Harlekenia von Neresa

Müde vom Spielen umschwammen die Walkinder ihre Herde. Ihre Blicke suchten einen alten Wal. Ihre Großmutter. Die Kinder wollten sie bittenk, ihnen wieder eine von ihren Geschichten zu erzählen, denn sie liebten die schönen Geschichten, die sie erzählte und die oft der Wahrheit entsprachen. 
"Da ist sie! Kommt alle her!" Haruna, der Jüngste der Blauwalkinder, die diese kleinen Gruppe bildete, entdeckte sie als erster und schwamm in die Mitte der Herde zu ihr. Die Anderen folgten ihm so schnell sie ihre Flossen trugen.
"Bitte Großmutter, erzähl uns eine Geschichte", bettelten alle auf einmal.
"Na schön. Ich erzähle euch eine wahre Geschichte, die vor langer Zeit passiert ist. Die Geschichte handelt von Harlekenia. Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben, also hört gut zu, damit ihr sie eines Tages an eure Kindeskinder weitergeben könnt."

"Vor vielen Jahren, lange bevor ich geboren wurde, wurde tief im Atlantik als jüngstes Kind von Malan ein kleiner Blauwal geboren. Bei seiner Geburt wurden er und seine Mutter von der Herde beschützt. Alle freuten sich, als er zu seinem ersten Atemzug ohne Hilfe an die Oberfläche schwamm.
Harlekenia war, wie alle seine Geschwister, äußerst neugierig. Für ihn gab es nichts Schöneres, als die Umgebung zu erkunden und kleinere Fische vor sich herzutreiben. Malina hatte viel damit zu tun aufzupassen, dass ihr Sohn sich nicht zu weit von der Herde entfernte und sie aus den Augen verlor. Sollte er die Gruppe verlieren, würde er mit Sicherheit sterben, denn die Zeiten waren sehr gefährlich.
Die Gefahr bestand nicht nur in der Unerfahrenheit der Jüngeren oder durch die Langsamkeit der alten Wale, sondern auch durch die Haie. Ein plötzlicher Haiangriff konnte ein Jungtier so sehr überraschen und auch schocken, dass es schon so gut wie tot war, wenn es sich zu weit von der Herde entfernt hatte.
Aber nicht nur die Haie bildeten eine Gefahrenquelle. Ganz im Gegenteil, sie wurden von einer sehr viel größeren Bedrohung immer mehr in den Hintergrund gedrängt. 
Der Mensch mit seinen Harpunen! Er war die größte Gefahr für eine Herde. 
Anfangs hatten sie wenigstens eine Chance zu überleben. Da hatte man nur in kleinen Booten Jagd auf sie gemacht. Die Harpunen verfehlten oft die Riesen und wenn sie trafen, bestand immer noch eine Chance mit dem Leben davon zu kommen. Es genügte, sich auf die Boote zu werfen, sie zerbrachen dann wie Muscheln. 
Jetzt aber.  
Malan dachte nur mit Schrecken an seine erste Begegnung mit den Walfängern zurück, damals war er etwas älter gewesen als Harlekenia heute. Einige Harpunen hatten ihn getroffen. Sein Vater war ihm zu Hilfe geeilt. Die Narben an seinem Körper erinnerten ihn ständig daran. Damals waren viele seiner Brüder und Schwestern ums Leben gekommen, aber auch sehr viele Menschen, die von den Leibern der Wale zerquetscht wurden.
Jetzt, jetzt kamen sie mit riesigen Schiffen, bewaffnet mit Harpunen, die durch ein dickes Drahtseil mit dem Schiff verbunden waren. Diese Harpunen trafen so gut wie immer und dann gab es kein Entrinnen mehr. Immer zwei bis drei Schiffe begleiteten ein Fabrikschiff. War man erst einmal in dem Bauch dieses Monstrums verschwunden, war alles verloren. 

