Götterblut von KeyKeeper
Teil 10

Die Druidin stolperte auf den Dorfplatz. Hinter ihr schritt die Stimme der Göttin und schubste die Alte weiter, bis diese im Zentrum der Hütten stand und auch schon die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfes auf sich gezogen hatte.
"Nun bin ich zurückgekehrt aus dem Norden", sprach Vhawiin mit Kir'iri'jaths überirdischer Stimme, "und habe die bösen Dämonen dort besiegt und was sehe ich, sobald ich zurückkomme?
Nicht nur die fremden Dämonen, nein auch die eigenen Leute greifen mich an! Diese Frau, die ihr eure Druidin nennt, hat mich verleumdet und Böses wieder mich geredet! Und sie hat diesen Tempel" - Vhawiin zeigte auf das große Steingebäude nordwestlich des Dorfplatzes, das hinter den Hütten hervorragte und das sie selbst jetzt zum ersten Male sah - "bauen lassen zu Ehren anderer Götter, während sie mich fernab wähnte. Doch meine Augen sind überall und meine Ohren hören jedes Flüstern!
Aber das sind noch nicht alle Vergehen, die diese auf sich geladen hat, noch viel schlimmeres wohnt in dieser Frau! Sie ist von einem Geist besessen, der dem Dorf Übles will!"
Bei diesen Worten lockerte Vhawiin den geistigen Griff um die Alte etwas und verursachte ihr zugleich rasende Schmerzen in der Brust. Die Druidin bäumte sich auf und schrie Unverständliches, es fehlte ihr aber die Möglichkeit, sich kontrolliert zu bewegen... Sie wirkte wie eine Geistesbessene...
"Dieser Geist", fuhr die Stimme der Göttin fort, "hat sie dazu getrieben, den Kristallfluss zu vergiften! Es mögen alle Bewohner des Dorfes mir zu der Waldlichtung am oberen Lauf des Flusses folgen, wo die Haitanee ganze Körbe mit gelbem Gift ins Wasser geschüttet hat!"
Die Dorfbewohner murrten und murmelten schon eine geraume Zeit, doch jetzt folgte ein Aufschrei und wer noch nicht stand, sprang auf.
"Folgt mir nur nach, ich werde euch die Lichtung zeigen!", stachelte Vhawiin sie noch weiter an...

***

Vhawiin war äußerst zufrieden: Nachdem die Dorfbewohner die Körbe mit dem gelblichen Giftbrei tatsächlich gesehen und die Druidin sich - mit etwas Nachhilfe - wie eine Besessene benommen hatte, hatten die Dörfler Bestrafung gefordert. Die "Geistaustreibung" würde morgen nacht stattfinden...
Natürlich hatte Vhawiin vor ihrer Abreise nicht wissen können, dass die Haitanee zu solch drastischen Mitteln wie Gift greifen würde, um ihre Macht zu behalten und zu stützen, doch sie hatte damit gerechnet, die Druidin nach ihrer Rückkehr stürzen zu können:
Die gezielte Erwähnung des neuen Tempels für Kir'iri'jath vor ihrem Aufbruch hatte ausgereicht, um die Alte dazu zu veranlassen, selbst ein größeres Heiligtum für die anderen Götter zu bauen, als deren Mittlerin sie ja auftrat... Worauf Vhawiin sich fest verlassen hatte, weil sie wusste, wie gierig die Druidin war.
Der neue Tempel hatte gleich zwei Vorteile: Die "Stimme der Göttin" konnte die Druidin dafür stürzen und sie konnte ihn danach zu Kir'iri'jaths Heiligtum umfunktionieren!

Tebachs Tod erklärte sie als ein "mutiges Opfer für die Göttin, nachdem er seine sündige Vergangenheit abgelegt hatte und zu wahrem Edelmut" gekommen war, seine Witwe wurde mit Gold aus Nac'rastlens Lager "entschädigt". Obwohl sie Irrsinnigerweise an dem Nichtsnutz gehangen hatte, war sie unter den Tränen doch glücklich, den lebendigen Taugenichts gegen einen toten Märtyrer und Helden, den sie bewundern konnte, tauschen zu können...

