Drei Fragen (3) von Elfenfeuer

Teil 3: Die zweite Frage

Shelassia bebte vor Zorn.
Das konnte nicht sein. Unmöglich!
Und doch, es war genauso geschehen. Oder würde noch geschehen.
Verwundert registrierte Shelassia wie lebensecht diese Vision gewesen war. Jeden Moment, jeden Augenblick der Vision hatte sie hautnah und mit ungeahnter Intensität miterlebt. Sie wusste, kein anderer Beobachter würde jemals das Gesehene so empfinden wie sie - trotz der bestehenden Distanz von Raum und Zeit. Das war ihr noch nie mit dem Brunnen passiert. Doch bevor sie intensiver darüber nachdenken konnte, übernahm ihre ureigenste Essenz - das Feuer der Schöpfung und die Flamme der Leidenschaft - ihre Gedanken und ihre Taten. Für nüchterne Untersuchungen und besonnenes Handeln war jetzt kein Platz. Shelassia musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um nicht vor Zorn aufzuschreien und so die Essenz des Brunnen zu stören. Das Gesehene hatte sie zutiefst bestürzt.
Myriaden von Gedanken fegten durch ihren Kopf. Ihr brillanter Geist versuchte die gezeigten Ereignisse zu beurteilten. Möglichkeiten wurden erwogen und verworfen, Konsequenzen des Gesehenen wurden als Antwort in Betracht gezogen oder als Irrgespinste abgetan. Was hatte all das zu bedeuten? Niemand konnte den Drachen der Legenden widerstehen. Oder sollten sie nach so langer Zeit einen Ebenbürtigen gefunden haben? War dies lediglich eine zufällige Verkettung von Ereignissen oder der Wille der Schöpfung selbst?
Eine vertraute Stimme drängte sich in Shelassias Bewusstsein und unterbrach die verschlungenen Pfade ihrer Gedanken.
"Verwirrend? Vermutlich. Überraschend? Mit Sicherheit. Beunruhigend? Möglicherweise. Meinst du nicht auch?"
Shelassias Antwort entsprach ihrem aufgebrachten Gemüt.
Ohne Vorwarnung schleuderte sie Ansalion einen messerscharfen Gedankenblitz entgegen. Ihre Reaktion war falsch, irrational und unbedacht. Das wusste sie. Und nutzlos obendrein, denn in Blitzeseile hatte Ansalion seine Geistesbarrieren errichtet. Ihr mentaler Angriff, der jedes andere Lebewesen auf der Stelle getötet hätte, verpuffte wirkungslos. Nun ja, beinahe wirkungslos. Für einen kurzen Moment spürte Shelassia, wie in Ansalion eine ähnliche, jähzornige Woge anschwoll - es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich in Folge einer solchen Herausforderung bekämpft hätten. Doch ebenso schnell wie Ansalions Zorn aufgeflackert war, verschwand er wieder.
"Respekt", dachte Shelassia beruhigend in Richtung ihres alten Gefährten. "Ich hätte solch eine Attacke nicht unbeantwortet gelassen."
Vor ihrem inneren Auge stellte Shelassia sich vor, wie Ansalion eine Augenbraue hob. Doch auch so fühlte sie sich getadelt, als seine Antwort in ihren Gedanken widerhallte: "Einfach? Im Moment fühle ich mich ein wenig ermattet. Ich habe nicht nur deinen kleinen Wutausbruch abgewehrt und meinen eigenen Zorn mit Mühe unterdrückt, sondern auch noch verhindert, dass der Brunnen uns und unsere Gedanken aus seinen Tiefen herausgeschleudert hat. Dann würden wir jetzt möglicherweise um unsere Geistesgesundheit ringen, während unsere Körper seelenlos dahinvegetieren würden."
"Verzeih mir, alter Freund", bot Shelassia ihm schuldbewusst an. Shelassia lächelte. Ansalion würde ihre Entschuldigung annehmen, sich aber nicht dazu äußern. Dazu kannten sie sich schon viel zu lange und viel zu gut. Deshalb fühlte sie sich nicht beleidigt. Stattdessen nahm sie seinen verborgenen Hinweis auf: "Wir haben noch nicht alles gesehen, was zu sehen ist?"
Ansalions Gedanken fügten sich mit ihren zusammen. "Ich muss zugeben, es hat auch mich überrascht zu sehen, wie stark der Nachtkönig werden wird - auch wenn ich es schon länger ahnte. Deshalb benötigen wir noch weitere Antworten."
Shelassia stimmte ihm in Gedanken zu. Doch wie lauteten die richtigen Fragen zu den gesuchten Antworten?
Wieder kam Ansalion ihr zur Hilfe. "Auf dem Hügel stelltest du mir eine weitere Frage. Erinnerst du dich?"
"Ja", entgegnete sie lautlos.
Es bedurfte nur eines winzigen Schrittes zurück in ihren zahllosen Erinnerungen und Shelassia fand sich wieder auf der hohen Klippe über dem Ammaratal. Dieses Mal stand sie Ansalion von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ihr alter Freund hatte sie mit seinen Fragen herausgefordert, doch erst als sie die Situation vor ihrem geistigen Auge wieder ablaufen sah, erkannte sie überrascht, wie sehr Ansalions Worte sie erschrocken hatten. Wie ein von den Häschern in die Enge getriebenes Löwenweibchen hatte sie sich mit einer herausfordernden Gegenfrage zur Wehr gesetzt: "Haben wir jemals unsere Probleme nicht selber lösen können?"

Shelassia wiederholte die Frage wortlos. Blitzschnell hüllte sie ihr Bewusstsein in einen Mantel purer Willenskraft, um nicht erneut von der zu erwartenden Flut von Bildern und Eindrücken überrascht und erdrückt zu werden. Doch so geschwind, wie sie sich vorbereitet hatte, so langsam und gemächlich formte sich dieses Mal ein Bild in Shelassias Bewusstsein - oder war es eine Erinnerung?
Sie sah einen düsteren Wald. Mit nebelnassen Blättern und reifbedeckten Grashalmen. Von den Bäumen gefallenes Laub knirschte sanft unter den forschen Schritten einer in gegerbtem Leder gewappneten Kriegerin. Der Wind sang leise ein herbstliches Lied.
