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Der Erdbeerdrache (1) von Peter Lässig

Durch das geöffnete Fenster drang fröhliches Vogelgezwitscher und die ersten Strahlen der Frühsommersonne liebkosten Thrinidates Gesicht. Doch wurde diese friedliche Morgenidylle durch ein lautes Rauschen empfindlich gestört.
Thrinidates war sofort hellwach und übellaunig sprang er aus dem Bett. Er erkannte dieses Geräusch und schon stieg ihm auch der charakteristische, schwere Geruch eines Drachens in die Nüstern.
Doch als er an das Fenster trat, sah er nur noch die gewaltige Drachensilhouette am Horizont verschwinden.
Zornig stapfte Thrinidates auf und streckte seine Hände aus, von denen blaue Lichtbögen und kleine Feuerbälle sprangen.
"Du elender Dieb! Lass Dich bloß nicht noch einmal erwischen! Das sind meine Erdbeeren! Hast Du verstanden, Du missratene Kreatur? Meine Erdbeeren!"
Kopfschüttelnd wandte sich Thrinidates ab und trat an den großen Spiegel, während er überlegte, in welche Robe er für diesen Tag schlüpfen wollte.
Wie alle Geschöpfe des Pferdegeschlechts war auch Thrinidates ziemlich eitel, zumal es sich bei ihm nicht um ein schlichtes Einhorn, sondern um einen anthropomorphen, gehörnten Pegasus, im Volksmund auch Alicorn genannt, handelte.
Thrinidates war eine beeindruckende Erscheinung: Sein Fell war von kräftiger brauner Färbung, seine seidige Mähne und auch seine Fesselbehaarung jedoch waren hellbraun wie Milchkaffee. Von gleicher Färbung war auch der Stirnstern aus dessen Mitte das einzelne, zur Spirale gewundene Elfenbeinhorn steil herausragte. Seine grünen Augen waren trotz fortgeschrittenen Alters immer noch tief und klar und die einzelnen Federn seiner prächtigen Schwingen, die von der Färbung und Musterung an Bussardschwingen erinnerten, saßen immer noch fest und in perfekter Ordnung.
Thrinidates war Meistermagier und gehörte nach wie vor dem Magischen Zirkel an, doch hatte er schon seit einigen Jahren die praktische Magie aufgegeben, um sich ausschließlich seinem Hobby, der Gärtnerei, zu widmen.
Der prachtvolle Garten rund um sein Anwesen war sein ganzer Stolz und vor allem das große Erdbeerfeld, auf dem er nur die edelsten und kostbarsten Erdbeersorten anbaute, deren Wohlgeschmack landauf, landab legendär war, war sein Heiligtum. 
Natürlich konnte Thrinidates niemals so viele Früchte selbst verzehren, wie hier wuchsen und daher machte es ihm auch nicht das Geringste aus, wenn sich Kinder oder vereinzelte Wanderer, die es durch Zufall auf sein Grundstück verschlagen hatte, an den Erdbeeren und auch an dem anderen Obst, das er in seinem Garten anbaute, labten.
Doch im Falle des Drachens verhielt es sich anders. Während jeder bei der Erdbeerernte äußerst behutsam mit den Pflanzen umging, zumal jeder um deren enormen Wert wusste, richtete der Drache mit seinen gierig rupfenden Pranken und seinem vor Freude schlagenden Schweif einen großen Schaden auf dem Erdbeerfeld an.
Auch heute bot sich dem Alicorn erneut ein Bild der Verwüstung, als er in den Garten getreten war, um den vom Drachen angerichteten Schaden zu begutachten und - soweit möglich - mit einem kleinen Zauberspruch zu beheben.
Frustriert und wütend schnaubte Thrinidates auf. Diese Arbeit würde ihn mindestens den ganzen Vormittag kosten und zum wiederholten Male fragte er sich, weshalb dieser Drache so versessen auf Erdbeeren war. Ausgerechnet Erdbeeren. Drachen sollten sich an Kühen gütlich tun oder an Pferden. Oder an Rittern und Jungfrauen! Aber doch nicht an Erdbeeren.
"So kann das nicht weitergehen", knurrte Thrinidates und machte sich eine geistige Notiz, nach getaner Gartenarbeit in seiner umfangreichen Bibliothek nach einer Schutzmöglichkeit für seine Erdbeeren zu suchen. Vielleicht würde er einen geeigneten Drachenabwehrzauber finden, denn selbstverständlich wollte er, dass für andere möglichen Gäste weiterhin ein freier Zugang zu seinen Erdbeeren gewährleistet war.

***

Die Thermiken waren äußerst günstig und dem Drachen genügten nur wenige, kraftvolle Flügelschläge, um geschwind wie ein Pfeil hoch in der Luft voranzukommen. Petrion war mit sich zufrieden, auch wenn es diesmal etwas knapper gewesen war als sonst. Diesmal hatte ihn offensichtlich der Zauberer, dem das herrliche Erdbeerfeld gehörte, gesehen und auch wenn der Drache nicht verstanden hatte, was genau ihm das Alicorn da nachgerufen hatte, die blauen Blitze, die nach seinem Drachenschweif gegriffen hatten, waren deutlich genug gewesen.
Ach, der alte Klepper soll sich nicht so anstellen, dachte sich Petrion und leckte sich die Lippen, immer noch den wunderbaren Geschmack von Erdbeeren in seinem Maul. Übermütig flog er ein großes Looping. Erdbeeren! Was gab es auf dieser Welt besseres als Erdbeeren - sah man einmal von seiner wunderbaren Gefährtin Orolyth ab.
Er liebte sie von ganzem Herzen und teilte mit der prachtvollen Erddrachin seine versteckte Höhle im Hochgebirge.
Das einzige Problem war, sie billigte seine Schwäche für Erdbeeren in keinster Weise. Ein ordentlicher Drache hatte dafür zu sorgen, dass sich in seiner Höhle Gold und wertvolles Geschmeide befand, nicht aber seine Kräfte für die Suche nach Erdbeeren zu verschwenden.
Daher behielt er seine regelmäßigen Ausflüge zu dem Erdbeerfeld für sich. Für Orolyth handelte es sich um tägliche Kontrollflüge, die ihr Gefährte unternahm, um das riesige Revier auf eventuelle Gefahren abzusuchen, denn in ihrem Leib trug sie die gemeinsame Frucht ihrer Liebe zueinander.
Um zumindest so zu tun, als ob er auf einem solchen Rundflug wäre, überflog Petrion einen kleinen Weiler und den dahinter anschließenden Wald, doch es gab keinerlei Anzeichen einer drohenden Gefahr. Kein Ritter oder Drachentöter war seiner Gefährtin oder ihm auf der Spur und die Menschen in diesem Weiler hatten sich mehr oder weniger an die Gegenwart der Drachen gewöhnt. 
Instinktiv achteten Petrion und Orolyth stets darauf, jede Konfrontation mit den Menschen zu vermeiden und in der Regel hielten sie sich von ihnen und ihren Behausungen fern.
Doch nun drangen der Klang einer Laute und fröhliches Gekicher an sein empfindliches Drachengehör.

***

 "... und mit viel Getöse fuhr der Huf in sein Gekröse.
Somit die Moral von der Geschicht’: Wilde Hengste zähmt man nicht."

"Der arme Ritter", kicherte die junge Frau und lehnte ihren Kopf an die Schulter des fahrenden Sängers, der sorgfältig sein Instrument beiseite legte.
"Mir hat aber die andere Geschichte von seinem Kampf mit dem furchtbaren Drachen besser gefallen", stellte die andere Frau fest und kuschelte sich ebenfalls an den fahrenden Künstler.

Zufrieden lächelnd lehnte er sich zurück und zog die beiden Mädchen mit sich.
Es war für ihn ein überaus erfolgreicher Tag gewesen. In dem Weiler hatte er als Entgelt für seine Darbietungen, einige Lieder, Balladen und Tratsch und Klatsch aus fernen Städten, seine Vorräte auffüllen können und zog nun weiter auf seiner Wanderschaft. Die beiden Schwestern waren ihm nachgelaufen und wollten bei einem vertraulichen Picknick noch eine kleine Zugabe haben.
"Nun", lächelte er und strich der einen Frau eine blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht, "das waren zwei Episoden aus dem viel besungenen Leben dieses edlen Recken. Natürlich werden nur die Heldentaten des Ritters Georg besungen, vor allem sein Sieg über den gewaltigen Lindwurm. Aber wie Ihr jetzt wisst, hatte er auch einige Fehlschläge einzustecken. Oder sollte ich sagen Tiefschläge?"
"Solange nicht Dein kleiner Ritter von einem Pferdehuf getroffen wurde", kicherte die erste Maid und beugte sich nach vorne. Die Nachmittagssonne beschien ihren üppigen Busen. 
Anzüglich lächelnd strich sie mit zarter Hand über sein Beinkleid aus dünnem Stoff, während das andere Mädchen kichernd die verspannten Muskeln des Barden massierte.
Auch sie hatte einiges zu bieten und ihre prallen Brüste sprengten beinahe das schon ein wenig abgetragene Mieder.
"Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war noch alles in bester Ordnung", grinste der Sänger und überließ sich nun ganz den geschickten Händen seiner Bewunderinnen. Schon bald bedeckte nur noch ein dünnes Hemd seine Männlichkeit, die deutlich sichtbar nach einer bestimmten Form der Zuwendung verlangte.
Das war das Schöne am Leben eines fahrenden Sängers. Zwar war er die meiste Zeit auf staubigen Straßen unterwegs und musste oft mit leerem Magen sein müdes Haupt zur Ruhe betten, aber dafür ergab es sich immer wieder, dass man von verbotenen Früchten naschen konnte.

