Vivian ist ein äußerst ungewöhnliches
Kind. Andere Kinder wachen am Morgen fröhlich auf und freuen sich
auf den neuen Tag. Nicht so Vivian. Ihre Mutter hat reichlich Mühe,
sie am Morgen wach zu bekommen und am Tage, wenn alle Kinder spielen, rennen
und balgen, döst sie oft träge vor sich hin. Oft beobachtet ihre
Mutter sie und fragt sich, was mit ihr los ist. Warum fehlt gerade ihrem
Kind jeglicher Antrieb? Aber der Tag ist nicht Vivians Zeit, denn das ist
die Nacht.
Alles begann damit, dass Vivian in einer Vollmond-Nacht
schlafwandelte. Sie war bis vor die Haustüre gekommen, als sie jemand
ansprach. Nun weiß man ja, dass man Schlafwandler nicht ansprechen
soll, weil sie dann erschrecken und verunglücken können. Der,
der Vivian ansprach, wusste das nicht, denn er war kein Mensch, sondern
ein Hund. Ein riesiger, schwarzer, als äußerst bösartig
verschriener Schäferhund, um genau zu sein. Attila bewohnte den Zwinger
vor dem Haus, in dem Vivian wohnte.
He, rief er sie in jener Nacht an, he, wo
willst du denn um diese Zeit hin?
Vivian zuckte zusammen. Irritiert schaute
sie sich um, wer hatte da zu ihr gesprochen?
Wo willst du hin, fragte Attila erneut.
Vivian setzte sich vor Schreck auf die Stufen
vor der Haustüre. Wieso kannst du reden, wollte sie nun von Attila
wissen.
Das kann jeder Hund, aber nur in der Zeit
von Mitternacht bis ein Uhr.
Das ist ja ein Ding, staunte Vivian. Es gibt
so vieles, was ich dich schon immer fragen wollte.
Leg los, meinte Attila, was möchtest
du wissen?
Warum hast du Frau Bellenberg gebissen, als
sie spät am Abend nach Hause kam?
Also so ein Blödsinn, regte Attila sich
auf, sie hatte mal wieder aus lauter Eitelkeit ihre Brille nicht auf, da
ich hier der Wachhund bin, habe ich gebellt, um sie anzumelden, das ist
schließlich mein Job. Sie hat sich dann furchtbar erschrocken und
ist gestürzt, das konnte sie natürlich nicht zugeben, weil sie
sonst alle ausgelacht hätten, also musste ich herhalten. Manchmal
verstehe ich die Menschen nicht.
Und dein Frauchen, was war mit der, du hast
sie auch angefallen?
Angefallen, knurrte Attila bitter, sie hat
Angst vor mir und hält die Futterschüssel über den Kopf,
wenn sie sie hinein bringt, also habe ich geknurrt, denn ich bekomme nur
einmal an Tag zu fressen und hatte großen Hunger. Es war sehr nett,
dass du mir kürzlich ein Stück Fleischwurst gebracht hast.
Du hast so traurig ausgesehen, sagte Vivian.
Das bin ich meist auch, denn ich bin sehr
einsam, immer werde ich hier eingesperrt.
Vivian trat an den Zaun und steckte drei Finger
hindurch um Attilas Kopf zu streicheln. Wenn das einer sehen könnte,
kicherte sie, alle würden vor Schreck in Ohnmacht fallen und sofort
nachsehen, ob meine Finger noch dran sind.
Attila jaulte leise vor Wonne, in der Ferne
schlug die Kirchturmuhr eins.
Morgen komme ich wieder und bringe dir etwas
zu essen mit.
Attila legte sich nieder, die Zeit seiner
Sprache war für heute vorbei, aber er war glücklich, er hatte
ein Freundin gefunden, die ihn verstand und Vivian, sie hatte die Nacht
für sich entdeckt. An Schlaf war natürlich lange Zeit nicht mehr
zu denken, zu aufregend war das alles und so war sie am anderen Morgen
wie gerädert.
Am nächsten Abend konnte sie lange nicht
einschlafen, ich muss um Mitternacht wach sein, sagte sie sich immer wieder.
Es klappte, als sie erwachte und auf die Uhr schaute, war es zehn Minuten
vor Zwölf, sie kleidete sich an und wollte gerade zum Kühlschrank
gehen, als sie leise Stimmen hörte.
Sie schlafwandelt schon wieder, piepste ein
Stimmchen.
Vivian blieb stehen, was war das nun schon
wieder?
Glaub ich nicht, wisperte eine andere Stimme,
sie geht nicht geradeaus, sondern läuft durch die Wohnung.
Pst, wenn sie uns hört.
Schon passiert, sagte Vivian leise, wer spricht
da?
Aquamarina, hörte sie. Aquamarina war
Vivians Puppe, ihr Vater hatte ihr, als sie noch ein kleines Kind gewesen
war, einen Ring geschenkt, der einen Aquamarin als Stein trug. Als sie
dann später eine Puppe mit wunderschönen blauen Augen bekam,
nannte sie sie nach diesem Stein. Nun unterhielt sich diese Puppe mit Petra,
einer anderen Puppe, die Vivian gehörte.