Selbstbewusst und beinahe Eins mit ihrer Umgebung bahnte sich die schlanke Gestalt ihren Weg durch das Unterholz. Jeder Schritt, jede Bewegung legten Zeugnis ab von außerordentlicher Körperbeherrschung und wachem Geist. Die Lederkleidung, das lange Jagdmesser am Gürtel und der kompakte Rucksack waren schmucklos, aber von ausgezeichneter Qualität. Ihr gesamtes Auftreten war geprägt von der tödlichen Aura einer erfolgreichen Jägerin. Sie brauchte niemanden zu fürchten. Dennoch glitt sie eher wie ein Phantom durch das Gehölz, anstatt offen und stolz durch den Forst zu schreiten.
Hin und wieder hielt die Jägerin an, lauschte in den Wald und ließ ihre feingliedrigen Hände sanft über das klamme Gras gleiten, so als wolle sie den Atem des Waldes spüren. Plötzlich wandte sie den Kopf in eine bestimmte Richtung. Augen in der Farbe schimmernder Smaragde lugten unter der Kapuze hervor und erforschten wachsam den sich langsam lichtenden Morgendunst. Hatte sie da nicht ein leises Rascheln gehört? War da nicht ein verschwommener Schatten zwischen uralten Baumstämmen umhergehuscht? Nach einer kurzen Pause setzte die ledergekleidete Frau ihren Weg wieder fort.
Schließlich erreichte sei einen sich windenden und keck dahin sprudelnden Bach. Der Bach flüsterte lustig vor sich her, und ermunterte die umliegenden Bäume und Sträucher endlich zu erwachen. In Kürze würden sich die ersten, schwachen Sonnenstrahlen einen Weg durch die dichten Baumkronen und den kühlen Herbstnebel bahnen. Für einen kurzen Moment zeigte sich ein Lächeln unter dem Kapuzenumhang, aber ebenso schnell wie es gekommen war, verschwand es wieder. Die Jägerin richtete sich auf. Stolz und ungebunden. Gemächlich nahm sie eine lockere Schrittstellung ein - entspannt und doch sprungbereit. Wachsam lauschte sie in den Wald.
Einige Minuten vergingen, ohne dass die Jägerin sich regte. Weder eine knappe Gewichtsverlagerung, noch ein blasses Atemwölkchen in der kühlen Morgenluft; nicht die kleinste Bewegung störte die Harmonie zwischen der jungen Frau und ihrer Umgebung. Fast schien sie sich in einen grünbraunen Mantel aus Bäumen und Sträuchern zu hüllen und mit dem Wald zu verschmelzen.
Aber nur fast.
So sehr die einsame Gestalt sich in den natürlichen Rahmen ihrer Umgebung diesseits des Baches einfügte, so hob sie sich doch von dem Waldstück jenseits des kleinen Gewässers ab. Die Bäume am anderen Bachufer waren anders - kräftiger, gesünder. Die grätenartigen Fächer der Farngewächse, die den Bach zu beiden Seiten begrenzten, waren saftiger und trotzten beharrlich dem herbstlichen Verfall. Selbst der Nebel schien unschlüssig zu sein; auf der einen Seite gab er sich als eine träge, undurchdringliche Masse, auf der anderen als ein schelmisch wabernder Schleier, der jenen Teil des Waldes wie ein Wächter vor Eindringlingen verbarg.
Schließlich erwachte die Jägerin: Zunächst nur ein sanftes Anspannen der Glieder, dann ein verräterisches Stocken des Atems. Die Kapuze rutschte ein Stückchen nach hinten und enthüllte den Glanz ihrer funkelnden Augen, die sich auf das jenseitige Ufer richteten. Kaum wahrnehmbar veränderte sich die Aura der geheimnisvollen Frau. Gelassene Wachsamkeit wich angespannter Bereitschaft.
Dennoch dauerte es mehrere Minuten, ehe die Kriegerin endlich handelte. Langsam hob sie ihren rechten Arm. Mit äußerster Ruhe und Konzentration befehligte sie das Spiel ihrer Muskeln, bis ihr Arm in Schulterhöhe ausgestreckt war und die Finger ihrer rechten Hand fächerartig in Richtung des gegenüberliegenden Bachufers zeigten. Für einen kurzen Moment verharrte sie in dieser Stellung. Dann knickte sie ihren Arm in Richtung ihrer Brust ab, wobei sie den Unterarm so drehte, dass die Handfläche von ihr weg zeigte. Als das Handgelenk nur noch eine Handbreit von ihrem Kinn entfernt war, kehrte sie die Richtung in einer einzigen fließenden Bewegung um, sodass ihre Hand nun quasi eine Schubbewegung zum Bach hin durchführte. Als ihr Arm fast wieder ausgestreckt war, hielt sie nicht inne, sondern drehte die Hand seitwärts nach außen – so als wollte sie einen Vorhang zur Seite schieben. Doch damit war es längst noch nicht getan und eine weitere, anmutige Kombination aus Armbewegungen und Fingerspiel folgte. Sie war eine einhändige Dirigentin vor einem unsichtbaren Orchester. Sorgfältig vollführte die Kriegerin eine ganze Reihe einstudierter Bewegungen. Auf und ab. Vorwärts und seitwärts. Immer wieder führte sie die Hand in einer Geste des Nehmens und Abweisens.
Anfangs passierte nichts. Der Wald lag weiterhin beiderseits des dahinrauschenden Baches in seiner herbstlichen Zerworfenheit. Hier und da glitten erste zaghafte Strahlen der aufgehenden Sonne durch verwelkende Blätter, doch wie um der dirigierenden Gestalt zu spotten, hüllte nicht ein einziger Strahl die Kriegerin in wärmendes Sonnenlicht.
Wichen die Strahlen ihr womöglich aus?
Oder war es der Nebel, der sich gemächlich, wie ein zögernder Bote, der einsamen Gestalt näherte, sich vor ihr verbeugte, um sie dann langsam zu umhüllen und vor dem entlarvenden Licht zu schützen?
Tatsächlich kam Bewegung in die trägen Nebelbänke. Die Nebelmassen, die von der Kriegerin bereits auf ihrem Weg durch den Wald zurückgelassen worden waren, wälzten sich vorwärts, als wollten sie die Enteilte noch rasch einholen, bevor sie weiter ihres Weges ging. Gleichzeitig tanzten die sanft wirbelnden Schleier jenseits des kleinen Gewässers in Richtung des Ufers. Schon drifteten die ersten Wirbel des sich ständig im Fluss befindlichen Nebels über den Bach. Faser um Faser tasteten sich einzelne Nebelschwaden vor und vermischten sich mit der kalten, trägen Masse auf dieser Bachseite.
