Götterblut von KeyKeeper
Teil 4

Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden, als sie endlich die wenigen Feuer eines kleinen Lagers entdeckten. Die Landschaft hatte sich schon am frühen Vormittag von Wald zu Steppe gewandelt und jetzt konnten sie durch ein paar kleine dürre Sträucher und Bäume einige Zelte und schnell errichtete, behelfsmäßige Hütten erkennen. Tebach paddelte ans Ufer und Vhawiin half ihm, das Boot auf den Strand zu ziehen und an einem verkrüppelten Baum festzubinden. Sie luden sich die Beutel mit den Vorräten auf den Rücken und bahnten sich ihren Weg durch trockenes Gebüsch.
Kaum hatten sie das Gestrüpp durchbrochen, standen sie auch schon unvermittelt im Lager der Flüchtlinge. Drei, vier Schritt von ihnen entfernt saßen einige gebückte Gestalten auf gefällten Baumstämmen um ein kleines Feuer und starrten sie jetzt unverhohlen an.
"Ähm...", begann Vhawiin, "guten Abend..."
"Willkommen im Lager der Göttergeschlagenen!" begrüßte sie zynisch ein ungefähr dreißigjähriger Mann in alten, zerschlissenen Kleidern. "Tretet ruhig näher und gesellt euch zu denen, die nur 'bedauernswerte Opfer' sind" 
Vhawiin sah ihn offen an und ging tatsächlich zu dem Feuer und setzte sich auf einen der Baumstämme, stellte ihren Beutel vor sich ab und winkte ihren Begleiter heran.
"Woher kommt ihr denn?" fragte eine abgekämpfte junge Frau mit einem kleinen Kind im Arm resigniert. "Aus dem Süden", antwortete sie zaghaft - sie konnte sich vorstellen, welche Reaktion das auslösen würde.
Und damit hatte sie nicht unrecht: alle starrten sie verblüfft an, schüttelten ungläubig die Köpfe - bis auf den alten Mann, der neben ihr saß. Schlohweißes Haar und kurzer Bart, runzlige Haut und gebeugte Haltung zeichneten ein Bild seines Alters, jedoch die grünen Augen waren tief und klar.
"Wieso kommst du aus dem Süden hierher?" fragte er sanft.
"Mein Clan, der im Großen Wald lebt, spürt die Auswirkungen des Götterkrieges - obwohl wir nichteinmal wissen, welche Götter da kämpfen. Sie haben mich ausgesandt, um die Götter zu besänftigen."
"Dich und diesen Mann da? Mit nichts als diesen Beuteln in der Hand - sehr großzügig, dein Clan. Nichteinmal die stärksten Männer meines Dorfes vermochten sich gemeinsam gegen die Gewalt der Götter zu wehren..."
'Na das sind ja gute Aussichten...', dachte Vhawiin bei sich, 'aber mit Stärke zu gewinnen, darauf habe ich sowieso nicht gezählt.'
Sie grübelte, dann blitzen ihre Augen auf: 'Wissen und Macht - der Plan! Also: zuerstmal Wissen erlangen, Macht muss ich mir noch beschaffen...'

"Ähm", begann sie wieder vorsichtig, "welche Götter kämpfen hier überhaupt - leider weiß ich nicht, worum es bei dem Götterkrieg geht..."
"Vielleicht ist es besser, das nicht zu wissen und die Götter nicht zu kennen", antwortete der heruntergekommene Mann.
"Nun", ergriff der Alte das Wort, "es bekriegen sich Ber'racchnann, der Gott fegenden Sturmes und Nac'rastlen, der Gott des fließenden Feuers. 
Die Anhänger Ber'racchnanns kamen vor einiger Zeit aus dem Westen, schlugen hier ihr Lager auf und bekehrten viele zum Glauben an ihn. Der Sturmgott besitzt einen heiligen Speer, der von seinem Hohepriester mitgeführt wird. Dieser Speer kann Blitze schleudern und Gewitter heraufbeschwören - eine mächtige Waffe..."
"Wohl eher eine tödliche und schreckenserregende Waffe!" warf der jüngere Mann zynisch ein.
"Ja", der Alte nickte und fuhr fort, "Nac'rastlen, der Feuergott, der Herr eines Vulkans im Nordosten, befahl seinen Anhängern ebenfalls, auszuziehen und zu bekehren und sandte sie hierher. Und auch er fand hier neue Gläubige - aber die gerieten natürlich in Streit mit den Anhängern von Ber'racchnann, zum Teil weil Nac'rastlen Ber'racchnann seinen Speer neidet und diesen gern besitzen möchte, um seine Macht noch zu erweitern. Der Feuergott hat natürlich selbst immense Kräfte, er kann Flammen regnen lassen und macht, dass die Erde bebt, seinen Feinden droht ein Heißer Tod" 
"Und die, die verwundet werden, tragen furchtbare Narben", warf die junge Frau verbittert ein. Vhawiins Blick fiel auf die Hände der Frau, die mit schlecht verheilten Brandwunden übersäht waren - und sie war sich sicher, dass der Rest des von alter Kleidung verhüllten Körpers nicht besser aussah.
"Aber beide Götter, seien sie noch so mächtig, streben nach noch mehr Kraft und Gläubigen und wollen dem anderen seinen Besitz abringen. Wer siegen wird, das kann ich nicht sagen, da sie sich das Wasser reichen können. Aber sicher ist, dass die Opfer des Götterstreites unzählige sein werden, wenn das so weitergeht. 
Und für jeden, der es bis in dieses Lager geschafft hat und hofft, über das Meer zu fliehen, blieben etliche auf dem Weg zurück - fünf oder zehn; oder zwanzig? Wer kann das sagen.
Viele wurden Opfer des Götterkrieges. Genug, die keinem der beiden Götter angehörten und einfach nur hier lebten. Wenige, die sich ihren ehemaligen Herren, den Göttern, offen entgegenstellten und sie aufzuhalten versuchten. Etliche, die auf den Schlachtfeldern liegen, verbrannt und zerschmettert, die ihr Leben für eine Seite gegeben haben."
Vhawiin starrte grübelnd vor sich hin, "Und ich bin gekommen, um diese Götter zu besänftigen... Keine leichte Aufgabe - noch dazu, wenn, wie du sagst, keiner von beiden in nächster Zeit die Oberhand gewinnen wird!"
'Dann muss ich der Sieger in diesem Kampf sein', dachte sie entschlossen weiter.
"Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Aufgabe!", spottete der jüngere Mann. "Wenn du den Kampf der beiden beendest, dann bist du diejenige, der ich folgen werde!"
"Ich werde dich beim Wort nehmen", lächelte Vhawiin.

