Drachenkind von Soleil
2: Schatten der Vergangenheit

Yaa atmete ein, zwei Mal tief ein und schlug die Augen auf. Im ersten Moment wusste sie nicht so recht, wo sie war, doch es dauerte nicht lange, ehe sie es begriff. 
Der Raum mochte dunkel sein, nur erhellt durch ein kaum mehr brennendes Feuer, aber sie hatte so unendlich viele Jahre hier verbracht, Freud und Leid mit den gemauerten Wänden und den hölzernen Dielen geteilt, dass sie nicht einen Moment zögerte, daran zu glauben, dass sie noch einmal erwacht war.
Eine Decke fiel auf den Boden, als sie sich aufsetzte. Das liebevolle aber auch wehmütige Lächeln in ihrem Gesicht war echt, als sie an Eryth dachte. Der Anfang war gemacht, es ließ sich jetzt nicht mehr aufhalten.
Das Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie sich nach vorn beugte, um aufzustehen. Mit schlurfenden Schritten - den besten, die sie zuwege brachte - ging sie hinüber zum Kamin und legte leise stöhnend Holz in die glimmende Glut. Augenblicklich wurde es heller.
In anderen Nächten warf der Mond seine silbernen Strahlen durch die beiden Fenster, zauberte winzige Lichtlein in versteckte Ecken und schwebte selbst in feinem Gesang einer unendlichen Melodie zur Erde. Aber heute hielt er sich lieber bedeckt. Und obwohl jederman wusste, dass er an seinem angestammten Platz schweben musste, tat die Leere am Himmel weh.
Denn diese Nacht war Schattennacht.
Sich am Kamin abstützend, sah sie hinüber zu dem kleinen Tisch, auf dem das Waschgeschirr stand. Seit es mit dem Rücken nicht mehr so gut ging, hatte ihr Eryth alles wichtige nach unten geholt.
Sie fuhr sich mit dem linken Zeigefinger über das Gesicht und verzog abfällig den Mund. Zeit ihres Lebens hatte sie immer penibel auf Sauberkeit geachtet und seit sie Heilerin war sowieso.
Schlurfend und geknickt ging sie hinüber und goss Wasser in die Schüssel. Bevor sie sich jedoch wusch, schaute sie zurück zu den Leinen an denen die Kräuter trocknen sollten. Wie lange war es her, seit sie sich hatte vorsehen müssen, um nicht daran zu stoßen? Andererseits hatte Eryth sie gespannt und das Mädchen war entschieden zu groß für sein Alter.
Das Wasser färbte sich schnell dunkel und Yaa schüttelte den Kopf. Als sie nun noch ihr Haar wieder so herrichtete, wie es sich gehörte, fühlte sie sich bedeutend besser. Ein wohliges Seufzen entfuhr, als sie in den kleinen Spiegel sah.
Dann runzelte sie die Stirn und betrachtete das Spiegelbild des Raumes. Es war alles so wie es sein sollte, soweit sie das in diesen Lichtverhältnissen erkennen konnte und doch empfand sie das Bild als störend.
Es war der Stuhl. Er hatte vor dem Bett gestanden, dessen war sie sich ganz sicher. Aber nun liebäugelte er mit dem Feuer, so dicht war er an den Kamin gerückt worden. Abrupt drehte Yaa sich um und glaubte endlose Wimpernschläge lang nicht was sie sah.
"Wamek!"
Eine Hand an ihr Herz, die andere an den Tisch gepresst, kämpfte sie kurz mit einer tiefen Ohnmacht. Das konnte unmöglich wahr sein!
"Mhm", war die lapidare Antwort.
Der Mann, aus dessen Mund die rauen Töne drangen, saß nach vorn gebeugt mit krummen Rücken auf dem Stuhl. Seine großen ungepflegten Hände hatte er mit der Innenseite dem Feuer zugewandt und die Ellenbogen auf den Knien abgestützt. Der Anblick war absurd, denn er konnte die Wärme auf keinen Fall spüren.