Die Angst diesen Schiffen zu begegnen, begleitete die Wale auf ihrer Reise zur Antarktis, dem schützenden Eis. Leider konnten sie nicht immer dort bleiben, nach einigen Monaten mussten sie weiter, um nicht zu verhungern.

Von all dem wußte Harlekenia noch nichts. Vergnügt spielte er mit den anderen Walkindern Fangen oder Hochsprung. Eines seiner Lieblingsspiele war, die Fontäne so hoch wie möglich zu schießen. Abends drückte er sich immer, müde vom Herumtollen, fest an seine Mutter und ließ sich sanft von ihr und den Wellen in den Schlaf schaukeln. Bei Sturm tauchte die Herde in die Tiefe, die ihnen Schutz bot. 
So vergingen die Wochen und die Kleinen waren kräftig genug, um die weite und gefährliche Reise antreten zu können. Anfangs tollten Harlekenia und seine Geschwister umher und erkundeten die nähere Umgebung. Aber je weiter die Reise fortschritt um so ruhiger wurden sie. Die Kinder begriffen, dass die Reise viel Kraft kosten würde und dass sie diese besser nicht mit Spielen vergeuden sollten.
Eines Tages vernahm die Herde seltsame Geräusche. So weit weg, dass sie nicht zu identifizieren waren. Trotzdem beschlich Malan ein ungutes Gefühl, etwas in ihm warnte ihn vor einer Gefahr. 
Je näher sie den Geräuschen kamen, desto mehr verstärkte sich der Wunsch in ihm einfach umzudrehen. Aber das würde sie viel Zeit und viel zu viel Energie kosten. Schließlich beschloß Malan anzuhalten. Die Herde sammelte sich und nahm die Jungtiere in ihre schützende Mitte. 
Ob sie sie wirklich beschützen konnten? Malan wußte es nicht und er glaubte auch nicht wirklich daran, dass diese Formation sie gegen den Menschen mit seinen Harpunen schützen würde. 
Die Geräusche waren verstummt, alles war so wie es vorher war und doch etwas war anders. Etwas stimmte nicht. Harlekenia spürte es. Er wußte es einfach. 
Malan gab den Befehl etwas abzutauchen um besser lauschen zu können. 
Stille. 
Nichts war zu hören, nicht einmal das Rauschen der Wellen. 
Von einer Sekunde auf die andere war das Wasser mit Schreien erfüllt. Schreie voller Angst und Qual. Harlekenia hatte das Gefühl, als wollten sie sein Innerstes, seine Seele, in Stücke reißen. Auch die anderen Wale hörten die Schreie. Entsetzen stand in ihren Augen. Die Augen der erfahrenen Tiere spiegelten auch Trauer wieder, die der Jungen Unverständnis. Ängstlich und schutzsuchend drückte Harlekenia sich an seine Mutter. Er spürte ihr Zittern und er sah ihre Angst. Er schloss die Augen, Harlekenia wollte nicht mehr in diese mit Entsetzen gefüllten Augen sehen. 
Die Bilder, diese schrecklichen Bilder. 
Harlekenia riß seine Augen auf. Er wußte nicht was er machen sollte. Die Schreie, die Bilder, die er gesehen hatte. Er wußte was sie bedeuteten, er wollte es nur nicht wahrhaben. Und jetzt? 
Das Wasser, es färbte sich dunkel. Ganz langsam immer dunkler, immer blutähnlicher. Harlekenia sah, wie sich das ganze Wasser in ein Meer aus Blut verwandelte. Er hörte die Schreie und die Bilder kamen wieder. Er sah Wale, die vor Schmerzen schrien. Er sah ihre angsterfüllten Augen. Er sah den Schmerz in ihnen. Sah die Wunden, die die Harpunen hinterlassen hatten und er sah sie, die Menschen, wie sie immer wieder schossen und zogen und wieder schossen und zogen...
Dann war alles vorbei. Totenstille breitete sich aus. Alles war so wie immer, nur mit einem Unterschied, seine Verwandten waren tot. Ermordet von den Menschen. 
Warum nur? Warum taten sie so etwas? Was hatten ihnen die Wale so Schlimmes getan? Er wußte es nicht. Was er wußte war, dass er es wahrscheinlich nie erfahren würde. Ihm wurde klar, dass er als einziger gesehen hatte, was genau passiert war, denn in den Augen seiner Freunde stand noch immer das Entsetzten ebenso wie die Ungewissheit geschrieben. 
Nach vielen Wochen und müde von der langen Reise erreichten sie endlich die Antarktis. In einigen Monaten würde ihre Reise zurück in die wärmeren Gewässer, zurück zu seinem Geburtsort beginnen.
Wie jedes Jahr um die selbe Zeit würden die Wale die beschwerliche Wanderung von neuem auf sich nehmen. Und immer, wenn das Wasser sich vor den Augen von Harlekenia zu verdunkeln begann, wußte er, dass der Gruppe eine tödliche Gefahr drohte. 
Auf den ersten Wanderungen lachten ihn alle aus, als er sie warnte, weiter zu schwimmen, als er sie bat, einen anderen Kurs einzuschlagen. Als sie aber nach jeder seiner Warnungen immer wieder die Todesschreie der Artgenossen vernahmen, wußten sie dass Harlekenia etwas besonderes war. Sie hörten auf ihn, glaubten ihm.