***

Nach einem kargen Essen aus den Vorratsbeuteln - der Proviant musste wohl noch länger reichen - saß Vhawiin immer noch grübelnd am Feuer. Tebach war schon längst in einer der Hütten verschwunden, Vhawiin dagegen starrte noch lange in die Flammen, wohl eine Stunde oder zwei. 
Plötzlich sah sie auf und wandte sich an den Alten, der auch noch dort hockte, als einziger der Gruppe.
"Warum fällt es Nac'rastlen so schwer, Ber'racchnann seinen Speer abzunehmen? Es sollte doch einem wendigen Menschen nicht schwer fallen, in das Lager des Sturmgottes zu schleichen und da den Speer zu stehlen?"
Der Mann musterte sie und antwortete dann: "Der heilige Speer wird von einem Dämonischen Wächter geschützt - wenn ihn der Hohepriester nicht selbst in der Hand hält und einsetzt - und an diesem Wächter ist bis jetzt noch keiner von Nac'rastlens Spionen vorbeigekommen. Der Dämon verwandelt sich angeblich in das, was sein Gegner am meisten fürchtet, mit all seinen Eigenschaften. Und jeder fürchtet jemanden, der irgendwie stärker ist als er selbst. Der Dämon ist dadurch immer stärker als sein Gegner..." 

Die "Stimme der Göttin" versank wieder in Schweigen. Aber es dauerte nicht lange, bis sie die nächste Frage stellte:
"Ist Nac'rastlen ein ehrenhafter Gott? Lässt er sich irgendwie an Versprechen binden?"
Ein kratziges Lachen erschütterte die schmale Brust des Mannes.
"Ein Gott und Versprechen halten? Das glaubst du ja wohl selbst nicht! Du musst schon mindestens so mächtig sein, wie er selbst, um ihn zu bedrohen, wenn er seine Schwüre bricht"
"Gibt es außer den beiden noch weitere Götter oder Mächtige hier?"
Er lächelte hintergründig. "Einige - aber keiner von diesen würde sich einmischen."
"Liegt einem von ihnen besonders an Gerechtigkeit?" 
Wieder lachte der andere, "Wenn du es so bezeichnen möchtest... Ja. Xall, der geflügelte Löwe. Er ist ein sehr mächtiges Wesen. Aber kein Gott, er lässt sich nicht verehren. Er lebt sehr zurückgezogen, weil er weiß, dass Wahrheit eine Ansichtssache ist. Aber er ist wahrhaft gerecht - in meinen Augen. Ich würde sagen, man sieht es schon daran, dass er weder Ber'racchnann noch Nac'rastlen ausstehen kann."

"Xall also...", murmelte Vhawiin und dann lauter, "lässt er sich rufen, um einen Schwur zu bezeugen und für dessen Einhaltung zu sorgen?" 
"Das wurde schon getan, ja - aber wenn der Schwur gebrochen wurde, war seine Strafe immer fruchtbar"
"Nun gut, ich werde sehen, was ich für meinen Clan hier tun kann. Aber frühestens morgen - gute Nacht!", sie erhob sich und nahm ihren Beutel auf.
"Viel Glück im Götterkampf!", der Alte nickte ihr zu.

