Prolog
"Wenn nicht bald etwas geschieht, wird er das
Land in den Untergang stürzen. Nicht nur, dass wir unter seiner Herrschaft
leiden. Nein, wenn der König so weiter macht, haben wir schon bald
Krieg."
"Das wissen wir auch, Simo. Nicht nur ihr
Bauern, auch wir Handwerker und selbst die Gelehrten leiden unter den hohen
Steuern. Es gehen sogar Gerüchte um, dass Kilanght uns schon bald
den Krieg erklären will, wenn König Selon seine feindselige Haltung
nicht aufgibt. Und sollte dieses Land beginnen, sind wir bald von Feinden
umzingelt, weil sich auch die anderen Fürsten und Könige die
offenen Angriffe nicht mehr lange gefallen lassen werden. Doch, ich frage
dich, was willst du dagegen tun?"
"Ja Simo, was sollen wir deiner Meinung nach
tun? Er ist der König. Er ist an der Macht. Wir können nichts
gegen Selon tun."
"Ihr habt ja recht, er ist unser König.
Aber dennoch darf er nicht tun und lassen, was er will. Wir müssen
protestieren und drohen, den Wehrdienst zu verweigern...."
"Aber dann werden wir verhaftet oder sogar
als Verräter getötet!"
"Deine Idee ist gut, aber nicht durchführbar,
Simo. Nein, wenn wir uns weigern, in den Krieg zu ziehen, leben wir nicht
lange. Wenn König Selon nicht einmal vor dem Volk Kilanghts Halt macht,
warum sollte er dann nicht auch uns töten, wenn ihm unsere Handlungen
missfallen."
"Und was schlägst du dann vor, Miläh?"
"Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Zuzusehen,
wie unser Land durch die Herrschaft König Selons in den Krieg gestürzt
wird und vielleicht untergeht. Dann können wir es nur solange verteidigen,
wie wir leben. Die zweite Möglichkeit ist der Tod des Königs...."
"Was?! Aber er ist unser König, wir können
ihn doch nicht einfach töten! Oder würdest du es tun, Miläh?"
"Würdest du mein Mitwisser sein wollen,
Simo? Nein ich würde den König nicht töten, auch wenn es
vielleicht die einzige Möglichkeit wäre, unser Land zu retten.
Und ich glaube, keiner hier bei der Versammlung würde sich bereit
erklären, seinen König zu verraten. Wie du schon sagtest, er
ist der König. Also können wir nur beten, dass der Krieg nicht
zu schlimm wird und wenigstens ein Teil unseres Landes übrig bleibt...."
Kapitel Eins
Schweißtropfen liefen ihm am Hals entlang
unter das Kettenhemd und langsam aber sicher begann das Schwert doch ein
wenig zu schwer zu werden. Trotzdem zwang er sich, es erneut zu heben und
den Hieb seines Gegners zu parieren. Wieder und wieder schlug er zu und
ignorierte die Schwäche, die sich in seinen Armen und Beinen allmählich
ausbreitete. Er musste doch eine Schwachstelle haben! Ich werde gewinnen,
und wenn wir noch heute abend hier stehen werden! schoss es ihm durch
den Kopf. Doch auch der Gegner war erschöpft und so unterlief diesem
ein folgenschwerer Fehler. Dessen nächster Schlag war ein wenig zu
hoch angesetzt, so dass Seth leicht ausweichen konnte, ohne sein eigenes
Schwert zu benutzen. Somit konnte er selbst einen heftigen Hieb gegen die
Rüstung des anderen führen, welcher den Feind taumeln ließ.
Ohne zu zögern schwang Seth die silberne Klinge erneut und nutzte
die fehlende Deckung seines Feindes. Dieser fand sich Augenblicke später
ohne Schwert im Staub kniend wieder, Seths Klinge drohend auf seinen Hals
gerichtet.
"Gebt Ihr auf?", erklang es dumpf unter dem
Helm hervor.
"Ihr habt gewonnen, Sir!", müde senkte
der Andere den Kopf und gab sich geschlagen.
Seth zog daraufhin das Schwert zurück,
steckte es ein und nahm den Helm ab. Darunter kam der blonde, verschwitzte
Kopf eines 15-jährigen Jungen hervor, dessen dunkelblaue Augen vor
Triumph glänzten. Mit einem strahlenden Lächeln half er seinem
Lehrmeister und Turniergegner Kalin auf die Beine und eilte dann, den Helm
unter den Arm geklemmt und die Linke am Schwertknauf, zu seinem Vater.
König Selon saß auf der Ehrentribüne umringt von seinen
Ministern und Getreuen, von einen sandfarbenen Baldachin vor der
heißen Sommersonne geschützt und blickte dem jungen Mann genauso
stolz entgegen, wie dieser war.
Seth kniete sich vor dem König nieder,
doch es fiel ihm schwer unterwürfig zu Boden zu blicken, wie es von
ihm verlangt wurde, da er viel zu aufgeregt war angesichts des gewonnenen
Ritterturniers. Er hatte seinem Vater endlich bewiesen, dass er ein Mann
und ein würdiger Thronerbe war und er wusste, wie stolz sein Vater
auf ihn war, auch wenn er sich sonst nicht sonderlich für seinen einzigen
Sohn interessierte.
König Selon hatte sonst nicht sehr viel
für Seth übrig, da er ihn viel zu sehr an seine verstorbene Frau
erinnerte, als dass er ihr Zusammensein genießen könnte. Normalerweise
beschäftigte er sich lieber mit Staatsangelegenheiten als mit seiner
Familie. Doch dieses Turnier kurz vor Seths 16. Geburtstag, in welchem
er beweisen würde, ob er ein Mann war oder nicht, durfte und wollte
der König sich nicht entgehen lassen. Und er wusste auch, wie er nun
zu reagieren hatte.
Selon erhob sich von seinem Stuhl, und ging
zu seinem Sohn. Dann zog er ihn hoch und umarmte ihn fest und lange, während
er Seth beglückwünschend auf die Schulter klopfte. Es war schon
ewig her, dass Seth seinem Vater so nahe gewesen war und trotz ihres schwierigen
Verhältnisses, genoss er es, als sei es das erste und einzige Mal.
Als die Umarmung endete, stellte sich Seth neben seinen Vater und dieser
sprach zu den Anwesenden: "Ihr saht die Tapferkeit und den Mut dieses jungen
Kriegers und wart Zeuge seines Sieges. Ich bin stolz einen solchen Mann
meinen Sohn nennen zu dürfen und er ist würdig mein Erbe zu sein.
Lang lebe Seth!"
