Halbohr von Morgenblume

Nur zu gut kenne ich das Schicksal meiner Vorfahren, welche uns hierher auf diese Welt der Zwei Monde brachten. Viele von ihnen starben durch die Hand jener Wesen, welche sich Menschen nennen.
Und auch heute noch werden wir von ihnen gejagt und getötet. Ich möchte nicht wissen, was mit meiner Familie geschah. Ob sie wohl schon im Palast verweilen, oder noch immer ziellos hier auf dieser Welt herumirren...?
Aber selbst wenn es einem Menschen und einer Elfe gelingen würde, den jahrhundertlangen Hass unserer beider Völker zu überwinden und zu vergessen, welche Folgen hätte dies für ihre Nachkommen? Kann es wirklich eine gemeinsame Zukunft für unsere Rassen geben? Kinder meiner Vorfahren, lauscht nun einer Geschichte, die ich euch hier am Lagerfeuer erzählen möchte. Schon viele Generationen trage ich sie mit mir herum, und es wird nun Zeit, sie an euch weiterzugeben. Lauscht ihr und lernt davon...

"Bringt mir diese spitzohrigen Dämonen, auf dass ich ihre stinkenden Körper Gotara weihen kann. Bringt sie mir, tot oder lebendig!!"
Die barsche, befehlende Stimme war selbst noch im letzten Winkel des kleinen Menschenlagers zu vernehmen. Die Jäger beeilten sich, den Befehlen ihres Häuptlings Folge zu leisten. Selbst die Jüngsten unter ihnen hatten sich gewappnet für die bevorstehende "Dämonenjagd". Sie kannten die Gefahr, welche da draußen auf sie lauerte, aber alle hofften auf den Ruhm, welcher jedem von ihnen zu Teil wurde, wenn er einen von den verfluchten Dämonen erlegte.
Dem Häuptling lief Schweiß über den Körper, und sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. Er versuchte, seine Gefühle im Zaum zu halten, was ihm sichtlich Mühe bereitete. Aber als Anführer durfte er sich solche Regungen nicht erlauben. Er hob die Hand, und gab das Zeichen für die Jagd.
"Möge Gotara seinen Kindern beistehen. Diesmal werden wir siegen. Ich weiß es, denn Gotara selbst hat mir ein Zeichen gesandt." Diese Dummköpfe glaubten doch alles, wenn nur der Name ihres schwächlichen Gottes mit im Spiel war. Für seine Rache war ihm alles Recht.

Langsam wandte er sich um, den dünnen Mantel fest um seine hagere Gestalt gehüllt. Unter Schmerzen humpelte er zu seiner Hütte zurück... Ja, noch vor ein paar Jahren, als seine Knochen noch nicht so sehr unter dem Rad der Zeit litten, da war er selber noch mit auf die Jagd gegangen. Aber jetzt konnte er froh sein, wenn kein Jüngerer kam, und ihm den Platz als Anführer streitig machte. Noch genoss er das Ansehen seines Volkes, aber es war nur noch eine Frage, wie lange. Bald schon würden es die Oberhäupter der Familien satt haben, ihre Söhne an die Walddämonen zu verlieren. Lange Zeit hatten die Menschen und die Dämonen sich gemieden, und die Opfer auf beiden Seiten hielten sich in Grenzen. Seitdem er aber Häuptling geworden war hatte sich dies geändert. Egal, was auch immer die Zukunft bringen würde, seine Rache würde er trotzdem noch bekommen....

