Ewiges Feuer vom Moordrachen

Wieder marschiere ich in meinen schweren Stiefeln den endlos erscheinenden kargen Hang hinauf. Achtlos trete ich einen Stein aus dem Weg, löse damit eine kleine Lawine aus, die knapp acht Schritte hinter mir zur Ruhe kommt, folge ansonsten aber stur meiner Bestimmung. Meiner Bestimmung? Oder doch viel mehr meinem Schicksal? … Oder ist das ein und das selbe?

Ich blicke zum Himmel auf. Die Sonne steht sehr hoch, bringt erbarmungslos jeden meiner Schweißtropfen zum Kochen, brennt die Erde unter mir zu granitenem Fels und dörrt meine Kehle aus. Doch an trinken darf ich jetzt nicht denken - es gibt bei weitem wichtigeres. Wenn wenigstens mal eine Wolke die Sonne für ein paar Minuten verdunkeln und etwas Schatten spenden würde…!

Da! Überm Horizont vor mir seh' ich schon die ersten Schwaden; ich komme meinem Ziel näher. Die verkrüppelte, braune Kiefer lasse ich links liegen, gehe langsam in den gelben Nebel hinein. Noch ist er so dünn, daß ich mich schnell an ihn gewöhne, und seinen bestialischen Gestank nehme ich kurz darauf schon nicht mehr wahr. Wie jedesmal.

Nun erreiche ich die Kuppe und bleibe stehen.

Die flache Senke vor mir zeigt genau das gleiche trostlose Bild wie der Hang, den ich soeben erklommen habe. Rechts, dem fernen, ausladenden Tal entgegen, kann ich ein paar vereinzelte Kiefern und Tannen erkennen, links dagegen nur nackten Fels, nur gelegentlich von etwas Gras oder Moos aufgelockert.
Und vor mir erhebt sich mein großes Ziel: schroffe, schwarze Felsen, mit allerlei grauem Geröll bedeckt, recken sich dem in gelbe und dunkle Schwaden gehüllten Vulkankrater entgegen. Unendlich viele kleine Spalten, Risse und kaum wahrnehmbare Löcher sind die Quellen des Schwefeldampfes, der warme, rußige Qualm entweicht direkt aus dem Krater, der Wind drückt ihn größtenteils wieder zu Boden.

Noch einmal prüfe ich den optimalen Sitz meines Schwertes in der Scheide an meiner Linken - alles klar; es kann losgehen!
Allmählich wird der Nebel dichter; ich sehe kaum noch zehn Schritte weit, um mich herum nur vorüberziehende gelbgraue Fetzen, die mir den Atem rauben. Doch ich kenne ja den Weg.
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Nun ist etwa eine halbe Stunde vergangen, und ich erreiche gerade den Kraterrand. Vorsichtig nähere ich mich Zoll um Zoll dem Abgrund, passe auf, nicht auf einen der zahlreichen, von Schwefel überzogenen, glatten Steine zu treten - weshalb eigentlich? Kann mir jetzt überhaupt noch etwas passieren?
Ich wage mich weit vor, um einen gefährlichen Blick in die Tiefe des finsteren, rauchenden Schlundes zu riskieren. Irgendwo weit unten brodelt das flüssige Innere der Erde, explodiert von Zeit zu Zeit mit lautem, allmählich verhallendem Getöse eine giftige Gasblase in der heißen Magma, kämpfen scheinbar die Elemente der Natur verbittert um ihre Vorherrschaft. Die Anwesenheit eines Menschen ist hier schlicht fehl am Platz, wird wohl auch für immer unerwünscht bleiben.
Aber ich muß meinen Auftrag erfüllen…