Die Ritter und Gefolgsleute stimmten lautstark
und fröhlich in den Jubel ein, doch plötzlich spürte Seth
etwas, was ihn ablenkte. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht
und sein Blick schweifte umher, ohne dass er genau wusste, wonach er eigentlich
suchte. König Selon spürte, wie Seth ihm die Hand auf die Schulter
legte und leise "Vater!" murmelte. Er folgte der Richtung, in die die meerblauen
Augen seines Sohnes blickten und nun sah auch er den kleinen schwarzen
Punkt am Horizont, der immer näher kam. Auch die Ritter um den Herrscher
bemerkten nun, dass etwas nicht stimmte, und wenige Minuten nach dem Jubel
starrten alle Anwesenden stumm zu dem dunklen Wesen, welches auf sie zugeflogen
kam. Je näher es kam, desto mehr Einzelheiten konnten sie erkennen.
Anfangs sah es für Seth nur wie ein großer, majestätischer
Vogel aus, doch schon bald erkannten er und alle anderen, was es wirklich
war.
Ein Drache! Der nachtschwarze Körper
wurde von zwei riesigen schwarzen Schwingen getragen und der lange Schwanz
peitschte unruhig hin und her. Während die Flügel die Luft zerteilten,
brach sich das Sonnenlicht auf ihnen und zauberte ein bläuliches Schimmern
auf die harten Schuppen. Die vier Gliedmaßen waren an den Körper
gepresst und das Maul geschlossen, obwohl Seth jeden Augenblick erwartete,
daraus einen Feuerstrahl herauskommen zu sehen. Der Drache glitt lautlos
auf sie zu und er wirkte auf Seth gleichzeitig furchteinflößend
und vertraut. Aber ohne Zweifel war dieses dunkle Wesen schöner als
alles, was er jemals in seinem Leben gesehen hatte.
Als der Drache zur Landung ansetzte, wichen
alle außer Selon und dessen Sohn so weit wie möglich zurück.
Der König spürte die Herausforderung, die von dem mächtigen,
schwarzen Wesen vor ihm ausging und er wusste, dass er sie annehmen musste.
Es war seine Pflicht als König und er war es seiner Ehre schuldig.
Also zögerte er nicht lange, sondern zog sein großes Schwert,
bedeutete Seth, zurück zu bleiben, und ging dann entschlossen auf
den Drachen zu. Seth wollte ihm folgen, ihn aufhalten, doch da sah er zum
ersten Mal die tiefschwarzen, intelligenten Augen des dunklen Wesens und
er wusste, dass er sich in diesen Kampf nicht einmischen durfte.
Der Ausgang war jedoch von Anfang an klar.
Selon hatte allein keine Chance gegen diesen riesige Koloss und der Drache
spielte mehr mit dem König, als dass er mit ihm kämpfte. Letztendlich
hatte er nicht eine einzige Verwundung davongetragen, während der
König sterbend im Staub lag. Der Drache rührte sich nicht, als
Seth zu seinem Vater rannte und sich neben ihn kniete. Doch Selon war schon
tot und sein Sohn konnte ihm nur noch die Augen schließen.
Da spürte er plötzlich, wie ihn
jemand beobachtete und Seth hob den Blick. Der Drache hockte nur zwei Meter
entfernt auf dem Turnierplatz, wo Seth vorher seinen größten
Triumph gefeiert hatte. Aber der Drache vermittelte keinen Triumph über
seinen Sieg, ja er beachtete den toten König gar nicht. Seine großen,
tiefschwarzen Augen nahmen nur Seth war und diesem erging es nicht anders.
Seth sah die Intelligenz und das Wissen in den fast menschlichen Augen,
welche seinen Blick nicht mehr losließen und beide, Mensch und Drache
verloren sich in dem Blick des Anderen. Erst als sein Lehrmeister Kalin
ihn an der Schulter berührte, erwachte Seth aus seiner Starre und
auch der Drache wurde sich scheinbar erst jetzt wieder seiner Umgebung
bewusst. Ohne Zögern warf er sich herum, breitete die riesigen Schwingen
aus und war mit zwei Flügelschlägen schon hoch in der Luft. Noch
einmal wandte der weibliche Drache den Hals und suchte diese tiefblauen
Augen, doch in ihnen sah sie nun einen Hass, der zuvor nicht dagewesen
war.
Seth hatte sich erhoben und wurde sich erst
jetzt der Tatsache bewusst, dass der Drache seinen Vater getötet hatte.
Ihr Verhältnis war nie das Beste gewesen, aber niemand wollte seinen
Vater so verlieren. Und Seth wurde klar, was der Ausdruck in den Augen
des Drachen gewesen war, den er schon beim ersten Blick bemerkt hatte.
Es war Hass. Hass auf seine Familie und besonders auf ihn selbst. Es musste
Hass sein, etwas anderes war nicht möglich. Dieses Wesen war abgrundtief
schlecht. Die wenigen Drachen, die noch existierten, waren nur darauf aus,
die Menschen zu vernichten. Die Drachen waren Ungeheuer und somit konnte
dieses Gefühl in den schwarzen Augen nur Hass sein. Etwas anderes
konnten Drachen nicht empfinden. Sie verdienten den Tod. Und dieser schwarze
Drache musste zuerst sterben. Seth schwor sich, während er dem Wesen
nachblickte, wie es sich immer weiter entfernte, dass er sich an ihm rächen
würde. Der Tod seines Vaters durfte nicht ungesühnt bleiben.
Er war es seiner Ehre, seinem Vater und seinem Volk schuldig.
Seth drehte sich um, als der Drache hinter
dem Horizont verschwunden war und ging auf das Schloss zu. Schon bald würde
seine Krönung folgen und er würde sich um das Land kümmern
müssen. Das war es, worauf er sein Leben lang vorbereitet worden war
und er würde niemanden enttäuschen. Er wusste, dass sein Vater
nicht beliebt gewesen war und er würde besser regieren. Aber er würde
auch seine Rache stillen und wenn es das letzte war, was er tat.
Als Seth einen letzten Blick in die Richtung
warf, in der der Drache verschwunden war, fragte er sich heimlich, warum
ihn diese schwarzen Augen so angezogen hatten und ihm so vertraut vorgekommen
waren, doch er vergaß diesen Gedanken sofort wieder. Aber warum ....
Kapitel Zwei
Seth war mittlerweile seit fünf Jahren
König und er führte das Land ganz anders als sein Vater. So war
auch der drohende Krieg mit Kilanght schon kurz nach seinem Amtsantritt
abgewendet worden. Während der letzten Jahre hatte Seths Königreich
einen nie dagewesenen Aufschwung erlebt und selbst die Bauern waren nun
zufrieden. Das Land liebte seinen jungen König und sie sahen ihm sogar
nach, dass sich Seth weigerte zu heiraten. An Angeboten mangelte es nicht,
aber für Seths Geschmack waren die Damen einfach zu sehr an seinem
Land als an ihm interessiert. Und Seth spürte einfach, dass nie die
richtige vor ihm erschien. Da draußen war ein weibliches Wesen, was
perfekt zu ihm passte und auf das er noch warten musste. Sie war irgendwo
dort und er wartete nur auf den Tag, an der er ihr begegnete. Nur manchmal
in sehr einsamen Stunden glaubte er zu wissen, dass er ihr schon einmal
begegnet war und sie gehen lassen hatte, ohne dass er es eigentlich wollte.