Könnt ihr etwa auch in der Nacht zwischen
Mitternacht und ein Uhr reden, wollte sie nun wissen.
Wer hat dir das gesagt, fragte Aquamarina
zurück.
Attila hat es mir gesagt, entgegnete Vivian.
Das ist ja ein Ding, also können alle Tiere und Puppen in der Nacht
reden.
Aber sicher und das ist längst nicht
alles, Blumen, Bäume, Elfen und Kobolde sind auch Geschöpfe der
Nacht.
Über was redet ihr denn so, wollte Vivian
wissen.
Über alles, worüber Mädels
halt so reden, sprach Aquamarina, darüber, dass du mir letztens dieses
furchtbar kurze Kleid angezogen hast und Teddy den ganzen Tag auf meinen
Po glotzte.
Dass du mir beim Kämmen entsetzlich viele
Haare ausgerissen hast, der Kopf schmerzt immer noch, beschwerte sich nun
Petra, und über diese dumme, eingebildete Pute Karin, die Puppe deiner
Freundin Renate, die glaubt, sie sei was besseres, nur weil sie ein Kleid
aus reiner Seide trägt.
Vivian schämte sich ein bisschen ihrer
Rücksichtslosigkeit und entschuldigte sich bei den Puppen, ich werde
nie mehr so gedankenlos sein, versprach sie ihnen, aber nun muss ich los,
Attila wartet sicher schon auf seine versprochene Futterration.
Oh je, hast du dir das gut überlegt,
wollte Petra wissen, wenn das deine Mutter merkt.
Das ist Fleisch, das ich von meinem Mittagessen
gebunkert habe, entgegnete Vivian verschmitzt, dass merkt keiner und nun
Ade. Damit stob sie davon.
Attila wartete schon ungeduldig auf sie, gierig
verschlag er die mitgebrachten Fleischbrocken, es hatte Gulasch zu Mittag
gegeben.
Was hast du, du bist so unruhig, wollte er
von Vivian wissen.
Die Puppen haben mir erzählt, dass in
dieser Nachtstunde auch die Blumen und Bäume reden können, ebenso
die Elfen und Kobolde. Gibt es die denn, fragte sie Attila.
Klar, aber es gibt auch böse Geschöpfe,
also nimm dich in Acht, nicht alle Kobolde sind gut, riet er ihr.
Das muss ich sehen, sei nicht böse, ich
komme morgen wieder. Damit lief Vivian in den Garten hinter dem Haus.
Sie setze sich auf die Wiese. Das war ein Geraune
dort.
Du bist so strahlend weiß, sprach die
Butterblume zum Gänseblümchen. Und du so herrlich sonnengelb,
entgegnete diese. Wunderbar erfrischend dieser Tau, seufzte die Rose, gib
Acht, du zertrittst meine Kinder, raunte der Klee.
Erschrocken zog sich Vivian auf den gepflasterten
Weg zurück, so hatte sie das nie gesehen, dass auch die kleinsten
Pflanzen lebten.
Was war das wieder, Vivian horchte auf, klang
da nicht ein verhaltenes Weinen an ihr Ohr? Richtig, sie schaute sich um,
im Schatten des Baumes saß eine kleine Gestalt. Wer bist du, wollte
sie wissen.
Wenn ich dir das sage, läufst du fort
und ich bin so einsam, bekam sie zur Antwort.
Neugierig kam Vivian näher und blickte
in zwei rote Augen.
Mein Name ist Kasimir und ich bin ein Vampir,
dass heißt, ich werde erst einer. Meine Eltern leiten die hiesige
Vampirkolonie, wir sind immer noch gefürchtet, obwohl wir uns schon
seit Jahren von Blutkonserven und Plasma ernähren. Hast du denn keine
Angst vor mir, wollte Kasimir wissen?
Nein, du siehst gar nicht böse aus, nur
sehr, sehr traurig. Vorsichtig streichelte Vivian Kasimir übers rabenschwarze
Haar.
Der seufzte tief. Willst du meine Freundin
werden, wollte er wissen und Vivian nickte.
Das bin ich sehr gerne, wer hat schon einen
Vampir zum Freund, kicherte sie. Du verlierst Deine Fähigkeiten aber
nicht um ein Uhr, fragte Vivian, denn mittlerweile war es soweit und um
sie herum herrschte plötzlich tiefe Stille.
Oh nein, ich muss erst zurück, wenn die
Sonne aufgeht, daran hat sich leider noch nichts geändert, erklärte
ihr Kasimir. Komm, wir fliegen eine Runde. Er nahm Vivian auf die Schultern,
breitete seinen Mantel aus und huiiiii, los ging es in die Lüfte.
Von nun an war Kasimir nicht mehr einsam,
Attila wurde lieber, dank seiner nächtlichen Extra-Ration an Futter,
und Vivians Puppen waren mit ihrer Mama sehr zufrieden, nur Vivian war
tagsüber immer müde. Nur ihr kennt nun den Grund, verratet sie
nicht. Pssssssst.
© Gitte
Hedderich
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