Es dauerte nicht lange und gedämpfte Geräusche von Lust und Leidenschaft vermischten sich mit dem Surren von Insektenflügeln und dem allgegenwärtigen Vogelgezwitscher.
Niemand achtete auf den Punkt hoch oben im wolkenfreien Himmel, der ein großer Vogel hätte sein können, der seine Kreise zog, und weder Barde noch Mädchen kamen auf die Idee, dass ihre Unterhaltung belauscht und ihr Treiben beobachtet worden waren.

"Gekröse? Was mag das sein? Gekröse - dieses Menschenwort habe ich noch nie gehört?"
Das prachtvolle Geschöpf, das am Himmel seine Kreise zog, verlagerte sein Gewicht nach vorne und suchte den Platz unter sich nach einer für die Landung geeigneten Stelle ab. 
"Es ist sicherlich das Beste, wenn ich diesen Mann direkt befrage. Mit Sicherheit wird er mir Auskunft darüber geben. Oh, was machen die denn da?"

Die angsterfüllten Schreie der fliehenden Mädchen wurden durch das donnernde Rauschen schlagender Schwingen verschluckt.
"So wartet doch, ich tu Euch hübschen Maiden nichts, ich will diesem Mann doch nur eine Frage stellen", rief das gewaltige Geschöpf, das gerade vor den Augen der entsetzten Menschen gelandet war.
Doch die beiden Mädchen waren, nackt wie sie gerade waren, bereits im Wald verschwunden.
"Was... wer... Hilfe!"
Der ebenfalls unbekleidete Barde war aufgesprungen und schlug mit zitternden Armen ein Kreuz. Im Gegensatz zu den beiden Mädchen hatte er die drohende Gefahr jedoch viel zu spät bemerkt.
"Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich will Dir kein Leid zufügen. Ich wollte Dir nur eine einfache Frage stellen. Wenn ich Dich eben bei einer bestimmten Tätigkeit gestört haben sollte, bitte ich Dich um Verzeihung."
Dem Drachen war selbstverständlich bereits der Geruch der Liebessäfte in seine empfindlichen Nüstern gestiegen und er tat sein Bestes, einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck zur Schau zu stellen.
Der Barde errötete vor Scham und wagte es nicht, sich zu bewegen. Obwohl er nun völlig unbekleidet da stand, zitterte er mit Sicherheit nicht vor Kälte.
Vor ihm stand das prächtigste und wohl auch tödlichste Geschöpf, das man sich vorstellen konnte. Natürlich waren die Lieder und Geschichten, die er zum Besten gab, voll von Drachen und Drachentötern, doch hatte er nie zuvor ein solches Wesen gesehen.
"Ich... ich...", mehr brachte er immer noch nicht hervor und der Drache blickte mitleidig auf ihn herab. 
Sein gewaltiger Leib war von silbernen Schuppen ummantelt, seine Brust und sein Bauch wurden durch hellere, sich überlappende Hornplatten bedeckt, die härter waren als Titan und sich doch geschmeidig weich anfühlten. 
"Oh, Du zitterst. Aber ich sehe schon, Dir ist kalt - hier!" 
Mit einer spielerischen Bewegung seines Schweifes schob der Drache das Gewand, das achtlos zur Seite geworfen war im Rausch der Leidenschaft, dem Barden vor die Füße.
Den Drachen nicht aus den Augen lassend und weiterhin mit hochrotem Kopf, bückte sich der Sänger und schlüpfte eilig in die Hosen. 
"Verzeih bitte, ich war unhöflich und habe mich noch nicht vorgestellt. Du kannst mich Petrion nennen", fuhr der Drache mit der recht einseitigen Konversation fort. "Und ich habe die Ehre mit...?"
"A... Angelo Anselmo von der Fuchsheide", brachte der Barde mit Mühe hervor.
"Ich werde Dich einfach Angelo nennen, wenn es Dir recht ist", erwiderte der Drache freundlich und setzte sich vor dem Menschen auf die kräftigen Hinterbeine. Seinen geschuppten Schweif schlang er sorgfältig um sie herum und brachte seine große Schnauze auf Augenhöhe mit dem Menschen.
"Wie gesagt, ich bitte Dich um Verzeihung, wenn ich Dich gestört haben sollte. Ich wollte Deine Paarung mit diesen hübschen Maiden nicht vorzeitig beenden."
Das Gesicht des Sängers war nun dunkelrot vor Scham geworden.
"Das braucht Dir nicht peinlich sein. Wenngleich ich sagen muss, dass die Vereinigung von Euch Menschen, zumindest soweit ich das nun beobachten konnte, lange nicht so anmutig ist wie die von uns Drachen und die Größe Deiner Männlichkeit nicht einmal an die von Hengsten, von denen Du zuvor so schön gesungen hast, heranreicht. Könnt Ihr Menschen Euch wirklich vermehren auf diese Art und Weise? Aber egal, ich schweife ab. Ich wollte nur eines von Dir wissen: Was ist das Gekröse, von dem Du eben gesungen hast?"
"Wie bitte?"
Der Barde konnte es nicht glauben. Vor ihm saß ein leibhaftiger Drache, der ihn mit einem einzigen Schlag seiner Pranke zerquetschen mochte wie eine Laus und eine ganze Stadt mit dem legendären Feueratem dem Erdboden gleichmachen konnte, und dieser Drache fragte ihn, Angelo, den fahrenden Sänger, was das Wort Gekröse bedeutete.
Trotz seiner Angst konnte sich der Barde ein Lächeln nicht verkneifen: "Das ist nicht Euer Ernst, oder?"
"Wieso nicht?" fragte Petrion ein wenig verletzt. Er hasste nichts mehr, als sich in irgendeiner Form zu blamieren und offensichtlich hatte er eine nach Menschenmaßstäben dumme Frage gestellt. 
"Ich habe noch nie zuvor dieses Wort vernommen. Ist das eine Schande?"
"Nein! Nein, bitte macht Euch da keine Sorgen."
Allmählich hatte Angelo seine Fassung wieder gewonnen. Sein Beruf als fahrender Sänger erforderte des Öfteren diplomatisches Geschick, da es immer wieder zu brenzligen Situationen kam. Eifersüchtige Ehemänner oder besorgte Väter, zum Beispiel. Oder Drachen, die nach Gekröse fragten.
"Es ist nur eine sehr ungewöhnliche Frage, aber ich kann Euch das gerne erläutern. Habt Ihr mein Lied über den Ritter Georg gehört?"
"Genau aus diesem Grund frage ich ja", entgegnete der Drache und schnaubte seinen warmen Atem in das Gesicht des Sängers. "Wobei ich festhalten möchte, dass das Erschlagen von Drachen keine Heldentat ist, die es zu besingen gilt."
"Nun ja, das ist aber das, was mein Publikum hören möchte", rechtfertigte sich Angelo. "Die Menschen lieben Geschichten über wilde Kämpfe zwischen blutrünstigen Drachen und wackeren Rittern. Aber nun lasst mich erklären, was mit dem Begriff Gekr... - was schnüffelt Ihr, mit Verlaub, so ungebührlich an meiner Tasche herum?"
"Oh? Ungebührlich?" 
Nun stand dem Drachen die Verlegenheit deutlich ins Gesicht geschrieben. 
"Mir stieg nur dieser herrliche, verführerische Duft in die Nüstern und ich fragte mich, von woher..."
"Welcher Duft? Ich bin ein fahrender Sänger und führe nichts von materiellem Wert bei mir. Zumindest kein Gold oder Geschmeide, also nichts, was für einen Drachen von Interesse sein könnte."
"Was hast Du denn in Deinem Beutel?" 
Petrion kümmerte sich im Augenblick nicht darum, dass seine Frage eben ausgesprochen unhöflich war.
"In meinem Beutel? Darin befindet sich nichts weiter als von mir gesammelte Walderdbeeren, die..."
"Erdbeeren!" rief Petrion erfreut aus und trommelte mit seiner Schweifspitze auf den Boden.
"Meinst Du, Du könntest mich noch einmal... nur einmal daran schnuppern und vielleicht..."
Die Gier stand dem Drachen deutlich ins Gesicht geschrieben und der Barde fügte sich seinem Schicksal. Solange dieses Wesen nur seine Erdbeeren verspeisen wollte... 
"Bedient Euch bitte, Herr Drache", lud Angelo den Drachen ein.
"Ich danke Dir von Herzen. Und nun erkläre mir, was das Gekröse sein soll."