Yaas Herz setzte kurz aus und stolperte dann mehr seinen steinigen Weg entlang, als dass es lief. Als sie sich dann aber erinnerte, was für eine Nacht diese Nacht war, beruhigte sich ihr Körper langsam.
"Wamek", wiederholte sie freundlicher.
Sein Blick richtete sich auf sie und das Grün seiner Augen stach noch immer wie Nadeln in ihren Kopf. Aber sein Gesicht hatte sich so gut wie gar nicht verändert, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Beinahe siebzig Jahre mussten es nun sein.
"Warum bist du gekommen?" fragte sie fest und weiterhin freundlich, aber ohne große Wärme in der Stimme.
"Das fragst du mich? Du hast mich doch gerufen."
Wie hatte er sie damals nur mit der Macht des Klanges seiner Stimme herumgescheucht. Erstaunt stellte sie fest, dass all die alten Gefühle - all die alten Ängste - längst verschwunden waren. Aber sie hatten auch nichts Neuem Platz gemacht.
Ihr Geist reagierte auf seine Worte mit fernen Erinnerungen. Sie hatte ihn nur geheiratet - und das obwohl sie damals so jung gewesen war -, weil ihre Großmutter es von ihrem Totenbett aus so gewünscht hatte. Und sie war sicher keine Frau gewesen, der man einen Wunsch so leicht ausschlug. Selbst in ihrer Krankheit hatte sie die gleiche majestätische Würde an den Tag gelegt, die sie Zeit ihres Lebens begleitet hatte. Nur ein einziges Mal war sie anders gewesen. Damals hatte sie Yaa prophezeit, dass auch in ihrem Leben einmal die Zeit kommen würde, an der sie den Wunsch verspüren musste, mit allem und jedem abzuschließen.
Vielleicht war diese Zeit nun gekommen, da ihre letzte Aufgabe in diesem Leben so kurz vor dem Ende stand.
"Du bist furchtbar alt geworden", sagte er unvermittelt. Dann lachte er kurz.
"Hätt ich dir gar nicht zugetraut."
Yaa lächelte leicht. Nein, er hatte sich wirklich nicht verändert. Dabei hieß es, im Tod käme die Erkenntnis des wahren Glaubens, der vom Bösen nicht berührt werden konnte. Offenbar handelte es sich dabei um einen Irrtum.
"Wirst du lange bleiben?" fragte sie mit klangloser Stimme.
Er stand auf und sie sah, wie sich seine Muskeln dabei bewegten. Was hatte sie damals nur Angst davor gehabt, hatte sie doch gewusst, nach welcher Melodie sie tanzen wollten.
"Du willst, dass ich schon wieder gehe? Wo ich doch gerade erst gekommen bin?"
Sein Ton sagte ihr, dass er spielen wollte, aber so, wie er das Feuer nicht hatte spüren können, so sicher konnte er ihr auch nichts anhaben.
Er verursachte keine Geräusche, als er kraftvoll, aber bedacht auf sie zuschritt. Kein Poltern seiner Stiefel bei den letzten drei Schritten. Kein Rascheln seiner Kleidung bei den letzten Zweien. Und kein Ein und Aus seines Atems, als er direkt vor ihr stand.
"Soll das etwa heißen, du hast mich nicht vermisst?"
Früher, in diesem scheinbar anderen Leben, das sie geführt hatte, war der Geruch seines Mundes abscheulich gewesen. Jetzt hob er seine rechte Hand und formte mit Zeigefinger und Daumen einen kleinen Kreis.
"Nicht mal ein bisschen?"
Sein Mund lächelte, doch aus seinen Augen blitzte ihr der alte Hass entgegen, mit dem er durch sein ganzes Leben gegangen war. Hätte sie ihn jemals danach gefragt, er hätte ihr nicht sagen können, wem dieses Gefühl galt. Oder warum.
Und noch etwas sprach aus seinen Augen. Etwas wie Gier. Aber er konnte ihr nichts anhaben. Niemals mehr.
"Nein, das hat sie nicht!"
Der Tisch begann zu zittern, als Yaa Halt an ihm suchte und das Geschirr beschwerte sich leise klappernd darüber.
"Kian", flüsterte sie.