Irgendwann würde er sie finden.
Kurz nach Seths 20. Geburtstag starb der alte
Hofmagier und da jeder königliche Hof einen Magier besitzen musste,
nahm Seth den jungen Gehan auf. Der Magier war noch sehr jung und nicht
jeder war davon begeistert, doch man akzeptierte ihn und Seth ließ
zu Ehren Gehans ein Fest ausrichten.
"Majestät dieses Fest ist das großartigste,
was ich bisher erlebt habe."
"Nun, Gehan, ich denke es ist auch das einzige,
was du bis jetzt erlebt hast, oder?", erwiderte Seth zu dem Magier an seiner
rechten Seite. Dieser blickte Seth kurz an und wandte sich dann wieder
dem Geschehen in dem großen Saal zu. Normalerweise vermittelte der
Thronsaal den Eindruck eines riesigen Raumes ohne Ende, doch heute, vollgestopft
mit Tischen, Stühlen, Essen und Menschen, wirkte er klein und stickig.
Überall an den Tischen lachten und scherzten die Männer und Frauen,
während sie das Bankett genossen und die Barden versuchten erfolglos
das Gelächter zu übertönen. Seth trank erneut aus seinem
Weinbecher, wobei sein Blick auf den Sternenhimmel fiel, der durch das
große, magisch errichtete Deckenfenster sichtbar war. Plötzlich
glaubte er einen riesigen, dunklen Schemen mit großen Schwingen gesehen
zu haben, der die Sterne kurz verdeckte und sein Gesicht verfinsterte sich
als er an den Drachen dachte.
Nur wenige Augenblicke später entstand
ein Tumult am entgegengesetzten Ende der Halle, als jemand versuchte an
den Wachen vorbei in den Saal zu gelangen. Einer der Ritter kam zu Seth
und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sofort befahl dieser Ruhe und ließ
den Eindringling zu sich bringen. Die Gespräche verebbten nur langsam,
während ein älterer Mann, mit tiefen Falten im Gesicht, ergrautem
Haar und gekleidet wie ein Bauer zum Tisch des Königs gebracht wurde.
"Du hast eine wichtige Botschaft, Bauer?"
"Ja, Herr. Mein Name ist Simo und ich besitze
ein kleines Stück Land 20 km östlich von hier. Es liegt am Fuße
des Schattenwaldes und wir gehen wegen der Dämonen nicht sehr oft
da hinein und wenn dann nicht sehr weit. Doch gestern haben wir im Morgengrauen
den schwarzen Drachen gesehen, wie er in den Wald flog und ich und mein
ältester Sohn gingen nachsehen. Herr, wir haben seine Höhle gesehen
und ich schwöre, dass dieser Drache das Untier ist, welches Euren
Vater tötete. Ich bin sofort hergeritten, um Euch dies zu berichten."
Während der Bauer gesprochen hatte, war
es in dem Saal totenstill geworden und alle blickten Seth an. Dessen tiefblaue
Augen waren zu Schlitzen verengt, während er dem Bericht des Bauern
gelauscht hatte. Endlich Rache.
Jetzt richtete er das Wort an den alten Mann:
"Und du bist sicher, dass es dieser Drache war?"
"Ich schwöre es, Herr.", bekräftigte
dieser.
"Kannst du die Höhle wiederfinden und
mich und meine Männer morgen dort hinführen?", Seths Stimme klang
entschlossen.
"Ja, Herr!" erneut nickte der Bauer.
"Gut. Die mutigsten unter euch werden mich
morgen in den Schattenwald begleiten. Wir werden uns für den Tod meines
Vaters rächen und die Bestie töten!" Jubel und zustimmendes Gebrüll
übertönte alles und niemand außer Gehan bemerkte die Zweifel,
die Seths Augen verdunkelten. Nicht einmal Seth selbst bemerkte es...
Kapitel Drei
Es war am frühen Morgen, die Sonne war
gerade erst aufgegangen und der Tau benetzte noch die Wiesen. Seth, Gehan
und 20 Ritter, geführt von Simo, erreichten die Höhle des Drachen
und blickten sich gespannt um. Nichts deutete auf die Anwesenheit des Ungeheuers
hin und auch Gehan spürte es mit seinen magischen Fähigkeiten
nicht. Also ließ Seth absitzen und gemeinsam mit den Rittern wagte
er sich in die Höhle vor. Doch schon nach wenigen Schritten war klar,
dass sie leer war. Sie war ziemlich klein und nichts deutete darauf hin,
dass der Drache hier war. In dem dunklen Zwielicht konnte Seth weder Knochen,
noch Schätze oder irgendetwas anderes finden, was er unbewusst in
einer Drachenhöhle erwartete. Als Seth aus der Höhle zurückkehrte,
wollte er den Bauer schon fragen, ob das auch die richtige sei, als er
am Horizont einen kleinen Punkt bemerkte, der immer größer wurde.
Nun erübrigten sich Fragen. Der Drache kehrte zurück!
Seth rief allen eine Warnung zu und gemeinsam
trieben sie die Pferde von der Lichtung in den Wald hinein und versteckten
sich selbst am Waldrand. Seth hockte mit gezogenem Schwert neben Gehan
und blickte den zitternden jungen Mann beruhigend an, bevor er seine Aufmerksamkeit
wieder dem größer werdenden Drachen zuwandte. Gehan war der,
auf den es jetzt ankam und wenn er die Nerven verlor, war alles aus. Doch
Gehan wurde ruhiger, je näher der Drache kam und je mehr er sich auf
seine Aufgabe konzentrierte. Heute würde er seine Macht beweisen und
sich einem Hofmagier würdig erweisen. Gehan formte in Gedanken lange,
feste Seile und bildete große Schlingen in der Luft, genau in der
Flugbahn des Drachen. Dieser bemerkte die Gefahr nicht und flog genau in
die Falle. Als sich der Körper des Drachens in den Schlingen befand,
zog Gehan die Gedankenseile ruckartig zu und nach unten, so dass der schwarze
Körper hilflos, aber mit voller Wucht auf den Boden prallte. Die Fesseln
waren immer noch straff gezogen und hielten ihn am Boden, so dass er den
Rittern und Seth völlig ausgeliefert war, als diese aus dem Wald brachen
und sich auf den Drachen stürzten.
Doch Seth und die anderen erlebten eine Überraschung.
Der junge König stand Augenblicke nach der Gefangennahme des Drachen
breitbeinig vor dessen großem Kopf und hatte sein silbernes Schwert
hoch erhoben. Als er die Klinge jedoch zum tödlichen Schlag heruntersausen
ließ, prallte sie von den schwarzen Schuppen des Wesens ab, ohne
auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Auch als Seth ein weiteres Mal
zuschlug, wurde das Schwert abgelenkt und keinem der Ritter erging es anders.