Lange starre ich in die rotglühende Mitte der Hölle unter mir.
Plötzlich höre ich neben dem Brodeln in der Tiefe noch ein weiteres Geräusch. Zunächst nur leise, weit entfernt, dann jedoch langsam lauter werdend und eindeutig von vorne rechts.
Ich greife zu meinem Schwert, während ich mit den Augen wachsam nach dem Verursacher des Geräusches suche, das sich mehr und mehr nach einem rasselnden und brummenden Atmen anhört, und ziehe es mit einer in jahrzehntelangen Übungen vollkommen perfektionierten Bewegung nahezu lautlos aus seiner Scheide. Selbst in dem dicken Rauch des Vulkans schimmert es silbern und nachtblau. Vorsichtig schleiche ich halb geduckt am Rand des Abgrunds entlang auf den ›Schnaufer‹ zu - ein anderer Name war mir in all den Jahren, seit ich diese eigenwillige Spielart des Lebens kenne, nie eingefallen. Oder zumindest hat sich dieser tief in mein Denken eingebrannt, im Gegensatz zu den anderen Worten, die ich für diese Kreaturen vielleicht einmal gefunden und genauso oft auch wieder vergessen habe.

Meine Augen schmerzen wegen des Rauchs und der heißen Gase, ich muß viel zu oft blinzeln, kann mich kaum auf meine Umwelt konzentrieren. Ich schaue angestrengt abwechselnd nach rechts und links, obwohl links ja der Krater lauert; von dort kann mich kein ›Schnaufer‹ anfallen. Es sei denn, sie können neuerdings fliegen. Aber das glaube ich nicht… Langsam gehe ich weiter.

Beinahe hätte ich es nicht bemerkt: ein kleiner, rund geschliffener Stein kommt ganz langsam ins Rutschen. Das alleine wäre noch nicht sonderlich bemerkenswert, jedoch befindet der sich genau unter meinem in diesem Augenblick belasteten Fuß! Schnell verlagere ich mein Gewicht auf den Rechten, doch zu spät… ich rutsche nun ebenfalls - und zwar dem Inneren des Kraters entgegen. Zwei, drei, vier, fünf Steine und Ascheklumpen machen sich unter meinem Stiefel selbständig, fallen schließlich ihrem feurigen Ende entgegen, ziehen weiteres Geröll mit sich… und mein Bein. Ohne nachzudenken werfe ich mich mit einem Ruck nach rechts, schleudere dabei beide Arme nach vorne und klammere mich am oberen Rand des Kraters fest. Zahlreiche Steinbrocken lösen unter mir eine heftige Lawine aus, poltern ins Erdinnere, tauchen zischend und donnernd in die brodelnden Massen unter – bis der Lärm sich legt und dem relativ monotonen Brodeln und Blubbern Platz macht.

Meine Arme schmerzen, jucken und brennen auf der heißen Asche. Ich sammle meine Kräfte, atme zweimal tief durch, und unter größter Anstrengung ziehe ich mich endlich zum rettenden Kraterrand empor. Zunächst bleibe ich atemlos auf allen Vieren knien, schaue erst jetzt zur kochenden Magma hinunter. Was wäre passiert, wenn ich nicht so schnell reagiert hätte? Was, wenn ich mich einfach hätte fallen lassen? Was wäre dann aus meiner Mission geworden? Wer stünde dann bald an meiner Stelle? Oder wäre diese Lösung schlicht zu einfach, um durchgeführt zu werden? Hätte mein Schicksal das überhaupt zugelassen…?

Mit einem Mal sehe ich es vor mir! Nur eine Handvoll Schritte weg. Das feurig glühende Augenpaar meines Gegners, fast so, als schwebe es in der Luft, von unsichtbaren Fäden gehalten mitten im Rauch und Nebel.
In diesem Moment zieht eine dicke Schwefelwolke zwischen uns durch, so daß seine Augen für eine oder zwei Sekunden pechschwarz aussehen, um gleich darauf erneut bedrohlich rot zu flackern. Nun hat auch er mich gesehen. Ganz gelassen richte ich mich auf, umfasse das Heft meines Schwertes fester und gehe langsam auf ihn zu.