Das wenige Licht, das das Feuer aussandte, vermischte sich stark mit den dunklen Schatten, und schwarze Flecken nahmen ihr die Sicht. Für ein paar Augenblicke schwankte sie zwischen beiden Extremen, Licht und Dunkelheit lösten sich rasend schnell ab. Ebenso wie Leben und Tod.
Das Klirren und Scheppern nahm kurz an Lautstärke zu und verebbte dann abrupt, als sie sich erst an den Tisch klammerte und ihn dann urplötzlich losließ. Aber sie kam keinen Schritt weit, was teilweise an ihrer Entkräftung und teilweise an ihrem ersten Ehemann lag.
Wamek wich nicht zurück, drehte sich aber dem zweiten Mann im Raum entgegen um ihn zu mustern. Es war nicht klar zu erkennen, zu welchem Schluss er gekommen war.
Sie standen beide einfach nur da und sahen sich an. Helle grüne Augen, boshaft und überlegen und dunkle blaue Augen, wissend und stolz.
Yaa hatte für nichts davon einen Blick. Sie sah nur die schlanke Gestalt, die eben eingetreten zu sein schien. Sie wusste es besser, war doch die Tür nicht geöffnet worden und lag doch auch dieser Mann seit Jahrzehnten unter der Erde.
Er trug die gleiche Kleidung, die sie ihm so sorgfältig ausgewählt hatte, als sein letzter Tag im Sonnenlicht gekommen war. Sie wirkte wie gerade angelegt und Yaa lächelte, als sie sich erinnerte, wie unruhig er gewesen war, als sie das Hemd genäht hatte. Das Nichtstun war nie seine Stärke gewesen und stillzustehen, während sie Maß nahm, hatte ihn schier zur Verzweiflung gebracht. Natürlich hatte er immer geglaubt, sie merke nichts davon, wollte er ihr doch damit nur einen Gefallen tun. Aber er hatte nie etwas vor ihr verbergen können. Manchmal hatte sie sogar geglaubt, ihn besser zu kennen, als sich selbst.
Sie musterte ihn von oben bis unten, glaubte sie doch nicht, sich jemals an diesem Anblick satt sehen zu können. Sie betete insgeheim seit Jahren, nach ihrem letzten Tag mit ihm vereint sein zu können, aber falls es anders kommen sollte, sollte er für immer in ihrem Herzen wohnen.
Diese Gedanken gaben ihr Kraft und sie schob Wamek mit dem rechten Arm beiseite. Er sah sie erst ungläubig an und packte sie dann fest an den Schultern.
"Tu es nicht!" sagte er in seinem altbekannten Befehlston. Wäre sie nicht so in Kians Anblick vertieft gewesen, hätte sie die Spur Verzweiflung aus ihm herausgehört.
Kians Augen glitzerten im Schein des Feuers.
Der Ausdruck seines Gesichtes verriet ihr, dass er die junge Frau sah, die er geheiratet hatte und nicht die Alte, die vor ihm stand.
Langsam hob sie ihre Hände und befreite sich aus Wameks Griff, der sich wütend umwandte und zum Feuer hinüberging.
Sie achtete nicht darauf und lächelte nur, als ihr klar wurde, dass weder Kian noch sie wussten, wer auf wen zuerst zugehen sollte. Sie tat ihm den Gefallen und nahm ihre ganze Kraft beisammen. Aber kaum hatte sie einen Muskel gerührt, da tat er es ihr schon gleich.
Sein roter knöchellanger Mantel mit dem Emblem seiner Familie, den sie so lange Zeit gehasst hatte, bewegte sich nicht, als er den kunstvoll geschnitzten Holzstock auf den Boden setzte. Wie immer versuchte er, sie sein Humpeln nicht sehen zu lassen. Dabei waren sie so viele Jahre verheiratet gewesen und als wüsste sie nicht, dass sein linkes Bein kürzer war als das Rechte.
Leise seufzend ließ sie sich in seine Arme fallen. Sie spürte seinen Körper durch die Kleidung und wie damals überkam sie der Drang, ihn stützen zu müssen. Seine Haut war so viel weicher und wärmer als die Wameks und doch wusste Yaa, dass sie eigentlich kalt war.