Er war so in Gedanken versunken, dass er beinahe über Lavina, die Tochter des Speermachers, gestolpert wäre. Ungehalten, dass sie ihm im Weg stand und ihn auch noch in seinen Gedanken gestört hatte, fuhr er sie an:
"Scher dich weg, dummes Weib. Mach dich irgendwo nützlich, und verplempere deine Zeit nicht mit Nichtstun."
Er musste nach Atem ringen. Immer, wenn er sprach, tat er es in seinem gewohnten Befehlston, welcher ihm sehr viel Kraft abverlangte. "Du meinst die Arbeit, welche unsere Männer und Söhne nicht verrichten können, weil du sie auf die Suche nach ihrem sicheren Tod geschickt hast. Seitdem du unser Anführer bist, hast du nichts weiter als Tod und Verderben über unser Volk gebracht. Sag mir, in Gotaras Namen, warum?!"
Dieses Weib wagte es tatsächlich, seinen Machtanspruch in Frage zu stellen. Seine Stimme klang leise und gefährlich, als er ihr antwortete: "Dein Mann und dein Sohn sind fort, um dein Leben und das der anderen zu schützen. Wage es nie mehr, dich in meine Angelegenheiten einzumischen. Und lass deinen Gotara aus dem Spiel. Auch er wird dir nichts nützen. Wo war er, als mein Vater ihn gebraucht hat? Er hat ihn im Stich gelassen. Und auch jetzt wird er sich nicht um uns kümmern..."
Er schwieg plötzlich. Als er Gotara erwähnte, hatte er einen Fehler begangen. Niemals hätte er verraten dürfen, was er von ihm hielt. Aber das ließ sich jetzt auch nicht mehr rückgängig machen... Er stieß Lavina zur Seite und stampfte weiter in Richtung seiner Hütte.

Müde ließ er den Umhang von seinen Schultern gleiten. Achtlos schmiss er ihn zu Boden. Hier im Schutze seines Lagers benötigte er ihn nicht. Im Laufe der Zeit hatte er es sich angewöhnt, ihn aber in der Öffentlichkeit zu tragen, um seine Gestalt vor den neugierigen Blicken der anderen zu schützen.
Früher hatten sie ihn verspottet und verachtet. Und heute hassten sie ihn. Es grenzte fast an ein Wunder, dass sie ihn zu ihrem Anführer gemacht hatten. Aber ihnen war unter den damaligen Umständen auch gar nichts anderes übriggeblieben. Als er an seine Weihe dachte, huschte ein hämisches Grinsen über sein narbenübersätes Gesicht. Warum hatten auch alle darauf bestanden, dass Gotara die Entscheidung über die Wahl des Häuptlings übernehmen sollte... Wieder musste er grinsen... Und der Gott hatte sich nun einmal für ihn entschieden. Es war wirklich ein leichtes gewesen, die Symbolsteine zu manipulieren.... Das war das erste Mal in seinem kümmerlichen Leben gewesen, dass etwas nach seinem Willen geschah...
Während er sich auf seine Bettstatt hinuntersinken ließ, vernahm er von draußen das aufgeregte Geplapper der Frauen. Lavina musste ihnen wahrscheinlich gerade zugetragen haben, was er zu ihr gesagt hatte. Ihm war es egal. Er spürte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Aber seine Rache würde er trotzdem noch bekommen. Dafür würde er schon sorgen... 

