Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden, als sie endlich
die wenigen Feuer eines kleinen Lagers entdeckten. Die Landschaft hatte
sich schon am frühen Vormittag von Wald zu Steppe gewandelt und jetzt
konnten sie durch ein paar kleine dürre Sträucher und Bäume
einige Zelte und schnell errichtete, behelfsmäßige Hütten
erkennen. Tebach paddelte ans Ufer und Vhawiin half ihm, das Boot auf den
Strand zu ziehen und an einem verkrüppelten Baum festzubinden. Sie
luden sich die Beutel mit den Vorräten auf den Rücken und bahnten
sich ihren Weg durch trockenes Gebüsch.
Kaum hatten sie das Gestrüpp durchbrochen, standen sie auch
schon unvermittelt im Lager der Flüchtlinge. Drei, vier Schritt von
ihnen entfernt saßen einige gebückte Gestalten auf gefällten
Baumstämmen um ein kleines Feuer und starrten sie jetzt unverhohlen
an.
"Ähm...", begann Vhawiin, "guten Abend..."
"Willkommen im Lager der Göttergeschlagenen!" begrüßte
sie zynisch ein ungefähr dreißigjähriger Mann in alten,
zerschlissenen Kleidern. "Tretet ruhig näher und gesellt euch zu denen,
die nur 'bedauernswerte Opfer' sind"
Vhawiin sah ihn offen an und ging tatsächlich zu dem Feuer
und setzte sich auf einen der Baumstämme, stellte ihren Beutel vor
sich ab und winkte ihren Begleiter heran.
"Woher kommt ihr denn?" fragte eine abgekämpfte junge Frau
mit einem kleinen Kind im Arm resigniert. "Aus dem Süden", antwortete
sie zaghaft - sie konnte sich vorstellen, welche Reaktion das auslösen
würde.
Und damit hatte sie nicht unrecht: alle starrten sie verblüfft
an, schüttelten ungläubig die Köpfe - bis auf den alten
Mann, der neben ihr saß. Schlohweißes Haar und kurzer Bart,
runzlige Haut und gebeugte Haltung zeichneten ein Bild seines Alters, jedoch
die grünen Augen waren tief und klar.
"Wieso kommst du aus dem Süden hierher?" fragte er sanft.
"Mein Clan, der im Großen Wald lebt, spürt die Auswirkungen
des Götterkrieges - obwohl wir nichteinmal wissen, welche Götter
da kämpfen. Sie haben mich ausgesandt, um die Götter zu besänftigen."
"Dich und diesen Mann da? Mit nichts als diesen Beuteln in der Hand
- sehr großzügig, dein Clan. Nichteinmal die stärksten
Männer meines Dorfes vermochten sich gemeinsam gegen die Gewalt der
Götter zu wehren..."
'Na das sind ja gute Aussichten...', dachte Vhawiin bei sich, 'aber
mit Stärke zu gewinnen, darauf habe ich sowieso nicht gezählt.'
Sie grübelte, dann blitzen ihre Augen auf: 'Wissen und Macht
- der Plan! Also: zuerstmal Wissen erlangen, Macht muss ich mir noch beschaffen...'
"Ähm", begann sie wieder vorsichtig, "welche Götter kämpfen
hier überhaupt - leider weiß ich nicht, worum es bei dem Götterkrieg
geht..."
"Vielleicht ist es besser, das nicht zu wissen und die Götter
nicht zu kennen", antwortete der heruntergekommene Mann.
"Nun", ergriff der Alte das Wort, "es bekriegen sich Ber'racchnann,
der Gott fegenden Sturmes und Nac'rastlen, der Gott des fließenden
Feuers.
Die Anhänger Ber'racchnanns kamen vor einiger Zeit aus dem
Westen, schlugen hier ihr Lager auf und bekehrten viele zum Glauben an
ihn. Der Sturmgott besitzt einen heiligen Speer, der von seinem Hohepriester
mitgeführt wird. Dieser Speer kann Blitze schleudern und Gewitter
heraufbeschwören - eine mächtige Waffe..."
"Wohl eher eine tödliche und schreckenserregende Waffe!" warf
der jüngere Mann zynisch ein.
"Ja", der Alte nickte und fuhr fort, "Nac'rastlen, der Feuergott,
der Herr eines Vulkans im Nordosten, befahl seinen Anhängern ebenfalls,
auszuziehen und zu bekehren und sandte sie hierher. Und auch er fand hier
neue Gläubige - aber die gerieten natürlich in Streit mit den
Anhängern von Ber'racchnann, zum Teil weil Nac'rastlen Ber'racchnann
seinen Speer neidet und diesen gern besitzen möchte, um seine Macht
noch zu erweitern. Der Feuergott hat natürlich selbst immense Kräfte,
er kann Flammen regnen lassen und macht, dass die Erde bebt, seinen Feinden
droht ein Heißer Tod"
"Und die, die verwundet werden, tragen furchtbare Narben", warf
die junge Frau verbittert ein. Vhawiins Blick fiel auf die Hände der
Frau, die mit schlecht verheilten Brandwunden übersäht waren
- und sie war sich sicher, dass der Rest des von alter Kleidung verhüllten
Körpers nicht besser aussah.