Die geheimnisvolle Wanderin hob nun auch ihren linken Arm und begann die Nebelschleier miteinander zu verbinden und zu verknüpfen. Sie achtete darauf, dass ständig neue Schwaden den Weg zu ihr über den Bach fanden, und dass der graue Strom nie abriss. Schon bald hatte sie ein dichtes Nebelgespinst um ihren Körper gewoben, von dem aus ein mehrere Ellen dicker Strang das trennende Gewässer überwand.
Ohne weitere Vorbereitung begann die Jägerin und Zauberin sich um ihren eigenen Körper zu drehen. Ihr Tanz war elegant und entschlossen. Und während sie sich anmutig wand, wickelte sie die miteinander verwobenen Nebelmassen förmlich um ihren Körper, bis sie von einem undurchdringlichen Kokon umgeben war.
Der nächste Rhythmuswechsel bewirkte, dass die Tänzerin sich samt ihrem bleichen Nebelmantel auf den Bach zu bewegte. In einer geschickten Abfolge von Tanzschritten und grazilen Drehungen glitt sie - einem kleinen Wirbelwind gleich - auf den Bach zu. Dabei band sie ständig weitere Nebelschwaden an sich. Wie eine Weberin, die einen losen Strang Wolle aufrollt, sammelte sie die Nebelfäden um sich, die sich ihr wie ein riesiger, wabernder Arm über den Bach hinweg anboten.
Mit ihren Füßen erreichte sie das Bachufer, ohne dass sie ihrem Schleiertanz ein Ende setzte. Den Naturgesetzen spottend, trotzte sie dem gluckernden Wasser und übergab ihr Geschick stattdessen einem anderen Element - der Luft. Ohne den sprudelnden Bach zu beachten, ließ sie sich in einer einzigen, wirbelnden Drehbewegung von den Nebelwogen erfassen: Eine ungehorsame Sklavin, die von ihrem Herrn mit der Peitsche eingefangen und zu ihm hingezogen wurde. Haltlos glitt sie durch das Gespinst hauchzarter Fäden aus Dampf und Nebel und tauchte in das graue Nebelbett hinab. Sie fiel jedoch nicht. Sanft wurde ihr Körper aufgefangen und plötzlich befand sie sich in der Luft über dem Bach - gehalten und getragen von blassen Fingern aus feuchten Nebelteilchen, die sie sicher über den Bach geleiteten.
Am anderen Ufer angekommen, beendete sie bedächtig ihren Tanz. Sie komplettierte ihre Beschwörung indem sie die Nebelschwaden in einer Umkehrung ihrer Anrufung entließ - gleich einem Liebhaber nach einer intimen, zärtlichen Umarmung. Nur kurze Zeit später hatten sich die beiden Nebelmassen wieder getrennt und die dahingleitenden Nebelgeister auf dieser Seite des Baches setzten ihr munteres Spielchen fort. Sie nahmen sogar die geheimnisvolle Frau in ihr Spiel auf und umtanzten sie in einer unausgesprochenen Willkommensgeste. Lächelnd dankte die Jägerin und setzte ihren Weg durch diesen Teil des Waldes wieder fort.
In den folgenden Morgenstunden legte sie eine ordentliche Wegstrecke zurück. Zwischen Bäumen und Gestrüpp, über taufrisches Gras und dichtes Moos, und hin und wieder auch auf einem schmalen Waldpfad drang sie raschen Schrittes tiefer in den Wald. Mit jeder Minute ließ sie den Herbst ein kleines Stückchen hinter sich. Zunehmend mehr Bäume standen noch in voller Blätterpracht und tauchten den späten Vormittag in ein buntes Gemälde aus sommerlichem Grün und frühherbstlichen Brauntönen. Die Zahl der zu Boden gefallenen Blätter nahm beständig ab, Platz lassend für blühende Blumen unterschiedlichster Arten sowie reich beschenkte Beerensträucher. Immer wieder kreuzten kleinere Waldtiere den Weg der Kriegerin und huschten verstört in ihre geheimen Verstecke, wenn der Weg des Eindringlings sie zu nahe an ihnen vorbeiführte. Rehe und Hirsche warfen scheue Blicke auf den fremden Besucher und verschwanden mit einigen flinken Sprüngen wieder im Wirrwarr des Unterholzes.
Die geheimnisvolle Wanderin schenkte den Waldbewohnern ebenfalls nur mäßige Aufmerksamkeit, dennoch entgingen sie ebenso wenig ihrem wachsamen Blick, wie die erstaunliche Zurschaustellung üppiger Vegetation, die sie nun mit jedem Schritt begleitete. Unaufhaltsam näherte sie sich dem Herz dieses von Leben erfüllten Waldes.
Plötzlich fuhr ihr Kopf herum. Für einen kurzen Moment unterbrach sie ihren Vormarsch und ließ ihren Blick sorgfältig durch das Dickicht gleiten. Ihre Augen huschten argwöhnisch hin und her. Mit leicht geneigtem Kopf lauschte die Jägerin den Geräuschen des Waldes auf der Suche nach dem Grund für ihre Irritation. Sie erhaschte den federleichten Sprung einer Heuschrecke zwischen einigen Grashalmen ebenso wie den Flug eines einsamen Bergfalken in den Lüften weit oberhalb der höchsten Baumkronen. Gleichzeitig folgte sie dem fernen Tapsen einer Wildschweinfamilie und erkannte am Summen eines nahen Bienenschwarms, dessen Arbeiterinnen emsig Nachschub für ihr zuhause sammelten, dass in knapp hundert Schritt Entfernung eine fette Bienenwabe zwischen einigen tiefhängenden Ästen hing. Konzentriert sondierte sie alle gegenwärtigen Eindrücke, gleich wie nah oder wie fern sie waren, bis sich ein zufriedenes Lächeln unter ihrer tiefliegenden Kapuze abzeichnete.
Die Herren des Waldes waren endlich gekommen.
Geschwind suchte die Jägerin nach einem passenden Ort für ihr Aufeinandertreffen. Schnell hatte sie eine weite Wiese entdeckt, auf der sich ellenhohes Gras, gelbe Hahnenfußblüten und rote Kuckucksnelken wippend im seichten Wind beugten. Mit flinken Schritten eilte sie dorthin und suchte sich eine leichte Erhebung im hinteren Wiesendrittel aus, um sich den Wächtern zu stellen.
