Halbohr von Morgenblume |
Nur zu gut kenne ich das Schicksal meiner Vorfahren, welche uns hierher auf diese Welt der Zwei Monde brachten. Viele von ihnen starben durch die Hand jener Wesen, welche sich Menschen nennen. Und auch heute noch werden wir von ihnen gejagt und getötet. Ich möchte nicht wissen, was mit meiner Familie geschah. Ob sie wohl schon im Palast verweilen, oder noch immer ziellos hier auf dieser Welt herumirren...? Aber selbst wenn es einem Menschen und einer Elfe gelingen würde, den jahrhundertlangen Hass unserer beider Völker zu überwinden und zu vergessen, welche Folgen hätte dies für ihre Nachkommen? Kann es wirklich eine gemeinsame Zukunft für unsere Rassen geben? Kinder meiner Vorfahren, lauscht nun einer Geschichte, die ich euch hier am Lagerfeuer erzählen möchte. Schon viele Generationen trage ich sie mit mir herum, und es wird nun Zeit, sie an euch weiterzugeben. Lauscht ihr und lernt davon... "Bringt mir diese spitzohrigen Dämonen,
auf dass ich ihre stinkenden Körper Gotara weihen kann. Bringt sie
mir, tot oder lebendig!!"
Langsam wandte er sich um, den dünnen Mantel fest um seine hagere Gestalt gehüllt. Unter Schmerzen humpelte er zu seiner Hütte zurück... Ja, noch vor ein paar Jahren, als seine Knochen noch nicht so sehr unter dem Rad der Zeit litten, da war er selber noch mit auf die Jagd gegangen. Aber jetzt konnte er froh sein, wenn kein Jüngerer kam, und ihm den Platz als Anführer streitig machte. Noch genoss er das Ansehen seines Volkes, aber es war nur noch eine Frage, wie lange. Bald schon würden es die Oberhäupter der Familien satt haben, ihre Söhne an die Walddämonen zu verlieren. Lange Zeit hatten die Menschen und die Dämonen sich gemieden, und die Opfer auf beiden Seiten hielten sich in Grenzen. Seitdem er aber Häuptling geworden war hatte sich dies geändert. Egal, was auch immer die Zukunft bringen würde, seine Rache würde er trotzdem noch bekommen.... Er war so in Gedanken versunken, dass er beinahe
über Lavina, die Tochter des Speermachers, gestolpert wäre. Ungehalten,
dass sie ihm im Weg stand und ihn auch noch in seinen Gedanken gestört
hatte, fuhr er sie an:
Müde ließ er den Umhang von seinen
Schultern gleiten. Achtlos schmiss er ihn zu Boden. Hier im Schutze seines
Lagers benötigte er ihn nicht. Im Laufe der Zeit hatte er es sich
angewöhnt, ihn aber in der Öffentlichkeit zu tragen, um seine
Gestalt vor den neugierigen Blicken der anderen zu schützen.
Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Irgendetwas hatte ihn aber aufgeweckt. Langsam öffnete er seine Augen. Grelles Licht, welches durch die geöffnete Hüttentür hereinfiel, blendete ihn. Er konnte sich nicht erinnern, sie offengelassen zu haben... Als sich seine Augen daran gewöhnt hatten, erkannte er, dass sich die Jäger des Dorfes um ihn versammelt hatten. Sie sahen auf seinen dünnen, ausgemergelten Körper hinab, und auf die ausgefransten Narben an seinen Ohren. Abscheu und Angst war in ihren Augen zu lesen. Nur selten hatten sie ihn ohne seinen Umhang gesehen. Rilak, der Vorsteher der Jäger, zielte mit einem Speer auf ihn. "Steh auf!" bellte der Jäger. Der Häuptling schloss kurz seine Augen und atmete tief durch. Jetzt war es also so weit. Nun waren seine Tage als Anführer vorbei. Seine Knochen knirschten, als er sich mühsam aufrappelte. Die tödliche Speerspitze zeigte weiterhin auf seinen Hals. Nur ein falscher Schritt, und dann stoße ich zu, vermeinte sie zu sagen. Aber er hatte nicht das Bedürfnis, so früh zu sterben. Gewiss, seine Zeit war bald abgelaufen, aber wann es so weit sein sollte, wollte immer noch er bestimmen. Seiner Stimme fehlte der gewohnte Befehlsklang, als er die Umstehenden fragte: "Was wollt ihr von mir? Wie könnt ihr es wagen, mich in meinem Schlaf zu stören..." Seine Stimme versagte den Dienst... Die anderen lachten. Rilak drückte ihm die Speerspitze in den Hals, so dass ein dünner Blutsfaden hinunterfloss. "Altes Klappergestell, hüte deine Zunge. Wir haben deine Spielchen satt. Heute haben unsere Frauen wieder zwei Tote zum Beklagen. Es waren zwei unserer tapfersten Männer. Ihre Familien müssen nun zu ihren Verwandten betteln gehen. Und diese haben kaum selber genug zu essen, um über die weiße Todeszeit zu kommen. Auf deinem Gewissen lastet der Tod vieler unserer Stammesbrüder, und es werden noch weitere folgen. Aber das werden wir nicht mehr zulassen, HALBOHR!" Bei dem Klang dieses Namen schrak er zusammen. Er kannte diesen Namen. Und er hassten ihn. Kaum dass er sein Initiationsritual hinter sich gebracht hatte, hatten ihn seine Altersgenossen so genannt. Und als sie nicht mehr waren, taten es ihre Kinder und Kindeskinder. Erst als er ihr Häuptling geworden war, hatten sie davon abgelassen. Aber heimlich, hinter seinem Rücken, war dieser Name doch noch ab und zu gefallen. Und er hatte nichts dagegen unternommen. Denn er wusste insgeheim, dass sie recht hatten. Er konnte sein verfluchtes Erbe nicht verleugnen. Selbst als er einen Teil davon Gotara geopfert hatte, wurde er noch immer durch die zurückgebliebenen Narben daran erinnert.... Für alle im Dorf war er ein Außenseiter gewesen. Die einen sahen in ihm ein schlechtes Omen, andere wiederum meinten, Gotara schicke ihnen ein Zeichen, so daß sie die Wolfsdämonen endlich besiegen könnten. Es hatte aber trotz allem unendlich lange gedauert, bis sie ihn akzeptiert hatten.... "Was ist, Halbohr?" Rilaks Stimme klang spöttisch. "Was brütest du denn jetzt schon wieder in deinem verfluchten Schädel aus? Komm, die anderen wollen dich sehen. Sie sollen sehen, was für ein Monstrum sie die ganze Zeit geleitet hat. Was sollen wir denn Dämonen da draußen jagen, wenn wir ihnen in unseren eigenen Reihen Unterschlupf gewähren." Grobe Hände packten ihn und zerrten ihn nach draußen. Dort hatte sich das gesamte Dorf versammelt. Die Kinder drückten sich ängstlich an ihre Mütter, und diese wiederum suchten Schutz hinter dem Rücken ihrer Männer. In all ihren Augen war Angst und Abscheu zu erkennen. Rilak gab Halbohr einen Stoß von hinten, so dass dieser nach vorne taumelte. Hastig wichen einige in der Nähe stehenden Menschen von ihn ab, so als fürchteten sie die Berührung mit ihm. Rilak trat ebenfalls vor, und verkündete mit lauter Stimme: "Wir haben tapfer gekämpft. Eine Schlacht, die zu verhindern gewesen wäre. Aber er...," damit deutete er auf Halbohr, "schickte uns hinaus, um die