Verunsichert richtete Seth den Blick auf Gehan, der, auf den Arm des Bauern
gestützt und sich noch immer konzentrierend, langsam herangekommen
war.
"Was bedeutet das?" wollte Seth von ihm wissen,
während er sich die schmerzende Schwerthand hielt, die durch die Wucht
des Abprallens taub zu werden begann.
"Nun, das kann nur bedeuten, dass dieser Drache
so mächtig ist, dass ihn keine menschlichen Waffen verletzen können.",
entgegnete Gehan leise und blickte zu dem majestätischen Wesen vor
sich. Seth folgte seinem Blick und während er begriff, warum sein
Vater diesen Drachen damals mit seinem Schwert nicht besiegen konnte, trafen
seine tiefblauen Augen wieder die schwarzen des Drachen. Seth bemerkte,
dass er nun plötzlich nicht mehr in der Lage war, dieses Wesen als
Monster oder Bestie zu bezeichnen, weder in Gedanken noch mit Worten. Der
Drache war viel zu schön und vollkommen, um so beschimpft werden zu
können. Seine Augen ließen Seth nicht mehr los und er war drauf
und dran Gehan zu sagen, er solle den Drachen wieder frei lassen. Doch
da sah Seth wieder dieses Gefühl in den Augen des Wesens und wieder
interpretierte er es als Hass. Diese Tatsache half ihm, sich von dem Blick
zu befreien und in die Gegenwart zurück zu kehren. Er wandte sich
an Gehan: "Wenn er so mächtig ist, warum hat er dann deine Falle nicht
bemerkt und warum halten ihn deine Seile jetzt am Boden gefangen?"
Tatsächlich kämpfte der Drache vergeblich,
von den unsichtbaren Fesseln loszukommen. Seine Gliedmaßen und der
rechte Flügel waren unter dem schweren Körper eingeklemmt und
der linke Flügel wurde durch die Fesseln am Boden gehalten. Lautlos
wie alles, was der Drache bis jetzt getan hatte, versuchte er sich zu befreien,
doch noch war Gehan mächtiger als er.
"Vielleicht können wir ihn nur auf magischer
Ebene vernichten, wenn es schon nicht mit dem Schwert geht. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass ich so mächtig bin, dass ich den Drachen besiegen
kann. Vielleicht hat meine Macht ihn auch einfach nur überrumpelt
und er braucht nur Zeit, seine Kräfte zu sammeln." überlegte
Gehan laut und Seth erkannte, dass der Magier eine Idee hatte und sich
nicht sicher war ob sie funktionierte oder ob er sie überhaupt äußern
sollte. Tief in seinem Inneren wollte Seth diese Idee auch gar nicht
hören, denn alles in ihm verlangte, das wunderschöne Wesen, dessen
dunkler Blick ihn nicht mehr losließ, einfach ziehen zu lassen. Doch
die Rachegefühle siegten und so verlangte er: "Dann sollten wir schnell
handeln, Gehan. Was schlägst du vor?"
"Das einzige was mir einfällt", sagte
der junge Magier nach kurzem Zögern, "ist, den Drachen magisch so
zu verändern, dass er seinen natürlichen Schutz durch die Schuppen
verliert. Wenn ich ihn in ein Lebewesen verwandeln kann, welches durch
ein Schwert leicht getötet werden kann, dürfte auch seine Magie
nichts mehr ausrichten können." Gehan blickte Seth nach diesen Worten,
die einem Todesurteil für den Drachen gleichkamen, lange in die Augen,
so als suche er in ihnen Protest oder Widerwillen. Doch Seth nickte nur.
Also wandte sich Gehan mit einem unguten Gefühl wieder zu dem Drachen
und konzentrierte sich. Dabei vermied er es, in die Augen des schwarzen
Wesens zu sehen, denn genau wie Seth wurde auch er von dem tiefen Blick
angezogen. Gehan bewunderte dieses mächtige Wesen und er spürte
einfach, dass es nicht böse sein konnte, doch er musste Seth gehorchen
und er wollte beweisen, welche Macht er hatte.
Seth fühlte sich nicht ganz wohl bei
dem Gedanken, den Drachen jeden Augenblick töten zu müssen, doch
er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, wollte er nicht seine Ehre
verlieren. Tief innen hoffte er, dass Gehan nicht mächtig genug war,
das Wesen zu bezwingen und als der Magier gequält aufstöhnte
und verzweifelt flüsterte: "Es geht nicht, ich kann ihn nicht nach
meinen Wünschen verändern.", da hoffte Seth ein wenig, auch wenn
er es sich nicht eingestand. Aber Gehan gab nicht auf und tatsächlich
begann sich der Körper des Drachen zu verändern. Allerdings nicht
in das, was Seth und alle anderen erwartet hatten. Am Ende lag vor ihnen
kein hilfloses Kaninchen oder sonst ein kleines Tier, was leicht zu töten
war. Als Gehan sich erschöpft gegen den Bauern, der ihn die ganze
Zeit stützte, sinken ließ, lag vor Seth ein nacktes, vielleicht
19-jähriges Mädchen mit knielangem, schwarzen Haar, welches seine
Blöße bedeckte und schwarzen Schwingen, die aus dem Schulterblatt
hervorwuchsen. Und sie blickte Seth aus den gleichen schwarzen Augen an,
wie der Drache. Sie zeigten keine Angst oder Wut, gefangen zu sein, nur
dieses Gefühl, welches schon die ganze Zeit in ihnen stand. Dieses
Gefühl, welches nur Hass sein konnte, nichts anderes. Ohne zu zögern
hob Seth das silberne Schwert und ließ es auf den Kopf des Mädchens
vor ihm sausen, nur um sich Augenblicke später die schmerzende rechte
Hand zu halten, aus der ihm die Klinge geprellt worden war. Wieder war
die Waffe abgelenkt worden, ohne dass sie das Wesen töten konnte.
"Gehan, was bedeutet das nun schon wieder?"
Noch immer ließ Seth keinen anderen Gedanken außer den an Rache
zu.
Der Magier schüttelte nur ungläubig
den Kopf, bis sich sein Gesicht plötzlich aufhellte. Natürlich,
das war es.
"Wahrscheinlich können wir den Drachen
gar nicht töten, egal in welcher Gestalt er ist. Das vermag vielleicht
nicht einmal Magie. In den Büchern stand ja auch, dass ein Drache
nur von seinesgleichen getötet werden kann. Aber wir können sie
gefangen nehmen. Jetzt habe ich sie noch unter Kontrolle, weil sie ihre
Kräfte noch nicht gesammelt hat. Wenn wir ihr einen Teil ihrer Macht
nehmen, können wir sie immer unter dem magischen Bann halten."
"Aber wie sollen wir sie so schwächen?",
Seth war noch immer skeptisch und eine leise Stimme flüsterte ihm
in Gedanken zu, es dabei zu belassen. Sich umzudrehen und zu gehen, bevor
er das schöne Mädchen verletzte. Doch das konnte er nicht.