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Irgendetwas hatte ihn aber aufgeweckt. Langsam öffnete er seine Augen. Grelles Licht, welches durch die geöffnete Hüttentür hereinfiel, blendete ihn. Er konnte sich nicht erinnern, sie offengelassen zu haben... Als sich seine Augen daran gewöhnt hatten, erkannte er, dass sich die Jäger des Dorfes um ihn versammelt hatten. Sie sahen auf seinen dünnen, ausgemergelten Körper hinab, und auf die ausgefransten Narben an seinen Ohren. Abscheu und Angst war in ihren Augen zu lesen. Nur selten hatten sie ihn ohne seinen Umhang gesehen. Rilak, der Vorsteher der Jäger, zielte mit einem Speer auf ihn. "Steh auf!" bellte der Jäger. Der Häuptling schloss kurz seine Augen und atmete tief durch. Jetzt war es also so weit. Nun waren seine Tage als Anführer vorbei. Seine Knochen knirschten, als er sich mühsam aufrappelte. Die tödliche Speerspitze zeigte weiterhin auf seinen Hals. Nur ein falscher Schritt, und dann stoße ich zu, vermeinte sie zu sagen. Aber er hatte nicht das Bedürfnis, so früh zu sterben. Gewiss, seine Zeit war bald abgelaufen, aber wann es so weit sein sollte, wollte immer noch er bestimmen. Seiner Stimme fehlte der gewohnte Befehlsklang, als er die Umstehenden fragte: "Was wollt ihr von mir? Wie könnt ihr es wagen, mich in meinem Schlaf zu stören..." Seine Stimme versagte den Dienst... Die anderen lachten. Rilak drückte ihm die Speerspitze in den Hals, so dass ein dünner Blutsfaden hinunterfloss. "Altes Klappergestell, hüte deine Zunge. Wir haben deine Spielchen satt. Heute haben unsere Frauen wieder zwei Tote zum Beklagen. Es waren zwei unserer tapfersten Männer. Ihre Familien müssen nun zu ihren Verwandten betteln gehen. Und diese haben kaum selber genug zu essen, um über die weiße Todeszeit zu kommen. Auf deinem Gewissen lastet der Tod vieler unserer Stammesbrüder, und es werden noch weitere folgen. Aber das werden wir nicht mehr zulassen, HALBOHR!" Bei dem Klang dieses Namen schrak er zusammen. Er kannte diesen Namen. Und er hassten ihn. Kaum dass er sein Initiationsritual hinter sich gebracht hatte, hatten ihn seine Altersgenossen so genannt. Und als sie nicht mehr waren, taten es ihre Kinder und Kindeskinder. Erst als er ihr Häuptling geworden war, hatten sie davon abgelassen. Aber heimlich, hinter seinem Rücken, war dieser Name doch noch ab und zu gefallen. Und er hatte nichts dagegen unternommen. Denn er wusste insgeheim, dass sie recht hatten. Er konnte sein verfluchtes Erbe nicht verleugnen. Selbst als er einen Teil davon Gotara geopfert hatte, wurde er noch immer durch die zurückgebliebenen Narben daran erinnert.... Für alle im Dorf war er ein Außenseiter gewesen. Die einen sahen in ihm ein schlechtes Omen, andere wiederum meinten, Gotara schicke ihnen ein Zeichen, so daß sie die Wolfsdämonen endlich besiegen könnten. Es hatte aber trotz allem unendlich lange gedauert, bis sie ihn akzeptiert hatten.... "Was ist, Halbohr?" Rilaks Stimme klang spöttisch. "Was brütest du denn jetzt schon wieder in deinem verfluchten Schädel aus? Komm, die anderen wollen dich sehen. Sie sollen sehen, was für ein Monstrum sie die ganze Zeit geleitet hat. Was sollen wir denn Dämonen da draußen jagen, wenn wir ihnen in unseren eigenen Reihen Unterschlupf gewähren." Grobe Hände packten ihn und zerrten ihn nach draußen. Dort hatte sich das gesamte Dorf versammelt. Die Kinder drückten sich ängstlich an ihre Mütter, und diese wiederum suchten Schutz hinter dem Rücken ihrer Männer. In all ihren Augen war Angst und Abscheu zu erkennen. Rilak gab Halbohr einen Stoß von hinten, so dass dieser nach vorne taumelte. Hastig wichen einige in der Nähe stehenden Menschen von ihn ab, so als fürchteten sie die Berührung mit ihm. Rilak trat ebenfalls vor, und verkündete mit lauter Stimme: "Wir haben tapfer gekämpft. Eine Schlacht, die zu verhindern gewesen wäre. Aber er...," damit deutete er auf Halbohr, "schickte uns hinaus, um die Wolfsdämonen zu vernichten. Er hat den Tod von vielen mutigen Kriegern zu verantworten. Gotara wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Es ist nicht das erstemal, dass unsere Totenklage zu Gotaras Ohren klingt..." Rilak holte tief Luft, ehe er mit seiner Rede fortfuhr. "Doch sagt mir, was soll mit demjenigen geschehen, der uns dieses Leiden beschert hat? Welche Strafe soll ihm widerfahren, dafür, dass er Gotara verspottet und seinen Namen für seine eigenen Geschicke verwendet hat? Der Gott muss besänftigt werden, auf dass uns sein Fluch verschone..." Die Menge, angestachelt durch Rilaks Worten, ließ nun ihren Zorn freien Lauf. Hasstiraden und Beschimpfungen waren zu hören. Die Kinder des Dorfes schmissen mit Steinen nach ihrem ehemaligen Häuptling, bis ihnen ihre Eltern Einhalt gebaten.