Zorniges Geheul kündigte sie an. Vielstimmig erschallte ihr grimmiger Jagdruf aus dem Wald hinaus auf die Lichtung. Die Wut des Geheuls verhieß nichts Gutes. Die Jagd war erfolgreich und die Beute gestellt.
Schon huschten vereinzelte Schatten zwischen dunklen Fichtenstämmen umher. Sie waren grau, schwarz, vereinzelt auch braun und sie ließen sich Zeit bis sie die ganze Lichtung umkreisten. Das ganze Rudel war gekommen und tummelte sich am Waldesrand. Unzählige Augen richteten sich gespannt auf die einsame Gestalt in der Wiesenmitte. Es gab kein Entrinnen für die Beute. Wann würde der Rudelführer das Signal zum Angriff geben?
Verspielt strich eine Brise über die Lichtung. Eine sanfte Welle glitt über die Grasspitzen und die tanzenden Köpfe der Wiesenpflanzen. Eine besonders kräftige Böe verfing sich in einer aufgebauschten Mantelfalte und zog der wartenden Jägerin die Kapuze herab. Eine Flut leuchtend roter Haare quoll aus dem herabgleitenden Stoff hervor, um sich ungestüm vom leichten Wind mitreißen zu lassen. Die geheimnisvolle Frau verzog keine Miene und machte keine Anstalten ihre ungezügelte Haarpracht zu bändigen. Stattdessen schüttelte sie ihren Kopf und ihre Haare flogen befreit durch die Luft. Herausfordernd blickte sie in Richtung des Waldrandes.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Aus dem finsteren Schatten einer mächtigen Dunkeltanne trat ein riesiger Wolf hervor. Sein Fell war dicht und prachtvoll silbergrau glänzend. Seine Ohren waren wachsam aufgerichtet und seine bernsteinfarbenen Augen fixierten die einsame Gestalt auf der kleinen Anhöhe. Ohne einen Blick seitwärts oder zurück näherte er sich langsam dem Eindringling. Mächtige Schultern hoben und senkten sich im Wiegetakt seiner selbstbewussten Schritte, aber obwohl der Jäger mit einer Schulterhöhe von bis zu fünf Fuß und doppelt so langem Körper unglaublich massig war, bewegte er sich mit unvergleichlicher Anmut. Ohne einen einzigen Grashalm unter seinen Pfoten zu zerknicken, bewegte sich das mächtige Tier bedächtig über die Lichtung.
Gespannte Stille senkte sich über die Lichtung. Zwei weitere Wölfe traten einige Schritt hinter dem silbergrauen Wolf unter den Bäumen hervor. Auch sie waren prächtige Vertreter ihrer Art, aber nicht ganz so riesig wie ihr Anführer. Wie eine Ehrengarde folgten sie, bereit mit einigen wenigen, schnellen Sprüngen dem Alphawolf zur Seite zu stehen.
Schritt für Schritt bewegte sich das Trio in Richtung der sanften Erhebung, in deren Zentrum die rothaarige Jägerin weilte. Aufmerksam beobachtete sie die drei riesigen Wölfe ohne jedoch ein Zeichen der Besorgnis erkennen zu lassen. So majestätisch, wie der silbergraue Herr des Waldes ihr entgegenschritt, so selbstbewusst stellte sie sich seinem Urteil.
In drei Sprung Entfernung von der Frau blieb der riesige Wolf stehen. Regungslos stellte er sich der Herausforderung, die dieser Eindringling bedeutete. Seine beiden Begleiter setzten ihren Marsch fort und umgingen die Jägerin linker und rechter Hand, bis sie ein gleichschenkeliges Dreieck bildeten, in deren Mittelpunkt sich ihre Beute befand. Obwohl sich beide Wölfe nun seitlich hinter der Kriegerin befanden, ignorierte sie mit beinahe selbstgefälliger Arroganz die mörderischen Jäger. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem großen Silberwolf unmittelbar vor ihr.
Die riesige Bestie machte den ersten Schritt. Mit einem kurzen, bedrohlichen Knurren, gleich dem unheilsvollen Grollen eines aufziehenden Gewitters, gab der Leitwolf zu verstehen, in wessen Revier sich beide Parteien befanden. Unbeeindruckt antwortete die mysteriöse Frau mit glockenheller Stimme. Sie benutzte Worte, wie sie seit Ewigkeiten kein Ohr außer denen ihrer eigenen Art vernommen hatte. Worte einer uralten, machtvollen Sprache, die weder Mensch, Zwerg oder Elf vertraut war. Und auch niemals sein würde.
"Wieso bist du gekommen?"
"Ich bin in friedlicher Absicht hier", antworte die rothaarige Jägerin.
"Deine Anwesenheit ist nicht erwünscht", entgegnete der Alphawolf. Seine beiden Begleiter fletschen ihre Fänge.
"Ich werde mich weder rechtfertigen noch entschuldigen, dass ich in euer Revier eingedrungen bin."
"Damit haben wir auch nicht gerechnet". Seine zu gefährlichen Schlitzen verjüngten Augen beobachteten die Jägerin drohend. "Dein Stolz ist legendär, Rotschuppe."
Die Augen der Jägerin funkelten. "Und der Zorn der Wölfe der Urzeit ebenso."
"Willst du uns schmeicheln?" Der Wolf reagierte gelassen. "Du solltest nicht hier sein. Wir haben nichts mit eurer Art zu schaffen. Aber deine Anwesenheit hat uns überrascht. Sag uns, wie hast du den Bannkreis des Waldes überwunden?"
"Menschenmagie." Ein selbstzufriedenes Lächeln stahl sich auf das Antlitz der rothaarigen Frau. "Primitiv, aber manches Mal sehr nützlich."
Bedeutungsvoll sog der Wolf die frische Herbstluft durch seine Nüstern. Ohne ein weiteres Knurren neigte er seinen Kopf und blickte zu seinen beiden Begleitern. Für einen kurzen Moment vereinigten sich die drei Wölfe in stummer Kommunikation, bis sich die beiden kleineren Großwölfe auf ihre Hinterpfoten setzten, ihr stolzes Haupt hoben und ihren Ruf zu den Wolken sendeten.
Das Rudel antwortete.
Vielstimmiges Wolfsgeheul erschallte rings um die Lichtung. Einige der Wölfe, die in den Schatten massiver Baumstämme gewartet hatten oder sich unter tief herabhängenden Ästen geduckt hatten, setzten sich in Bewegung und verschwanden in der Tiefe des Waldes. Andere Wölfe nahmen ihre Plätze ein und schlossen den grimmigen Ring um die Lichtung wieder.