"Wir müssen ihr einen Teil ihres Körpers
nehmen, damit verliert sie auch einen großen Teil ihrer Kraft. Ihr
müsst ihr einen Flügel ausreißen."
"Verstehe, dazu bräuchte ich auch keine
Waffe, sondern nur meinen Körper und gegen den ist sie sicher nicht
geschützt." Sich über die Kälte in seiner Stimme wundernd,
begriff Seth allmählich und bevor ihn die Augen des Mädchens
weiter bannen konnten, trat er entschlossen vor und kniete sich neben sie.
Seth berührte die warme Haut der jungen Frau, die ihn nicht aus den
Augen ließ und für einen winzigen Moment kamen ihm erneut Zweifel.
Diese schwarzen Augen, wie tiefdunkle Seen, in die er zu fallen drohte,
sagten ihm, dass dieses Wesen nicht verletzt werden durfte. Sie war so
perfekt, so wunderschön und für die Freiheit der Lüfte geschaffen.
Das durfte er nicht zerstören und er wollte es eigentlich auch gar
nicht. Aber dann erinnerte sich Seth wieder an seine Aufgabe und die Rachegedanken
gewannen erneut die Oberhand. Wenn er sie schon nicht töten konnte,
so wollte Seth die Mörderin seines Vaters wenigstens gefangen nehmen.
Seth schloss die Augen, um das Mädchen
nicht mehr sehen zu müssen, umfasste die ledrige Schwinge und zog.
Nach wenigen Sekunden schlug er die Augen
wieder auf und fand sich ein wenig von der jungen Frau entfernt im Gras
wieder. Die Schwinge, die er in der Hand hielt, begann sich gerade in schimmerndes
Licht aufzulösen und Seth versuchte sich an seine Tat zu erinnern.
Jetzt erst hörte er ihren Schrei. Es war der erste Ton, den das Mädchen
oder der Drache überhaupt von sich gegeben hatten, doch er rührte
Seth und die Ritter bis zum Grund ihrer Seele. Die schwarzen Augen waren
vor Schock und Schmerz weit aufgerissen und in dem herzzerreißenden
aber auch unglaublich schönen Schrei, der mehr wie der eines Menschen,
denn wie der eines Drachen klang, schwang soviel Schmerz mit, dass alle
Mitleid mit dem Mädchen empfanden und für eine kurze Zeit ihre
Rache vergaßen.
Als der Schrei verstummte, lag in den schwarzen
Augen weiterhin Schmerz und Schock, aber Seth sah keinen Vorwurf und keine
Angst, nur dieses Gefühl, welches Hass sein musste. Plötzlich
bemerkte Seth den Strom roten, menschlichen Blutes, der aus dem Schulterblatt
floss, als wolle er den Flügel ersetzen. Ohne nachzudenken, riss sich
Seth von dem Blick der jungen Frau los, nahm seinen Umhang und wickelte
ihn um den nackten Körper, in der Hoffnung auch die Blutung stillen
zu können. Erst jetzt wurde Seth und den Rittern klar, dass dieses
Wesen vor ihnen noch immer für den Tod König Selons verantwortlich
war. Sie gaben sich nicht der Illusion hin, der verwandelte Drache würde
nun einfach verbluten, das wäre viel zu einfach. Auch wenn sie Mitleid
mit ihr empfanden, hatte sie die Gefangenschaft verdient und sie durften
nicht länger zögern.
Seth befahl daraufhin, das Mädchen auf
ein Pferd zu binden und zurück zu reiten. Die Verletzte verlor dabei
das Bewusstsein, da ja auch ihr rechter Flügel, der die ganze Zeit
unter ihrem Körper eingeklemmt war, gebrochen war. Seth entlohnte
Simo, als habe er dem König einen großen Gefallen getan, doch
als sie zurück zum Schloss ritten, wünschte sich Seth, dass Simo
nie zu ihm gekommen wäre.
In der Burg angekommen, ließ Seth die
jungen Frau in einen Kerker bringen und anketten, wie es sich für
einen Gefangenen gehörte. Die ärztliche Versorgung ihrer Wunden
durch Gehan, die Kleidung, die aufgrund der Schwinge einige Probleme bereitete,
und das Schlaflager waren zwar weniger üblich aber niemand stellte
Seth deswegen in Frage. Der rechte Flügel wurde geschient und Gehan
verband die große Wunde an der Schulter, die schon aufgehört
hatte zu bluten. Doch auch in den folgenden zwei Monaten verheilten die
Verletzungen nicht und das Mädchen war den größten Teil
der Zeit bewusstlos, da sie immer noch Schmerzen hatte.
Seth versuchte, das Königreich so normal
weiter zu beherrschen, wie zuvor, doch er spürte, dass es anders war.
Er hatte seine Ehre und die Ehre seines Vaters durch die Rache an dem Drachen
wieder hergestellt, doch eigentlich hatte auch vorher nie jemand von ihm
verlangt, den Tod König Selons zu sühnen. Wäre Simo nicht
aufgetaucht, hätte sich nie jemand beschwert, dass der Drache noch
da draußen herumflog. Es war ein Kampf gewesen, den Selon niemals
gewinnen konnte und er war selbst schuld, dass er sich allein darauf eingelassen
hatte. Und sehr beliebt war König Selon nie gewesen. Wem wolltest
du dann etwas vormachen? fragte sich Seth immer wieder. Doch er fand
keine Antwort und irgendwann gab er es auf. Er bereute, was vor der Höhle
geschehen war, doch er konnte es nicht mehr ändern.
Aber genauso wenig wie er den Drachen töten
konnte, konnte er sie jetzt gehen lassen. Seth hatte seine Rache durch
den Sieg zwar schon bekommen, doch er konnte sich dem Mädchen nicht
entziehen. Ihre Augen und ihr Körper zogen ihn an, ohne dass er sich
dagegen wehren konnte. Seth wollte ihr nahe sein, sie berühren, alles
über sie erfahren und ihre Seele kennen lernen. Er wollte sie begreifen
und verstehen und er wollte sie spüren ...
Das war der Grund, warum der junge König
in diesen zwei Monaten mehr Zeit in der Zelle bei der Verletzten zubrachte,
als bei seinen Ministern im Thronsaal. Das Mädchen war zwar die meiste
Zeit ohnmächtig oder schlief einfach, doch das reichte Seth schon.