***

Kleine Staubwölkchen wirbelten unter seinen Schritten auf, als er die gewundene Steintreppe in das Kellergewölbe hinab stieg. 
Ich muss mir wirklich einmal die Zeit nehmen, hier gründlich sauberzumachen, dachte sich Thrinidates, als er zum wiederholten Male niesen musste, weil ihm der Staub in die Nüstern gestiegen war.
Die Suche in seiner Bibliothek war erfolglos gewesen, aber ihm war eingefallen, dass er irgendwo in seinem Keller noch einige alte Folianten aufbewahrte. Er war überzeugt davon, dass er dort fündig werden würde.
Etliche Stufen und Niesanfälle später stand er fluchend vor einem Berg an Gerümpel und irgendwelchem Tand, das er in all den Jahren achtlos in den Keller geworfen hatte. Und irgendwo dazwischen sollte sich eine Truhe mit den Folianten befinden.
Seufzend entzündete er mehrere Lichter, um den Raum zu erhellen, und machte sich an die Arbeit. Wie so oft schon haderte er dabei mit seinem Schicksal: Zwar war Thrinidates ein Meistermagier, aber es gab genau eine Art von Zauber, die er niemals beherrscht hatte und auch niemals mehr beherrschen würde: Ein Zauberspruch, der einem dabei half, Ordnung zu halten. 
"Dieser elende Drache", schnaubte Thrinidates, "Statt dass ich in der Sonne draußen bin bei meinen Pflanzen, muss ich mich hier im Kellergewölbe schinden. Und warum? Nur damit ich meine Erdbeeren vor seiner Gier schützen kann. Aber das wird er mir teuer bezahlen, das schwöre ich, so wahr ich Thrinidates, der Meistermagier bin. Oh, was haben wir denn da..."
Aus einem Stapel alter Zauberumhänge zog er eine hölzerne Truhe, deren Schloss bereits durchgerostet war. Vorsichtig öffnete er sie und holte drei in Leder gebundene Folianten heraus.
"Da sind sie ja. Die gesammelten Zaubersprüche der berüchtigten Hexe Cruella de Firgh!"
Nur allzu gut erinnerte er sich noch an das magische Duell, das er mit ihr vor vielen Jahren ausgetragen hatte. Sie hatte ihn damals in eine tödliche Falle gelockt und das Duell entschied über Leben und Tod.
Als er sie schließlich besiegt hatte, hatte er alle ihre Zauberutensilien vernichtet, um die Welt vor ihrer bösen Magie zu schützen - nur diese drei Folianten hatte er aufbewahrt, als Trophäe sozusagen.
Behutsam blätterte er durch die brüchigen Seiten und tatsächlich war ihm das Glück hold. Bereits im ersten Buch in einem der ersten Kapitel hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte.

"So, mein geschuppter, gieriger Freund!" rief Thrinidates und stürmte die Treppen hinauf in sein Arbeitszimmer. Vor ihm lag eine Menge Arbeit und er musste bis zur nächsten Vollmondnacht damit fertig sein - also in ein paar Stunden.

***

Das Gebräu blubberte graubraun vor sich hin, ab und an zerplatzte eine entstehende Blase. 
Es stank buchstäblich zum Himmel.
Thrinidates rümpfte die Nüstern und kratze nachdenklich seinen Hornansatz. 
"Irgendwas stimmt da nicht. So kann ich das nicht auf das Feld ausbringen. Das stinkt wie Gülle und niemand würde sich den Erdbeeren auch nur nähern. So habe ich mir deren Schutz vor dem Drachen auch nicht vorgestellt", murmelte das Alicorn und wandte sich erneut der aufgeschlagenen Seite mit dem Rezept zu.
Er las laut die einzelnen Zutaten vor:
"Schusternägel - sind drin. Fellhaare eines bei Vollmond mit einer Silberkugel erlegten Werwolfs - passt. Fünf Esslöffel Olivenöl - habe ich auch reingetan. Saft von einem Kilo katalonischer Orangen - auch drin. Nunja, nicht aus Katalonien, diese Orangen sind mir zu teuer. Aber die aus meinem eigenen Garten sollten es doch eigentlich auch tun... Acht Maß Drachenbannkugeln. Habe ich auch reingetan. Oh... ich habe die Erdbeeren vergessen. Gut, das ist schnell korrigiert."
Thrinidates nahm den Topf mit dem Trank vom Feuer und eilte hinaus in seinen Garten. Es war bereits später Nachmittag und er würde sich beeilen müssen: Der Trank musste ausgekühlt sein und dann mittels einer magischen Handspritze über dem Feld im silbernen Schein des Vollmondes ausgebracht werden. Zum Glück deutete alles auf einen wolkenlosen Nachthimmel hin.

Schlagartig nahm der Trank eine transparente Färbung an und auch der entsetzliche Gestank war verschwunden, als Thrinidates die Erdbeeren in pürierter Form dem Gebräu hinzugefügt hatte.
Er wartete geduldig, bis der Trank soweit ausgekühlt war, dass er ihn in seine Gartenspritze - er hatte diese vor einigen Jahrzehnten von einem reisenden Magier im Morgenland für ein geringes Entgelt erworben - füllen konnte. 

Immer wieder ging er im silbernen Mondlicht die einzelnen Reihen des Erdbeerfeldes entlang, hüllte jede einzelne Pflanze ein in dem feinen Sprühnebel. Dabei murmelte er wiederholt in einem monotonen Singsang die Worte Cambiate Ladronem Dragonem Fragole.
Wenn der diebische Drache sich noch einmal an seinen Erdbeeren gütlich tun wollte, würde dieser sein spezielles blaues Wunder erleben - oder sollte man besser sagen rotes Wunder?  
Mit einem zufriedenen Grinsen brachte Thrinidates noch den letzten Rest des Zaubertranks aus. Heute würde er endlich wieder in Ruhe schlafen können ohne befürchten zu müssen, dass der Drache seine Erdbeerpflanzungen noch einmal verwüsten würde. Sollte es der Drache dennoch versuchen, nun, man würde sehen...

***

Petrion erwachte grummelnd, als der Morgennebel seine kalt-feuchten Finger nach seinem Schuppenleib ausstreckte. Missmutig richtete er sich auf und schüttelte sich. Wie er die Vollmondnächte hasste. Zum einen konnte er da nie richtig schlafen und zum anderen hatte er dann - fiel er schließlich doch noch in den Schlaf - meist ausgesprochene Albträume.
Diese Nacht war sein Traum besonders bizarr gewesen: Lianenartige Schlingpflanzen hatten sich um seinen Leib geschlungen und ihn bewegungsunfähig gemacht, während eine schwarze und eine weiße Ratte, beide weitaus größer als Ratten gemeinhin waren, abwechselnd an seiner Schweifspitze genagt hatten. 
Außerdem hatte sein Bauch die ganze Nacht über rumort und wenn er es genau bedachte, so rebellierte es immer noch in seinem Magen. Die Kuh, die er noch kurz vor dem Schlafengehen geschlagen und verzehrt hatte, konnte es nicht gewesen sein. Die war, soweit er es beurteilen konnte, jung und zart im Fleische gestanden. Es gab eine Erklärung für sein Unbehagen, aber das wollte er sich nicht eingestehen. Und selbst wenn: Das bisschen  Magengrimmen war ein Preis, den er gerne für den Genuss von Erdbeeren bezahlte. Abgesehen davon war es gar nicht erwiesen, dass es da überhaupt einen Zusammenhang gab.
"Autsch!" entfuhr es ihm und er rieb sich seinen Bauch. 
Sehr eilig verließ er die Höhle.

Als er endlich fertig war mit dem, was er so dringend hatte erledigen müssen, trottete er zu dem nahe gelegenen Bach, um seinen Durst zu stillen und sich zu erfrischen.
In großen Schlucken soff er gierig das frische Wasser und betrachtete nicht ohne Stolz sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. 
Er war in der Tat ein prächtiger Drache und stand in der Blüte seines Lebens. Sein Körper strahlte Kraft und Ausdauer aus.
Er dachte an seine Kämpfe zurück, die er vor nicht allzu langer Zeit ausgefochten hatte mit anderen männlichen Drachen. Er war daraus als Sieger hervorgegangen, klar und strahlend, und hatte auf diese Weise das Herz seiner großen Liebe errungen. Kurz darauf hatten sich die beiden zurückgezogen und in einem wilden Flug sich ihrer Leidenschaft zueinander hingegeben. Sie würden vereint sein, für immer mit ihren Leibern und mit ihren Herzen.
Mitten in diese süßen Gedanken platzte das erneute Grollen, das seinem Magen entsprang.