Er bekam von den ganzen Treiben kaum etwas mit. Er hörte zwar die Worte des Jägers, und spürte die Wunden der Steine, welche ihn getroffen hatten. Aber er ignorierte dies alles. Mit glasigem Blick starrte er auf einen toten Punkt in der Menschenmenge. Er wusste, er würde handeln müssen. Und das schnell. Denn die Menge vor ihm lechzte nach seinem Blut. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Er richtete sich auf. Ohne seinen Umhang fühlte er sich schutzlos den anderen ausgeliefert. Aber er durfte jetzt nicht kneifen, das wusste er... Mit lauter, ausdrucksloser Stimme, seinen Blick gen Himmel gerichtet, schrie er: "Möge Gotara euere Ernte vernichten und euere Söhne und Väter den Wolfsdämonen ausliefern. Ihr habt meine Worte missachtet und euch gegen den Abgesandten Gotaras gewandt." Die Umstehenden hielten den Atem an, und schauten ihn mit panischen Blicken an. Keiner von ihnen wagte es, ein Wort zu sagen. Diesen Moment nutzte Halbohr, um zu fliehen. Er stieß seine Wärter, welche ebenfalls wie gelähmt dastanden, beiseite, und rannte in die Richtung des Holztores, welches den einzigen Eingang zum Dorf bildete. Er wusste, wenn er es in den Wald schaffte, war er gerettet. Aber er musste ihn zuerst einmal erreichen. In die Menschenmenge hinter ihm war wieder Leben gekommen. Sie alle schrieen und tobten. Er konnte Rilak hören, wie er den Jägern befahl, den Flüchtenden wieder einzuholen. Halbohr wusste, dass es ein leichtes Spiel war, ihn wieder einzufangen. Er keuchte. Seine Muskeln schmerzten ihm bereits. Da, da war es endlich, das rettende Tor. Er hechtete hinaus. In diesem Moment spürte er einen stechenden Schmerz in seiner rechten Brust. Schon glaubte er, die anderen hätten ihn eingeholt, aber der Lärm war hinter ihm war nicht nähergekommen. Mit zusammengebissenen Zähnen, den Schmerz unterdrückend, schleppte er sich weiter, hinein in das düstere Dickicht der Schattenwälder...

Er hatte recht gehabt. Aus Angst vor den "Wolfsdämonen" waren ihm die anderen Menschen nicht gefolgt. Denn nur wenn es unbedingt notwendig war, verließen die Jäger das schützende Dorf, um deren Bewohner mit Nahrung zu versorgen. Erst als er an die Macht gekommen war, hatte sich das geändert... Grimmig dachte er daran, dass es für ihn jetzt schwierig werden dürfte, seine Pläne zu verwirklichen. Aber irgendwie musste er es einfach schaffen. Er musste dafür sorgen, dass sein Schwur eingehalten wurde...

Vor seinen Augen wurde es schwarz, und er stürzte zu Boden. Mit einem Aufschrei tastete er mit einer Hand nach seiner rechten Brusthälfte. Es fühlte sich feucht an. Als er die Hand zurückzog und sie betrachtete, sah er, dass sie blutig war. Es war sein BLUT... Müde und kraftlos ließ er seinen Kopf auf den Waldboden sinken. Er wusste, wenn er jetzt einschlief, würde er nie wieder erwachen. Deshalb versuchte er, wieder auf die Beine zu kommen, was ihm aber nicht gelang. Immer und immer wieder rasten Schmerzwellen durch seinen Körper. Er fühlte, wie seine Kraft immer schneller schwand.

