Nach einer langen und ermüdenden Nacht des Laufens, kam Vhawiin
alleine wieder im Flüchtlingslager an und verschlief dort den halben
Tag, um sich gründlich auszuruhen für den nächsten Schritt.
Schließlich suchte sie den kleinen Jungen, den sie vor seinem Onkel
"gerettet" hatte, auf und machte sich mit diesem noch am Abend auf den
Weg. Auf Abenteuersuche, wie sie es dem neugierigen Birad erzählte,
auf Abenteuersuche in Ber'racchnanns Lager, was sie tunlichst verschwieg.
Nach knapp zweieinhalb Tagen Reise durch trockene und öde Steppe
mit nur vereinzelten Flüsschen, erreichten sie das Lager, wiederum
am Abend.
Nachdem sie Birad eingeschärft hatte, keinen Mucks von sich
zu geben, legte sie ein Tuch als Gesichtsschleier um und zog den schönen
neuen Mantel von Dhadshera an.
Und dann stolzierte sie, den Jungen an der Hand, auf den nächsten
männlichen Wachposten des Kriegslagers zu, den sie erkennen konnte.
Der Unterschied zu Nac'rastlens Lager war nicht sehr groß: Zelte,
der Geruch nach verschwitzten Kriegern, einige Pferde - Vhawiin hatte zwar
vom "Reiten" gehört, konnte sich aber nicht vorstellen, auf so einem
Tier zu sitzen - und einige Wachfeuer.
"Heda, was willst du!?", rief der Wächter sie an - und man
konnte den feinen Unterton der Langeweile aus seinem Tonfall heraushören
- offenbar hatte sich seit Tagen nichts ungewöhnliches mehr getan.
Sie trat näher und versuchte einen aufreizenden Augenaufschlag
über dem verhüllenden Gesichtsschleier, dann ließ sie eine
möglichst sinnliche Stimme schnurren:
"Ich komme, um den Hohepriester mit meinen Vorzügen zu erfreuen...
Wo Krieg ist, da sind oft sehr einsame Männer unterwegs, auch wenn
Kriegerinnen in der Nähe sind. Man braucht eben einen warmen und weichen
Frauenkörper und kein verschwitztes Muskelpaket von Kriegerin... du
kennst das, oder?"
Vhawiin selbst fand dieses Geflöte ziemlich dämlich, aber
auf den stämmigen Krieger mit gewissen, seit langem unbefriedigten
Bedürfnissen, schien es durchaus zu wirken.
Außerdem: was konnte so eine vergleichsweise kleine und wenig
muskulöse Frau schon gegen ein Lager voll Krieger ausrichten?
"Was ist mit dem Kleinen da?" fragte er weiter.
"Das ist mein kleiner Bruder - er ist stumm und taub, aber ich muss
auf ihn aufpassen. Er stört nicht weiter..."
Schon wanderte der Blick des Wachpostens von Birad wieder zu Vhawiin
- und zog sie förmlich aus.
"Willst du nicht erst mal hier bleiben und mich erfreuen?", fragte
er anzüglich lachend.
"Naja, ich kann ja nicht zum Hohepriester gehen, wenn ich noch ganz
außer Atem von einem Stündchen ‚Unterhaltung' mit dir bin...
Da wäre er bestimmt nicht erfreut... Aber was hältst du davon,
wenn ich auf dem Rückweg mal vorbeischaue?"
"Das lässt mich hoffen - das Leben eines Kriegers ist doch
nicht so schlecht! Beeil dich, Schöne!"
"Das werde ich!"
Als sie um das nächste Zelt verschwunden war, grinste sie zufrieden
- Tebach hatte ihr unwillentlich ziemlich viel über Männer und
auch Frauen beigebracht.
***
Sie steuerte - Birad noch immer an ihrer Hand - möglichst unauffällig
auf das Zentrum des schlafenden Lagers zu und fand dort - genau wie sie
es aus den Berichten der Flüchtlinge erfahren hatte - ein großes,
unbewachtes Zelt mit einigen Wimpeln und Bannern mit heiligen Symbolen.