"An Deiner Stelle würde ich das nicht tun", ließ sich unmittelbar darauf eine vertraute Stimme vernehmen, als Petrion einen weiteren Schluck Wasser zu sich nehmen wollte.
Der Drache hob sein stattliches Haupt und blickte geradewegs in die funkelnden Augen seiner Liebsten.
"Orolyth", murmelte Petrion verlegen. Er hatte sich schon gefragt, wo sie nur stecken würde - der Platz neben ihm in seiner Höhle war heute Morgen leer gewesen.
"Nun, endlich aufgewacht, Du Faulpelz?"
Ihre Schuppen waren wie goldener Wüstensand und ihre Augen glichen flüssigem Bernstein. Sie trat an ihren Liebsten heran, um ihren schlanken Kopf an seiner Brust zu reiben.
"Du weißt doch, wir haben eine weite Reise vor uns. Es wird höchste Zeit, einen geeigneten Platz für das Nest zu finden. Ich spüre schon deutlich, dass es schon sehr bald so weit sein wird, mein geliebter, starker Petrion. Aber so wie es aussieht, hast Du Dich gestern wieder einmal hoffnungslos überfressen. Mit was diesmal?"
"Ich werde einen Nistplatz für uns finden und ich werde für Dich das Nest mit den funkelnden Sternen des Himmels schmücken, meine geliebte Orolyth", versprach der männliche Drache mit zärtlicher Stimme und überhörte geflissentlich ihre spitze Frage. Liebevoll leckte er die Schnauze seiner Gefährtin, doch die Drachin war viel zu klug und zu erfahren, als dass sie sich auf diese Weise hätte ablenken lassen.
"Du hast wieder zu viele Erdbeeren genascht, ist es nicht so? Und nun säufst Du den Bach leer. Nicht sehr klug, weißt Du das?"
"Aber ich..."
"Ich habe Dir schon so oft gesagt, Erdbeeren sind keine geeignete Nahrung für ein ausgewachsenes Drachenmännchen. Zumal ich nun auf Deine Kraft und Stärke angewiesen bin. Ihr Götter! Wie kann man nur so verantwortungslos und dumm sein?"
Sie gab ihm einen zwar immer noch spielerischen, aber doch auch nachdrücklichen Hieb mit ihrer Tatze auf seine Schnauzenspitze.
"In diesem Zustand willst für mich die Sterne vom Himmel holen? Deinen Bauch zerreißt es beinahe und abgesehen davon bist Du ohnehin zu faul, Deine Schwingen zu strecken. Und da sprichst Du davon, des Nachts zu den Sternen zu fliegen? Wo hast Du diesen Unsinn überhaupt aufgeschnappt?" 
"Ich hatte vor kurzem eine sehr interessante Begegnung mit einem fahrenden Sänger und eine sehr wohlschmeckende obendrein", erklärte Petrion, froh darüber, dass er nun nicht weiter mit dem leidigen Thema, dass Erdbeeren nichts für ausgewachsene Drachen seien, behelligt wurde.
"Wohlschmeckend? Du hast doch nicht etwa..." 
In Orolyths Augen stand blankes Entsetzen geschrieben.
"Nein! Nein! Nicht, was Du denkst!" rief Petrion aus und versuchte seine Gefährtin zu beschwichtigen.
"Ich schwöre Dir, ich habe ihm kein Leid angetan. Wir haben uns nett unterhalten und er hat lediglich seine Erdbeeren mit mir geteilt."
"Schon wieder Erdbeeren! Und er hat sie mit Dir geteilt, so nennst Du das also", grollte Orolyth und drückte eine Krallenspitze in Petrions weiches Bauchfell.
"Ich kenne Dich doch. Genommen haben wirst Du sie diesem Menschen. Erst stiehlst Du sie aus den Gärten dieses Erzmagiers und nun raubst Du auch noch einen wehrlosen Sänger aus. Wahrlich, einen prächtigen Gatten habe ich mir da in mein Nest geholt!"
"Nein, wirklich, er hat sie mir von sich aus gegeben und..."
"Ja, nachdem Du ihm wahrscheinlich keine Wahl gelassen hast, Du alter Gierschlund."
Petrion seufzte. Weshalb glaubte ihm seine Gefährtin nicht? Er unternahm noch einen zaghaften Versuch: "Schatz, ich habe ihn nur gefragt, was er in seinem Beutel bei sich führte, da mir dieser herrliche Duft in die Nüstern gestiegen ist. Und als ich ihn dann darum bat, an dem Beutel schnuppern zu dürfen, hat er sie mit mir bereitwillig geteilt. Er hätte es ja auch ablehnen können."
Orolyth versetzte ihrem Gefährten einen weiteren Hieb, der nun so gar nichts Liebevolles mehr hatte.
"Und Du meinst, er hätte das wirklich getan? Ein Mensch, der zu einem Drachen aufblicken muss, vor allem wenn es sich um ein solch stattliches Exemplar wie Dich handelt, würde dem Drachen dann einen Wunsch abschlagen?"
Petrion ließ den Kopf hängen, als er erkannte, dass es für ihn heute mit Sicherheit keinen gemütlichen, ruhigen Morgen geben würde.
Orolyth war auch noch lange nicht fertig mit ihrer Standpauke.
"Du dummer, erdbeersüchtiger Gatte. Dein nahezu krankhaftes Verlangen nach Erdbeeren wird noch einmal Dein Untergang sein und überhaupt..."

Den Rest hörte Petrion schon nicht mehr. Er hatte sich mit seinen Hinterbeinen kraftvoll vom Boden abgestoßen und stieg mit kraftvollen Flügelschlägen immer höher. 
Weibchen! Wissen wenig, plaudern viel, dachte er sich und war zuversichtlich, dass sich seine Gefährtin in ein paar Stunden wieder beruhigt haben würde.
Nun war nicht nur Petrions Magen verstimmt. 
"Ich und erdbeersüchtig, die hat doch einen Klopfer... Was weiß denn schon ein Weibchen von meinen Bedürfnissen", grummelte er vor sich hin, als er hoch am Himmel seine Bahnen zog. 

Er achtete gar nicht darauf, in welche Richtung er flog, doch als er eine prachtvolle Gartenanlage mit Gewächshäusern und zahlreichen Feldern und Beeten unter sich auftauchen sah, blitzten seine Augen gierig auf und seine Laune besserte sich schlagartig.
Er verlagerte sein Körpergewicht ein wenig und ging in einen langsamen Sinkflug über.
Er erkannte sehr wohl das dazugehörige Anwesen und für einen kurzen Augenblick dachte er an jene Lichtblitze, die nach seinem Schweif gegriffen hatten. Doch das Verlangen nach den verbotenen Früchten war größer als jede Vorsicht oder gar Vernunft.
Mit seinem scharfen Drachenblick konnte er genau erkennen, dass wieder zahlreiche Erdbeeren gereift waren und auf ihre Ernte warteten. Und Petrion war sich sehr wohl jener Tatsache bewusst, dass es sich bei diesen Erdbeeren um die wohl exquisitesten Früchte im ganzen Land handelte.
Ein gutes Stück von Thrinidates Anwesen entfernt landete Petrion und legte sorgfältig seine Flügel an. Voll freudiger Erwartung näherte er sich dem Ziel seiner Begierde, immer wieder vorsichtig in die Luft schnuppernd und lauschend, ob sich der Besitzer nicht irgendwo versteckt hielt. Aber es schien alles in bester Ordnung; offensichtlich war Thrinidates ausgegangen. Nun, ein Meistermagier hatte sicherlich zahllose Verpflichtungen und Petrion ging davon aus, dass er sich ungestört den Bauch voll schlagen konnte. Sollte der Zauberer wirklich unverhofft auf der Bildfläche erscheinen, nun, Petrion würde sich blitzschnell in die Lüfte erheben und dann konnte man immer noch sehen.
Mit geblähten Nüstern den herrliche Duft des göttlichen Obstes aufnehmend, stand Petrion  am Rande des Erdbeerfeldes. Er ergötzte sich noch ein wenig an dem Anblick. Sein Schweif peitschte in freudiger Erregung, als der Drache schließlich sein Haupt senkte und mit spitzen Krallen die erste Frucht pflückte, freilich dabei versehentlich die Erdbeere mitsamt dem Grün ausreißend.

***

"Das ist doch wohl der Gipfel der Unverfrorenheit!" rief Thrinidates aus, als er in der Ferne eine Silhouette ausmachte und recht bald schon darin einen Drachen erkannte, der Kurs auf sein Anwesen genommen hatte.
"So unverschämt, so tolldreist kann doch nicht einmal ein Drache sein", wunderte sich das Alicorn und lief in sein Arbeitszimmer.
Insgeheim bewunderte er aber den Drachen. Zu schade, dass dieser Drache so sehr irregeleitet war von seiner perversen Gier nach Erdbeeren.
Thrinidates griff nach einem kleinen Tiegel auf einem der Arbeitstische und gab etwas von einer gallertförmigen, geruchslosen Masse, die die Farbe von Hafergrütze hatte, in seine Hand. Langsam verrieb er die Substanz zunächst in seinem Gesicht und verteilte sie auch auf seinem restlichen Körper.
Die Wirkung trat beinahe augenblicklich ein: Die Konturen des Alicorns begannen zu verschwimmen und er war kaum mehr von seiner Umgebung zu unterscheiden. Thrinidates war stolz auf diese seine Erfindung: Zwar hatte er in all den Jahren keinen wirksamen Unsichtbarkeitszauber gefunden, aber die von ihm entwickelte Chamäleoncreme tat genauso gut ihren Zweck und hatte sich in Magierkreisen zu einem wahren Verkaufsschlager entwickelt. Sie hatte noch einen anderen entscheidenden Vorteil: Sein eigener Körpergeruch wurde vollständig unterdrückt, so dass ihn nicht einmal Wölfe aufspüren konnten.
Derart präpariert trat er in den Garten und beobachtete in einer Mischung aus brodelndem Zorn, schelmischer Vorfreude und auch Ehrfurcht den ungeladenen Gast bei seinem Festmahl.
Erdbeere um Erdbeere wanderte in den Drachenschlund und viele Pflanzen fielen Pranken und Zähnen und einem um sich schlagenden Schuppenschweif zum Opfer.
Welch eine unbändige Kraft, was für ein prachtvolles Geschöpf, dachte sich Thrinidates und wie so oft schon in seinem Leben wünschte er sich, ein solch prächtiges Wesen zum Gefährten zu haben - oder zumindest als Zauberlehrling oder auch als Gehilfen. So ein Drache konnte schließlich sehr nützlich sein: Mit seiner Körperkraft könnte er schwere Gegenstände bewegen - genau das richtige, wenn es darum ging, beispielsweise einen Keller zu entrümpeln. Darüber hinaus besaßen Drachen einen ausgeprägten Geschäftssinn, den sich Thrinidates, der nicht nur diese Chamäleoncreme produzierte und vertrieb, sondern auch magische Beratungsleistungen für jeden, der Rat suchte, anbot - gegen ein entsprechendes Entgelt, versteht sich -, zu Nutzen machen würde. Zu guter letzt könnte so ein Drache auch ohne weiteres die Stelle eines Wachhundes einnehmen: Allein schon die imposante Größe des Drachens könnte mögliche Eindringlinge von seinem Grundstück fernhalten.
Thrinidates seufzte, wohl wissend, dass sich sein Traum in dieser Richtung wahrscheinlich niemals erfüllen würde, und widmete sich wieder seiner Vorfreude auf das, was nun mit dem frechen Erdbeerdieb passieren würde. Die Beschreibungen in dem alten Buch waren so ungenau gewesen und die Illustrationen so sehr verwaschen, dass er keinerlei Vorstellung davon hatte, wie sich das ausgebrachte Mittel nun tatsächlich auf den Drachen auswirken würde.
Seinen Appetit schien es jedoch schon einmal nicht zu zügeln...