Mit jedem Schritt, dem ich mich ihm nähere, dünnt der düstere Rauch zwischen uns und um ihn herum mehr und mehr aus, so daß nun seine Konturen sichtbar werden. Sein kantiger, nackter und schiefergrauer Kopf ist etwa genauso groß wie meiner, doch sitzt er auf einem deutlich kräftigeren und muskulöseren Rumpf, der ebenfalls weitgehend haarlos und mit zerfurchter Haut bedeckt ist, neben dem zwei starke, überlange Arme nur scheinbar schlaff von der Schulter herabhängen. Die Beine bilden ein leichtes ›O‹, sind aber erfahrungsgemäß bei weitem stabiler gebaut, als sie aussehen. Er atmet in schnellem Rhythmus laut und sichtbar tief ein und aus. Insgesamt bietet der ›Schnaufer‹ ein eher schroffes, felsiges Bild. Sein linker Arm endet in einer dicken Steinkeule, fest umklammert von fünf knochigen Fingern.
Noch läßt er sie vermeintlich leichtfertig auf dem Erdboden schleifen, aber ich lasse mich von seinem Verhalten nicht einschläfern, sammle all meine Konzentration und richte sie auf seine Augen, während ich mein Schwert langsam kampfbereit etwas nach oben bewege. Wie in den vergangenen Jahrzehnten bei jedem seiner Artgenossen, werden seine Augen in einer ganz bestimmten, charakteristischen Art aufflackern, unmittelbar bevor er seinen Arm zum ersten Mal bewegen wird, um mir den Schädel zu zertrümmern. Aber ein unerfahrener Kämpfer, selbst wenn man es ihm vorher sagen würde, könnte dieses schwache Glimmen wahrscheinlich leicht übersehen, fände innerhalb weniger Augenblicke den Tod.

Angespannt, fast ein wenig zu unruhig warte ich auf dieses Zeichen, das unseren Kampf eröffnen wird. Ich darf ihn nicht als erstes angreifen, so will es meine Vorsehung - oder wie das auch immer zu nennen sein mag. Was würde geschehen, wenn ich den ersten Schlag ausführte? So, wie ich die Götter einschätze, vermutlich nichts… es wäre schlicht nicht möglich… Warum habe ich das nie ausprobiert?

Da war es!! - Das Flackern in den Augen!

Blitzartig schießt das Schwert beinahe wie von selbst meinem Gegner entgegen, dessen Keule sich bereits auf dem direkten Weg zu meinem Knie befindet, ohne sich mit dem Umweg des Ausholens aufzuhalten. Ich springe ein wenig zur Seite und gleichzeitig etwas näher an ihn heran. Seine Keule zertrümmert irgendwo hinter meinem Rücken lautlos die Luft – ohne jede Gefahr für mich. Mein Schwert dagegen zieht sich selbst und meinen Arm der Brust des ›Schnaufers‹ entgegen, aber er weicht mir fast ebenso geschickt aus, wie ich ihm. Wie üblich muß ich eigentlich nur für meine Füße denken, nicht aber für meine Arme und Hände, das erledigt das Schwert für mich. Es strotzt nur so von intelligenter Kampfkraft, die Magie durchströmt meinen ganzen Körper, zahllose, beinahe unsichtbare, winzige Funken sprühen überall um mich herum in die Luft - vielleicht kann auch nur ich sie sehen, wer weiß… -, reichern alle meine Muskeln, Sehnen, Nerven mit unerschöpflich erscheinender Energie an.