Kian schob sie sanft einen Schritt von sich und betrachtete ihr Haar, als falle ihm etwas besonderes daran auf.
"Ich weiß nicht, warum ich hier bin, aber ich freue mich, dich zu sehen", sagte er lächelnd. Sie fand schon immer, dass er mit dieser Stimme ein guter Sänger gewesen wäre.
Yaa schluckte und kämpfte die Tränen nach unten. Er hatte ihr so unendlich gefehlt, aber es wurde Zeit sich zu besinnen. Doch ein Blick in seine Augen und sie glaubte, sich an nichts mehr erinnern zu können.
"Ich weiß auch nicht, warum du hier bist, Geliebter. Warum ihr beide hier seid."
Ohne Worte drehten sie sich dem Kamin und Wamek zu. Er blickte in die Flammen, den rechten Arm am Stein abgestützt und der Mund ein einziger schmaler Strich. Sie kannte diesen Ausdruck von ihm.
"Ich weiß es wirklich nicht. Aber vielleicht gibt es uns Gelegenheit, über gewisse Dinge zu sprechen."
Kian nickte und deutete zum Stuhl. Sie verstand ihn wie immer auch ohne Worte und schlurfte hinüber um sich zu setzen.
"Wir haben uns ganz sicher nichts mehr zu sagen!" knurrte Wamek und starrte sie aus kalten Augen an. Als er begriff, dass er damit eigentlich auch nicht gemeint gewesen war, presste er die Zähne so fest aufeinander, das Yaa glaubte, es knacken zu hören.
Kian ließ sich auf den Holzstapel neben sie sinken und die Hälfte von ihm verschwand im Schatten.
"Ist es denn nun soweit?" fragte er, ohne Wamek auch nur im geringsten zu beachten.
Yaa schluckte und nickte. Sie dachte an Eryth und schickte ein schnelles Stoßgebet zum Himmel empor, auf dass man auf sie achte. Kian atmete tief ein und sie zweifelte nicht daran, dass er ihre innersten Gefühle ergründen konnte.
"Glaubst du noch immer, dass es das richtige war, was wir taten?" fragte sie ihn fast flüsternd.
"Du meinst, ob es richtig war, zwei Liebende zusammenzubringen, damit wir ihr Kind in dieses Land holen konnten? Ja, meine geliebte Yaa, das glaube ich ganz fest!"
Sie lächelte ihn an und versuchte dennoch, zu verdrängen, als wie beruhigend sie diese Worte empfand. Sie war sich niemals sicher darüber gewesen, dass es das richtige war, was sie getan hatten. Damals schien alles so klar gewesen zu sein, so einfach. Aber in der Wirklichkeit hatten sie die Geschicke so vieler Menschen beeinflusst, so viele Leben verändert, dass sie lange Zeit eine tiefe innere Angst verspürt hatte. Wäre diese vor dem was noch kommen würde nicht viel größer gewesen, als vor dem was war, hätte sie niemals zugestimmt und noch viel weniger eigenmächtig gehandelt.
"All das Leid, das wir über sie brachten." Yaa war nicht in der Lage den Satz zu beenden und ließ die Worte nur langsam ausklingen.
"Du hast das Kind zu dir geholt nicht wahr?"
Kian ließ sie nicht antworten und legte sanft seine Finger auf ihren Mund.
"Sie wird es dir eines Tages danken, denn ohne unser tun, wäre sie niemals geboren worden."
"Doch was wird sie sagen, wenn sie vom Schicksal ihrer Mutter erfährt?"
Etwas flog an ihr vorbei und schlug Kians Arm beiseite.
"Was hast du getan?" verlangte Wamek zu wissen. Sein Blick war auf Kian gerichtet und seine Brauen hingen so tief wie Gewitterwolken kurz vor dem Abguss.
Ihr Geliebter beachtete Wamek jedoch nicht weiter und sah um ihn herum in ihr Gesicht, bis ein Körper ihm die Sicht verstellte.
"Was hast du ihr angetan?"