Menschliche Wächter hatte dieses Zelt nicht nötig, denn was drinnen
auf Eindringlinge wartete, war genug, um auch die stärksten und gewandtesten
Diebe aufzuhalten...
Ihr Blick heftete sich auf das Ziel ihrer Reise, dieses Zelt, und
leise wie eine Raubkatze auf der Jagd, steuerte sie darauf zu.
Aber den Jungen an ihrer Hand, der relativ verdutzt hinter ihr hertapste,
hatte sie nicht mehr im Kopf...
Ein Schrei tönte durch das Lager, für Vhawiins Ohren laut
wie ein Donnerschlag. Eigentlich waren es zwei Schreie - ein heller und
ein tieferer, krächzender...
Birad war über jemanden gestolpert und hatte erschrocken aufgeschrieen,
während das getretene Etwas am Boden eher empört gegrölt
hatte. Und es wollte nicht damit aufhören:
"Hey, was soll das, kann man hier nichtmal in Ruhe schlafen oder
was?" lallte eine deutlich betrunkene Stimme durch die Nacht.
'Ooouuhh Scheiße!' dachte Vhawiin. Sie packte Birad,
schwang ihn sich mit der Kraft der Angst über die Schulter und rannte.
Hinter das nächste Zelt tauchte sie, lief im Zickzack um drei
weitere und warf sich - den Jungen jetzt an ihren Körper gepresst
- in das, von dem sie hoffte, dass es ein Vorratszelt war...
Das Poltern eines fallenden Holzschildes schien Vhawiin viel zu laut.
Aber was fiel schlimmer war, waren die nackten, dreckigen und stinkenden
Füße, die neben ihrem Kopf auf dem Boden lagen. Wenn sie sie
nicht im Halbdunkel hätte sehen können, so hätte sie sie
am Geruch erkannt.
Und die Füße - zusammen mit dem dazugehörigen, schlafenden
Krieger - bewegten sich...
Vhawiin hielt zitternd den Atem an und presste ihre Hand auf Birads
Mund. Ihr Blick eilte suchend über den Inhalt des Zeltes, während
ihre Gedanken rasten.
Es war natürlich kein Vorratszelt, sondern die Unterkunft des
schlafenden Kriegers: seine Lederrüstung und Waffen lehnten an einer
Holztruhe neben dem Eingang - dort wo vor einigen Herzschlägen auch
noch das Holzschild gestanden hatte... Aber wenigstens war er allein...
Der Mann drehte sich auf den Rücken und sein verschlafenes Brabbeln
wurde deutlicher....
Vhawiins Muskeln spannten sich als sie hochschnellte, sie drückte
Birad auf den Boden und hoffte, dass er nicht schreien würde. Dann
lag ihre Hand auch schon auf dem Kurzschwert des Kriegers und die dreckige
Klinge scharrte leise, als sie aus der Lederscheide gezogen wurde.
In diesem Moment setzte sich der Krieger auf, blinzelte mühsam
und öffnete den Mund zu einer verwirrten Frage.
Die Klinge fuhr lautlos und blitzschnell durch das warme Halbdunkel
und schnitt die Worte des Zeltbewohners vor ihrem Aussprechen ab. Vhawiin
wurde von dem Schwung, den sie der Waffe in ihrer Verzweiflung gegeben
hatte, mitgerissen und torkelte um ihre eigene Achse, schaffte es aber,
sich zu fangen, ohne Lärm zu verursachen.
Blut war über das Innere des Zeltes gespritzt als die Halsschlagader
des Kriegers zusammen mit seiner Kehle aufgerissen worden war. Birad war
nicht besudelt, aber ihr eigenes Hemd wies Spuren ihrer Tat auf. Der Mantel,
der nach ihrer Flucht nicht mehr auf ihren Schultern gelegen war, sondern
nur noch an ihrem Hals hing, war glücklicherweise noch sauber.