Er setzte sich einfach neben sie, berührte ihre heiße, samtene
Hand und bewunderte die überirdische, fast perfekte Schönheit,
die vollkommen gewesen wäre, wenn die linke Schwinge nicht gefehlt
hätte. Manchmal erwachte sie, wenn Seth noch neben ihr saß und
dieser floh sofort, damit er nicht zu lange in diese tiefen, schwarzen
Augen blicken musste. Doch was er in ihnen sah, bevor er den Kontakt abbrach,
verunsicherte ihn. In dem Blick der jungen Frau lag immer eine Spur von
Schmerz, aber nie Angst oder Verachtung und Wut, nur dieses Gefühl,
bei dem sich Seth ständig selbst überzeugen musste, dass es Hass
war. Und die Augen schienen alles zu verstehen, was in Seths Seele vor
sich ging, sie schienen auf den Grund seiner Seele blicken zu können
und alles zu spüren, was Seth dachte, was ihn bewegte und was ihn
ausmachte. Nur empfand es Seth nicht als unangenehm. Vielmehr sehnte er
sich danach, eins mit diesem Mädchen zu sein, alles mit ihr zu teilen
und keine Geheimnisse voreinander zu haben. Noch konnte er sich nicht dazu
überwinden, den Blick länger als einige Sekunden zuzulassen,
um sich nicht in den schwarzen Augen zu verlieren, doch er würde die
junge Frau bald nicht mehr zurückweisen können. Und er würde
seine Gefühle bald nicht mehr unterdrücken können...
Kapitel Vier
Wieder einmal saß Seth neben dem schlafenden
jungen Mädchen und dachte darüber nach, wie schnell sich der
Hof doch an seine Angewohnheit, hier herunter zu gehen, gewöhnt hatte.
Natürlich war diese Frau wunderschön und unter anderen Umständen
hätte kein andere gezögert, sich in sie zu verlieben, doch sie
war noch immer die Mörderin des alten Königs. Aber Seth war der
König und solange es niemandem schadete, konnte er noch immer tun
und lassen, was er wollte.
Wie ein unschuldiges Kind lag das Mädchen
da, angestrahlt durch die warmen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster
drangen, und Seth war so gefangen von dem Anblick der sich ihm bot, dass
er nicht sofort bemerkte, dass seine Gefangene die Augen geöffnet
hatte und ihn ansah. Als Seth sich des Blickes bewusst wurde, war es schon
zu spät und er konnte sich ihr nicht mehr entziehen. Im Licht der
Sonne bemerkte Seth zum ersten Mal, dass die Augen seines Gegenübers
doch nicht so schwarz waren. Da die Iris bei jedem Lichtstrahl, der sie
traf, so bläulich schimmerte wie damals die Drachenschuppen, konnte
man Pupille und Regenbogenhaut immer von einander unterscheiden. Dadurch
wirkten die Augen selbst bei dem Drachen so menschlich und geheimnisvoll
und sie zog immer den Blick auf sich.
Und Seth erkannte so viele Gefühle und
Gedanken in diesen Augen, dass es ihn fast überwältigte. Plötzlich
sah er wieder diesen Ausdruck, den er die ganze Zeit als Hass interpretiert
hatte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Drache etwas anderes
empfinden konnte. Doch jetzt erkannte Seth seinen Irrtum. Dieses Wesen
konnte nicht hassen, dazu war es zu rein und gut. Nein, dieses Gefühl,
welches in dem Blick lag, seit Seth zum ersten Mal nach dem Tod seines
Vaters in diese schwarzen Augen geblickt hatte, war Liebe. Liebe oder Anteilnahme
oder Aufrichtigkeit oder eine Mischung aus allem, die nie, nicht einmal
bei dem großen Schmerz vor der Höhle, aus dem Blick wich. Dieses
Wesen hatte Seth nie gehasst, egal was er ihm angetan hatte, und es hatte
auch seinen Vater nie gehasst, das konnte es gar nicht. Der Drache liebte
Seth dafür viel zu sehr.
Verzweifelt versuchte Seth diesen Gedanken
zu verdrängen, doch das gelang ihm nicht. Tränen traten ihm in
die wasserblauen Augen, ohne dass er wusste warum. Dieses Wesen war sein
Feind, es durfte ihn nicht lieben, aber das tat es! Und er selbst ... er...
Das durfte nicht sein. Das war unmöglich!
Immer mehr Tränen flossen ihm über
die Wangen und erst, als er das Blut an seinen Händen spürte,
kam Seth wieder zu sich. Ohne es zu merken, hatte er auf das Mädchen
eingeschlagen und versucht, so die unmöglichen Gedanken zu vertreiben.
Was keine Waffe vermochte, hatte er mit seinen bloßen Händen
erreicht. Er hatte die hilflose Frau vor sich, die sich aufgrund der Ketten
nicht wehren konnte, fast zu Tode geprügelt. In Seth stieg Entsetzen
hoch, über das, was er gerade getan hatte und nun zögert er nicht
länger. Er löste die Ketten, wickelte das ohnmächtige Mädchen
in eine der Decken und trug sie hinauf in seine Zimmer. Dort legte er die
Verwundete behutsam auf das Bett und beachtete nicht, dass er die kostbaren
Stoffe mit Blut besudelte. Augenblicke später hatte er schon Gehan
gerufen, der ohne ein Wort des Tadels daran ging, die junge Frau auf dem
Bett zu verarzten.
In den folgenden Tagen, in denen Seth nicht
von der Seite des Mädchens wich und ständig ihre Hand hielt,
hatte der junge König Zeit, über sein Handeln nachzudenken. Nicht,
dass er es jetzt mehr verstand als unten im Kerker. Seth wusste nicht,
wie er so etwas hatte tun können, wie er so brutal hatte sein können,
zu jemandem, den er ...
Er verstand es einfach nicht. Gehan sah immer
wieder herein und kümmerte sich um die allmählich ein wenig stärker
werdende Verletzte, doch er machte Seth für seine Tat keinen Vorwurf.
Der Magier hatte schon lange gespürt, dass zwischen Seth und der jungen
Frau ein Gefühl war, was nun dabei war, stärker zu werden und
sich zu zeigen. Seth, der noch nie ernsthaft mit einer Frau zusammen war,
konnte am Anfang nicht damit umgehen und seine Reaktion war entsprechend
heftig, aber Gehan hoffte, dass Seth dieses Verhältnis bald akzeptieren
würde. Es würde den Drachen vielleicht retten und es würde
Seth helfen, der auch jetzt noch, unbemerkt von ihm selbst, unter dem Tod
seines Vaters und unter dem litt, was er dem Drachen angetan hatte. Der
Drache war nicht böse und es gab einen Grund, warum der alte König
sterben musste. Gehan hoffte nur, dass auch Seth das endlich akzeptierte.
Nach zwei Tagen erwacht die Verletzte wieder,
doch Seth wich ihr auch die nächste Woche nicht von der Seite, selbst
wenn das Mädchen wach war und ihre Blicke sich trafen. Keiner von
beiden redete ein Wort, doch die junge Frau hatte noch nie gesprochen und
so störte ihr Schweigen keinen von beiden. Beide genossen ihr Zusammensein,
auch wenn es Seth noch nicht wahrhaben wollte.
