Nachts, wenn alle schlafen von Gitte Hedderich

Vivian ist ein äußerst ungewöhnliches Kind. Andere Kinder wachen am Morgen fröhlich auf und freuen sich auf den neuen Tag. Nicht so Vivian. Ihre Mutter hat reichlich Mühe, sie am Morgen wach zu bekommen und am Tage, wenn alle Kinder spielen, rennen und balgen, döst sie oft träge vor sich hin. Oft beobachtet ihre Mutter sie und fragt sich, was mit ihr los ist. Warum fehlt gerade ihrem Kind jeglicher Antrieb? Aber der Tag ist nicht Vivians Zeit, denn das ist die Nacht.

Alles begann damit, dass Vivian in einer Vollmond-Nacht schlafwandelte. Sie war bis vor die Haustüre gekommen, als sie jemand ansprach. Nun weiß man ja, dass man Schlafwandler nicht ansprechen soll, weil sie dann erschrecken und verunglücken können. Der, der Vivian ansprach, wusste das nicht, denn er war kein Mensch, sondern ein Hund. Ein riesiger, schwarzer, als äußerst bösartig verschriener Schäferhund, um genau zu sein. Attila bewohnte den Zwinger vor dem Haus, in dem Vivian wohnte.
He, rief er sie in jener Nacht an, he, wo willst du denn um diese Zeit hin?
Vivian zuckte zusammen. Irritiert schaute sie sich um, wer hatte da zu ihr gesprochen?
Wo willst du hin, fragte Attila erneut.
Vivian setzte sich vor Schreck auf die Stufen vor der Haustüre. Wieso kannst du reden, wollte sie nun von Attila wissen.
Das kann jeder Hund, aber nur in der Zeit von Mitternacht bis ein Uhr.
Das ist ja ein Ding, staunte Vivian. Es gibt so vieles, was ich dich schon immer fragen wollte.
Leg los, meinte Attila, was möchtest du wissen?
Warum hast du Frau Bellenberg gebissen, als sie spät am Abend nach Hause kam?
Also so ein Blödsinn, regte Attila sich auf, sie hatte mal wieder aus lauter Eitelkeit ihre Brille nicht auf, da ich hier der Wachhund bin, habe ich gebellt, um sie anzumelden, das ist schließlich mein Job. Sie hat sich dann furchtbar erschrocken und ist gestürzt, das konnte sie natürlich nicht zugeben, weil sie sonst alle ausgelacht hätten, also musste ich herhalten. Manchmal verstehe ich die Menschen nicht.
Und dein Frauchen, was war mit der, du hast sie auch angefallen?
Angefallen, knurrte Attila bitter, sie hat Angst vor mir und hält die Futterschüssel über den Kopf, wenn sie sie hinein bringt, also habe ich geknurrt, denn ich bekomme nur einmal an Tag zu fressen und hatte großen Hunger. Es war sehr nett, dass du mir kürzlich ein Stück Fleischwurst gebracht hast.
Du hast so traurig ausgesehen, sagte Vivian.
Das bin ich meist auch, denn ich bin sehr einsam, immer werde ich hier eingesperrt.
Vivian trat an den Zaun und steckte drei Finger hindurch um Attilas Kopf zu streicheln. Wenn das einer sehen könnte, kicherte sie, alle würden vor Schreck in Ohnmacht fallen und sofort nachsehen, ob meine Finger noch dran sind.
Attila jaulte leise vor Wonne, in der Ferne schlug die Kirchturmuhr eins.
Morgen komme ich wieder und bringe dir etwas zu essen mit.
Attila legte sich nieder, die Zeit seiner Sprache war für heute vorbei, aber er war glücklich, er hatte ein Freundin gefunden, die ihn verstand und Vivian, sie hatte die Nacht für sich entdeckt. An Schlaf war natürlich lange Zeit nicht mehr zu denken, zu aufregend war das alles und so war sie am anderen Morgen wie gerädert.