Er lauschte. Ihm war, als hätte er etwas gehört. Es hatte sich wie das Rascheln von Blättern angehört. Und das an einem windstillen Tag... Vorsichtig versuchte er erneut, sich aufzurichten. Es gelang ihm, sich mit einem Arm abzustützen. Sein Blick erkundete die Umgebung. Auf einmal versteiften sich seine Muskeln und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Dicht vor ihm, nur wenige Schritte entfernt, stand einer der Wolfsdämonen... Sie war weiblich, und ihr langes, schwarzes Haar, welches ihr über die Hüfte fiel, war am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Sie trug ein Oberteil aus braunem Leder, welches ihr bis zum Knie ging, und ihre ebensofarbige Hose endete in schwarzen Lederstiefeln. Ihre violetten Augen funkelten ihn wütend an, und in ihren Händen hielt sie einen gespannten Bogen. Jeder Augenblick konnte sein letzter sein...
Halbohr wollte ihr zurufen, dass sie doch endlich seinem Leben ein Ende setzten sollte, statt ihn von dorten zu verhöhnen, aber seine Stimme versagte ihm. Nur in seinen Gedanken konnte er diese Worte formen.... Und bekam Antwort! *Woher... woher kannst du Senden?* Die Wolfsdämonin vor ihm starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an. Überraschung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Halbohr krümmte sich zusammen. *Was ist "Senden"? Ich verstehe nicht, was du damit meinst, verdammte Dämonin!* Wieder hatte er diese Worte in seinen Gedanken geformt. Und die Elfe vor ihm schien sie offensichtlich verstanden zu haben. Langsam, mit noch immer gespanntem Bogen, kam sie auf ihn zu. *Senden ist, wenn man ohne Worte kommunizieren kann. Das, was du im Moment machst.* Wieder durchflutete ein stechender Schmerz seinen Körper, und er sank erneut zu Boden. Mit einem Satz war die "Wolfsdämonin" bei ihm, und legte ihre Hände auf seine Verletzung. Es prickelte als sie ihn berührte. Eine wohlige Wärme durchfuhr ihn, und der Schmerz wurde erträglicher. Mit einem fragenden Blick sah er die Elfe an. Sie erwiderte seinen Blick. *Ich kann nicht mitansehen, wie jemand leidet. Auch wenn es ein Mensch ist. Ich bin Heilerin. Auch wenn ich dich nicht vollständig heilen kann, da ich noch nie zuvor einen Menschen geheilt habe, so kann ich doch deine Schmerzen lindern. Doch sag mir, wer bist du.* Halbohr hatte sich bereits damit abgefunden, dass er sterben würde. *Ich bin der Häuptling der Horaks.* Die Elfe sah ihn eindringlich an. *Nun, ich kenne die Menschen nicht sehr gut, aber dass sie neuerdings ihre Anführer aus dem Dorf jagen ist mir neu.* *Du weißt es also?" *Ja, ich habe alles gesehen. Doch sag mir, warum! Warum hast du den Angriff auf mein Volk befohlen?? Was haben wir euch denn getan?* Halbohr schwieg. Erinnerungen kamen ihm in den Sinn... Bilder aus seiner Jugend... Bilder, welche von Grausamkeit geprägt waren... Er seufzte lautlos. Niemals in seinen Leben hatte er sich jemandem anvertrauen können. Niemand hätte ihn verstanden. Er wandte sich wieder der Wolfsdämonin zu, und sah sie durchdringend an. Langsam und zögernd fing er das Senden an:

*Mein Hass auf dein Volk ist ebenso alt wie ich selbst. Drei Generationen meines Stammes habe ich heranwachsen und sterben sehen.

