knurrte Buonsensello. "Ich hätte ihn fressen sollen. Ich glaube, den hätte keiner vermisst, anders als diesen alten Francesco, von dem Du so viel zu halten scheinst."
"Buonsensello, mein Freund. Ich muss es nun genau wissen. Ich hatte nämlich Besuch von einem Drachentöter, der von sich behauptete, er wäre der ehemalige Speichelleck... eh... Knappe des Ritters Georg. Er hat angekündigt, Dich zu töten. Dieser Mann ist ganz besessen von dem Gedanken, dass Du der Teufel in Persona bist."
"Was veranlasst Dich zu dieser Annahme?"
"Er dozierte über die Bedeutung des Wortes drakon und wies mich darauf hin, dass es eine Schlange war, die Eva im Paradies verführt hat. Du kennst ja diese Geschichte. Aus diesem Grund empfinden viele Menschen Unbehagen, wenn sie eine Schlange sehen, da diese Tiere nun immer mit dem Teufel assoziiert werden. Offensichtlich ist unser Freund auch diesem Irrglauben verfallen. Wenn er aber nur ein Fünkchen Verstand hätte, würde er verstehen, dass auch Schlangen Geschöpfe Gottes sind, wie kann also dann eine Schlange der Teufel sein? Aber es kommt noch besser."
"Wieso? Was behauptet dieser Mensch denn noch?"
"Nun, er wollte mir weismachen, dass dieses Wort drakon das altassyrische Wort für den Leibhaftigen sei."
Der Drache stieß kleine Rauchwölkchen aus, als er lachte. "Und Du hast ihm das abgenommen?"
"Natürlich nicht." Der Bischof grinste. "Ich habe jahrelang diese Sprache studiert und nicht nur diese eine. Das Wort drakon gibt es sehr wohl, doch es ist mit Sicherheit nicht altassyrisch, sondern schlichtweg griechisch. Daraus hat sich das Wort Drache abgeleitet. Mit dem Teufel hat das aber gar nichts zu tun."
"Natürlich nicht. Wie denn auch?" schnaubte Buonsensello.
"Aber es ist nur natürlich, dass die Menschen uns Drachen fürchten, wenn sie so sehr die Bedeutungen von einfachen Worten verdrehen. Ich frage mich allerdings, wie ihr Menschen reagieren würdet, wenn sich Euch der Teufel in seiner wahren Gestalt offenbaren würde, die so ganz anders ist als die edle Form eines Drachens. Aber wahrscheinlich würde Euch der Unterschied nicht einmal auffallen. Ihr Menschen neigt dazu, nur das zu sehen, was ihr sehen wollt", sinnierte Buonsensello.
"Da magst Du Recht haben. Aber das bestärkt mich nur darin, dass wir uns vor diesem Kerl in Acht nehmen müssen. Aber trotz des fürchterlichen Unsinns, den der Mann verzapft, kennt er sich anscheinend mit Drachen zumindest ein klein wenig aus. Also, wie hat denn dieser Dieb ausgesehen?"
Buonsensello seufzte: "Ich habe darauf ehrlich gesagt nicht so geachtet. Ich wollte ihm nur eine Lektion erteilen. Mach Dir keine Sorgen, mein Freund. Der kommt so schnell nicht wieder."
"Trug er vielleicht eine silbern schimmernde Rüstung und trug ein Schild bei sich mit dem Wappen unseres Fürsten?"
Der Drache schüttelte den Kopf. "Nein, der Mann, der gestern hier war, war eher ein Bauer. Keine Rüstung, nur ein schlichtes Gewand, das irgendwie stark nach Pferd gerochen hat. Und er scheint nicht sehr beliebt zu sein?"
"Wie meinst Du das?" fragte der Bischof erstaunt.
"Nun, als ich ihm gestern ein wenig Manieren beibringen wollte, habe ich seinen Rücken entblößt. Der war völlig zerschunden, die Male waren noch recht frisch. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass er wohl völlig zu Recht so zugerichtet wurde."
Pietro war alarmiert aufgesprungen.
"Du meinst, Striemen wie nach einer Auspeitschung?"
Die Schwanzspitze des Drachens zuckte, als dieser belustigt schnaubte: "Woher soll ich das wissen? Wir können es aber gerne ausprobieren, wenn Du willst. Ich will aber nur ungern mit meinen Krallen Dein Hemd zerreißen..."
"Sehr witzig", erwiderte der Bischof ein wenig schroff.
Er schritt in der Höhle auf und ab.
"Der Dieb war mit Sicherheit dieser Piccollino. Giuseppe hat mir erzählt, dass er ihn gerade erst aus dem Kerker entlassen hat. Außerdem hat er wohl ein paar Hiebe bekommen, weil er den Fürsten aufs Schändlichste hintergangen hat. Aber was will er mit Deinen Schuppen, wenn er doch so versessen ist auf Geld und Gold, dass er es sogar versucht, meinen Freund zu betrügen? Er hätte doch einfach etwas von Deinen Schätzen nehmen können. Das gibt doch alles keinen Sinn."