Wameks Blick war noch immer auf Kian gerichtet und Yaa konnte kaum glauben, dass diese Worte aus dem Mund kamen, der sie so oft gewaltlos geschlagen hatte.
Sprachlos starrte sie in seine kantigen Züge, fragte sich wie so oft, welche Farbe sein Haar nun eigentlich besaß.
Yaa deutete auf den anderen Stuhl am Fenster und bedeutet Wamek, er möge ihn holen und sich setzen. Sie konnte fast selbst nicht glauben, dass er tat, was sie wollte.
Er war kaum ruhiger, als er saß, aber wenigstens schien es so, als wolle er niemanden mehr schlagen.
"Ihr habt etwas geheimes getan. Ist doch so oder? Was?"
Kian sah erst sie und dann ihn an. Sie hatte ihm nie viel über den Mann vor ihm erzählt, aber ihr Zurückschrecken und ihr Nichtvertrauen in den ersten Jahren ihrer Ehe mussten für sich gesprochen haben. Um so erstaunter war sie, als sie es ihn  erklären hörte.
"Vor vielen Jahren, als ich ein kleiner Junge war, kam eines Tages ein sonderbarer Mann in mein Elternhaus. Er war so fremdartig, dass er sofort auffiel, obwohl der Hafen genug sonderbares zu Tage brachte. Ich habe mir seinen Namen nie gemerkt, aber den Ausdruck seines Gesichtes habe ich nie vergessen. Auch jetzt sehe ich es noch. Er sah mich an und es war mehr als Erleichterung, die aus ihm sprach, denn seine Reise hatte nun ein Ende, während meine erst beginnen sollte."
Kian sah Yaa an und sie nickte langsam.
"Er war ein weitgereister Mann mit einer seltsamen schleppenden Sprache und er sagte mir, ich würde den Hüter schaffen. Damals habe ich es noch nicht verstanden, aber was ich wusste war, dass ich gewisse Dinge zu lernen hatte. So ging ich mit den Suchern weit bis hinter Nebelheim und lernte bei den Magiern der Venta Götter.
Sie prophezeiten mir, dass ich den Anfang machen würde, wenn ich das größte Glück auf Erden fände. Lange Zeit suchte ich es, aber ich konnte nicht wissen, dass es mich finden würde."
Er lächelte wieder und Yaa wusste, dass er an ihre erste Begegnung dachte.
Wameks Gesicht hatte sich noch weiter verdüstert, falls das möglich sein sollte. Die einfachen Menschen aus Amorit und seiner Umgebung verachteten, was sie nicht verstanden. Die Venta Götter waren ein großer lebender Beweis für sie, dass Tod und Verderbtheit unter ihnen wandelten.
"Ich versuchte sogar zu sehen, was auf mich warten würde, doch alles was mir jemals gezeigt wurde, war eine alte stolze Frau auf dem Totenbett."
Yaa fragte sich kurz, ob Wamek verstehen würde was, Kian mit sehen meinte, und sah dann erschrocken auf. Seine letzten Worte hörte sie zum ersten Mal. Eine alte stolze Frau auf dem Totenbett. Sollte das möglich sein? Nein!
Sie hatten das Schicksal von drei Generationen verändert, hatten sie begleitet durch alle Widrigkeiten des Lebens und nun schien es so, als wären sie selbst geleitet worden. Welche Himmelsmacht mochte wohl dahinter stehen?
Dann dachte sie an ihre Großmutter. Ob die alte Frau gewusst hatte, was geschehen würde und sie deswegen nicht geliebt hatte? Nicht wagte sie zu lieben, weil die Schuld tiefe Gänge in ihr gegraben hatte?
"Du bist ein Hexer?"
Wamek sprach die Worte wie einen Fluch, eine Beleidigung aus, aber Kian lächelte nur amüsiert. Er schien sich einen Spaß daraus zu machen, den grobschlächtigen Mann zu ärgern.
"Ich bin was ich bin. So wie jeder von uns", fügte er noch nachdenklich an. Yaa bezweifelte jedoch, dass Wamek die Worte in ihrem gemeinten Sinn verstanden hatte.