Mein Vater war der Schamane der Horaks. Er war ein sehr geachteter Mann bei meinem Volk. Doch er machte einen entscheidenden Fehler: Er erlag den Verführungskünsten einer Wolfsdämonin, so wie du es bist. Diese belegte ihn mit einem Fluch. Immer und immer wieder traf er sich mit ihr. Es war ein Bündnis, welches Gotara niemals gutheißen konnte. Sie gebar ihm ein Kind, welches sie ebenfalls mit einem Fluch belegte. Ihr Sohn würde niemals menschlich sein können... Eines Tages folgten einige Jäger der Horaks meinem Vater, und entdeckten die Wolfsdämonin. Den Speeren meines Volkes konnte sie nicht widerstehen. Ihr Blut durchtränkte den Waldboden.
Meinen Vater und das Kind nahmen die Jäger mit zurück ins Dorf. Die Horaks gaben die Schuld den Wolfdämonen, auf dass diese den Schamanen verflucht hätten. Es wurde ein Ritual aufgeführt, und Gotara wurde angerufen, auf dass dieser den Fluch unwirksam machen würde. Das Kind sollte geopfert werden, aber mein Vater konnte dies noch verhindern. Oh, wie ich ihn dafür hasse!* Halbohr presste seinen Mund fest zusammen. Mit einer Hand tastete er zu seinen Ohren, und berührte die ausgefransten Narben an deren Oberseite.
Die Elfe bemerkte dies erst jetzt. Scharf sog sie die Luft ein. Sie berührte ebenfalls seine Ohrränder. Ihre Berührung war leicht und sanft, und ihm lief ein Schauer über den Rücken. *Du warst dieses Kind, nicht war?! Und das Erbe deiner Mutter war dies hier. Aber warum hast du dich selbst verstümmelt?*
Halbohr verzog seine Lippen zu einem bitteren Lächeln. *Es war zu der Zeit des Initiationsrituals. Es war die einzige Möglichkeit für mich, um in meinem Stamm anerkannt zu werden. Keiner konnte den Fehltritt meines Vater vergessen. Selbst die Tatsache, dass er unschuldig war, änderte nichts daran. Auch ich wollte diese Vergangenheit unschädlich machen. So wagte ich den Schritt, und entfernte die Zeichen der Dämonin, welche meine Mutter gewesen war. Ich habe daran geglaubt, dass mich die anderen nun endlich akzeptieren würden. Aber stattdessen riefen mir die Kinder "Halbohr" hinterher, und die Jäger verweigerten mir meinen Platz in ihrer Mitte. Es war eine harte Zeit für mich. Ständig wurde ich verjagt und gehänselt. Während meine Altersgenossen immer älter wurden, blieb ich immer noch ein Junge. Am Anfang sagte man mir hinterher, ich sei verhext, und müsse nun endlich Gotara geopfert werden. Dann aber, nach vielen Jahren harten Kämpfens, schaffte ich es schließlich, den Menschen einzureden, dass ich ein Gesandter Gotaras sei. Meine Ohren wären ein Zeichen dafür, dass die Horaks dazu auserwählt seien, die Wolfsdämonen zu vernichten.... Oh, wie leichtgläubig waren diese Narren doch... Im Laufe der Zeit wurde mein Hass auf dein Volk immer stärker. Ihr wart es, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin... Als ich vor acht Sommern die Nachfolge des Häuptling antrat, sah ich mich bereits am Ziel meines Strebens. Ich schickte die Jäger der Horaks immer und immer wieder aus, auf dass sie mir die Wolfsdämonen herbeischaffen. Ihr Glaube an Gotara kam mir dabei zu Nutze.* Er fühlte sich seltsam erleichtert, nachdem er der Wolfsdämonin seine Lebensgeschichte erzählt hatte. Sie hatte ihn kein einziges Mal unterbrochen, sondern ihm nur schweigend zugehört. *Du hast dies alles nur aus Rache getan?* fragt sie ihn jetzt. Er nickte. *Was glaubst du, wie viel Hass und Missachtung ich im Laufe meines Lebens bereits zu spüren bekam? Wenn mein Vater schon zu schwach gewesen war, seine Aufgabe zu erfüllen, so wollte ich dies an seiner Stelle übernehmen. Ich war nicht so dumm wie er, und ließ mich mit euch ein.* *Das ist aber noch lange kein Grund, Leben zu vernichten. Du hast doch trotz alldem bekommen, was du wolltest: Achtung. Nicht umsonst haben sie dich zu ihrem Anführer gemacht.* Halbohr schnaubte verächtlich. *Sie haben mich nicht aus Liebe und Achtung zu ihrem Häuptling gewählt, sondern weil ihnen gar keine andere Wahl geblieben war. Gotara selbst hat mich dazu ernannt. Natürlich musste ich dem ganzen ein bisschen nachhelfen...