Vhawiin versuchte leise zu Atem zu kommen und packte Birad erneut,
um ihm die Hand auf den Mund zu pressen. Sie legte den Zeigefinger der
anderen Hand auf ihre Lippen und sah ihn eindringlich an. Nach einigen
Augenblicken nickte er verstört und sie nahm ihre Hand weg.
Angestrengt horchte sie auf Geräusche, die ihr verraten sollten,
was vor dem Zelt vorging. Es war ruhig. Einige Minuten verharrte sie angespannt
in Stille, bis sie sicher war, dass keiner sie bemerkt hatte.
Der Betrunkene war wohl betäubt genug gewesen, um sich keine
weiteren Gedanken zu machen...
'Das war verdammt knapp! Ich muss besser aufpassen', dachte sie noch
zitternd. Dann zog sie vorsichtig die Decke des Kriegers unter seinem Arm
hervor und wischte sich selbst und das Kurzschwert damit ab. Leise rollte
sie den Mann auf die Seite und deckte ihn - mit der unbeschmutzten Seite
der Decke nach oben - zu, so dass er wie ein Schlafender wirkte.
Das Schwert schob sie in die Scheide zurück und befestigte
diese an ihrem Gürtel - eine kleine Sicherheit mehr in diesem riskanten
Unterfangen...
Hoffentlich wurde der Tote nicht allzubald bemerkt...
Schließlich wandte sie sich flüsternd dem verstörten
Jungen an ihrer Seite zu:
"Birad, der da war ein ganz böser Mensch, der wollte uns etwas
antun. Wir haben Glück gehabt, dass er nicht schnell genug war! Wir
müssen hier ganz vorsichtig sein und aufpassen, dass wir niemandem
auffallen, sonst klappt das mit dem Abenteuer nicht!"
Er nickte verständig.
"Hab keine Angst", fuhr sie fort, "bald haben wir's geschafft -
und dann sind wir ganz groß!"
Wieder nickte er nur.
"Komm mit, jetzt geht das Abenteuer erst richtig los"
Sie zog ihren Mantel zurecht, so dass man die Blutflecken auf ihrem
Hemd und das Schwert an ihrer Seite nicht sehen konnte, dann führte
sie Birad aus dem Zelt.
Diesmal gab sie genau acht, dass er keine Geräusche verursachte!
***
Auf der Rückseite des Zeltes im Mittelpunkt des Lagers hielt
sie an und raunte Birad zu:
"Jetzt beginnt unser Abenteuer...", sie unterbrach sich und sah
sich lauschend um. Dabei drehte sie das Gesicht von ihm weg, so dass er
nicht sehen konnte, dass sie es war, die jetzt mit verstellter Stimme sprach.
"Birad!", erklang plötzlich die betrunkene und wütende
Stimme des "Onkels" aus dem Zelt. Der Junge - an diesem Abend schon verängstigt
genug - zuckte zusammen und hätte beinahe zu weinen angefangen.
Er war viel zu verwirrt, um sich zu fragen, wie sein Oheim hierher
kam.
Genau auf diese Verwirrtheit hatte Vhawiin gewartet und, ohne auch
nur einen Augenblick zu verlieren, wandte sie sich ihm wieder zu und hielt
ihm den Mund zu.
"Shhh! Leise! Ich habe dir doch gezeigt, wie du dich verteidigen
kannst! Jetzt ist es Zeit, das Gelernte anzuwenden"
Birad nickte mit zusammengebissenen Zähnen und ballte die Fäuste,
aber sie sah Tränen auf seinem Gesicht.
Vhawiin zog einen der Holzpflöcke, die das Zelt aufspannten,
aus der Erde und hob die Zeltplane an.
"Geh zu ihm ins Zelt und zeig ihm, dass du nicht mehr herumgeschubst
werden kannst!" stachelte sie ihn noch mehr an.
Im Innersten hoffte sie inständig, dass dieser gewagte Plan
auch funktionieren würde - und dass Birad wieder lebend aus diesem
Zelt heraus kam...