Sie sah in die Flammen und ließ die Beiden ihren Disput ohne sie austragen. Weit entfernte Erinnerungen trafen sie wie ein Pfeil mitten ins Herz und sie betete darum, dass man sie auf der Stelle holen möge.
Aber dann kreisten goldenbraune sanfte Augen vor ihrem Blick und sie erinnerte sich an Eryth und die Aufgabe, mit der das Mädchen betraut worden war. Auch ihre Reise hatte gerade erst begonnen, während Yaas eigene nun bald enden würde.
So ein liebes kleines Mädchen, das niemals weinte und doch solch große Augen mit sich herumgetragen hatte. Viel zu groß für diese Welt. Yaa hatte lange Zeit mit sich gerungen, ob es richtig wäre, das Kind zu sich zu nehmen, aber ihr Herz hatte sich dann für das Ja entschieden. Dabei waren ihre eigenen Kinder Söhne gewesen.
Salzige Tränen rannen ihre Wangen hinab.
"Was haben wir nur getan?" flüsterte sie lautlos.
Kian war sofort an ihrer Seite und küsste die Tränen fort.
"Wir taten nur, was uns vorherbestimmt war. Du musst daran glauben."
Wie immer fühlte sie sich sicher wenn sie bei ihm war und ließ sich durch den Klang seiner Stimme beruhigen.
"Hüter. Hüter wofür?" fragte Wamek unvermittelt sanft.
Yaas und Kians Augen richteten sich auf ihn, bevor sie wieder einander fanden. Kian ließ sich zurücksinken und räusperte sich, so dass Yaa an seiner Stelle antwortete.
"Den Hüter von Drachenkind."
Wamek lachte schallend los. Die rauchigen und groben Töne aus seinem Mund taten ihren Ohren weh. Sie wirkten auch geradezu befremdend, hatte sie sie doch selten genug gehört.
"Ihr müsst verrückt geworden sein." Ein undefinierbarer Ton folgte diesen Worten.
"Zumindest von dir habe ich es schon immer gewusst."
Seine Augen richteten sich auf Yaa und sie wusste ganz genau was er meinte, ging jedoch nicht näher darauf ein. Wenn er dachte, dass es so war, konnte sie ihn ohnehin nicht davon abbringen.
"Es ist die Wahrheit!" fauchte Kian.
Wamek sah ihn ob dieser Worte geradezu interessiert an.
"Ach ja. Dich hätte ich ja beinahe vergessen. Du magst normal auf die Welt gekommen sein, aber die Magier haben dich verändert. Es muss so sein."
Er musterte ihn weiter und Yaa schien es fast, als wäge er seine Chancen ab, sollte es zu einem Kampf kommen. Das beunruhigte sie.
"Euer Hüter ist ein Weibsstück", sagte er ganz bedächtig und ein wenig abfällig.
"Die Mühe hättet ihr euch wirklich sparen können. Das wird nie etwas."
"Dann glaubst du uns?" fragte Yaa schnell, bevor Kian etwas erwidern konnte.
"Muss wohl so sein. Ich spüre es in den Knochen, seit Jahren schon. Etwas wird geschehen, was selbst die Toten betreffen wird."
Yaa sah ihn mit weit aufgerissenen Augen erschrocken an. Dann wechselte ihr Blick hinüber zu Kian, der leicht errötend zu Boden sah. Also war es wahr und er hatte es ihr nicht gesagt, um sie nicht zu beunruhigen.
"Dann werden auch wir uns wiedersehen", sagte Wamek in der seltsamsten Tonlage, die sie je von ihm gehört hatte.
"Und dann wird dich mir niemand mehr wegnehmen!"
Sie erschrak, als sie erkannte, dass seine ersten Worte sanft und liebevoll gewesen waren und noch mehr als sie den Sinn der nachfolgenden begriff.
"Was meinst du damit?"
Er erhob sich und baute sich vor Kian und ihr auf. Seine Armmuskeln tanzten unter seiner Haut und er ballte die Hände ein paar Mal zur Faust.
