Der schwarze Drache von Heavenfly

Prolog

"Wenn nicht bald etwas geschieht, wird er das Land in den Untergang stürzen. Nicht nur, dass wir unter seiner Herrschaft leiden. Nein, wenn der König so weiter macht, haben wir schon bald Krieg."
"Das wissen wir auch, Simo. Nicht nur ihr Bauern, auch wir Handwerker und selbst die Gelehrten leiden unter den hohen Steuern. Es gehen sogar Gerüchte um, dass Kilanght uns schon bald den Krieg erklären will, wenn König Selon seine feindselige Haltung nicht aufgibt. Und sollte dieses Land beginnen, sind wir bald von Feinden umzingelt, weil sich auch die anderen Fürsten und Könige die offenen Angriffe nicht mehr lange gefallen lassen werden. Doch, ich frage dich, was willst du dagegen tun?"
"Ja Simo, was sollen wir deiner Meinung nach tun? Er ist der König. Er ist an der Macht. Wir können nichts gegen Selon tun."
"Ihr habt ja recht, er ist unser König. Aber dennoch darf er nicht tun und lassen, was er will. Wir müssen protestieren und drohen, den Wehrdienst zu verweigern...."
"Aber dann werden wir verhaftet oder sogar als Verräter getötet!"
"Deine Idee ist gut, aber nicht durchführbar, Simo. Nein, wenn wir uns weigern, in den Krieg zu ziehen, leben wir nicht lange. Wenn König Selon nicht einmal vor dem Volk Kilanghts Halt macht, warum sollte er dann nicht auch uns töten, wenn ihm unsere Handlungen missfallen."
"Und was schlägst du dann vor, Miläh?"
"Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Zuzusehen, wie unser Land durch die Herrschaft König Selons in den Krieg gestürzt wird und vielleicht untergeht. Dann können wir es nur solange verteidigen, wie wir leben. Die zweite Möglichkeit ist der Tod des Königs...."
"Was?! Aber er ist unser König, wir können ihn doch nicht einfach töten! Oder würdest du es tun, Miläh?"
"Würdest du mein Mitwisser sein wollen, Simo? Nein ich würde den König nicht töten, auch wenn es vielleicht die einzige Möglichkeit wäre, unser Land zu retten. Und ich glaube, keiner hier bei der Versammlung würde sich bereit erklären, seinen König zu verraten. Wie du schon sagtest, er ist der König. Also können wir nur beten, dass der Krieg nicht zu schlimm wird und wenigstens ein Teil unseres Landes übrig bleibt...."