Seit vielen Jahren Schon führte Harlekenia nun die Gruppe der Blauwale an. Sein Vater hatte ihm, kurz bevor er für immer in der Tiefe entschwand, die Gruppe anvertraut. Immer wieder nahmen sie die Wale auf, deren Familien auseinander gerissen und getötet worden waren. Viele von ihnen zeichnete die Erinnerung an Begegnung mit den Menschen tiefe Wunden in die Seele. Einige von ihnen trugen neben den inneren Wunden, die nie verheilen würden, schreckliche Narben auf ihrem Körper. Harlekenia tat sein Bestes, um ihnen eine weitere Begegnung mit den Menschen zu ersparen. Doch er wußte, dass eine Herde dieser Größe sich nicht ewig vor den Menschen verstecken konnte und dass sich eines Tages das Wasser überall um ihn herum blutrot färben würde. 
Er wußte nicht seine wievielte Reise zur Antarktis es war, aber er freute sich über die Unbefangenheit der Kinder, die die Herde umschwammen. Unbesorgt Fische vor sich hertrieben, so wie er es vor so langer Zeit, kurz vor seiner ersten Reise getan hatte. Jetzt würde dies die erste Reise für die Jüngsten in seiner Gruppe werden. Schalana drückte sich liebevoll an ihm. Ein Zeichen, dass alle bereit waren. Es konnte losgehen.

Schalana, seine über alles geliebte Frau, hatte ihre Familie auf die furchtbarste Art und Weise verloren die er sich vorstellen konnte. Als er sie zum erstenmal sah war sie alleine, jetzt begleitete sie ihn schon sehr lange. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich in der Nähe eines weiblichen Wales so wohlgefühlt zu haben. Ausnahme war natürlich seine Mutter, an die er noch oft dachte. Sie war seinem Vater einige Jahre später in die Tiefe des Ozeans gefolgt. Er hatte sich alleine gefühlt, bis er Schalana kennengelernt hatte. Langsam hob er denn Kopf und schaute seine Familie an. Jetzt wurde es Zeit, sich auf den beschwerlichen Weg zu machen. 
Doch etwas war anders. Harlekenia spürte es genau. Sein Weg würde bald zu Ende sein. 