* Er musste grinsen, als er an seine Weihe zurückdachte. Keiner von den Horaks war bereit gewesen, ihn als ihren Häuptling anzuerkennen. Sie hatten aber nur die Wahl zwischen ihm, und dem schwächlichen Sohn von Gruil, dem alten Häuptling, gehabt. Da sie sich nicht einig werden konnten, wer denn nun die Führung über den Stamm übernehmen sollte, hatten sie den Schamanen um Hilfe gebeten. Nach dem Tod seines Vaters war dieser Schamane geworden. Damals stand er noch in der Blüte seines Lebens, aber nun war er nur noch ein Häufchen zusammengefallener Knochen, welche nur noch durch die Haut zusammengehalten wurden. Das Augenlicht hatte er schon vor langer Zeit verloren. Die Aufgabe des Schamanen war es nun, die Symbolsteine, die die Zeichen von Gotara darstellten, zu werfen. Jede Seite dieser Steine hatte eine andere Bedeutung. Sie konnte über Leben und Tod entscheiden. Es war ein Fehler gewesen, dass sie ihn alleine mit dem Sohne Gruils und diesem Schamanen in eine dunkle Hütte gesteckt hatten, und dann verschwunden waren. Keiner hatte beweisen können, dass die Steine, welche den Sohn Gruils den Tod brachten, die seinen gewesen waren. Denn schließlich hatte keiner etwas gesehen... Das Senden der Wolfsdämonin neben ihm riss ihn aus seinen Gedanken. *Wenn man schon dein Leben schwer machte, warum musstest du es auch unseres machen. Lehrt man euch denn nicht, dass man Leben in jeglicher Form wahren muss? Viele meiner Freunde und Gefährten starben durch euere Hände. Familien wurden auseinandergerissen. Ist es denn wirklich das, was du erreichen wolltest?* Er sah, wie Tränen über ihre Wangen flossen. Noch nie hatte er einen dieser Dämonen weinen sehen. Selbst dann nicht, als er sie Gotara geopfert hatte. Nie hatten sie geweint oder geklagt. Aber warum jetzt? Er wollte ihre Tränenspuren beseitigen, aber sie schlug seine Hand weg. Mit durchdringendem Blick sah sie ihn an, und auf einmal überflutete ihn eine Flut von Bildern... Bilder, welche von Grausamkeit und Bitterkeit geprägt waren. Er sah junge Elfenkinder, welche von ihren Müttern weggerissen, und letztere dann bestialisch erstochen wurden... Familien, die um ihre Angehörigen trauerten... Elfen, die sich auf die Suche nach ihren Gefährten machten, und am Ende deren Schicksal teilten. Und immer wieder sah er BLUT. Und Menschen. Er konnte die ganze aufgestaute Wut und den Hass der Elfe neben sich fühlen. Ihre Gefühle schienen ihn schier überwältigen zu wollen. Aber so plötzlich wie alles gekommen war, verschwand es auch wieder. Wie aus einen Nebelschleier sah er das Gesicht der Wolfdämonin. Nur, dass es kein Nebel war, sondern Tränen, die über sein Gesicht liefen. Noch nie war ihm das geschehen, dass er geweint hatte. Doch jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er weinte einfach. Es kam ihm vor, als würden seine Tränen einen riesigen Felsen aus seinem tiefsten Innersten hinwegspülen. Und er verstand auf einmal, warum er so war, wie er war... *Es tut mir leid.* Halbohr schüttelte seinen Kopf. *Es muss dir nicht leid tun. Für das, was ich getan habe, kannst weder du, noch dein Volk etwas. Du hast mir die Augen geöffnet, aber der Preis für beide Seiten war dafür sehr hoch. Ich wünschte ich könnte es ungeschehen machen und...* Er hustete. Blutfäden drangen zu beiden Seiten aus seinem Mund. Er fühlte, wie die Elfe neben ihm krampfhaft versuchte, ihn am Leben zu erhalten. Er wusste, dass dieses Unterfangen sinnlos war. Auch sie konnte ihm jetzt nicht mehr helfen. Er fühlte sich seltsam befreit und... geborgen. Ein Gefühl, welches er sein ganzes Leben lang verzweifelt gesucht hatte. Er suchte ihre Augen und ihrer beider Blicke trafen sich. Mühsam formulierte er seine letzten Worte. Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber die Elfe verstand sie trotzdem. "ES TUT MIR LEID!" Dann brach er kraftlos zusammen. In ihren Armen starb er schließlich...