Neun Tage nachdem Seth sie verletzt hatte,
war die Frau soweit genesen, dass sie sich aufsetzen und zum Fenster herausblicken
konnte. Auch ihre neuen Wunden verheilten nicht, dafür wurde ihr mit
der linken Schwinge zu viel Macht genommen, doch die gemeinsame Zeit mit
Seth stärkte sie sehr. Der junge König kam gerade von seinen
Amtsgeschäften, zu denen ihn seine Minister angesichts der Genesung
des Mädchens überreden konnten, und fand dieses die Vögel
beobachtend vor. Seth erkannte, dass der Drache für die Freiheit geschaffen
war und nicht länger gefangen bleiben durfte. Er hatte seine Rache
gestillt und er fürchtete sich nun vor den angenehmen Gefühlen,
die er in Gegenwart des Mädchens - der Feindin - verspürte. Also
beschloss er sie gehen zu lassen.
Seth stützte sie, als er sie auf den
Balkon führte und sprach nun das erste Mal mit ihr:
"Ich kann nicht wieder gut machen, was ich
dir angetan habe und ich weiß nicht einmal richtig, warum ich das
jetzt tue, aber ich lasse dich gehen. Du bist frei, der Bann ist aufgehoben
und du kannst gehen. Lass deinen Flügel nachwachsen und verwandle
dich wieder. Niemand wird dich aufhalten. Geh! Du solltest frei sein und
ich werde dem nicht mehr im Weg stehen." Seth blickte zu Boden, weil er
dem Mädchen nicht zeigen wollte, wie aufgewühlt seine Gefühle
waren. Eigentlich wollte er sie nicht gehen lassen, wollte ihr nahe sein,
doch das durfte nicht, konnte nicht sein. Er erwartete schon das Rauschen
lederner Schwingen zu hören, doch plötzlich spürte er die
warme Hand der Anderen auf seinem Arm. Bei dieser ersten freiwilligen Berührung
seitens des Drachen sah Seth überrascht auf und blickte genau in die
Augen seines Gegenüber. Lange sahen sich die beiden nur an und dann
sprach auch die junge Frau das erste Mal, seit sie sich kannten.
"Ich kann nicht gehen, da es mir nicht möglich
ist, meine frühere Gestalt anzunehmen, wenn nicht eine große
Veränderung geschieht. Und auch wenn ich es könnte, ich möchte
nicht gehen. Ich möchte hier bleiben, hier bei dir." Und Seth sah
diesen Wunsch auch in den schwarzen Augen des Mädchens. Er verstand
nicht, warum die junge Frau, die er so lange gefangen gehalten und die
er mit seinen eigenen Händen so verletzt hatte, noch immer bei ihm
bleiben wollte. Natürlich wünschte er es sich selbst auch. Er
liebte dieses Mädchen mehr als alles andere und ihm war egal, wer
sie war. Er wollte selbst nicht, dass sie beide getrennt wurden, ob sie
seinen Vater nun umgebracht hatte oder nicht. Sie zog ihn an und er konnte
ihr nicht widerstehen, wollte sie nicht verlieren. Er wollte ihre weichen,
warmen, samtenen Lippen auf seinen spüren und er wollte in ihren tiefschwarzen
Augen ertrinken. Seth wollte ihr sein ganzes Vertrauen schenken und ihr
Vertrauen gewinnen. Aber er hatte ihr so oft weh getan. War es wirklich
das, was sie wollte?
Der junge König zögerte kurz und
sah ihr lange in die tiefschwarzen Augen, in denen er wieder die Liebe
erblickte, die immer in ihnen stand, wenn sie Seth anschauten. Seth versuchte
in diesen Augen Bestätigung, Unterstützung und auch Halt zu finden,
als er sich vorbeugte und sie küsste.
Vorsichtig umarmte Seth die junge Frau um
ihr seine Liebe zu vermitteln, ohne etwas zu tun, was ihr nicht gefiel.
Dabei berührte er unbeabsichtigt das linke Schulterblatt der Anderen,
welches
noch eine Stunde zuvor eine offene Wunde gewesen
war, die seit dem Fehlen des linken Flügels nicht mehr verheilen wollte.
Doch jetzt zuckte das Mädchen nicht einmal vor Schmerz zusammen, sondern
lehnte nur ihren Kopf gegen seine Schulter. Als Seth die Stelle vorsichtig
abtastete, spürte er, dass sie schon fast vollständig verheilt
war und sich sogar schon der neue Flügel als Auswuchs abzeichnete.
Verblüfft wollte Seth die junge Frau fragen, was das zu bedeuten hatte,
doch diese kam ihm zuvor, indem sie meinte: "Ich glaube, ich schulde dir
langsam eine Erklärung."
Dabei hob sie den Kopf und sah Seth in die
tiefblauen Augen, wie um sich zu versichern, dass sie ihm völlig vertrauen
konnte. Der junge König nickte zustimmend und schlang seine Arme fester
um die Taille das Mädchens an seiner Brust. Er wollte ihr zeigen,
dass er sie nicht mehr gehen lassen würde, egal was er nun erfahren
würde. Also begann der verwandelte Drache zu berichten, während
sie sich umarmten und die gegenseitige Wärme genossen.
"Mein Name ist Aidin und ich bin eine der
wenigen Drachen, die noch existieren. Wir sind sehr mächtige und sehr
alte Wesen, doch wie du selbst weißt, können selbst wir verletzt
oder sogar vernichtet werden. Eure Magie kann zwar unseren Tod nicht sofort
herbei führen, aber wenn ich noch länger in deiner Gefangenschaft
geblieben wäre, mit der schweren Wunde die ich selbst nicht so ohne
weiteres heilen kann, dann wäre ich vermutlich gestorben."
"Aber warum hast du nie etwas gesagt? Du wusstest,
wie ich für dich empfinde. Wenn ich gewusst hätte, dass du sterben
würdest, hätte ich dich viel eher gehen lassen...", unterbrach
Seth sie, doch Aidin schüttelte den Kopf.
"Was ich dir vorhin sagte, ist wahr. Ich kann
meine Wunden nicht selbst heilen, da mir durch den fehlenden Flügel
auch ein Teil meiner Kraft fehlt. Die bloße Freiheit hätte mir
dabei nicht geholfen..."
"Aber jetzt ist...", verstört unterbrach
Seth Aidin erneut. Ihr Flügel heilte doch gerade, also was...?
"Das jetzt ist nicht nur mein Verdienst. Ich
habe dich schon seit deiner Geburt beobachtet und du weißt, dass
ich sehr viel für dich empfinde." Aidin stockte und blickte Seth lange
in die Augen und erst als sie gefunden hatte, was sie dort suchte, fuhr
sie fort. "Ich liebe dich, Seth. Das half mir, die Gefangenschaft zu ertragen
und so lange zu warten, bis du den Mut hattest, deine eigenen Gefühle
zuzulassen. Ich weiß, dass du mich auch liebst und das ist der Grund
meiner Heilung. Nur durch die echte Liebe desjenigen, der einen Drachen
verletzte, kann der Drache wieder geheilt werden. Nur durch deine Liebe
kann ich den Flügel nachwachsen lassen."
