Linani stand oben auf den Klippen und sah
ihm nach. Die See war stürmisch, große Wellen brachen sich an
den Klippen. Hin und wieder spritzte ihr die Gischt ins Gesicht. Unter
ihr waren die schroffen Felsen und das unruhige tiefblaue Wasser. Der Wind
wurde immer stärker. Anfangs hatte er noch mit ihren langen Haaren
gespielt, nun jedoch musste sie sich gegen ihn stemmen, um auf der Stelle
zu bleiben. Würde er es schaffen?
Sie konnte sehen wie ihm der Sturm zusetzte.
Von den heftigen Windböen hin und her geworfen zu werden kostete ihn
eine Menge Kraft, er kam nur sehr langsam voran.
Es fing an zu regnen. Bald schon war sie bis
auf die Haut durchnässt und die Haare hingen ihr in Strähnen
ins Gesicht. Es würde ein Gewitter geben, dessen war sie sich sicher.
Da hörte sie auch schon das erste Grollen in der Ferne. Sie fror erbärmlich,
dennoch konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Wie anstrengend musste
es für ihn sein, durch dieses Unwetter zu fliegen. Die mächtigen
Schwingen kämpften gegen den Wind, mit jedem Flügelschlag versuchte
er vorwärts zu kommen. Sie wünschte sich so sehr, dass er sein
Ziel erreichte. Schließlich konnte sie durch den dichten Regen nur
noch seine Silhouette erkennen, dann entschwand er völlig aus ihrer
Sicht. "Viel Glück!" murmelte sie.
Linani machte sich auf den Heimweg. Es regnete
unaufhörlich weiter, doch davon merkte sie nicht viel. Sie war mit
ihren Gedanken völlig bei ihm. Der Abschied war ihr sehr schwer gefallen,
trotzdem verstand sie, weshalb es sein musste. Vielleicht wird er eines
Tages wiederkehren. Vielleicht.
Endlich hatte sie ihre Hütte erreicht.
Sie zog trockene Sachen an und setzte sich vor den Kamin. Der war im Innern
der Höhle, zu der die Hütte den Eingang bildete. Der Berg war
von zahlreichen Gängen und Hohlräumen durchzogen und in einem
dieser Gänge waren sie sich das erste Mal begegnet...
Zu Tode hatte er sie damals erschreckt! Sie
musste grinsen, als sie sich daran erinnerte. Das war vor gut sechs Monaten.
Sie hatte mal wieder die Gänge durchstreift, als sie ein seltsames
Geräusch hörte. Neugierig wie sie war ging sie näher. Da
erblickte sie den Drachen. Er war riesig, hatte schwarz-graue Schuppen
und war offensichtlich schwer verletzt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie
ein solch majestätisches Wesen gesehen. Wie wundervoll musste es sein,
ihn einmal fliegen zu sehen! Sie ging noch einen Schritt näher heran.
Da öffnete der Drache seine Augen einen Spalt breit. Erschrocken wich
sie zurück. Doch er war schon wieder eingeschlafen. Sollte sie ihm
helfen? Sie entschloss sich es zu versuchen. Schließlich hatte sie
schon immer davon geträumt, einen Drachen fliegen zu sehen. Schnell
holte sie ihre Heilkräuter. Für die nächsten paar Stunden
säuberte sie Wunden, verband seine Verletzungen und trug eine heilende
Salbe auf. Der Drache war wirklich schlimm zugerichtet. Täglich flößte
sie ihm Wasser vermischt mit schmerzstillender Arznei ein. Dann endlich,
am vierten Tag, erwachte der Drache wieder.
Sie hatte es erst nicht bemerkt, da sie einen
der Verbände auswechselte, doch als er brummte wusste sie es. Er sah
sich in der Höhle um. Wie wird er bloß reagieren? Er war ja
so riesengroß! Mit zitternden Händen beendete sie ihre Arbeit
und ging zögernd nach vorn zu seinem Kopf. Er blickte sie lange an.
Ihr war ein wenig unbehaglich dabei.
"Wie lautet dein Name, Menschenmädchen?"
"Linani." Sie musste schlucken. Der Drache
konnte sprechen!
"Ich schulde dir meinen Dank. Es ist schön
zu wissen, dass es auch noch etwas Gutes auf dieser Welt gibt."
"Was habt Ihr gegen die Welt?"
Der Drache kicherte. "Meine Retterin redet
mich so förmlich an? Nenn’ mich bei meinem Namen: Recosch." Er wurde
wieder ernst. "Es gibt so viel Schlechtes auf dieser Welt. So viel Grausames.
Ich musste es selbst erleben. Weißt du, ich hatte eine Gefährtin,
blau-schwarze Schuppen, tiefgrüne Augen. Die Zeit mit ihr war herrlich!
Manchmal flogen wir einfach durch die Gegend, genossen die Sonne, jagten
uns im Wind..." Er seufzte. "Wir hatten auch Nachwuchs: drei Eier. Aber
sie sind noch nicht geschlüpft." Seine Augen füllten sich mit
Tränen. Es war wohl besser, ihn erst mal in Ruhe zu lassen.
Später am Abend brachte sie ihm etwas
zu fressen. Fünf Kaninchen. Sie hatte allerdings keine Ahnung, ob
diese ausreichten. Recosch freute sich und nachdem er gegessen hatte, sagte
er:
"Möchtest du meine Geschichte zu Ende
hören? Ich will sie dir erzählen." Linani nickte. "Gut. Eines
Tages kamen Menschen in unser Tal, doch wir störten uns nicht weiter
an ihnen. Ein schlimmer Fehler, wie wir nachher erfahren sollten. Einer
der Männer war ein Magier. Sein Gesicht werde ich niemals vergessen!