Ein weiterer Ausfallschritt bringt mich meinem Gegner näher, jedoch auch seiner Waffe, die mich jetzt gerade nur um Haaresbreite verfehlt, und dem heißen, ätzenden Atem, der seinem Maul entströmt und mich ebenfalls erwischt, mich für einen Moment betäubt, mir womöglich sogar ein paar Augenbrauenhaare versengt. Trotzdem steche ich unbeirrt zu, treffe ihn sogar, doch bleibt nur eine harmlose, kaum wahrnehmbare Wunde zurück; er zuckt nicht einmal vor Schmerz zusammen, sondern grinst mich statt dessen frech an und entblößt dabei seine widerlich gelben, scharfen Zähne. Gleichzeitig holt er lässig mit seiner Keule aus, der ich aber mühelos ausweiche, indem ich einfach mit zwei kräftigen Sätzen um ihn herum springe.
Mein Schwert sticht erneut zu, gleich darauf nochmals. Diesmal in einer Geschwindigkeit, daß ihm selbst meine eigenen Augen nur mühsam zu folgen imstande sind, so als habe es bei dem kleinen Kratzer, den er ihm zufügen konnte, regelrecht Blut geleckt. Dieses Phänomen überrascht mich mittlerweile nicht mehr, es wiederholt sich bei jedem einzelnen Kampf aufs neue.
Ein letzter heißer Atemhauch strömt mir aus dem weit aufgesperrten Maul entgegen, tonlos scheint der ›Schnaufer‹ schmerzerfüllt aufzuschreien, läßt seine Keule fallen, kippt langsam nach hinten um und stürzt in den Krater, auf dessen Rand wir zuletzt gekämpft hatten, verschwindet einfach aus meinem Blickfeld, als habe er nie existiert.

Ich gehe ein, zwei Schritte weit auf den Kraterrand zu und schaue vorsichtig hinab. Von meinem Gegner kann ich schon nichts mehr sehen, ein wenig mehr schwarzer Rauch über der Stelle der Magma, wo er vermutlich aufgeschlagen und gleichzeitige eingesunken und verbrannt ist.

Ich empfinde keinerlei Freude über den Sieg, fühle eher Langeweile in mir aufsteigen. Vielleicht wegen der unzählig vielen Kämpfe, die ich schon bestreiten mußte. Und stets fiel mein Gegner in den Krater, mal früher, mal später, aber immer in den Krater. Kurios! Oder Schicksal?

Ich betrachte mein Schwert, das noch einmal hell aufstrahlt, als trüge es eine eigene kleine Sonne in sich, um sogleich zu verblassen und einfach nur noch nachtblau zu glänzen; es begibt sich zur Ruhe. Bis zum nächsten Kampf. Wie immer ist nicht der kleinste Blutfleck auf der Klinge zu sehen. Überhaupt habe ich diese ›Schnaufer‹ noch gar nie bluten gesehen… ob sie überhaupt Blut brauchen zum Leben? Oder macht das einfach nur die besondere Magie meiner Waffe?

Ich lasse sie langsam in ihre Scheide zurückgleiten.
Ohne mich nochmals umzusehen, marschiere ich weiter. Vom Feuerberg fort … wieder runter von ihm … auf die andere Seite.

Allmählich wird der schwefelige Nebel wieder etwas dünner, das Atmen fällt mir bereits etwas leichter.

Schon bald erreiche ich den Fuß des Vulkans und gehe zügig weiter, folge dem nur für mich sichtbaren Pfad über das Geröllfeld. Die erbarmungslose Sonne steht hoch am Himmel, dörrt meine Kehle aus.

»Ich werde dir deinen Wunsch erfüllen«, hatte er damals gesagt, »aber nur unter einer Bedingung« … und gab mir sogar noch dieses wunderbare Schwert dazu. - Oh, hätte ich nur nie zu diesem Gott gesprochen! - Ich hätte ahnen müssen, daß die Sache einen Haken hat. -  Blöde Mistviecher! Wie lange ist das jetzt her? Fünf- oder siebenhundert Jahre? Ich hab' kein rechtes Zeitgefühl mehr…
Ob ich jemals das Glück haben werde, doch noch sterben zu dürfen? Jetzt wünsche ich mir nichts sehnlichster als das. Verdammte Unsterblichkeit!! Warum mußte ich mir auch sowas wünschen?
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Wieder marschiere ich in meinen schweren Stiefeln den endlos erscheinenden kargen Hang hinauf. Achtlos trete ich einen Stein aus dem Weg …

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