Auf der Lichtung wandte sich der Alphawolf wieder an seine Gegnerin. "Ein guter Trick. Er wird uns mahnen die jungen Völker nicht zu unterschätzen."
"Und dennoch werden sie niemals unserer ebenbürtig werden."
"Und dennoch nutzt du ihre Gaben und stehst hier gar in Menschengestalt", entgegnete der Wolf. "Sieh dich vor, Mächtige. Du wärest nicht die erste Königin, die von oben herab das Treiben der Niederen beobachtet, um eines Tages festzustellen, dass sich der Thron, auf dem sie sitzt, dem Fundament angepasst hat, und nicht umgekehrt. Die Zukunft liegt in der stetigen Erneuerung und nicht im Festhalten an der Vergangenheit."
Die Jägerin verzog das Gesicht. "Und deswegen verbergen sich die Wölfe in ihren Wäldern und Schluchten, hinter unsichtbaren Barrikaden und wabernden Schleiern aus Magie, die den Unbedarften in die Irre führen und den Ungebetenen abweisen sollen?"
"Wir erneuern uns mit dem Wechsel der Jahreszeiten, mit dem Zyklus von Erwachen, Blüte, Ernte und Fortpflanzung, und mit dem Ritual von Tod und Wiedergeburt, denn so ist Mutter Gaia. So wie sie ihre Gewänder wechselt, verändern wir unser Wirken, denn wir sind ihre Bewahrer."
Die Worte des Alphawolfs wurden von einem gemeinschaftlichen Geheul bekräftigt, das so laut und lebhaft war, als würde sich der gesamte Wald erheben um an diesem machtvollen Gesang teilzuhaben. Unbeeindruckt blickte die Jägerin den riesigen Wolf an und wartete, bis auch der letzte Nachhall abgeklungen war. Als sie das Wort wieder ergriff, stand ihr heller Sopran in strahlendem Kontrast zu dem düsteren Gesang des Wolfsrudels.
"Eure Bannkreise sind wieder erneuert, doch werden sie mich nicht aufhalten können. Ich bin aber nicht hierher gekommen, um zu streiten oder über das Leben und die Schöpfung zu philosophieren. Jeder verstrichene Atemzug drängt mich mehr zur Eile."
Der Wolf blieb unbeeindruckt. "Es geht immer nur um die Schöpfung. Um das Erschaffen und das Beseitigen dessen, was uns zu schaffen macht. Außerdem haben wir dich nicht hergebeten."
"Das ist richtig. Aber Ereignisse jenseits eurer Wälder ließen mir keine Wahl."
Der Wolf blieb stumm und schaute die Jägerin lediglich aus seinen bernsteinfarbigen Augen aufmerksam an.
"Nun gut", ergriff die Jägerin wieder das Wort, "ich werde mich kurz fassen. Die Wölfe der Uhrzeit haben sich seit jeher nicht um die Belange der Welt dort draußen gekümmert. Ihr habt euch in den Tiefen eurer verzauberten Wälder und im Schutz verborgener Täler und Schluchten auf eure Aufgabe, den Schutz alles Lebens und die Pflege der Gärten des Schöpfers, konzentriert. Wo wir die Welt erforschten, uns den Gewalten der Natur entgegenstemmten und unsere Grenzen ausloteten, hieltet ihr euch zurück und saht euren Platz als Diener der Schöpfung. Das haben wir stets akzeptiert. Das akzeptieren wir noch immer. Doch jetzt ist eine Zeit angebrochen, wo eben diese Schöpfung selbst bedroht und euer Handeln von entscheidender Bedeutung geworden ist. Ihr müsst euer selbstgewähltes Exil verlassen, und eine Entscheidung treffen."
"Wir müssen gar nichts", erwiderte der Wolf, "außer weiterhin auf den verschlungenen Pfaden der Schöpfung zu wandern und Mutter Gaias Vermächtnis zu bewahren."
"Ihr irrt euch. Die Gefahr von der ich berichte, betrifft jedes Lebewesen, dem die Ordnung aller Dinge am Herzen liegt. Nur wenn wir gemeinsam dieser Bedrohung entgegen treten, werden wir die Schöpfung bewahren können."
"Ihr benötigt uns nicht. Die Gefahr, von der ihr sprecht, betrifft uns nicht", meinte der Wolf ungerührt.
Die Augen der Jägerin blitzten kurz auf. "Ich befürchte, ihr unterschätzt die Gefahr. Ich gehe davon aus, dass auch ihr der Bedrohung durch die Ahaldamar eure Aufmerksamkeit widmet?"
"Die Kreaturen, die ihr die Ahaldamar nennt, sind nicht unser Problem."
"Mir scheint, ihr seid euch des Ausmaßes der Vernichtung und des Verderbens, das mit den Ahaldamar einher geht, nicht bewusst."
"Und mir scheint, dass du unseren Worten keinen Glauben schenken willst. Deswegen sage ich dir noch einmal: Diese Angelegenheit ist nicht unser Problem."
"Die Ahaldamar sind jedermanns Problem!" knurrte die Kriegerin mit dem feuerroten Haar wütend. "Ihre Ungezügeltheit und ihre Macht entspringt dem alles verzehrenden Chaos. Sie vernichten alles, was sich ihnen in den Weg stellt und nicht annähernd so gewaltig ist wie sie selbst. Selbst Berge wanken und Flüsse verändern ihren Lauf, wenn sie über die Landschaft hinwegziehen. Und ihr beharrt weiterhin, das sei nicht euer Problem?"
Der Wolf schüttelte den Kopf.
"So höre denn", verkündete die Jägerin entschlossen: "Vor kurzem traten wir dem alles verzehrenden Chaos gegenüber. Wir konnten es nicht bezwingen. Im Kampf erlitt Ynddarmos lebensbedrohliche Verletzungen - so unwahrscheinlich es erscheinen mag. Selbst wir müssen den Ahaldamar weichen. Wie könnt ihr da ruhig zuschauen und darauf warten, bis die Ahaldamar eure Bannzauber hinwegfegen, eure geliebten Wälder verwüsten, und jegliche Ordnung ins Chaos stürzen?"
Der Wolf hatte der leidenschaftlichen Rede der Jägerin emotionslos zugehört. Nun blickte er sie mit traurigen Augen an und entgegnete beinahe trotzig: "Weil wir mit dieser Bedrohung nichts zu schaffen haben. Es ist nicht unsere Pflicht, dieser Bedrohung Herr zu werden, sondern eure."