Er krabbelte zögernd in die warme Dunkelheit und die "Stimme
der Göttin" konnte sein Aufschluchzen hören, ebenso wie das Grummeln
des wütenden Onkels. Birad wurde offensichtlich gerade in die Ecke
gedrängt und sie konnte seine Angst schon fast selbst spüren...
Dann folgten ein kleines verzweifelt-angstvolles Knurren und schließlich
ein leiser Kampfschrei, als der Junge - wie er es gelernt hatte - überraschend
dem Onkel entgegen sprang und einen harten Tritt in seinen Unterleib landete.
Einen Tritt, der dem wahren Onkel die Zeugungsfähigkeit geraubt
hätte, einen Tritt, der den falschen Onkel, den Wächterdämon,
auf dem Boden zusammengekrümmt und nahe der Bewusstlosigkeit zurückließ.
Vhawiin schob Birad ein Seil zu mit dem er seinen "Onkel" - wie
sie es ihm eingeprägt hatte - fesseln sollte und schlüpfte erst
dann in das Zelt - schließlich wollte sie dem Dämon nicht die
Chance geben, sich in ihren eigenen Angstgegner zu verwandeln!
Der Dämon nahm offenbar wirklich alle Eigenschaften desjenigen
an, vor dem sich sein Gegenüber am meisten fürchtete. Auch die
Schwachstellen! Hervorragend!
Ein erwachsener Krieger mochte nicht in der Lage sein, seinen größten
Schrecken zu besiegen, aber ein verängstigter Junge schon.
Vhawiin grinste zufrieden und strich Birad über den Kopf.
Sie sah sich aufmerksam um und schob sich Rik-Rinde in den Mund.
Und tatsächlich, dort lag er, auf einem Holzgestell: der Speer
von Ber'racchnann. Ein ehrenvoller Platz für einen magischen Gegenstand,
der soviel Macht besaß, dass die "Stimme der Göttin" das ganze
Zelt von Nebel gefüllt sah.
Sie wob einen Schutzzauber, um sich vor Ber'racchnann zu verbergen,
falls dieser sie beobachten konnte, und griff nach dem Speer. Er war nicht
sehr schwer und hatte eine steinerne Spitze, von der der magische Nebel
herabfloss. Und sie konnte das Prickeln der Magie fühlen, zuerst in
der Hand, dann im ganzen Arm und schließlich am Oberkörper.
"Birad, komm! Gehen wir!", raunte sie dem Jungen zu. Ebenso schnell
wie die beiden ins Zelt eingedrungen waren, verschwanden sie auch wieder,
einen geschlagenen Dämon zurücklassend. Auf dem Rückweg
durch das nächtliche Lager schaffte Vhawiin es, den Speer einigermaßen
unter ihrem Mantel zu verbergen, aber sie trafen glücklicherweise
auf niemanden, der sie aufhalten hätte wollen.
Wieder bei dem Wachposten von vorhin angekommen, verbarg Vhawiin
sich hinter einem nahen Zelt und schickte Birad, um den Wächter mit
den Gesten eines Taubstummen aufzufordern, ihm zu seiner "Schwester" zu
folgen.
Aufreizend schielte sie hinter dem Zelt hervor und winkte den Mann
zu sich, in der Verheißung einer angenehmen Nacht, dann verschwand
sie wieder dahinter.
Als der Mann freudig grinsend um die Ecke bog, machte er Bekanntschaft
mit dem Schaft von Ber'racchnanns Speer. Wenn er aus dem kurzen "Schlummer"
erwachen würde, würde er den heißen Kuss eines Knebels
und die heftige Umarmung von Arm- und Fußfesseln spüren.
Vhawiin wuschelte dem Wächter durchs Haar und grinste begeistert:
"Ich liebe euch Männer - ihr seid einfach toll!"
Und dann zu dem Jungen: "Komm Birad, nach diesem Abenteuer haben
wir uns ein wenig Ausruhen verdient. Aber nicht hier... Gehen wir..."
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