***

Rote und violette Blitze fuhren rings um ihn hernieder, pastellfarbene Explosionen vor seinen Augen blendeten ihn und sein hämmerndes Herz drohte zu zerspringen. Er hatte die Orientierung verloren - hoch, tief, oben und unten. Hektisch schlug er mit seinen Schwingen, doch er fiel in eine wirbelnde Spirale aus Rot, Rosa und Weiß. Die Luft um ihn herum roch fruchtig und er schmeckte Erdbeeren und verzehrendes Feuer. Sein Fall war ungebremst, die Farben wogten, ein Rausch der Sinne - bis ihn irgendwann wohlige Wärme umgab und er in einem Meer aus pinkfarbenen Schleiern trieb. 
Stöhnend trat er mit seinen Beinen in die Luft und irgendwann meldete ihm sein Unterbewusstsein, dass er gar nicht abgestürzt war, sondern er auf festem Boden lag - auf dem Rücken mit ausgebreiteten Schwingen, nicht gerade eine übliche Schlafstellung eines Drachens.
Doch Petrion konnte nicht die Energie aufbringen, sich in eine bequemere Position zu bringen. Eine bleierne Müdigkeit drückte ihn nieder und wie ein Blitz in der Nacht durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass er sich kurz nach dem Verzehr der Erdbeeren unendlich müde und schlapp gefühlt hatte und ihn seine Flügel kaum noch in der Luft halten wollten. Doch schon im gleichen Augenblick, als er darüber nachdenken wollte, war er schon wieder eingeschlafen.

"Krah!" "Krah!" "Krah!"
Petrion öffnete langsam die Augen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte, doch der Lärm sich zankender Krähen weckte ihn. 
"Was zum..." 
Er brach ab und schloss rasch seine Augen, als das helle Sonnenlicht ihn blendete.
Langsam öffnete er sie wieder und sah aus seinen Augenwinkeln heraus hastige Bewegungen und Geflatter. Offensichtlich war eine Horde Krähen, warum auch immer, in seine Höhle eingefallen - nur dass er sich nicht in seiner Höhle befand.
Brennender Durst quälte ihn. Brust und Bauch juckten ihm und er bemerkte gar nicht, dass er sich ohne Unterlass kratze. Aber am allerschlimmsten war der stechende und hackende Schmerz, den er an seinem Schweifende verspürte, da wo sein Schuppenschwanz auslief zu einer eleganten Quaste, wie sie sonst nur Löwen haben.
Er hatte sich eben nicht getäuscht: Er befand sich nicht in seiner Höhle, sondern lag - immer noch auf seinem Rücken - irgendwo im Freien, wie es sich anfühlte, auf einem Acker. Ärgerlich verscheuchte er mit einer Bewegung seiner Tatze einige Krähen, die unruhig und mit flatternden Flügeln auf seinem Bauch herumhopsten. Allmählich klärte sich auch sein Blick und er richtete sich auf, als ihn erneut eine Welle des Schmerzes von seiner Schwanzspitze her durchlief.
Entsetzt brüllte er auf, als er die Ursache des Schmerzes sah. Die Krähen sprangen laut protestierend von ihm weg, als er sich hastig aufrichtete - nur, um sich wieder auf seine Schweifspitze zu stürzen.
"Das ist ein Albtraum!" rief er entsetzt und schlug mit seinem Schweif um sich, der so gar nicht mehr wie ein Drachenschweif aussah.
Statt des Schuppenschwanzes spross aus dem Schweifansatz eine Art dicker, grüner, biegsamer Stängel, von dem in regelmäßigen Abständen Blätter herauswuchsen. Am Grauenvollsten jedoch war das Schweifende: Anstelle der ehemals prachtvollen Schwanzquaste lockte eine beinahe kürbisgroße, vollreife Erdbeere mit ihrem leuchtenden Rot die Krähen an, die gierig mit scharfen Schnäbeln darauf einpickten. 
Petrion wurde rasend vor Schmerz und entsetzt stellte er fest, dass jedes Mal, wenn die Krähen die Frucht an seinem Schweifende zerhackt und verschlungen hatten, die Erdbeere auf wundersame Weise sofort wieder nachwuchs. 

Gehetzt blickte sich Petrion um und stieß einen Feuerstrahl nach dem anderen gegen seine gefiederten Peiniger aus. Doch die Krähen ließen sich nicht im Geringsten davon beeindrucken, zu sehr lockte die sich immer wieder erneuernde, pralle Beere.
Wasser! Ich muss ins Wasser. Hoffentlich träume ich das nur, dachte sich der Drache und setzte sich in Bewegung. Mittlerweile wusste er, wo er sich befand. Von seiner Höhle war er immer noch ein gutes Stück entfernt und auf dem Weg dorthin würde er an einem kleinen See vorbeikommen.
So gut es ging, stieß er sich mit seinen Hinterbeinen ab und mit mühsamen Flügelschlägen - die aufdringlichen Krähen weiterhin im Schlepptau - erreichte er endlich das Linderung verheißende Gewässer.
Doch als er sein Spiegelbild in der stillen Wasseroberfläche erblickte, hallte sein schmerzerfüllter Schrei der Verzweiflung über den See: Nicht nur war sein Schweif zu einer Erdbeerranke und seine Quaste zu einer Erdbeere geworden. Seine ehemals undurchdringbare Vorderpartie schimmerte im gleichen leuchtenden Rot wie die Frucht an seinem Schweifende. Als er mit einer Tatze vorsichtig über seine Brust strich, spürte er deutlich jene für die Erdbeerfrucht so charakteristischen, kleinen, gelbgrünfarbenen Samennüsschen.
Er tauchte seinen Kopf in das eiskalte Seewasser, in der Hoffnung, dass er dadurch aus dem furchtbaren Albtraum erwachen würde. Doch es war bittere Realität.
Verzweifelt wehrte er erneut die lästigen Krähen ab.
"Was mach ich denn nur?" rief er in das Krähengekrächze.

Petrion konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen. Dennoch war ihm klar, dass er nicht in diesem Zustand bleiben konnte. Abgesehen von den Schmerzen, die das Angeknabbertwerden verursachte, jedes Geschöpf im ganzen Land würde sich über ihn lustig machen. Petrion, der Erdbeerdrache - oder Schlimmeres.
Er brüllte schmerzerfüllt auf, als erneut seine Quastenerdbeere von den Krähen zerpickt wurde, und zog sich in das Wasser zurück. 
Unter enttäuschtem und entrüstetem Gezeter zogen die gefiederten Plagegeister schließlich ab. Doch Petrion hatte nicht vor, den Rest seines Daseins in diesem See zu verbringen. Aber ihm war bewusst, dass er sofort wieder zahlreiche Peiniger, die ihn vernaschen wollten, am Hals haben würde, sobald er nur einen Schritt auf das trockene Ufer machte.
Nur seine Schnauzenspitze schaut aus dem Wasser, als er angestrengt nachdachte. Es war offensichtlich, was passiert war. Seine Vorliebe für Erdbeeren hatte ihn in diese missliche Lage gebracht. Wahrscheinlich hatte dieser Zauberer, dem das prachtvolle Erdbeerfeld gehörte, die Früchte irgendwie verflucht. Was läge also näher, als diesen Zauberer aufzusuchen und ihn zu bitten - nein, zu zwingen, schließlich war Petrion ein prachtvoller Drache - diesen Fluch von ihm zu nehmen. Doch Petrion verwarf diese Idee sofort wieder. In dieser Erdbeerdrachengestalt würde er kaum den Magier beeindrucken, geschweige denn einschüchtern können. Aber um Hilfe zu bitten, kam ebenfalls nicht in Frage. Dazu war der Drache zu stolz.
Es musste eine andere Möglichkeit geben. Und was noch viel wichtiger war, seine geliebte Orolyth durfte ihn unter gar keinen Umständen in dieser lächerlichen Gestalt sehen.
Doch wie es der Zufall so wollte, vernahm er just in diesem Augenblick die kraftvoll tönende Stimme seiner Gefährtin.
"Petrion! Wo steckst Du denn? Ich warte schon seit Stunden auf Dich. Petrion? Bist Du am Ende wieder auf der Suche nach Erdbeeren? Du nichtsnutziger, verfressener..."
"Ich bin hier, hier im See", rief Petrion Orolyth zu, als er sie hoch über ihm im Himmel kreisen sah.
"Im See? Um diese Zeit?"