Nur noch wenige Kilometer, dann waren sie in Sicherheit. Wenige Kilometer zum ewigen Eis, das seit Anbeginn der Zeit den Walen Schutz bot.
Das Wasser, es wurde dunkel. So dunkel wie noch nie zuvor. Harlekenia spürte, dass Angst in ihm hochkroch. Angst um seine Familie. Die Menschen würden sie nicht verschonen. Er drehte sich um.
Da waren sie, die Menschen mit ihren stählernen Tötungsmaschinen. 
Harlekenia wußte, dass sie das rettende Eis nie erreichen würden, die Schiffe waren einfach zu schnell. Er sah die Wale an, die ihn ängstlich anblickten. Sein Blick fiel auf die Kinder, die sich gegen ihre Mütter drückten. Und er sah Schalana an. Er wußte, dass sie fast alle sterben würden. Es sei denn... 
Harlekenia schwamm an die Seite seiner Geliebten und sagte ihr, dass sie, egal was auch passieren würde, nicht nach hinten schauen und alle unter das ewige Eis führen sollte. Dann sah er noch einmal in die Gesichter der Freunde, die ihn lange begleitet hatten und blickte die rettende "Insel aus Eis" ein letztes Mal an, bevor er sich umdrehte und direkt auf die Walfänger zuschwamm.
Wie ihr befohlen, begann Schalana die Gruppe Richtung Eis zu treiben. Nach einer Weile setzte sie sich an die Spitze und schwamm so schnell wie nie zuvor. Sie blickte nicht mehr zurück. 

Harlekenia hatte die Schiffe erreicht. Eines der vier Schiffe schoß eine Harpune auf ihn und er spürte den stechenden Schmerz in seinem Rücken. Als er sich umwandte, sah er wie die restlichen Schiffe die Verfolgung der Herde aufnahmen und er kämpfte. Nicht für sich, sondern für die, die er liebte. Mit großer Anstrengung gelang es ihm das Schiff so zu rammen, dass ein riesiges Leck in seinen Bug gerissen wurde. Als er sich wieder seiner Familie zudrehte, sah er, dass nur noch ein Schiff sie verfolgte. 
Die erste Harpune kam angeflogen. Sie streifte ihn und er schrie vor Schmerzen. Der zweiten konnte er ausweichen. Dann rammte er den Walfänger, der die erste Harpune auf ihn geschossen hatte, immer wieder, solange bis er manövrierunfähig war. Kaum hatte er sich wieder seiner Familie zugedreht, traf ihn eine Harpune in den Rücken. Die Schmerzen ließen rote Punkte vor seinem Augen tanzen und das Wasser färbte sich rot, blutrot. 
Das letzte Schiff drehte um. Trotz seiner schweren Verletzungen kämpfte Harlekenia solange weiter, bis seine Familie in Sicherheit war, dann, kurz vor dem Tod, begann er, ein Lied zu singen. Ein Lied von einer besseren Welt, in der es keinen sinnlosen Tod gibt, kein Leid, kein Entsetzen, nur Frieden und das wunderschöne Blau des Meeres, in dem sich jeden Morgen und jeden Abend die auf- und untergehende Sonne spiegelte. Eine Welt in der alle Wale ohne Angst leben konnten. Mit den letzten Tönen dieses Liedes, endete auch der Weg von Harlekenia.
Die Wale hörten dieses Lied, es durchdrang sie und sie würden es nie vergessen. Als Schalana unter dem Eis tauchte, spürte sie die erdrückende Last der Trauer auf ihrem Körper. 
Doch eines wußte sie genau, Harlekenia würde immer in ihrer und der Erinnerung der Wale weiterleben. Ebenso wie sein Lied. Schalana führte die Herde immer weiter unter das Eis, fort von den Menschen, die so viel Leid über sie brachten. Je weiter sie fortschwammen, desto sicherer wurde Schalana sich, dass sie Harlekenia niemals vergessen würde."

Als sie die Geschichte geendet hatte und in die Augen ihrer kleinen Zuhörer blickte, wußte sie, dass Harlekenia auch in den Herzen der Kinder weiterleben würde.
Leise begann sie zu singen. Sie sang von einer anderen Welt ohne Leid, ohne Entsetzen, voller Frieden.
 

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