Die Frau blickte den Wolf zunächst ungläubig an. Dann schüttelte sie ihr edles Haupt, und ihr Flammenhaar versprühte schillernde Funken im hellen Tageslicht.
"Ich fasse es nicht. Wieso wollt ihr euch vor dieser gewaltigen Bedrohung verschließen? Die Ahaldamar sind eine Gefahr für die gesamte Schöpfung, und somit eine Herausforderung für alle und jeden."
"Nein", unterstrich der Wolf beharrlich seinen Standpunkt. "Diejenigen, die ihr Ahaldamar nennt, sind ganz alleine euer Problem. Für jetzt und für immerdar."
Unwirsch fegte die Jägerin die Worte des Alphatiers mit einer rüden Handbewegung fort. "Was redet ihr da für einen Unsinn?"
"Es ist so wie ich sage", meinte der Wolf gelassen. "Und ich denke auch, ihr wisst, dass ich die Wahrheit spreche."
Die Frau blieb eine Antwort schuldig und der silbergraue Wolf setzte seine Ausführungen fort.
"Es ist so, wie ich sage. Ihr, die alten Drachen, müsst euch dieser Bedrohung stellen. Nur ihr, und niemand sonst, Shelassia."
"Warum, grauer Wolf?"
"Weil einem Schöpfer auch die Verantwortung für seine Schöpfung obliegt."
Verblüfft verdaute Shelassia die Worte des Alphawolfes. Doch als sie antwortete funkelten ihre Augen herausfordernd. "Du willst damit andeuten, dass wir die Ahaldamar erschaffen haben?"
"Nicht nur andeuten, sondern feststellen", beharrte der Wolf gelassen. "Die Ahaldamar sind lediglich ein Abbild eurer Seele, eures Geistes, eures Schaffens. Somit seid ihr deren Schöpfer."
Die Jägerin zog ihre Stirn kraus. Ihre Haltung war angespannt. "Diese Behauptung klingt in meinen Ohren mehr wie eine Beleidigung als eine Feststellung. Ist es das, was ihr Wölfe wollt? Uns herausfordern? Glaubt ihr, dass mit dem Auftauchen der Ahaldamar die Zeit gekommen ist, euer Revier und somit eure Machtbasis zu erweitern? Ihr spielt ein gefährliches Spiel!"
Traurig schaute der Wolf Shelassia an.
"Du irrst, Mächtige. Nichts liegt uns ferner, als nach Macht um der Macht willen zu streben. Oder gar euch herauszufordern." Ein Leuchten stahl sich auf sein raubtierhaftes Antlitz. "Sieh selber und lausche gut meinen Worten. Ich weiß, ihr alten Drachen glaubt alles zu wissen und alles erforscht zu haben. Ihr erhebt euch über alle anderen Lebensformen, weil ihr die Ersten wart. Eure Macht ist wahrlich beeindruckend und niemand würde es wagen die alten Drachen herauszufordern. Sieh, wie du hier stehst, und wie eine Königin deine Ansprüche vertrittst. Nicht hoch auf den roten Zinnen, die du dein zuhause nennst, oder in dem steinernen Himmelsdom, den Ansalion zu seinem Domizil auserkoren hat. Nein, du trittst mit großspurigen Forderungen an in unserem Revier, als sei es nichts weiter als deine Spielwiese. Das ist die Arroganz der alten Drachen, die Überheblichkeit, mit der ihr auf die Welt herabschaut, und die Selbstherrlichkeit, in der ihr euch sonnt. Ihr haltet euch für so weise und so mächtig, dass ihr glaubt die Ordnung der Dinge zu verstehen und zu bestimmen. Doch wo ein Übermaß an Ordnung erreicht ist und das Gleichgewicht der Schöpfung aus den Fugen gerät, entsteht Chaos, um die Waage Jeshenras wieder auszubalancieren. Höre mir gut zu, Shelassia: So wie ihr die Welt beherrschen wollt, um sie nach euren Vorstellungen zu ordnen, habt ihr dem Chaos den Weg geöffnet, das euch nun zu vernichten droht. Nein, wir Wölfe haben nichts mit den Ahaldamar zu schaffen. Genauso wenig, wie ihr mit uns zu schaffen habt."
Shelassias fürstliches Gesicht war während den letzten Worten des Leitwolfes zu einem verzerrten Abbild ihrer selbst geworden. Eine Woge des Zornes und der Wut bemächtigte sich ihrer Gestalt und ließ sie vor Aufregung erbeben.
"Du wagst es, mir diese Worte - diese Lügenmärchen - ins Gesicht zu schleudern, alter Wolf?"
Der Wolf schüttelte sein pelziges Haupt und fletschte seine Zähne. "Verleugne nur die Wahrheit, und denke was du willst. Aber solange ihr nicht akzeptieren wollt, dass ihr selber die größte Bedrohung für die Welt, wie wir sie seit Anbeginn der Zeit kennen, bewirkt habt, werdet ihr dieser Gefahr auch nicht angemessen entgegentreten können!"
"Ich glaube dir nicht!"
"Und doch ist es nichts als die reine Wahrheit!" Das Rudel verlieh den Worten des Alphawolfes mit lauten Geheul Nachdruck.
Shelassia hielt sich die Ohren zu. "Haltet ein. Ich will eure Lügen nicht mehr hören!"
Doch das Wolfsgeheul wurde immer lauter, eindringlicher und intensiver. Plötzlich begann die rothaarige Jägerin zu zittern. Ihre Gestalt veränderte sich und ihre Konturen zerflossen. Unglaubliche Macht verwirbelte die unmittelbare Umgebung auf dem kleinen Hügel, als die Verwandlung einsetzte. Kleidung, Aussehen, Körper vergingen, um neu erschaffen zu werden. Fließend verwandelten sich Arme in weite Schwingen, Leder wurde zu Schuppen und Stoff wurde zu membranartigen Flughäuten. Anstelle der Stiefel erschienen wuchtige Krallen aus feuerfarbenem Diamant, die alles Materielle mit einem Hieb zerfetzen konnten. Der schlanke Leib der Jägerin wich dem geschmeidigen Rumpf eines übergroßen Reptils, gekrönt durch ein stolzes Haupt mit funkelnden Augen und dem mächtigen Gebiss des gefährlichsten aller Jäger, vor dem jedes Lebewesen flüchtete aus Furcht vor den scharfen Krallen und dem fürchterlichen Feueratem.