"Aber beide Götter, seien sie noch so mächtig, streben
nach noch mehr Kraft und Gläubigen und wollen dem anderen seinen Besitz
abringen. Wer siegen wird, das kann ich nicht sagen, da sie sich das Wasser
reichen können. Aber sicher ist, dass die Opfer des Götterstreites
unzählige sein werden, wenn das so weitergeht.
Und für jeden, der es bis in dieses Lager geschafft hat und
hofft, über das Meer zu fliehen, blieben etliche auf dem Weg zurück
- fünf oder zehn; oder zwanzig? Wer kann das sagen.
Viele wurden Opfer des Götterkrieges. Genug, die keinem der
beiden Götter angehörten und einfach nur hier lebten. Wenige,
die sich ihren ehemaligen Herren, den Göttern, offen entgegenstellten
und sie aufzuhalten versuchten. Etliche, die auf den Schlachtfeldern liegen,
verbrannt und zerschmettert, die ihr Leben für eine Seite gegeben
haben."
Vhawiin starrte grübelnd vor sich hin, "Und ich bin gekommen,
um diese Götter zu besänftigen... Keine leichte Aufgabe - noch
dazu, wenn, wie du sagst, keiner von beiden in nächster Zeit die Oberhand
gewinnen wird!"
'Dann muss ich der Sieger in diesem Kampf sein', dachte sie entschlossen
weiter.
"Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Aufgabe!", spottete
der jüngere Mann. "Wenn du den Kampf der beiden beendest, dann bist
du diejenige, der ich folgen werde!"
"Ich werde dich beim Wort nehmen", lächelte Vhawiin.
***
Nach einem kargen Essen aus den Vorratsbeuteln - der Proviant musste
wohl noch länger reichen - saß Vhawiin immer noch grübelnd
am Feuer. Tebach war schon längst in einer der Hütten verschwunden,
Vhawiin dagegen starrte noch lange in die Flammen, wohl eine Stunde oder
zwei.
Plötzlich sah sie auf und wandte sich an den Alten, der auch
noch dort hockte, als einziger der Gruppe.
"Warum fällt es Nac'rastlen so schwer, Ber'racchnann seinen
Speer abzunehmen? Es sollte doch einem wendigen Menschen nicht schwer fallen,
in das Lager des Sturmgottes zu schleichen und da den Speer zu stehlen?"
Der Mann musterte sie und antwortete dann: "Der heilige Speer wird
von einem Dämonischen Wächter geschützt - wenn ihn der Hohepriester
nicht selbst in der Hand hält und einsetzt - und an diesem Wächter
ist bis jetzt noch keiner von Nac'rastlens Spionen vorbeigekommen. Der
Dämon verwandelt sich angeblich in das, was sein Gegner am meisten
fürchtet, mit all seinen Eigenschaften. Und jeder fürchtet jemanden,
der irgendwie stärker ist als er selbst. Der Dämon ist dadurch
immer stärker als sein Gegner..."
Die "Stimme der Göttin" versank wieder in Schweigen. Aber es
dauerte nicht lange, bis sie die nächste Frage stellte:
"Ist Nac'rastlen ein ehrenhafter Gott? Lässt er sich irgendwie
an Versprechen binden?"
Ein kratziges Lachen erschütterte die schmale Brust des Mannes.
"Ein Gott und Versprechen halten? Das glaubst du ja wohl selbst
nicht! Du musst schon mindestens so mächtig sein, wie er selbst, um
ihn zu bedrohen, wenn er seine Schwüre bricht"
"Gibt es außer den beiden noch weitere Götter oder Mächtige
hier?"
Er lächelte hintergründig. "Einige - aber keiner von diesen
würde sich einmischen."
"Liegt einem von ihnen besonders an Gerechtigkeit?"
Wieder lachte der andere, "Wenn du es so bezeichnen möchtest...
Ja. Xall, der geflügelte Löwe. Er ist ein sehr mächtiges
Wesen. Aber kein Gott, er lässt sich nicht verehren. Er lebt sehr
zurückgezogen, weil er weiß, dass Wahrheit eine Ansichtssache
ist. Aber er ist wahrhaft gerecht - in meinen Augen. Ich würde sagen,
man sieht es schon daran, dass er weder Ber'racchnann noch Nac'rastlen
ausstehen kann."
"Xall also...", murmelte Vhawiin und dann lauter, "lässt er
sich rufen, um einen Schwur zu bezeugen und für dessen Einhaltung
zu sorgen?"
"Das wurde schon getan, ja - aber wenn der Schwur gebrochen wurde,
war seine Strafe immer fruchtbar"
"Nun gut, ich werde sehen, was ich für meinen Clan hier tun
kann. Aber frühestens morgen - gute Nacht!", sie erhob sich und nahm
ihren Beutel auf.