"Dass du zu mir gehörst. Zu mir! Die Götter mögen damals anders entschieden haben, aber deine Aufgabe liegt hinter dir und nun kannst du zu deinem rechtmäßigem Ehemann zurückkehren."
Ohne Vorwarnung schoss sein Körper durch den Raum und prallte an die Wand über dem an der gegenüberliegenden Seite befindlichen Bett. Sein Aufprall verursachte kein Geräusch und auch die Laken und Decken zeigten keine Spuren davon an, dass jemand auf ihnen saß.
Kian hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, wich den Leinen mit den Kräutern geschickt aus und ging auf Wamek zu.
Yaa hatte in diesen wenigen Sekunden keine Zeit gehabt, über das eben geschehene nachzudenken. Angstvolle Töne verließen ihren Mund, die unter anderen Umständen Worte gewesen wären.
Wamek richtete sich benommen auf dem Bett auf und seine Augen schossen grüne Giftpfeile durch den Raum.
"Du wirst sie nicht anrühren. Sie gehört nicht zu dir, das hat sie niemals getan!"
Sie hatte Kian selten wütend erlebt und so wie jetzt ganz sicher nie. Es verwirrte sie, dass sie nicht genau wusste, worum es eigentlich ging, aber wenn Kian es für nötig erachtete Gewalt anzuwenden, musste es etwas sehr ernstes sein.
Wamek lachte.
"Sieh ihn dir an, Yaa. Sieh ihn dir nur gut an. Glaubst du wirklich jemand wie er wäre der richtige für dich?"
Yaa runzelte die Stirn, schaute ihm aber direkt in die Augen.
"Ich habe ihn nicht ohne Grund geheiratet. Und die Jahre mit ihm waren sehr schön. Ich liebe ihn wie eh und je", schloss sie ohne zu zögern an.
Obwohl er ihr den Rücken zugewandt hatte, wusste sie, das Kian lächelte.
Wamek brüllte auf und rannte auf den humpelnden Mann zu. Als er fast bei ihm war, verhielt er plötzlich regungslos und schwebte ein Stück durch die Luft.
"Du wirst sie nicht anrühren", sagte Kian so langsam, als erkläre er etwas einem Kind.
"Sie hat genug gelitten mit dir. Sie gehört zu mir!"
Yaa bewunderte ihren Geliebten plötzlich, war es doch eine Seite, die sie nicht von ihm kannte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie selbst es nie gewagt hatte, Wamek die Stirn zu bieten.
"Aber ich liebe sie doch auch. Das tat ich immer."
Wameks Worte lösten nur Erstaunen in ihr aus, obwohl ein kleiner Teil von ihr zu singen begann.
"Yaa! Du hättest einen besseren Menschen aus mir machen können, hättest du dich nur mehr angestrengt. Aber es ist noch nicht zu spät. Eine Chance haben wir noch!"
Die Musik in ihr verstummte für immer und sie sah ihn lange an, bevor sie dann lachend den Kopf schüttelte.
"Nein, Wamek. Niemals!"
Kian wandte sich erstaunt um und stellte ihr dann eine stumme Frage, die sie bejahen konnte und Wamek schrie ein letztes Mal auf, bevor er verschwand. Es war ein eher unspektakuläres Ende und Yaa hätte etwas anderes erwartet, aber die einzige Tatsache, die etwas zählte, war eingetreten. Sie waren allein.
Abermals versank sie in Kians Armen und fühlte urplötzlich ihre Kräfte wachsen. Als sie aufsah und ihre Hände betrachtete, sah sie junge straffe Haut ohne Flecken. Ein kurzer Blick in den Spiegel bestätigte ihre Vermutung. Das Feuer beleuchtete den goldenen Glanz ihres Haares und zauberte schimmernde Lichtpunkte auf ihre glatte Haut.
"Kian", flüsterte sie und er beugte sich zu ihr herunter.
"Es wird alles gut, Geliebte. Du musst nur daran glauben."
Als er sie so sanft küsste, wie nur er es jemals gekonnt hatte, wusste sie, dass sie für immer vereint sein würden.
 
© Soleil
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Und schon geht's hier weiter zum 3. Kapitel: Das Haus der Paz

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