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Giuseppe verdrehte die Augen. Schon seit einer guten Stunde stand die Contessa in seinem Arbeitszimmer und stahl seine Zeit. Wenn er nur wüsste, warum sie sich da so einmischte. 
"Außerdem habe ich gestern mit meinem lieben Freund Ponnicraccili zu Abend gespeist. Ich verstehe Sie einfach nicht. Die Menschen leiden unter diesem Drachen, und der einzige, der wirklich aktiv gegen diese Plage vorgehen möchte, wird von Ihnen behindert. Anstatt dass sie mit dem lieben Ponnicraccili kommunizieren, werden Sie eigenmächtig tätig, handeln gegen meinen ausdrücklichen Wunsch."
"Ach, und was hätte ich Ihrer Meinung nach tun sollen? Ich habe Ihnen schon wiederholt gesagt, dass es keine Drachen gibt. Daher brauche ich auch keinen Drachentöter - schon gar nicht einen, der nur mit seinem Ritterstatus vor anderen prahlen möchte und sich dann zu Hause verkriecht, um seinen Pflichten mittels Beschwörungsbüchern nachzukommen. Das ist das Dümmste, das mir je zu Ohren gekommen ist. Er bekommt keine bessere Ausrüstung, das ist...  - Was ist denn nun schon wieder? Ja?"

Einerseits war der Fürst froh um diese Unterbrechung, als sein Diener das Arbeitszimmer betrat, andererseits war dieser Mann nun derjenige, den er in diesem Augenblick am Wenigsten um sich haben wollte.
"Verzeiht, Herr", verbeugte sich der alte Kastellan. "Ich wollte nicht stören, aber ich habe zufällig den Namen unseres geschätzten Paters vernommen, da ist mir etwas Wichtiges eingefallen. Ich wollte Ihnen das gleich mitteilen."
"Zufällig vernommen, ja?" knurrte Giuseppe. "Mein lieber Sièvvere. Hat das nicht Zeit bis nachher? Du siehst doch, ich bin gerade in einer Besprechung."
"Oh, ja, natürlich, verzeiht Herr", erwiderte Sièvvere, machte jedoch keinerlei Anstalten zu gehen. 
Eine peinliche Stille trat ein.
"Und, wie geht es Euch so, edle Contessa?" erkundigte sich der Diener höflich.
"Nicht so gut", erwiderte Virghuena spitz. "Ich bin ziemlich verärgert, nicht nur, weil unser Fürst das arme Piccolloncinochen ohne Rechtsgrundlage von seinen Leuten misshandeln ließ, nein, jetzt weigert er sich sogar, dem guten Ritter Giovanni Murone, dem ehemaligen Mitstreiter des edlen Ritters Georg im Morgenland, eine angemessene Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Mein lieber Freund Ponnicraccelone ist offensichtlich deswegen sehr verstimmt. Gestern hat er mir nicht einmal, wie sonst üblich, nach dem Essen einen Caffè Coretto gereicht, sondern nur einen ganz normalen Kaffee ohne Grappa. Das kann ich nicht dulden."
Das war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
"Sièvvere!" herrschte Giuseppe seinen Diener an. "Hast Du nichts zu tun? Ist die Lieferung für die Küche schon weggeräumt worden? Heute morgen war im Hof alles vollgestellt."
Der Kopf des Dieners rötete sich ein wenig. "Noch nicht, Herr. Bitte verzeiht. Ich hatte heute so viel anderes zu erledigen." Sièvvere ging zur Tür und warf einen Blick in den Gang hinaus. 
"Fridolino! Fridolino! Räum mal das Zeug weg!" rief er quer durch den Flur.
Fridolino war einer der zahlreichen guten Seelen des Hauses, er würde den Befehl schon gehört haben.
Der Diener wandte sich wieder an den Fürsten: "Wird sofort erledigt, Herr."
Giuseppe nickte nur und sandte ein Stoßgebet gen Himmel, auf dass dieser Tag bald enden mochte.
"Nun gut, ich habe leider einen anderen Termin."
Diese Festestellung war Musik in Giuseppes Ohren.
"Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Contessa", sagte der Fürst höflich und schob geradezu die Dame zur Tür hinaus.