Orolyth faltete nach ihrer Landung ordentlich ihre Flügel zusammen und setzte einen besonders strengen Blick auf, als sie an das Ufer trat.
"Bequemt sich mein Gatte jetzt endlich, sein Bad zu beenden?" fragte sie spitz.
"Ich... ich kann nicht", erwiderte Petrion zerknirscht.
"Was soll das heißen: Du kannst nicht?"
"Das heißt", klagte der geplagte Drache, "dass ich nicht aus dem Wasser kommen kann. Zumindest nicht jetzt, so lange es hell ist."
Orolyth kniff ihre Augen zusammen und setzte sich auf ihre Hinterbeine, ihren Schweif wickelte sie mit äußerster Sorgfalt um sie herum. Die Schweifspitze klopfte auf den Boden, für Petrion das sichere Anzeichen, dass seine bessere Hälfte nicht mehr sehr viel Geduld aufbringen würde.
"Was ist das nun wieder für eine Spinnerei? Hast Du nun nach Deiner übermäßigen Erdbeerlust auch noch einen Badefetisch entwickelt?"
"Nein, so kann man das nicht nennen", schüttelte Petrion den Kopf. 
Kleine Wellen plätscherten sachte an das Ufer, als er sich näher heran schob, dabei immer darauf bedacht, dass nur sein Kopf aus dem Wasser ragte.
"Mir reißt gleich der Geduldsfaden! Wenn Du nicht augenblicklich herauskommst und Dich wie ein erwachsenes, verantwortungsbewusstes Drachenmännchen benimmst, dann..."
"Schon gut!" lenkte Petrion seufzend ein und richtete sich langsam auf. "Aber bitte, erschrick nicht und vor allem, bitte keine Vorwürfe."
"Um Himmels Willen! Petrion! Wie schaust Du denn aus?"

Petrion stand da wie der sprichwörtlich begossene Pudel und bot wirklich einen erbarmungswürdigen Anblick, als das Wasser von seinem entstellten Körper tropfte. Das Grünzeug, das einst sein stolzer Schuppenschweif gewesen war, war vom Wasser aufgeweicht - nur die übergroße Erdbeere war geradezu eine Einladung und prompt hatten sich auch schon wieder die Krähen und auch andere Vögel gierig darauf gestürzt. 
Resigniert zuckte der Drache mit seinem botanischen Körperanhängsel und stöhnte gequält auf, als die Frucht erneut zerpickt wurde. Doch die Vögel blieben unbeeindruckt und erst als Orolyth drohend auf sie zusprang, erhoben sie sich zeternd. 
Der Blick der Drachin durchbohrte Petrions Herz und er ließ seinen Kopf und seine Flügel noch tiefer hängen, die Standpauke erwartend, die auch prompt begann:
"So. Offensichtlich hast Du nun ja Deinen Preis bezahlt für Deine krankhafte Erdbeersucht. Wie oft habe ich Dir gesagt..."
"Das hilft doch jetzt auch nichts mehr, geschehen ist geschehen", wagte Petrion zu unterbrechen und fragte sich zum wiederholten Male, weshalb Drachenweibchen immer mit diesem ominösen hättest Du bloß oder ich habe es Dir doch gleich gesagt anfingen, nachdem bereits ein Unheil eingetreten war - darin standen sie in Nichts den Menschen nach, die in diesem Unfug wahre Meister waren.
Orolyth knurrte verärgert ob dieser unqualifizierten Unterbrechung und fuhr fort:
"Und wie gedenkst Du nun, auf Jagd zu gehen? Wie willst Du Dich unbemerkt der Beute nähern, wenn Du künftig als fliegender Obstkorb einen lärmenden Vogelschwarm nach Dir ziehst und am Boden auch noch anderes Getier anlockst? Einen Hirschen wirst Du aber nicht anlocken, das verspreche ich Dir. Und wie willst Du dann genügend Nahrung für mich und unser Junges heranschaffen? Ich werde bald gar nicht mehr jagen können, wenn der Zeitpunkt gekommen ist."
Wie zur Bestätigung ihrer Worte knabberten nun einige Ratten an Petrions Schwanzspitze und die Krähen, zusammen mit ein paar Amseln und Spatzen, fühlten sich ebenfalls wieder eingeladen.
Schmerzerfüllt brüllte Petrion auf, als die scharfen Rattenzähne in ihrer Gier auch noch in andere Körperpartien schlugen,  und was noch schlimmer war: Ameisen und anderes Getier krochen über seinen erdbeerartigen Bauch. Nur mit Mühe konnte Petrion dem Drang widerstehen, ins Wasser zurückzukehren. Doch Orolyth hatte offensichtlich sein Vorhaben erraten und grollte: "Also, wie soll es nun weitergehen? Du kannst nicht den Rest Deines Lebens im Wasser verbringen."
Erneut half sie ihm dabei, die Plagegeister abzuwehren und sagte dann: "Wir kehren in Deine Höhle zurück. Und dann erzählst Du mir genau, was passiert ist. Ich frage mich, warum ich überhaupt bereit bin, Dir zu helfen. Jedes vernünftige Drachenweibchen würde sich sofort von so einem törichten, verantwortungslosen Drachenmännchen trennen. Und nun komm, worauf wartest Du? Willst Du hier etwa Wurzeln schlagen?"
Orolyths Äußerung war gar nicht so falsch gewesen: Als Petrion seinen Schweif bewegen wollte, stellte er entsetzt fest, dass tatsächlich wurzelartige Auswüchse sich mit dem Boden zu verbinden begannen. Zwar waren diese Wurzeln nur fadenartig, doch musste der Drache tatsächlich etwas Kraft aufwenden, um die ungewünschte Verbindung mit dem Boden zu lösen.
"Das kann ja heiter werden", knurrte Orolyth und stieß sich ohne ein weiteres Wort vom Erdboden ab, ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen. 
Petrion folgte ihr schließlich in einigem Abstand.  

***

Gierig riss Petrion Fleischfetzen aus der von Orolyth geschlagenen Kuh. 
Der Flug zu seiner Höhle war der reinste Spießrutenlauf gewesen - sogar in die Höhle hinein waren die Plagegeister dem Drachen gefolgt. 
Schließlich hatte Orolyth, eine äußerst praktisch denkende Drachin, über Petrion eine Art Schutzdach aus Steinen und Holz errichtet, so dass kein Tier mehr, abgesehen von Insekten, die Erdbeerquaste erreichen konnte. Von Vorne sah es so aus, als ob Petrion in der Höhle eingezwängt sei, ähnlich einer zu fetten Maus, die in ihrem eigenen Mauseloch stecken geblieben war.
Orolyth beobachtete ihren Gemahl mit zusammengekniffenen Augen.
"Du brauchst nicht glauben", stellte sie klar, "dass ich Dich nun durchfüttern werde und zusehe, wie Du hier schließlich bewegungslos immer fetter wirst, bis Du wirklich fest steckst. Ich überlasse Dir diese Beute nur deshalb, weil ich viel zu weichherzig bin. Erzähle mir nun genau, was passiert ist."
Petrion blickte auf und seufzte. Vor diesem Augenblick hatte er sich gefürchtet, denn nun musste er zugeben, dass er wider besseres Wissen zu dem Erdbeerfeld zurückgekehrt war, um erneut von den verbotenen Früchten zu naschen.

Orolyths Schweif peitschte wütend hin und her. Sie war aufgesprungen, sobald Petrion mit seinen Ausführungen an der Stelle angelangt war, als er sein Heil in der Flucht in das kühle Nass gesucht hatte.
"Und Du wagst es, Dich hier von mir füttern zu lassen und Dich im Selbstmitleid zu suhlen? Du hättest schon längst bei diesem Zauberer sein können."
"Das verstehst Du nicht!" rief Petrion verzweifelt. "Er wird mich bestrafen wollen, weil ich seine Erdbeeren gepflückt habe."
"Ja, und? Das würde Dir nur Recht geschehen. Aber nach der Bestrafung würde er vielleicht den Fluch von Dir nehmen."
"Ich kann das nicht!"
"Was kannst Du nicht? Zu ihm hingehen und ihn um Verzeihung bitten, mit dem Ziel, dass er den Fluch von Dir nimmt? Das sollte wohl in Deiner Situation nicht zu viel verlangt sein."
"Nichts da!" rief Petrion trotzig und Drachenstolz glomm in seinen Augen. 
"Ich bin ein Drache! Drachen fragen nichts und sie erbitten auch nichts. Sie nehmen sich, was sie wollen."
"Ach, wirklich?" entgegnete Orolyth spitz und zuckte verächtlich mit ihren Flügeln. 
"Schau Dich doch nur an, Du wahrlich stolzer Drache. Glaubst Du wirklich, dass irgendwer vor Dir in Deiner gegenwärtigen Verfassung Respekt hat? Denke an die Vögel, die draußen auf Dich warten."
"Trotzdem, ich werde mich niemals soweit erniedrigen, dass ich diesen Zauberer um etwas bitte. Zumal der nicht einmal ein Drache ist, sondern nur ein Pferd."
"Offensichtlich aber ein mächtiges Pferd, wenn es zu solchen Zaubereien in der Lage ist. Abgesehen davon ist das kein Pferd sondern ein Alicorn. Sag mir nicht, mein dummer Gemahl, dass Du noch nie zuvor von dem mächtigen Magier Thrinidates gehört hast."
"Und wenn schon. Ich werde nicht zu ihm hingehen. Irgendwie werde ich schon klarkommen."
Auch Petrion konnte ungeheuer stur sein.
Statt einer Antwort brachte Orolyth schnuppernd ihre Schnauzenspitze an die rote, fleischige Brust ihres Gemahls und schnurrte leise: "Doch, ich muss zugeben, so Erdbeeren duften wirklich herrlich. Allmählich kann ich Deinen Appetit auf diese Früchte verstehen."