Am nächsten Abend konnte sie lange nicht einschlafen, ich muss um Mitternacht wach sein, sagte sie sich immer wieder. Es klappte, als sie erwachte und auf die Uhr schaute, war es zehn Minuten vor Zwölf, sie kleidete sich an und wollte gerade zum Kühlschrank gehen, als sie leise Stimmen hörte.
Sie schlafwandelt schon wieder, piepste ein Stimmchen.
Vivian blieb stehen, was war das nun schon wieder?
Glaub ich nicht, wisperte eine andere Stimme, sie geht nicht geradeaus, sondern läuft durch die Wohnung.
Pst, wenn sie uns hört.
Schon passiert, sagte Vivian leise, wer spricht da?
Aquamarina, hörte sie. Aquamarina war Vivians Puppe, ihr Vater hatte ihr, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, einen Ring geschenkt, der einen Aquamarin als Stein trug. Als sie dann später eine Puppe mit wunderschönen blauen Augen bekam, nannte sie sie nach diesem Stein. Nun unterhielt sich diese Puppe mit Petra, einer anderen Puppe, die Vivian gehörte.
Könnt ihr etwa auch in der Nacht zwischen Mitternacht und ein Uhr reden, wollte sie nun wissen.
Wer hat dir das gesagt, fragte Aquamarina zurück.
Attila hat es mir gesagt, entgegnete Vivian. Das ist ja ein Ding, also können alle Tiere und Puppen in der Nacht reden.
Aber sicher und das ist längst nicht alles, Blumen, Bäume, Elfen und Kobolde sind auch Geschöpfe der Nacht.
Über was redet ihr denn so, wollte Vivian wissen.
Über alles, worüber Mädels halt so reden, sprach Aquamarina, darüber, dass du mir letztens dieses furchtbar kurze Kleid angezogen hast und Teddy den ganzen Tag auf meinen Po glotzte.
Dass du mir beim Kämmen entsetzlich viele Haare ausgerissen hast, der Kopf schmerzt immer noch, beschwerte sich nun Petra, und über diese dumme, eingebildete Pute Karin, die Puppe deiner Freundin Renate, die glaubt, sie sei was besseres, nur weil sie ein Kleid aus reiner Seide trägt.
Vivian schämte sich ein bisschen ihrer Rücksichtslosigkeit und entschuldigte sich bei den Puppen, ich werde nie mehr so gedankenlos sein, versprach sie ihnen, aber nun muss ich los, Attila wartet sicher schon auf seine versprochene Futterration.
Oh je, hast du dir das gut überlegt, wollte Petra wissen, wenn das deine Mutter merkt.
Das ist Fleisch, das ich von meinem Mittagessen gebunkert habe, entgegnete Vivian verschmitzt, dass merkt keiner und nun Ade. Damit stob sie davon.

Attila wartete schon ungeduldig auf sie, gierig verschlag er die mitgebrachten Fleischbrocken, es hatte Gulasch zu Mittag gegeben.
Was hast du, du bist so unruhig, wollte er von Vivian wissen.
Die Puppen haben mir erzählt, dass in dieser Nachtstunde auch die Blumen und Bäume reden können, ebenso die Elfen und Kobolde. Gibt es die denn, fragte sie Attila.
Klar, aber es gibt auch böse Geschöpfe, also nimm dich in Acht, nicht alle Kobolde sind gut, riet er ihr.
Das muss ich sehen, sei nicht böse, ich komme morgen wieder. Damit lief Vivian in den Garten hinter dem Haus.

Sie setze sich auf die Wiese. Das war ein Geraune dort.
Du bist so strahlend weiß, sprach die Butterblume zum Gänseblümchen. Und du so herrlich sonnengelb, entgegnete diese. Wunderbar erfrischend dieser Tau, seufzte die Rose, gib Acht, du zertrittst meine Kinder, raunte der Klee.
Erschrocken zog sich Vivian auf den gepflasterten Weg zurück, so hatte sie das nie gesehen, dass auch die kleinsten Pflanzen lebten.

Was war das wieder, Vivian horchte auf, klang da nicht ein verhaltenes Weinen an ihr Ohr? Richtig, sie schaute sich um, im Schatten des Baumes saß eine kleine Gestalt. Wer bist du, wollte sie wissen.
Wenn ich dir das sage, läufst du fort und ich bin so einsam, bekam sie zur Antwort.
Neugierig kam Vivian näher und blickte in zwei rote Augen.
Mein Name ist Kasimir und ich bin ein Vampir, dass heißt, ich werde erst einer. Meine Eltern leiten die hiesige Vampirkolonie, wir sind immer noch gefürchtet, obwohl wir uns schon seit Jahren von Blutkonserven und Plasma ernähren. Hast du denn keine Angst vor mir, wollte Kasimir wissen?
Nein, du siehst gar nicht böse aus, nur sehr, sehr traurig. Vorsichtig streichelte Vivian Kasimir übers rabenschwarze Haar.
Der seufzte tief. Willst du meine Freundin werden, wollte er wissen und Vivian nickte.
Das bin ich sehr gerne, wer hat schon einen Vampir zum Freund, kicherte sie. Du verlierst Deine Fähigkeiten aber nicht um ein Uhr, fragte Vivian, denn mittlerweile war es soweit und um sie herum herrschte plötzlich tiefe Stille.
Oh nein, ich muss erst zurück, wenn die Sonne aufgeht, daran hat sich leider noch nichts geändert, erklärte ihr Kasimir. Komm, wir fliegen eine Runde. Er nahm Vivian auf die Schultern, breitete seinen Mantel aus und huiiiii, los ging es in die Lüfte.
Von nun an war Kasimir nicht mehr einsam, Attila wurde lieber, dank seiner nächtlichen Extra-Ration an Futter, und Vivians Puppen waren mit ihrer Mama sehr zufrieden, nur Vivian war tagsüber immer müde. Nur ihr kennt nun den Grund, verratet sie nicht. Pssssssst.
 

© Gitte Hedderich
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