Nur der alte Silberwolf blieb gelassen angesichts dieser Bedrohung.
"Wenn du jetzt gehst, fliehst du nur vor dir selbst, mächtige Shelassia. Doch dein Schicksal, Ynddarmos Schicksal, und das Schicksal aller wird sich nicht abwenden lassen, wenn ihr euch nicht eurer Verantwortung stellt."
Der rote Drache hob seinen Kopf und brüllte seinen Zorn in die Luft. Die Blätter der Bäume am Lichtungsrand schaukelten im Sturm seiner Entrüstung. Blitzschnell stieß der Kopf auf den Wolf hinab, doch dieser sprang mit einem flinken Satz außer Reichweite.
"Wir können hier kämpfen, Feuerschuppe", beharrte der Silberwolf. "Du gegen das ganze Rudel. Das Ergebnis wäre ungewiss. Aber der Ausgang einer anderen Herausforderung wäre damit bereits entschieden. Sieh deiner Bestimmung ins Auge und nicht einem unbeugsamen Gegner."
Der Drache brüllte erneut und das Rudel schleuderte ihm sein Kampfgeheul entgegen. Dutzende von Wölfen tauchten unter den Baumwipfeln auf. Geschwind sprangen sie aus ihren Verstecken und liefen in Richtung der kleinen Anhöhe. Der Drache sah sich kurz um und hob trotzig seinen Kopf. Doch anstatt den Kampf sofort zu beginnen, erhob er sich in die Luft. Mit einigen wenigen mächtigen Flügelschlägen gewann er schnell an Höhe. Die drei Wölfe sprangen mit wuchtigen Sätzen in die Höhe und bissen sich an den Hinterbeinen des Drachen fest. Zornig brüllte der Drache auf. Die Wölfe hatten ihn zwar nicht verletzt, aber sie behinderten seinen Aufstieg. Er schüttelte sich und wand seinen Reptilleib. Einer der Wölfe wurde abgeschüttelt und fiel zurück zum Boden, wo er sich geschickt abfing und wieder aufrappelte. Die anderen beiden Jäger besaßen nun nicht mehr genug Masse, um den Drachen effektiv zu behindern und ließen ebenfalls los.
Der Drache ließ sein Triumphbrüllen erschallen. "Seht her! Ich bin Shelassia. Niemand wird mich aufhalten!" Langsam gewann sie an Höhe und die Wölfe wurden kleiner und kleiner. Von oben herab konnte Shelassia verfolgen, wie die Wölfe sich in der Lichtungsmitte versammelten und einen Kreis um den Alphawolf bildeten. Sie sah, wie die Wölfe einen fremdartigen Tanz aufführten. Sie sprangen wild herum, schlugen Kapriolen und stießen immer wieder ihr Geheul aus. Nur der Alphawolf stand regungslos in der Mitte und schaute gebannt in den Himmel.
Shelassia folgte seinem Blick. Zunächst dachte sie, der alte Silberwolf würde ihr lediglich nachblicken, um ihr womöglich einen mächtigen Fluch hinterher zu schicken. Aber als sie mit ihren scharfen Sinnen ein neues, vielstimmiges Kreischen hörte, welches zunehmend lauter wurde und näher kam, drehte sie ihren Kopf herum und blickte über sich.
Ein riesiger Schwarm Vögel versammelte sich hoch über ihr.
Sperlinge, Krähen, Meisen, Raben. Kleine Singvögel und große Wasservögel. Stolze Adler und umtriebige Elstern. Sogar einige aasfressende Bartgeier und ein Schwarm zufällig vorbeiziehender Edeshakraniche waren dem Ruf der Wölfe gefolgt und stürzten sich todesmutig auf den mächtigsten aller Flugsaurier, einen roten Urdrachen, herab.
Shelassia schnaubte empört. Welch eine Frechheit ihr einen Haufen nerviger Spatzen und schwerfällige Stelzvögel entgegen zu schicken! Im Luftkampf kam ihr kein Lebewesen gleich, und auch die beträchtliche Masse der Gegner beunruhigte sie nicht. Doch Shelassia beabsichtigte gar nicht zu kämpfen. Nichts lag ihr ferner, als eine blutige Bahn der Vernichtung inmitten des heranfliegenden Schwarms zu hinterlassen, waren sie doch nichts anderes als manipulierte Sendboten der verräterischen Wölfe. Zornig schlug Shelassia mit ihren mächtigen Schwingen aus, um Höhe zu gewinnen. Sie kreischte den nahenden Vögeln eine Warnung entgegen, doch das Heulen des Rudels tief unter ihr trieb die Vögel an. Es dauerte nicht lange, und eine Wolke wirbelnder, kreischender und flügelschlagender Lebewesen hüllte ihre Leib ein, nahm ihr die Sicht und erschwerte ihr das Fliegen. Es war ein seltsamer Tanz, der dort hoch über der Lichtung inszeniert wurde. Die Vögel umschwirrten die riesige Flugechse wie Mosquitos eine lodernde Fackel. Und wie die Fackel, von Wind gepeitscht, willkürlich mit ihren heißen Armen um sich schlägt, so trafen die wuchtigen Drachenschwingen immer wieder vereinzelte Vögel, die angeschlagen und benommen in die Tiefe trudelten. Aber wer das Lied der Fackel kennt, der weiß, dass im Morgengrauen die Fackel erlischt, während die Mosquitos wieder die schwelenden Überbleibsel umtanzen.
Nun war Shelassia aus einem wesentlich edleren Holz geschnitzt, doch so sehr sie sich bemühte dem Schwarm zu entkommen, so sicher zeichnete sich die Mühseligkeit ihres Unterfangens ab. Zweifelsfrei würde sie es schaffen, solange es die Vögel dabei beließen sie nur zu belästigen und nicht zu verletzen, doch es würde sie mehr Kraft und Konzentration kosten als ihr lieb war. Beides benötigte sie für spätere Konfrontationen mit dem wahren Feind. Dieser Konflikt musste schneller beendet werden!