Er brauchte für seine Zaubertränke Dracheneier und deshalb hat
er feige unsere Jungen gestohlen, als ich gerade auf Jagd war! Meine Gefährtin
ist bei dem Versuch sie zu beschützen gestorben. Es waren zu viele
für sie. Als ich wieder zurückkam, waren die Eier schon fort
und sie war schwer verwundet. Die Männer stachen immer weiter mit
ihren Speeren auf sie ein, sie hörten einfach nicht auf, aber schließlich
konnte ich sie alle töten. Meine Gefährtin erzählte mir
schnell, was geschehen war, sah mir tief in die Augen und bat mich, unsere
Jungen zu retten. Ich habe es ihr versprochen! Dann, mit der Gewissheit,
dass ich alles tun würde, um unseren Nachwuchs zu retten, ist sie
gestorben."
Er schluckte. Nach einer kurzen Pause fuhr
er fort:
"Ich flog so schnell ich konnte den Männern
hinterher. Es kam zum Kampf. Dabei zog ich mir viele dieser Wunden hier
zu, doch in meiner Wut konnte ich sie besiegen. Ich hatte allerdings nicht
mit einem Magier gerechnet. Solch eine Art Kampf war ich nicht gewohnt!
Durch Zauber fesselte er meine Flügel und ich stürzte ab. Als
ich keuchend am Boden lag, erzählte er mir ganz hämisch, was
er mit meinen Jungen machen wollte! Dabei ist er so unvorsichtig geworden,
sich in Reichweite meines Feueratems zu begeben, dass ich Flammen gespuckt
und ihm somit die Hälfte seines abstoßenden Gesichtes verbrannt
habe. Dann traf mich etwas mit voller Wucht in den Magen. Ich sah den Magier
halb wahnsinnig lachen, sein verbranntes Gesicht war zu einer widerlichen
Grimasse verzerrt. Weitere dieser magischen Schläge folgten. Ohne
eine Chance ihnen auszuweichen, war ich schutzlos ausgeliefert. Ich hatte
so große Schmerzen, das Atmen fiel mir immer schwerer und dann hab
ich wohl das Bewusstsein verloren. Als ich wieder zu mir kam, war er fort.
Ich weiß nicht, warum er mich nicht getötet hatte, vielleicht
dachte er, ich sei schon tot.
Mühsam habe ich mich aufgerappelt, um
ihn zu suchen, seine Spuren führten zum Meer. In der Ferne sah ich
eine Insel, doch ich war sehr schwach und schließlich habe ich mich
hier in dieser Höhle niedergelassen. Sag mir, wie viel Zeit ist seitdem
vergangen?"
"Seit ich dich gefunden habe vier ganze Tage."
"Ich habe nicht mehr viel Zeit, ich muss ihn
finden! Er will meine Jungen bei Winterbeginn als Zutat für seine
Tränke benutzen, um sein Leben zu verlängern! Meine Jungen!"
Völlig verzweifelt brach er ab.
Linani sah ihn mitleidsvoll an. "Dein linker
Flügel ist gebrochen. Aber bis zum Winter ist es noch fast ein halbes
Jahr. Wird er bis dahin geheilt sein?"
Recosch deutete eine Art Schulterzucken an.
"Er muss einfach."
Der Bruch verheilte gut. Doch Recosch war
noch längst nicht in der Lage damit zu fliegen. Er versuchte den Flügel
jeden Tag ein bisschen mehr zu bewegen. Es funktionierte. Noch etwa drei
Monate bis zum Winter.
In dieser Zeit waren die beiden längst
Freunde geworden. Recosch wollte einen Flugversuch starten. Linani sah
ihm aus einiger Entfernung zu. Er erhob sich etwa zwei Meter in die Lüfte,
doch dann stürzte er. Sie rannte zu ihm: "Lass es uns morgen noch
einmal versuchen."
Und Tag für Tag konnte er ein wenig höher
und ein wenig länger fliegen. Endlich hatte er seine volle Kraft zurück.
Freudestrahlend flog er auf sie zu, umkreiste sie und landete schließlich
vor ihr. "Das müssen wir feiern und dann werde ich morgen losfliegen
und mein Versprechen halten!"
Der Tag des Abschieds kam. Sie standen oben
auf der Klippe und sahen in der Ferne die Insel des Magiers. Recosch blickte
sie an und sagte: "Ich danke dir für alles, meine Freundin." Er schenkte
ihr eine kleine schwarz-graue Schuppe, die im Licht glitzerte. "Lebe wohl!"
Dann flog er davon.
Linani blickte verträumt ins Feuer und
der warme Schein erinnerte sie an seinen Atem auf ihrem Gesicht. "Lebe
wohl", flüsterte sie. Hoffentlich schaffte er es! Sie betrachtete
die Drachenschuppe in ihrer Hand. Er war ihr einziger Freund, seit ihre
Familie damals einfach verschwunden war. Wie viele Jahre hatte sie einsam
und allein hier gelebt? Sie wusste es nicht mehr. "Ich brauche dich doch!"
rief sie. Die Worte hallten in der Höhle wider und trotz der Wärme
des Feuers lief ihr ein Schauer über den Rücken. Zitternd wickelte
sie sich in eine Decke und weinte.
© Dragon
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