Dann hatte Vhawiin Khalan, "das Schwert der Stimme", und Asteran, "die Erwählte Dienerin", zusammen losgeschickt, um die neuen Gläubigen aus dem Norden ins Dorf zu holen. Es waren doch einige, die der neuen Göttin gefolgt waren anstatt im "Befreiten Land" zurückzubleiben und auch ein Teil des Heeres war darunter.
Insgesamt waren es wohl ungefähr zweimal so viele, wie bis jetzt im Dorf lebten, also etwa zweihundert. Auch Birad war darunter, der ein neues Heim bei Dhadshara finden sollte.
Und wenn es der "Stimme" gelang, alle hier anzusiedeln und die neue Gesellschaft mit Hilfe der alten Anführer zum Funktionieren zu bringen, dann würde es ihr möglich sein, nochmals in den Norden aufzubrechen und dort die Gläubigen aufzusammeln, die ihr beim ersten Mal nicht folgen konnten oder wollten.

Bis dahin aber musste sie viel mehr über Menschen, Krieg, Kampf und Organisation lernen, das war ihr klar.
Aber Khalan als Heerführerin, der Schüler der Druidin, die Anführer des Dorfes und die Menschen selbst würden ihr unbewusst noch einiges beibringen...

***

Blitze zuckten über dem entfernten Meer und dunkle Wolken schoben sich vor das noch dunklere Firmament, als Vhawiin die Druidin auf dem Dorfplatz all ihrer Vergehen anklagte. 

Der alte Mann mit den tiefen grünen Augen fuhr sich über den Bart. Er stand einzeln etwas abseits der empörten Menge der alten und neuen Dorfbewohner und betrachtete die Druidin, die sich halb bewusstlos am Boden regte. Dann wanderte sein Blick zu Vhawiin - oder besser zur "Stimme der Göttin" - und musterte auch sie ernsthaft.
"Du hast wirklich Glück gehabt, Kind", murmelte er leise, "Du bist so jung und dennoch schon gerissen, aber du hattest irrsinniges Glück...
Deine riskanten Pläne sind aufgegangen und was mich noch mehr verwundert hat, ist, dass du an der wahnsinnigen Menge Magie nicht verbrannt bist... 
Stolz kannst du sein! Den Weg hast du selbst gefunden, den Plan selbst geschmiedet, die Fragen an mich selbst erdacht. Ich bin sehr gespannt, was aus dir wird..."

Als Vhawiin ihre donnernde Ansprache beendet hatte und alte wie neue Dorfbewohner wütend nach Bestrafung schrieen, schoss ein zischender Feuerring aus dem Boden, der die zerstörte alte Frau einschloss. 
Mühsam versuchte diese, sich aufzurichten - in den letzten Stunden war ihr Geist von einem betäubenden Kraut gelähmt und ihre magischen Fähigkeiten gefesselt gewesen - aber sie scheiterte an dem muskellähmenden Schlafgift, das noch immer in ihrem Körper war. 
Tränen der Verzweiflung liefen über das staubige, gegerbte und runzlige Gesicht und hinterließen Spuren im Dreck auf ihrer Haut. Sie versuchte mit schwerer, gequollener Zunge zu bitten und zu klagen, aber selbst innerhalb des Kreises aus hämisch zischendem Feuer konnte man nur unartikuliertes Heulen hören. Es war wie einer der vielen Alpträume, die sie ihr ganzes Leben lang gequält hatten - sie konnte sich im unmittelbaren Angesicht der Gefahr nicht mehr wehren und war doch selbst früher so mächtig gewesen... Alle die Kontrolle, die sie besessen hatte, war auf einmal zu Staub zerfallen.
War dies schließlich der Preis für ihre Macht? Und wenn ja - würde nicht auch Vhawiin eines Tages, am Ende dieser strahlend-hellen Bahn am Firmament, die sie gerade erst begann, vom gleichen Schicksal getroffen werden?
 

So, das war nun Götterblut.
Doch ob die Geschichte wirklich an dieser Stelle endet, weiß allein Kir'iri'jath...
.