***

Zwei Tage lang grübelte Vhawiin über ihren Plan nach, feilte daran und überlegte. Einigen der Flüchtlinge aus den beiden Lagern stellte sie Fragen. Sie erfuhr, wo die Lager der beiden Götter genau lagen und dass schon seit einer Woche keine Schlacht mehr stattgefunden hatte, weil beide Seiten ihre Kräfte sammelten. Doch sie wusste nicht, wie sie den entscheidenden Punkt ihres Planes verwirklichen sollte - bis ihr am dritten Tag der Zufall - oder was auch immer - zur Hilfe kam.

Ruhig saß sie vor der wackeligen Hütte, die sie inzwischen mitbewohnen durfte, und dachte nach, als plötzlich ein verängstigt heulendes Kind hinter einem Zelt hervorschoss. Beinahe wäre der Junge über sie gefallen, doch sie packte ihn bei den Schultern und bewahrte ihn vor dem Sturz.
Hinter dem Jungen kam nun auch der Grund seiner Panik hinter dem Zelt hervorgetrottet: ein vierzigjähriger Mann mit dreckigen Haaren und rotem Gesicht - er schwankte etwas.
"Du dummes Balg, bleib gefällichst da, wenn ich... Undankbarer Bengel!"
Sie stand langsam auf.
Der Mann war sicher nicht mehr nüchtern und wirklich in Rage und nach dem Strick in seiner Hand und den Striemen auf dem Rücken des Jungen zu urteilen, hatte er angefangen, ihn zu verprügeln.
Ehe Vhawiin sich's versah war das Kind hinter ihrem Rücken in Deckung gegangen und klammerte sich an ihrem Hosenbein fest.
"Steh nich im Wech, der Bengel da brauch seine Tracht Prügel!" schnauzte der Betrunkene sie an.
Sie fühlte die zitternde Hand, die sich in ihre Hose gekrampft hatte, und plötzlich machte es ‚Klick' in ihrem Hirn.
"Ähmmmm...", begann sie und überlegte fieberhaft, "was hat er denn getan?"
"Mein´ gut´n Weneq-Saft hat er umgeworfen und jetzt kann ich ihn aus ´ner Schlammpfütze saufen!"
Der alkoholische Gestank war fast unerträglich.
"Warum nimmst du nicht einfach meine Flasche mit Weneq-Saft? Willst du sie haben? Sie ist da drüben in der Tasche, komm ich hol sie dir", sie versuchte so beruhigend wie möglich zu klingen.
Das Interesse des Mannes schwankte taumelnd von dem Jungen zu der versprochenen Flasche Weneq-Saft um und er folgte ihr zögernd zu ihrem Beutel.
Das Kind verkroch sich unterdessen im nächstbesten Zelt, soviel konnte Vhawiin noch aus den Augenwinkeln erkennen. Sie kramte in ihrer Tasche und reichte dem Betrunkenen ihre Flasche, die ihn - wenn auch nicht mehr ganz voll mit Saft - doch zufrieden stellte. Den Jungen hatte er längst vergessen...
Er trotte zufrieden davon und nahm ein paar Schlucke.

Vhawiin lockte den Jungen mit dem Versprechen aus dem Zelt, dass "er" nicht mehr da sei. Als sie das Kind weiter zu "ihm" befragte, stellte sich heraus, dass "er" der Onkel des Jungen war und die Familie der beiden dem Krieg zum Opfer gefallen war, weswegen sich der Onkel unfreiwillig um sein Mündel kümmern musste. Was die Situation für den Kleinen nicht besser machte, war, dass sein Onkel wegen der Trauer um seine Frau zu trinken begonnen hatte und gerne Schläge austeilte.
Die entscheidende Frage aber hatte sie sich bis zum Schluss aufgehoben: "Vor was fürchtest du dich am allermeisten auf der ganzen Welt?" wollte sie ernst wissen.
"Vor meinem Onkel"
Vhawiin lächelte. Jetzt konnte es losgehen!

***

Birad, so hieß der Junge, stellte sich gar nicht ungeschickt an: drei Tage lang hatte sie mit ihm trainiert und jetzt beherrschte er seine Aufgabe. An Bäumen und Sträuchern hatte er üben müssen und inzwischen konnte er mit dem gelernten Fußschlag ausgewachsenen Männern die Zeugungsfähigkeit rauben und sie an den Rand der Bewusstlosigkeit bringen - was er selbst aber nicht wusste, darauf hatte sie peinlichst geachtet.
Er dufte unter keinen Umständen bemerken, wie wirksam seine Angriffe auf einen Mann sein könnten, wenn dieser nur überrascht genug war, um sich nicht zu verteidigen.
Alles was sie dem Jungen erzählt hatte, war, dass er sich damit vielleicht eines Tages gegen seinen betrunkenen Onkel wehren könne...
 

Und hier geht es zu Götterblut - Teil 5!
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