"Viel Glück im Götterkampf!", der Alte nickte ihr zu.
***
Zwei Tage lang grübelte Vhawiin über ihren Plan nach, feilte
daran und überlegte. Einigen der Flüchtlinge aus den beiden Lagern
stellte sie Fragen. Sie erfuhr, wo die Lager der beiden Götter genau
lagen und dass schon seit einer Woche keine Schlacht mehr stattgefunden
hatte, weil beide Seiten ihre Kräfte sammelten. Doch sie wusste nicht,
wie sie den entscheidenden Punkt ihres Planes verwirklichen sollte - bis
ihr am dritten Tag der Zufall - oder was auch immer - zur Hilfe kam.
Ruhig saß sie vor der wackeligen Hütte, die sie inzwischen
mitbewohnen durfte, und dachte nach, als plötzlich ein verängstigt
heulendes Kind hinter einem Zelt hervorschoss. Beinahe wäre der Junge
über sie gefallen, doch sie packte ihn bei den Schultern und bewahrte
ihn vor dem Sturz.
Hinter dem Jungen kam nun auch der Grund seiner Panik hinter dem
Zelt hervorgetrottet: ein vierzigjähriger Mann mit dreckigen Haaren
und rotem Gesicht - er schwankte etwas.
"Du dummes Balg, bleib gefällichst da, wenn ich... Undankbarer
Bengel!"
Sie stand langsam auf.
Der Mann war sicher nicht mehr nüchtern und wirklich in Rage
und nach dem Strick in seiner Hand und den Striemen auf dem Rücken
des Jungen zu urteilen, hatte er angefangen, ihn zu verprügeln.
Ehe Vhawiin sich's versah war das Kind hinter ihrem Rücken
in Deckung gegangen und klammerte sich an ihrem Hosenbein fest.
"Steh nich im Wech, der Bengel da brauch seine Tracht Prügel!"
schnauzte der Betrunkene sie an.
Sie fühlte die zitternde Hand, die sich in ihre Hose gekrampft
hatte, und plötzlich machte es ‚Klick' in ihrem Hirn.
"Ähmmmm...", begann sie und überlegte fieberhaft, "was
hat er denn getan?"
"Mein´ gut´n Weneq-Saft hat er umgeworfen und jetzt
kann ich ihn aus ´ner Schlammpfütze saufen!"
Der alkoholische Gestank war fast unerträglich.
"Warum nimmst du nicht einfach meine Flasche mit Weneq-Saft? Willst
du sie haben? Sie ist da drüben in der Tasche, komm ich hol sie dir",
sie versuchte so beruhigend wie möglich zu klingen.
Das Interesse des Mannes schwankte taumelnd von dem Jungen zu der
versprochenen Flasche Weneq-Saft um und er folgte ihr zögernd zu ihrem
Beutel.
Das Kind verkroch sich unterdessen im nächstbesten Zelt, soviel
konnte Vhawiin noch aus den Augenwinkeln erkennen. Sie kramte in ihrer
Tasche und reichte dem Betrunkenen ihre Flasche, die ihn - wenn auch nicht
mehr ganz voll mit Saft - doch zufrieden stellte. Den Jungen hatte er längst
vergessen...
Er trotte zufrieden davon und nahm ein paar Schlucke.
Vhawiin lockte den Jungen mit dem Versprechen aus dem Zelt, dass
"er" nicht mehr da sei. Als sie das Kind weiter zu "ihm" befragte, stellte
sich heraus, dass "er" der Onkel des Jungen war und die Familie der beiden
dem Krieg zum Opfer gefallen war, weswegen sich der Onkel unfreiwillig
um sein Mündel kümmern musste. Was die Situation für den
Kleinen nicht besser machte, war, dass sein Onkel wegen der Trauer um seine
Frau zu trinken begonnen hatte und gerne Schläge austeilte.
Die entscheidende Frage aber hatte sie sich bis zum Schluss aufgehoben:
"Vor was fürchtest du dich am allermeisten auf der ganzen Welt?" wollte
sie ernst wissen.
"Vor meinem Onkel"
Vhawiin lächelte. Jetzt konnte es losgehen!
***
Birad, so hieß der Junge, stellte sich gar nicht ungeschickt
an: drei Tage lang hatte sie mit ihm trainiert und jetzt beherrschte er
seine Aufgabe. An Bäumen und Sträuchern hatte er üben müssen
und inzwischen konnte er mit dem gelernten Fußschlag ausgewachsenen
Männern die Zeugungsfähigkeit rauben und sie an den Rand der
Bewusstlosigkeit bringen - was er selbst aber nicht wusste, darauf hatte
sie peinlichst geachtet.
Er dufte unter keinen Umständen bemerken, wie wirksam seine
Angriffe auf einen Mann sein könnten, wenn dieser nur überrascht
genug war, um sich nicht zu verteidigen.
Alles was sie dem Jungen erzählt hatte, war, dass er sich damit
vielleicht eines Tages gegen seinen betrunkenen Onkel wehren könne...
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