Wolfsdämonen zu vernichten. Er hat den Tod von vielen mutigen Kriegern zu verantworten. Gotara wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Es ist nicht das erstemal, dass unsere Totenklage zu Gotaras Ohren klingt..." Rilak holte tief Luft, ehe er mit seiner Rede fortfuhr. "Doch sagt mir, was soll mit demjenigen geschehen, der uns dieses Leiden beschert hat? Welche Strafe soll ihm widerfahren, dafür, dass er Gotara verspottet und seinen Namen für seine eigenen Geschicke verwendet hat? Der Gott muss besänftigt werden, auf dass uns sein Fluch verschone..." Die Menge, angestachelt durch Rilaks Worten, ließ nun ihren Zorn freien Lauf. Hasstiraden und Beschimpfungen waren zu hören. Die Kinder des Dorfes schmissen mit Steinen nach ihrem ehemaligen Häuptling, bis ihnen ihre Eltern Einhalt gebaten. Er bekam von den ganzen Treiben kaum etwas mit. Er hörte zwar die Worte des Jägers, und spürte die Wunden der Steine, welche ihn getroffen hatten. Aber er ignorierte dies alles. Mit glasigem Blick starrte er auf einen toten Punkt in der Menschenmenge. Er wusste, er würde handeln müssen. Und das schnell. Denn die Menge vor ihm lechzte nach seinem Blut. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Er richtete sich auf. Ohne seinen Umhang fühlte er sich schutzlos den anderen ausgeliefert. Aber er durfte jetzt nicht kneifen, das wusste er... Mit lauter, ausdrucksloser Stimme, seinen Blick gen Himmel gerichtet, schrie er: "Möge Gotara euere Ernte vernichten und euere Söhne und Väter den Wolfsdämonen ausliefern. Ihr habt meine Worte missachtet und euch gegen den Abgesandten Gotaras gewandt." Die Umstehenden hielten den Atem an, und schauten ihn mit panischen Blicken an. Keiner von ihnen wagte es, ein Wort zu sagen. Diesen Moment nutzte Halbohr, um zu fliehen. Er stieß seine Wärter, welche ebenfalls wie gelähmt dastanden, beiseite, und rannte in die Richtung des Holztores, welches den einzigen Eingang zum Dorf bildete. Er wusste, wenn er es in den Wald schaffte, war er gerettet. Aber er musste ihn zuerst einmal erreichen. In die Menschenmenge hinter ihm war wieder Leben gekommen. Sie alle schrieen und tobten. Er konnte Rilak hören, wie er den Jägern befahl, den Flüchtenden wieder einzuholen. Halbohr wusste, dass es ein leichtes Spiel war, ihn wieder einzufangen. Er keuchte. Seine Muskeln schmerzten ihm bereits. Da, da war es endlich, das rettende Tor. Er hechtete hinaus. In diesem Moment spürte er einen stechenden Schmerz in seiner rechten Brust. Schon glaubte er, die anderen hätten ihn eingeholt, aber der Lärm war hinter ihm war nicht nähergekommen. Mit zusammengebissenen Zähnen, den Schmerz unterdrückend, schleppte er sich weiter, hinein in das düstere Dickicht der Schattenwälder... Er hatte recht gehabt. Aus Angst vor den "Wolfsdämonen" waren ihm die anderen Menschen nicht gefolgt. Denn nur wenn es unbedingt notwendig war, verließen die Jäger das schützende Dorf, um deren Bewohner mit Nahrung zu versorgen. Erst als er an die Macht gekommen war, hatte sich das geändert... Grimmig dachte er daran, dass es für ihn jetzt schwierig werden dürfte, seine Pläne zu verwirklichen. Aber irgendwie musste er es einfach schaffen. Er musste dafür sorgen, dass sein Schwur eingehalten wurde... Vor seinen Augen wurde es schwarz, und er stürzte zu Boden. Mit einem Aufschrei tastete er mit einer Hand nach seiner rechten Brusthälfte. Es fühlte sich feucht an. Als er die Hand zurückzog und sie betrachtete, sah er, dass sie blutig war. Es war sein BLUT... Müde und kraftlos ließ er seinen Kopf auf den Waldboden sinken. Er wusste, wenn er jetzt einschlief, würde er nie wieder erwachen. Deshalb versuchte er, wieder auf die Beine zu kommen, was ihm aber nicht gelang. Immer und immer wieder rasten Schmerzwellen durch seinen Körper. Er fühlte, wie seine Kraft immer schneller schwand. Er lauschte. Ihm war, als hätte er etwas
gehört. Es hatte sich wie das Rascheln von Blättern angehört.