Petrions Schmerzensgebrüll hallte ihr noch in den Ohren, als sich Orolyth in die Luft geschwungen hatte. Sie hatte herzhaft in die erdbeerartige Brust ihres Gemahles gebissen und ein Stück herausgerissen. Genau wie die Frucht an Petrions Schweif schloss sich diese Wunde sofort wieder. 
Er wird schon noch zur Vernunft kommen, dachte sie sich, als sie davonflog. Ich hoffe nur, dass er das bald tut. Denn ich liebe ihn trotz allem.

***

Der Regen prasselte unbarmherzig hernieder und Petrion tat sich, wie schon so oft in den letzten Tagen, selber leid.
Natürlich hatte seine Gemahlin Recht gehabt: Seine Erdbeergestalt war alles andere als förderlich für seinen Jagderfolg. Sobald er seine Höhle verließ, hatte er einen Krähenschwarm im Schlepptau und deren Gekrächze vertrieb jedes potentielle Beutetier in weitem Umfeld.
Sein Magen knurrte erbarmungswürdig, die Kuh, die ihm Orolyth vor gut einer Woche überlassen hatte, war seine letzte ordentliche Mahlzeit gewesen. Wurzeln und Rinde waren einfach keine adäquate Nahrung für einen Drachen - nicht einmal Erdbeeren waren in der Nähe seiner Höhle zu finden. Selbstverständlich kamen die Erdbeeren aus dem Zaubergarten des Alicorns auch nicht mehr in Frage. Unter keinen Umständen wollte er dem Magier begegnen, denn er konnte sich nicht sicher sein, welches Unheil ihn dort noch über den Fluch hinaus erwarten würde.

Plötzlich schreckte Petrion auf: Der Wind wehte ihm den durchdringenden Geruch von Schweiß, Angst und nassen Haaren an seine Nüstern. Prüfend hob der Drache seine Schnauze in die Luft und genau in diesem Augenblick vernahm er eine markante Stimme, in der ein Hauch von Unsicherheit mitschwang.
"Erdbeeren! Frische Erdbeeren!"
Petrion war wie elektrisiert. Er hatte die Stimme sofort erkannt. Sie gehörte einem fahrenden Händler, der sich selbst als Lieferant des Unmöglichen bezeichnete.
Seit wann verkauft der Lieferant des Unmöglichen so etwas Profanes wie Erdbeeren? wunderte sich Petrion und leckte sich die Lippen. Bisher hatte jener doch nur selbstgebraute, freilich nicht wirksame Zaubertränke verkauft und war das, was die Menschen als einen Quacksalber bezeichneten.
Eigentlich spielte das aber keine Rolle, dem Drachen knurrte der Magen und der schiere Gedanke an Erdbeeren ließ ihm das Wasser im Maul zusammenlaufen. Hastig durchsuchte er seine Höhle nach einigen Goldmünzen, fand diese aber nicht auf die Schnelle.
Aber das war ihm egal. Er würde den Menschen in seine Höhle führen, damit er sich selbst ein Stück aus dem wertvollen Drachenschatz aussuchen konnte - natürlich nur, wenn die Erdbeeren den hohen Qualitätsansprüchen des Drachens genügten.

"Erdbeeren, frische Erdbeeren. Erdbeeren aus dem fernen Mediterranea."
Unermüdlich rief der Mann und schwang in seiner rechten Hand eine kleine, verbeulte Glocke, während er seinen Verkaufswagen über den holprigen Waldboden schob.
Die Geschäfte liefen schlecht und normalerweise hätte er niemals diesen Weg durch den Wald genommen - schließlich gab es beunruhigende Gerüchte über einen Drachen, der hier hausen sollte und arme, wehrlose Händler zu überfallen pflegte. Aber ihm war zu Ohren gekommen, dass irgendwo in diesem Wald eine versteckte Siedlung lag, in der man Erdbeeren über alles schätzte und diese buchstäblich mit Gold aufwog. Er hatte sich auf den Verkauf von Obst umstellen müssen, da man ihn in den umliegenden Ortschaften als Scharlatan entlarvt hatte und ihn verjagte, nachdem man ihm seine sogenannten Zaubertränke abgenommen und vernichtet hatte. Frisches Obst konnte er schließlich ohne größere Probleme aus Gärten zusammenklauben.
Das Geräusch brechender Zweige ließ ihn im Glockenschwingen innehalten. Doch noch bevor er seinen Kopf in die entsprechende Richtung wenden konnte, schoss aus dem Unterholz ein gewaltiger Schatten auf ihn zu und dessen Gebrüll ließ ihn vor Schreck erstarren. Mit gewaltigem Getöse kippte der Wagen zur Seite und die Erdbeeren kullerten über den Waldboden!
"Oh ja! Erdbeeren! Heute ist mein Glückstag", vernahm der Händler und jetzt erst erkannte er den gewaltigen Drachen, der sich an den verstreuten Früchten gütlich tat.
"Hey, das sind meine Erdbeeren. Die kannst Du nicht so einfach vertilgen", rief der derart Überfallene erbost, als er seine potentiellen Tageseinnahmen im Maul des Drachens verschwinden sah. 
"Abgerechnet wird später, mein Freund", knurrte Petrion gierig schmatzend. Sein Schweif peitschte vor Aufregung und Freude hin und her. Endlich konnte er seinen Magen füllen.
"Ich habe in meiner Höhle jede Menge Goldschätze, davon kannst Du Dir später nehmen, was Du willst", fauchte er und verschwieg klugerweise, dass es sich um die Schätze seiner Gemahlin handelte. Er selbst hatte niemals etwas für Gold oder ähnlichen Tand übrig gehabt.
"Gold sagtest Du?" 
Die Augen des Menschen blitzten gierig auf. Etwas Besseres konnte ihm gar nicht passieren, schließlich galten Drachen stets als unermesslich reich.
"Ja, Gold", grunzte Petrion und verschlang gierig die restlichen Erdbeeren. Akribisch leckte er auch noch die Körbe aus.
Als der Drache seinen Hunger gestillt hatte - zum Glück hatte der Händler bisher noch keine Erdbeeren verkauft gehabt und dessen Warenlager war reich gefüllt gewesen - setzte er sich auf seine Hinterbeine und blickte zufrieden auf den Erdbeerlieferanten herab.
"Verzeih bitte, falls ich Dich erschreckt haben sollte. Aber mein Magen knurrte und Erdbeeren kann ich einfach nicht widerstehen. Doch nun folge mir in meine Höhle, damit ich Dich angemessen für Deine Früchte entschädigen kann - Autsch!"
Petrion hatte vor lauter Freude über die unverhoffte Erdbeermahlzeit die Quälgeister, die mittlerweile seine ständigen Begleiter geworden waren, vergessen. Doch nun hatten die scharfen Krähenschnäbel erneut die Quastenbeere zerpickt.

Der Händler warf einen erstaunten Blick auf Petrions Schweifspitze und jetzt erst fiel ihm auf, dass dieser so gar nicht dem entsprach, was er über diese Wesen bisher gehört hatte.
"Was ist denn mit Dir passiert? Du siehst ja schrecklich aus? Sind das meine Erdbeeren gewesen? Denn falls Du auf Erdbeeren allergisch sein solltest, kann ich Dir einen Trank geben, den ich zwar momentan nicht bei mir habe, aber wenn Du mich im Voraus bezahlst, kann ich Dir gerne einige Flaschen davon zukommen lassen."
"Nicht allergisch", seufzte der Drache. "Aber das ist eine lange und tragische Geschichte. Ich erzähle sie Dir auf dem Weg zu mir, wenn Du sie hören möchtest."
"Aber gerne doch", entgegnete der Mann. 
Zwar hatte er noch keine konkrete Vorstellung, aber die Geschichte eines Erdbeerdrachens, oder was auch immer dieses Geschöpf war, würde sich mit Sicherheit auf irgendeine Weise als profitabel erweisen.