Plötzlich stockte Aidin, da sie spürte,
wie sich Seth innerlich ein Stück zurück zog, ohne dass er seinen
Körper bewegte.
"Also bist du jetzt nur bei mir, weil du dadurch
wieder geheilt wirst und weil du ohne meine Gefühle für dich
sterben würdest?", mit zusammengekniffenen Augen betrachtete der junge
König das Mädchen in seinen Armen, doch dieses lächelte
nur leise.
"Nur durch echte Liebe kann ein Drache geheilt
werden. Würde ich dich nur ausnutzen, wäre es das nicht." Erleichtert
atmete Seth auf und lange hielten sich die beiden einfach nur fest, damit
kein Wort und keine Bewegung die friedliche Atmosphäre zerstörte.
Doch Aidin wusste, dass noch nicht alles gesagt war.
"Seth, ich verspreche dir, dich nie mehr allein
zu lassen oder dich zu verletzen. Ich möchte dich nicht verlieren."
Aidin spürte, wie Seth innerlich erschauerte, als ein dunkles Bild
seiner Vergangenheit auftauchte und sie wusste, was nun kommen würde.
"Aber das hast du schon getan, als du meinen
Vater getötet hast. Warum hast du ihn zu diesem Kampf gefordert, den
er nur verlieren konnte, wenn du mir nicht weh tun wolltest? In deinen
Augen waren schon damals diese starken Gefühle für mich, und
doch hast du mir Vater genommen und damit meine Rache herausgefordert.
Warum?"
Lange sah Aidin Seth nur in die dunklen Augen,
bevor sie das alles entscheidende sagte: "Weil ich die Beschützerin
dieses Landes bin. Jeder Drache wacht über ein Land, beobachtet die
Menschen, die darin leben und sorgt dafür, dass es nicht untergeht.
Wir greifen ein, wenn unserem Land durch eine Bedrohung innerhalb oder
von außen Gefahr droht. Manchmal stirbt ein Drache dabei und dann
wird meist auch das Land vernichtet, welches er beschützen sollte.
Nur selten findet sich rechtzeitig ein neuer Drache, der darüber wacht.
Dein Vater war dabei, dieses Land zu zerstören. Es wäre zu verheerenden
Kriegen gekommen, die nicht einmal ich hätte verhindern können,
wenn Selon weiter regiert hätte. Wenn ich nicht auf die Asche dieses
Landes hinabblicken wollte, musste ich etwas unternehmen. Ich konnte nicht
zusehen, wie König Selon dieses Land zerstörte und so tat ich
das einzig mögliche: ich tötete ihn. Ich habe dich schon seit
deiner Geburt beobachtet und ich liebe dich schon sehr lange, doch das
war die einzige Chance für dich. Ich wollte dich nie verletzen, doch
noch weniger wollte ich dich verlieren und ich musste auch meine Pflicht
als Beschützer dieses Landes erfüllen. Es tut mir leid, Seth."
Aidins Stimme war am Ende nur noch ein Flüstern gewesen und sie fürchtete
sich vor Seths Reaktion. Dieser schob das Mädchen ein Stück von
sich, ohne sie jedoch loszulassen, und blickt ihr ernst in die schwarzen
Augen.
"Ich denke du hast genug für den Tod
meines Vaters gebüßt. Ich habe mich schon längst an dir
für das gerächt, was du damals getan hast und ich weiß
nun, dass du gar keine andere Wahl hattest. Schon damals habe ich deine
Liebe zu mir in deinen wunderschönen Augen gesehen, doch ich glaubte,
es Vater und meiner Ehre schuldig zu sein, das als Hass einzustufen. Das
war falsch und unrecht und ich weiß jetzt, dass ich dich seit jenem
Tag auf dem Turnierplatz genauso liebe, wie du mich schon mein ganzes Leben.
Du musst dich für nichts mehr entschuldigen, Aidin. Ja, ich liebe
dich und ich bin dankbar für deine Gefühle mir gegenüber."
Nun war alles gesagt, das wussten sie beide.
Trotzdem zögerte Aidin noch und so war es Seth, der den ersten Schritt
wagte. Er presste seine Lippen zärtlich auf die des Mädchens
und diese erwiderte den Kuss.
Langsam ohne es bewusst wahr zu nehmen, landeten
die beiden irgendwann auf dem Bett und verloren sich aneinander. Dass die
Schwingen in dieser Zeit wieder völlig heilten und sogar verschwanden,
bemerkte Seth nur am Rande.
Epilog
Natürlich blieb niemandem verborgen, was
zwischen Aidin und dem jungen König vorgefallen war und welche Gefühle
sie füreinander empfanden. Doch in Anbetracht von Aidins Schönheit
verwunderte es niemanden, dass Seth sie zu der Frau an seiner Seite erwählte
und nachdem alle erfuhren, wer sie war und welche Aufgabe sie hatte, störte
es auch keinen mehr.
Das Volk liebte Seth als einen guten und gerechten
König und es war sich der Tatsache bewusst, dass er vielleicht der
beste König war, der dieses Land jemals regiert hatte.
Selon hatten sie nur geduldet, weil er eben
gerade der König gewesen war, doch Seth wollten sie nicht verlieren.
Aidin, die in der Zwischenzeit wieder im Vollbesitz
ihrer Kräfte war, beschloss ohne zu Zögern, dass sie auch aus
dem Herzen dieses Landes, aus Seths Schloss, über das Land wachen
konnte. Es bestand also nicht unbedingt die Notwendigkeit weiterhin nur
in Höhlen zu leben. Doch die Tatsache, dass Aidin für die meiste
Zeit ihren Drachenkörper zu Gunsten Seths aufgab, bedeutete noch lange
nicht, dass sie auch das Wesen eines Drachens verlor. Sie war freiheitsliebender
als jeder Vogel, den Seth zuvor besessen hatte und legte manches Mal eine
erschreckende, unbezähmbare Wildheit an den Tag, wenn etwas, was sie
für ungemein wichtig erachtete, nicht nach ihren Wünschen ausgeführt
wurde.
An manchen Tagen zweifelte Seth jedoch, ob
es richtig war, Aidin nur wegen ihrer gemeinsamen Liebe in seiner Burg
festzuhalten, in der sie sich offensichtlich zeitweise wie eine Gefangene
vorkam. Erst als Seth akzeptierte, dass Aidin auch Stunden brauchte, in
denen sie sich in ihre ursprüngliche Gestalt, in den Drachen, verwandeln
konnte, fanden sie wieder zu ihrer Harmonie zurück. Seth begleitete
Aidin auch manchmal auf ihren langen Flügen und genoss die Freiheit
auf ihrem geschuppten Rücken. Nun endlich verstand er dieses majestätische
Wesen ein wenig mehr und er war glücklich ihre Liebe errungen zu haben
und ihr die gleichen Gefühle zurück geben zu können.
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