Und das an einem windstillen Tag... Vorsichtig versuchte er erneut, sich
aufzurichten. Es gelang ihm, sich mit einem Arm abzustützen. Sein
Blick erkundete die Umgebung. Auf einmal versteiften sich seine Muskeln
und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Dicht vor ihm, nur
wenige Schritte entfernt, stand einer der Wolfsdämonen... Sie war
weiblich, und ihr langes, schwarzes Haar, welches ihr über die Hüfte
fiel, war am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Sie trug
ein Oberteil aus braunem Leder, welches ihr bis zum Knie ging, und ihre
ebensofarbige Hose endete in schwarzen Lederstiefeln. Ihre violetten Augen
funkelten ihn wütend an, und in ihren Händen hielt sie einen
gespannten Bogen. Jeder Augenblick konnte sein letzter sein...
*Mein Hass auf dein Volk ist ebenso alt wie ich selbst. Drei Generationen meines Stammes habe ich heranwachsen und sterben sehen. Mein Vater war der Schamane der Horaks. Er
war ein sehr geachteter Mann bei meinem Volk. Doch er machte einen entscheidenden
Fehler: Er erlag den Verführungskünsten einer Wolfsdämonin,
so wie du es bist. Diese belegte ihn mit einem Fluch. Immer und immer wieder
traf er sich mit ihr. Es war ein Bündnis, welches Gotara niemals gutheißen
konnte. Sie gebar ihm ein Kind, welches sie ebenfalls mit einem Fluch belegte.
Ihr Sohn würde niemals menschlich sein können... Eines Tages
folgten einige Jäger der Horaks meinem Vater, und entdeckten die Wolfsdämonin.
Den Speeren meines Volkes konnte sie nicht widerstehen. Ihr Blut durchtränkte
den Waldboden.
Starwind richtete sich auf und richtete ihren Häuptlingszopf. Mit nachdenklichem Blick streifte sie das tote Bündel, welches einmal ein Mensch gewesen war. Dann wanderte ihr Blick weiter, und verband sich mit denen von Thunderbird, ihrem Lebensgefährten, welcher in einiger Schritte Entfernung an einen Baum lehnte. Er hatte seine Arme verschränkt. *Nun, was denkst du, Starwind?* Er war neben seine Gefährtin getreten. Starwind sah ihn an. *Raindance, meine Mutter, hat umsonst ihr Leben für ihren Sohn gegeben. Sie wollte eine Verbindung zwischen beider Welten schaffen, und wollte beide Völker vereinen. Sie hat ihr Leben für seines geopfert. Doch um welchen Preis? Er war dazu auserwählt, dauerhaften Frieden zu stiften. Aber alles was er uns brachte war Tod und Bitterkeit. Statt die ewige Feindschaft beizulegen, hat er sie nur noch mehr geschürt. Und dies alles nur, weil er niemals eingestehen wollte, was er ist. Mein Bruder hat versagt. Es kann niemals eine Einigung unserer beider Völker geben. Nie mehr darf so etwas geschehen, dass eine Verbindung zwischen Menschen und unserem Volk Früchte trägt. So wahr ich die Anführerin der Hidden Ones bin, werde ich dies zu verhindern wissen.* "Seit diesen Tagen haben wir uns nur noch mehr
vor den Menschen zurückgezogen, welche heute in den Graslandschaften
jenseits unserer Wälder hausen. Aber hatte Starwind, die damalige
Anführerin unseres Stammes, wirklich recht? Kann es niemals eine dauerhafte
Verbindung zwischen den Menschen und uns Elfen geben? Sie gab ihrem Bruder
die Schuld, versagt zu haben. Aber hätte sie nicht auch die Gelegenheit
ergreifen können, um Frieden zwischen beider Völker zu stiften?
Meine Mutter, Timmain, welche einer der Erstgekommenen war, machte den
ersten Schritt, und verband sich mit dieser Welt. Auch aus dieser Verbindung
ging neues Leben hervor: Mein Bruder Timmorn Gelbauge. Nur durch ihn seid
ihr das, was ihr heute seid: Wolfsblütig. Warum also sollte eine Verbindung
zu einer anderen Art schlecht sein?"
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