Goldene von Marc Kuhn

Eisig strich der Flugwind an seinem Körper entlang, doch es scherte ihn nicht.
Im jugendlichen Überschwang trotzte er der in seine Knochen einzudringen suchenden Kälte und setzte ihr die Hitze seiner ihm schier endlos scheinenden Kraft entgegen. 
Jeder kraftvolle Schlag seiner Schwingen trug ihn ein Stück höher empor und brachte ihn näher an sein Ziel.
Er hatte es jedoch nicht besonders eilig. Zu sehr genoß er den Augenblick. Das Gefühl der Macht und Schnelligkeit das ihm sein Ringen mit seinem ureigenen Element der Luft gewährte.
Immer wieder unterbrach er seinen Kurs, ließ sich treiben oder warf sich in einer wilden Drehung am Himmel herum. Er rang mit den Strömungen die ihn umgaben. Jung, sorglos und unerfahren.
Selbstverliebt betrachtete er die Lichtspiele, die die hoch stehende Sonne auf sein Schuppenkleid zauberte. 
Das Aufblitzen von Gold an seinen Flanken, der dunkle Bronzeton seines Bauches, der im richtigen Winkel getroffen fast rötlich leuchtete und das sanfte Schimmern seiner Flügel, die das Licht zu einem Bestandteil ihrer selbst zu machen schienen.
Fast ungewollt ergab er sich in seiner Freude einem Drang und öffnete seine Schnauze um einen langen, sogar in der dünnen Luft seiner gegenwärtigen Höhe weittragenden Ruf erklingen zu lassen.
Das, was man bei Drachen ein Lächeln nannte, stahl sich über sein Antlitz, als ihm sein Tun bewußt wurde und ihn für einen Moment aus seiner Träumerei riß. 
Eine in der Ferne aufragende Felsspitze erregte sein Interesse, war sie doch das eigentliche Ziel seines Fluges.
Vergessen war sein übermütiges Spiel als ganz andere Gedanken sich in seinem Geiste formten. Gedanken und Bilder die seinen Flug beschleunigten und ihn nun ohne Abweichungen näher an die auffällige Formation heran trugen, auch wenn er sich das niemals eingestanden hätte.
Nur wenige Augenblicke nahm es in Anspruch, ihn dorthin zu bringen. Langsam begann er tiefer zu kreisen und er nahm nun doch mit einer gewissen Dankbarkeit die langsam wärmer werdenden Luftströmungen wahr. 
Forschend glitt sein Blick über die Abhänge der Felsnadel während er auf ausgebreiteten Schwingen schwebte.
Ein rotgoldenes Strahlen beendete seine Suche. Dort, genüßlich in der Sonne ausgestreckt, lag der Grund für seine Reise.
Den langen Hals gebogen, das Haupt auf ihren Schwingen ruhend, lag dort ein Weibchen seiner Rasse.
Bewundernd nahm er ihren Anblick in sich auf und ließ die Magie, die das Schimmern das Lichtes auf ihrem Körper in seinem Inneren bewirkte, wirken.
Eine Weile kreiste er unbemerkt. Unschlüssig, ja verschüchtert.
Doch dann ließ er erneut seinen Ruf erklingen, um ihr seine Anwesenheit bewußt zu machen.
Kraftvoll brach sich dieser an den Felsen und klang noch eine Weile nach, bevor der letzte Ton in der klaren Luft
verhallte. 
Ein letzter, wohl geplanter Schlag seiner Schwingen ermöglichte es dem Drachen, seine Hinterklauen in den Felsensims zu schlagen auf dem das Weibchen ruhte. Schwungvoll, und wohl auch ein wenig prahlerisch, faltete er sie dann zusammen und wandte ihr erwartungsvoll sein Haupt zu.
Sie betrachtete ihn. Keinerlei Überraschung zeigte sich in ihren Augen über sein plötzliches Auftauchen. Bedächtig ließ sie ihren Blick an ihm entlang wandern. Als sie seine wachsenden Unsicherheit wahrnahm, konnte sie gerade noch ein verräterisches Zucken ihrer Schnauze verbergen, das ihm nur zu deutlich gezeigt hätte, was sie empfand.
Fragend legte sie ihren Kopf schief und schien ihn herauszufordern.
Ein verwirrtes Schnauben entrang sich ihm. Was erwartete sie? Er war hier. Was konnte sie denn noch verlangen?
Doch unverwandt starrte sie ihn an und ließ erkennen, daß der nächste Schritt an ihm war.
Vorsichtig näherte er sich ihr. Sein langer Hals schwang vor und zurück während er seine Schwingen halb öffnete und dann wieder schloß. Das Bild jugendlicher Stärke, das er noch vor so kurzer Zeit geboten hatte, war etwas gewichen, das mehr an das Ungeschick früherer Jahre zu erinnern schien.
Unverwandt bettete das Weibchen ihr Haupt wieder auf ihren Schwingen, beobachtete jedoch weiterhin unter halb geschlossenen Liedern den jungen Drachen.
Verflogen war dessen gerade noch empfundenes Hochgefühl. In den Hintergrund gedrängt von Verunsicherung und Unschlüssigkeit. In einer Situation gefangen, die nicht seinen Vorstellungen entsprach, suchte er nach einem Ausweg.
Seine Schwingen entfalteten sich und ein kurzer, aber mächtiger Stoß seiner Hinterbeine ließen ihn sich wieder in die Luft erheben. 
Schnell gewann er an Höhe, sich fragend warum er dies tat. Seit wann zog ein Drache sich zurück? Es gab keine Gründe. Und doch drängte ihn etwas dazu weiter zufliegen.
Er grollte frustriert.
Ein amüsiertes Schnauben antwortete ihm.
Überrascht warf er sich herum. Sie war dicht hinter ihm. Spielerisch schnappte sie nach seinem Schweif.
Grenzenlose Verwirrung durchfuhr den Drachen. Er verlor einiges an Höhe bevor er darauf aufmerksam wurde.
Doch dann sah er das amüsierte Funkeln in ihren Augen und verlor sich darin. 
Seine Unsicherheit verflog. Eine kleine Anstrengung trug ihn zu ihr zurück. Diesmal war es an ihm, ihr fragend entgegen zu blicken.
Ihn unverwandt anblickend glitt sie neben ihn und paßte den Schlag ihrer Schwingen an den seinen an.
Aber nur kurz gewährte sie ihm diesen Einblick in ihr Innerstes bevor sie sich mit einem schalkhaften Grinsen von ihm abwandte und von ihm wegtauchte.
Diesmal war es an ihm ihr zu folgen. 
Lange Zeit ergaben sie sich diesem Spiel, das dem, das der Drache noch vor kurzer Zeit alleine gespielt hatte, so ähnlich und doch so verschieden davon war.
Der goldene Glanz ihrer Leiber verschmolz immer öfter miteinander bis sie letztendlich, ihre Hälse umeinander geschlungen, beieinander flogen. Ihr Leuchten war eins geworden.
Der Drache hatte sein Ziel gefunden.