Als sie gegangen war, atmete er erleichtert auf.
"Und nun zu Dir, Sièvvere. Was gibt es denn so Dringendes?"
"Ich habe es von einem der Kutscher erfahren. Man hat vor ein paar Tagen draußen bei diesem alten Palazzo, Ihr wisst schon, der, der an der Strasse nach Peruggia liegt, den Leichnam dieser Zingara-Witwe gefunden. Ihr Körper war ganz zerfetzt. Ihre Bälger sind verschwunden. Nicht, dass das jetzt bedauerlich wäre, aber, man hat dort ein paar Schuppen gefunden, wie sie nur von einem Drachen stammen können. Herr, Ihr müsst diesen Ritter ausrüsten, nur er wird uns vor diesem Untier bewahren können. Zuerst raubte er nur das Vieh, jetzt diese Zingari, dieses Lumpenpack. Was, wenn er nun andere unschuldige Bambini verschleppt?"
"Ihr glaubt alles, was man Euch erzählt, oder, Sièvvere?" fragte Giuseppe müde.
"Nun, manchen Informanten kann man mehr vertrauen, manchen weniger", lächelte der Diener. 
"Dann glaub gefälligst mir", erwiderte der Fürst. "Es gibt keine Drachen. Punktum."
"Sehr wohl, Herr. Wie Ihr wünscht, Herr."
Der Diener machte erneut eine artige Verbeugung.
"Dennoch erlaube ich mir, Euch auf die gefundenen Schuppen hinzuweisen. Aber, es kommt noch besser."
"Was denn noch?"
Allmählich wünschte sich Giuseppe, dass es doch Drachen geben würde. Und er wüsste auch schon gleich die erste Person, die er an das Reptil verfüttern würde. Eigentlich gab es da sogar zahlreiche Kandidaten - oh ja, Hunger leiden müsste ein Drache bei dem Fürsten wahrlich nicht.
"Diese Schlange scheint im Dienste des Paters zu stehen."
"Wie bitte?"
Diese Neuigkeit war wie ein Fausthieb.
"Pater Ponnicraccelone hat auf irgendeine Weise mit dem Drachen zu schaffen."
"Sièvvere! Weißt Du, was Du da sagst? Abgesehen davon, dass es keine Drachen gibt - ich kann das nicht oft genug betonen -, das ist eine sehr schwere Beschuldigung. Wer behauptet das und vor allem, gibt es irgendeinen Beweis?"
"Angeblich wurde auch eine Schuppe auf dem Pfarrhof gefunden. Das hat die Pfarrersköchin der Bäckerin erzählt. Der Kutscher hat das von seinem Sohn erfahren, dem kleinen Lionetto, der dort Bäckergeselle ist. Aber da gibt es noch mehr: Dieser Drache hat die Kinder zum Pater gebracht. Der alte Winzer Cercandore selbst hat das Gespräch zwischen Ponnicraccelone und dem Messner mit angehört. Es fielen die Worte, dass diese Bambini von diesem Wandervolk ohnehin niemand vermissen würde."
"Und das würde wohl jeder hier in Gubbio sagen", knurrte Giuseppe. "Sièvvere, ist Dir denn nicht klar, was man hier dem Pater unterstellt? Ich kann ihn auch nicht leiden, darum gehe ich auch nicht in seine Gottesdienste, aber das hier geht dann doch zu weit. Dieses Gerede kann den Mann mindestens an den Galgen bringen, wenn nicht gar vor die Heilige Inquisition und dann auf den Scheiterhaufen. Sièvvere, hast Du diese Gerüchte irgendwem weitererzählt?"
Der Diener antwortete nicht.
Na toll, dann weiß es also schon das ganze Haus und wahrscheinlich halb Gubbio, dachte sich Giuseppe. Mit einem knappen Nicken entließ er seinen Diener.
"Lass mir ein Pferd satteln. Ich muss zum Bischof, dringend."
 

© Peter Lässig
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Und hier geht es weiter zum 2. Teil von "Der Drache und der Bischof"!

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