Ohne Vorwarnung wendete Shelassia und stieß mit angelegten Schwingen wieder in Richtung der Lichtung hinab. die Wölfe erkannten ihre Absicht und stoben hechelnd auseinander. Nur der Alphawolf behauptete stolz seine Position im Zentrum der Wiese und heulte seine Herausforderung dem heranfliegenden Drachen entgegen. Die ersten Wölfe hatten fast schon wieder die Sicherheit des dunklen Waldes erreicht, als ein samtener Glanz das Fell des silbergrauen Rudelführers in einen majestätischen Schimmer hüllte. Dann duckten sich die ersten Tiere des Rudels unter die äußersten Äste und Zweige und das Leuchten gewann an Stärke und Intensität. Gleichzeitig begann der Alphawolf in Gestalt und Kraft zu wachsen. Mit jedem Wolf, der von der Lichtung verschwand, wurde der Alphawolf größer. Und die Wölfe waren schnell - schnell genug, dass ihr Alphatier rechtzeitig genug an Größe gewonnen hatte, um selbst einem kampfbereiten Urdrachen ein nahezu ebenbürtiger Gegner zu sein.
Shelassia behielt zunächst ihren Kurs bei. Nur wenige Längen über dem riesigen Silberwolf, dessen Schulterhöhe nun selbst einem Hügelriesen zur Ehre gereicht hätte, breitete sie ihre mächtigen Flügel aus, um ihren Sturzflug elegant abzufangen. Der Schatten ihrer weiten Schwingen legte sich wie ein Totentuch über den einsamen Wolf. In diesem Moment stockte der Zeitenlauf und die Welt hielt den Atem an, als bereitete sich die Schöpfung selbst auf den Zusammenprall dieser beiden Urkräfte vor. Die Augen der beiden Kontrahenten begegneten sich. Die Drachenaugen leuchteten vor Zorn und Leidenschaft, die Wolfsaugen strahlten voller Zuversicht und Entschlossenheit. Shelassia bog ihren schlanken Hals zurück - das untrügliche Vorzeichen für Drachenfeuer. Der riesige Silberwolf spannte mit wachsamen Augen seine ehernen Muskeln an und knurrte dem heranfliegenden, roten Drachen entgegen.
"Überlege es dir gut, Shelassia. Wir halten hier und jetzt die Geschicke der Schöpfung in unseren Klauen!"
Shelassias Kopf zuckte vor und eine lodernde Eruption elementaren Feuers entfuhr dem Drachenmaul. Doch anstatt den Riesenwolf zu versengen donnerte das Drachenfeuer über die Lichtung hinweg, ließ die Luft vor Hitze flirren und verpuffte schließlich in den Weiten des Himmels über dem verzauberten Wald.
"Ich habe genug von euren Spielchen und Haarspaltereien. Meine Zeit ist knapp bemessen!" Shelassia flog demonstrativ einen Kreis um die Lichtung. Sie war die Königin. Sie bestimmte. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass der Vogelschwarm sich in luftigere Höhen zurückgezogen hatte und nur noch eine verzerrte, schwarze Wolke am Firmament bildete.
Der Wolf richtete sich auf seine Hinterbeine und folgte dem Flug des roten Drachen. "So vernehme denn noch diese eine Frage, Mächtige, bevor du deines Weges ziehst: Warum stehen wir uns in diesem Augenblick mehr als Feinde, denn als Freunde gegenüber?"
Shelassias Kopf zuckte erneut vor, doch dieses Mal zeigte sie lediglich ihre diamantscharfen Drachenzähne. "Weil ich von niemandem Lügen oder Beleidigungen erdulden werde! Nicht einmal von den Wölfen der Urzeit."
Der mächtige Silberwolf ließ sich nicht einschüchtern und bleckte drohend seine Reißzähne und entgegnete: "Nein, weil dein Stolz verletzt wurde. Nur dein Stolz. Unsere Behauptungen widersprechen deiner - eurer - Vorstellung, dass ihr jeden Aspekt des Seins, jedes Gesetz der Natur versteht und beherrscht. Und das ist ein Gedanke, mit dem du dich nicht auseinander setzen willst."
Shelassia schnaubte ungeduldig. "Noch mehr Wolfsspielchen?"
"Du weigerst dich nach wie vor hartnäckig zuzuhören oder gar begreifen zu wollen. Genau dieser Stolz und diese Ignoranz sind die Ursache für das Erwachen des Chaos. Die Ahaldamar sind der böse Spiegel eures Selbst. Lernt euch selber zu verstehen, lernt eure eigenen Limitierungen zu erkennen, und ihr werden lernen das Chaos in seine Schranken zu weisen. Vermögt ihr jedoch nicht über euren eigenen Schatten zu springen, werden viel größere Schatten die Welt verdunkeln."
Schweigend hatte Shelassia dem Alphawolf zugehört. Elegant zog sie ihre Kreise über der Lichtung, aber ihre Haltung wirkte nun weniger bedrohlich. Die letzten Worte des alten Wolfes hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Dem roten Drachen stand förmlich ins Gesicht geschrieben - wenn so etwas bei einem Großdrachen überhaupt möglich war - dass sie über das soeben Gehörte nachdachte. Die Natur rings um die beiden Mythenwesen entspannte sich und der Lauf der Dinge setzte wieder seinen gewohnten Weg fort. Schließlich verlangsamte Shelassia ihren Flug und nahm mit kontrolliertem Flügelschlag eine schwebende Position gegenüber dem Riesenwolf ein.
"Ihr habt mich nicht überzeugt, Wölfe der Urzeit. Aber ich will akzeptieren, dass ein Funken Weisheit in euren Worten liegt. Ich werde mich mit Ansalion beratschlagen, und wir werden eure Ansichten berücksichtigen."
Der Wolf nickte zufrieden. "Damit können wir leben!"
Shelassia nickte ebenfalls und schwang sich wieder in höhere Lüfte. "Gut, dann sind der Worte genug gewechselt worden. Ich danke für eure..." Shelassia hielt ein und schenkte dem Alphawolf, der noch immer wie eine riesige, pelzige Statue in der Lichtungsmitte thronte, einen letzten, funkelnden Blick, "...Hilfe."
Der Anflug eines Lächelns stahl sich auf das Wolfsgesicht. "Wenn du auf deinem Rückflug Zeit für einen Abstecher zu unseren Vettern im Alabasterwald hast, berichte ihnen von den Verletzungen deines schwarzen Gefährten, Rotschuppe."
Shelassias Augen verengten sich. Dann streckte sie ihren schlanken Hals und lachte. Mit den mächtigen Schlägen weiter Drachenschwingen erhob sich der rote Großdrache majestätisch in den wolkenlosen Herbsthimmel.
 

© Elfenfeuer
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