Starwind richtete sich auf und richtete ihren Häuptlingszopf. Mit nachdenklichem Blick streifte sie das tote Bündel, welches einmal ein Mensch gewesen war. Dann wanderte ihr Blick weiter, und verband sich mit denen von Thunderbird, ihrem Lebensgefährten, welcher in einiger Schritte Entfernung an einen Baum lehnte. Er hatte seine Arme verschränkt. *Nun, was denkst du, Starwind?* Er war neben seine Gefährtin getreten. Starwind sah ihn an. *Raindance, meine Mutter, hat umsonst ihr Leben für ihren Sohn gegeben. Sie wollte eine Verbindung zwischen beider Welten schaffen, und wollte beide Völker vereinen. Sie hat ihr Leben für seines geopfert. Doch um welchen Preis? Er war dazu auserwählt, dauerhaften Frieden zu stiften. Aber alles was er uns brachte war Tod und Bitterkeit. Statt die ewige Feindschaft beizulegen, hat er sie nur noch mehr geschürt. Und dies alles nur, weil er niemals eingestehen wollte, was er ist. Mein Bruder hat versagt. Es kann niemals eine Einigung unserer beider Völker geben. Nie mehr darf so etwas geschehen, dass eine Verbindung zwischen Menschen und unserem Volk Früchte trägt. So wahr ich die Anführerin der Hidden Ones bin, werde ich dies zu verhindern wissen.*

"Seit diesen Tagen haben wir uns nur noch mehr vor den Menschen zurückgezogen, welche heute in den Graslandschaften jenseits unserer Wälder hausen. Aber hatte Starwind, die damalige Anführerin unseres Stammes, wirklich recht? Kann es niemals eine dauerhafte Verbindung zwischen den Menschen und uns Elfen geben? Sie gab ihrem Bruder die Schuld, versagt zu haben. Aber hätte sie nicht auch die Gelegenheit ergreifen können, um Frieden zwischen beider Völker zu stiften? Meine Mutter, Timmain, welche einer der Erstgekommenen war, machte den ersten Schritt, und verband sich mit dieser Welt. Auch aus dieser Verbindung ging neues Leben hervor: Mein Bruder Timmorn Gelbauge. Nur durch ihn seid ihr das, was ihr heute seid: Wolfsblütig. Warum also sollte eine Verbindung zu einer anderen Art schlecht sein?"
 

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