"... und schließlich habe ich Deinen Ruf gehört", schloss der Drache seine Erzählung, gerade als sie die Drachenhöhle erreicht hatten. "Und da sind wir schon. Suche Dir aus, mein Freund, was immer Dir gefällt."
Das ließ sich der verschlagene Händler nicht zweimal sagen und schon nach kurzer Zeit kehrte er mit einem wunderschönen goldenen, über und über mit funkelnden Edelsteinen besetzten Pokal zurück.
"Darf ich den hier haben?" fragte der Händler mit unterwürfigem Blick.
"Den?" Petrion kniff die Augen zusammen. "Das ist das Hochzeitsgeschenk von Orolyths Vater. Und außerdem, ist dieser Pokal nicht etwas zu groß und schwer für Dich? Deine edle, zierliche Gestalt erweckt nicht den Anschein, im Umgang mit so großen Dingen geübt zu sein. Erlaube mir, Dir einen kleineren, jedoch nicht minder wertvollen Kelch zu geben."
"Nein, nein, ich bin durchaus in der Lage, diese Bürde zu tragen, noch dazu, wenn es sich um ein Stück von solch ausgesuchter Schönheit handelt."
Petrion nickte stumm und seufzte: "Nun denn, wie Du willst."
Ausgerechnet dieser Pokal. Wie sollte er das nur seiner Gemahlin erklären. Andererseits, er hatte dem Mann ja angeboten, dass sich dieser nehmen könne, was er wollte. Und die Ehre eines Drachens verbot es, sein Wort zu brechen.  

Zufrieden und schwer beladen machte sich der Händler auf den Weg zurück zu seinem Wagen. Er stöhnte und ächzte unter der Last seiner Entlohnung, schließlich war der Pokal beinahe so groß wie er selbst, und schon bald trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Niemals aber hätte er vor dem Drachen zugeben können, dass dieser Pokal zu schwer und zu groß für ihn war. Menschliche Gier war zuweilen unermesslich. 
Schon bald stolperte er durch den Wald und verfluchte seine eigene Maßlosigkeit. Seine Arme und sein Rücken schmerzten und bis zu seinem Wagen war es noch weit. Er wunderte sich, dass der Drachen ihn aus so großer Entfernung überhaupt hatte hören können.
Als seine Beine nachgaben und er der Länge nach auf den matschigen Waldboden hinschlug, beschloss er, den Pokal irgendwo zu verstecken und den Wagen herzuholen.

***

"Ah, endlich hört der Regen auf!" rief der fahrende Sänger erfreut und packte seine Fiedel aus seinem Rucksack aus. 
Schon seit Tagen versuchte er, für eine neue Ballade eine Inspiration zu finden und so wie die Sonnenstrahlen durch das nasse Blätterdach der Bäume brachen, dachte er, würde ihm schon bald das Schicksal eine passende Idee bescheren. Eine Melodie hatte er bereits vor Tagen gefunden, allein der Text fehlte ihm.
Er spielte gerade die Anfangsakkorde auf seinem Instrument, als sein Blick auf einen umgestürzten, verwaisten Verkaufswagen fiel. Der weiche Waldboden war von Spuren durchfurcht. Offensichtlich hatte ein schwerer Kampf stattgefunden.
Der Barde legte seinen Rucksack und seine Fiedel ab und blickte sich ängstlich um.
"Hallo? Ist da wer?" fragte er und blickte sich um.
War da nicht ein leises Wimmern und Stöhnen aus dem Unterholz zu hören? Es klang beinahe wie Mist, der verdammte Drache hatte Recht gehabt. Er ist wirklich viel zu groß für mich. Aber ich musste ihn unbedingt haben. Das hab ich nun davon.

Der Barde war aufs Höchste erstaunt, als im nächsten Augenblick eine völlig verstörte und ermattete Gestalt mit zerrissenem und besudeltem Gewand vor ihm stand.
"Was ist denn mit Dir passiert, mein Freund? Ist das Dein Wagen dort? Bist Du von Banditen überfallen worden?" fragte er besorgt und blickte sich ängstlich um, ob nicht vielleicht hinter dem nächsten Busch eine Horde wilder Räuber hervorspringen würde.
"Nein, nein, keine Räuber", keuchte der Mann. "Es war ein Drache. Er..."
Doch hier verstummte der Händler, denn er wollte auf keinen Fall jemandem etwas von dem prachtvollen Pokal, den er von dem Drachen bekommen hatte, erzählen.  
Er überlegte kurz und fuhr fort.
"Es war ganz furchtbar. Wie eine Furie ist dieser Drache über mich hergefallen und er hat mir alles geraubt, was mit Wichtig gewesen ist. Er hat all meine Habe genommen, obwohl ich mich nach Leibeskräften gewehrt hatte. Ich habe um mich geschlagen, nach ihm geschnappt, laut um Hilfe gerufen, doch er war so viel größer als ich, so dass er mich schließlich hochgehoben und in seine Höhle verschleppt hatte. Nur durch eine List konnte ich ihm entkommen. Wer weiß, was er mir sonst noch angetan hätte!"
"Ein Drache sagst Du?" fragte der Barde erstaunt. 
Es war das erste Mal, dass ihm eine solche Geschichte zu Ohren gekommen war. Schließlich galten Drachen als ehrenwerte und überaus friedfertige Geschöpfe, die nur im Falle eines Angriffs zu solchen Zornausbrüchen neigten.
"Wie sah er denn aus?" 
In Anselmos Kopf nahm eine bestimmte Idee immer mehr Gestalt an: War das Ganze nicht ein wundervolles Thema für eine Ballade, eine Moritat?
"Wie er aussah? Ein wahrer Alptraum. Eine Chimäre. Und doch, würde man ihn sehen, würde man nicht glauben wollen, um welche Bestie es sich handelt."
"Inwiefern?"
"Nun, er war zwar ein stattlicher Drache, doch hatte ihn wohl ein Zauberer verwünscht, so genau weiß ich das auch nicht, woher sollte ich auch, aber dieser Drache sah irgendwie aus wie eine zu groß geratene Erdbeere. Zumindest hatte er eine Art Schwanzquaste, die wie eine Erdbeere aussah."
"Wie eine Erdbeere?" In dem Barden keimte ein Verdacht auf.
"War der Drache vielleicht silberfarben, wobei Bauch und Brust etwas heller waren?"
"Silberfarben war er wohl, aber seine Brustpanzerung, wenn es denn eine war, leuchtete rot und erinnerte ebenfalls an eine Erdbeere. Geduftet hat er verführerisch, das gebe ich zu, aber ansonsten war es eine mordlüsterne Bestie, wie sie nur aus den tiefsten Höllengründen entsprungen sein konnte. Ein wahrer Alptraum, der mich mein Leben lang verfolgen wird. Nie wieder werde ich den Anblick von Erdbeeren ertragen können ohne an die schrecklichsten Momente meines Lebens in den Klauen dieser Bestie denken zu müssen. Es war einfach furchtbar. Ich kann gar nicht sagen, was er mit mir..."
Hier sank der Händler schluchzend in die starken Arme des Barden, der ihn geistesgegenwärtig auffing.
"Nun beruhig Dich erst einmal. Ich werde Dich in das nächste Dorf bringen, wo Dir sicherlich ein Heiler helfen kann, das schreckliche Geschehen zu verarbeiten. Mein Gott, was musst Du gelitten haben."
Besorgt schüttelte der Barde seinen Kopf, doch eigentlich hatte er einen Grund zum Jubeln: Das Schicksal hatte ihm in der Tat eine Inspiration beschert, nämlich in Form dieses Unglücksraben. 
Anselmo hatte bereits einen Titel für diese Moritat: Der Erdbeerdrache.
Freilich musste er nun dieser Geschichte genauer auf den Grund gehen, denn seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, fahrenden Händlern nicht so ohne Weiteres Glauben zu schenken, neigten sie doch alle zu Übertreibungen und farbenprächtigen Ausschmückungen.
Er war sich sicher, dass es sich bei diesem Drachen um jenen gehandelt hatte, er ihn vor einiger Zeit nach dem Gekröse befragte, doch auch wenn der Drache geradezu versessen auf Erdbeeren gewesen war, so strahlte er doch jene drachentypische Würde aus, die die geschilderte Untat beinahe unmöglich erscheinen ließ. Aber wieso sollte dieser Drache nun wie eine Erdbeere aussehen?
"Und Du meinst, der Drache sei von einem Zauberer verhext worden, mein Freund?" fragte der Barde mit zunehmendem Enthusiasmus. 
"Ich glaube schon, denn wie sonst sollte ein Drache wie eine Erdbeere aussehen? Das wäre ja absurd. Sehe ich so aus, als ob ich mir so etwas ausdenken könnte? Und um auf Deine Frage von eben zurück zu kommen. Bitte lass mich hier nur ein wenig ausruhen. Ich denke, ich komme dann auch alleine zurecht. Ich muss nur das schreckliche Ereignis noch ein wenig verdauen. Wenn Du vielleicht etwas zu trinken für mich hättest?"

Als sich der Barde zum wiederholten Male vergewissert hatte, dass der Händler wirklich keiner Hilfe bedurfte, verließ er ihn eiligen Schrittes. 
Ihm war nur ein einziger Magier bekannt, der einen solch kraftvollen Zauber wirken konnte, und den würde er nun aufsuchen. Vielleicht würde ihm dieser erzählen, was es mit diesem Erdbeerdrachen auf sich hatte.
 

© Peter Lässig
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Und hier geht es weiter zum 2. Teil von "Der Erdbeerdrache"!

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