Kapitel Eins

Schweißtropfen liefen ihm am Hals entlang unter das Kettenhemd und langsam aber sicher begann das Schwert doch ein wenig zu schwer zu werden. Trotzdem zwang er sich, es erneut zu heben und den Hieb seines Gegners zu parieren. Wieder und wieder schlug er zu und ignorierte die Schwäche, die sich in seinen Armen und Beinen allmählich ausbreitete. Er musste doch eine Schwachstelle haben! Ich werde gewinnen, und wenn wir noch heute abend hier stehen werden! schoss es ihm durch den Kopf. Doch auch der Gegner war erschöpft und so unterlief diesem ein folgenschwerer Fehler. Dessen nächster Schlag war ein wenig zu hoch angesetzt, so dass Seth leicht ausweichen konnte, ohne sein eigenes Schwert zu benutzen. Somit konnte er selbst einen heftigen Hieb gegen die Rüstung des anderen führen, welcher den Feind taumeln ließ. Ohne zu zögern schwang Seth die silberne Klinge erneut und nutzte die fehlende Deckung seines Feindes. Dieser fand sich Augenblicke später ohne Schwert im Staub kniend wieder, Seths Klinge drohend auf seinen Hals gerichtet.
"Gebt Ihr auf?", erklang es dumpf unter dem Helm hervor. 
"Ihr habt gewonnen, Sir!", müde senkte der Andere den Kopf und gab sich geschlagen.
Seth zog daraufhin das Schwert zurück, steckte es ein und nahm den Helm ab. Darunter kam der blonde, verschwitzte Kopf eines 15-jährigen Jungen hervor, dessen dunkelblaue Augen vor Triumph glänzten. Mit einem strahlenden Lächeln half er seinem Lehrmeister und Turniergegner Kalin auf die Beine und eilte dann, den Helm unter den Arm geklemmt und die Linke am Schwertknauf, zu seinem Vater. König Selon saß auf der Ehrentribüne umringt von seinen Ministern und Getreuen, von  einen sandfarbenen Baldachin vor der heißen Sommersonne geschützt und blickte dem jungen Mann genauso stolz entgegen, wie dieser war. 
Seth kniete sich vor dem König nieder, doch es fiel ihm schwer unterwürfig zu Boden zu blicken, wie es von ihm verlangt wurde, da er viel zu aufgeregt war angesichts des gewonnenen Ritterturniers. Er hatte seinem Vater endlich bewiesen, dass er ein Mann und ein würdiger Thronerbe war und er wusste, wie stolz sein Vater auf ihn war, auch wenn er sich sonst nicht sonderlich für seinen einzigen Sohn interessierte. 
König Selon hatte sonst nicht sehr viel für Seth übrig, da er ihn viel zu sehr an seine verstorbene Frau erinnerte, als dass er ihr Zusammensein genießen könnte. Normalerweise beschäftigte er sich lieber mit Staatsangelegenheiten als mit seiner Familie. Doch dieses Turnier kurz vor Seths 16. Geburtstag, in welchem er beweisen würde, ob er ein Mann war oder nicht, durfte und wollte der König sich nicht entgehen lassen. Und er wusste auch, wie er nun zu reagieren hatte. 
Selon erhob sich von seinem Stuhl, und ging zu seinem Sohn. Dann zog er ihn hoch und umarmte ihn fest und lange, während er Seth beglückwünschend auf die Schulter klopfte. Es war schon ewig her, dass Seth seinem Vater so nahe gewesen war und trotz ihres schwierigen Verhältnisses, genoss er es, als sei es das erste und einzige Mal. Als die Umarmung endete, stellte sich Seth neben seinen Vater und dieser sprach zu den Anwesenden: "Ihr saht die Tapferkeit und den Mut dieses jungen Kriegers und wart Zeuge seines Sieges. Ich bin stolz einen solchen Mann meinen Sohn nennen zu dürfen und er ist würdig mein Erbe zu sein. Lang lebe Seth!"
Die Ritter und Gefolgsleute stimmten lautstark und fröhlich in den Jubel ein, doch plötzlich spürte Seth etwas, was ihn ablenkte. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und sein Blick schweifte umher, ohne dass er genau wusste, wonach er eigentlich suchte. König Selon spürte, wie Seth ihm die Hand auf die Schulter legte und leise "Vater!" murmelte. Er folgte der Richtung, in die die meerblauen Augen seines Sohnes blickten und nun sah auch er den kleinen schwarzen Punkt am Horizont, der immer näher kam. Auch die Ritter um den Herrscher bemerkten nun, dass etwas nicht stimmte, und wenige Minuten nach dem Jubel starrten alle Anwesenden stumm zu dem dunklen Wesen, welches auf sie zugeflogen kam. Je näher es kam, desto mehr Einzelheiten konnten sie erkennen. Anfangs sah es für Seth nur wie ein großer, majestätischer Vogel aus, doch schon bald erkannten er und alle anderen, was es wirklich war. 
Ein Drache! Der nachtschwarze Körper wurde von zwei riesigen schwarzen Schwingen getragen und der lange Schwanz peitschte unruhig hin und her. Während die Flügel die Luft zerteilten, brach sich das Sonnenlicht auf ihnen und zauberte ein bläuliches Schimmern auf die harten Schuppen. Die vier Gliedmaßen waren an den Körper gepresst und das Maul geschlossen, obwohl Seth jeden Augenblick erwartete, daraus einen Feuerstrahl herauskommen zu sehen. Der Drache glitt lautlos auf sie zu und er wirkte auf Seth gleichzeitig furchteinflößend und vertraut. Aber ohne Zweifel war dieses dunkle Wesen schöner als alles, was er jemals in seinem Leben gesehen hatte.  
Als der Drache zur Landung ansetzte, wichen alle außer Selon und dessen Sohn so weit wie möglich zurück. Der König spürte die Herausforderung, die von dem mächtigen, schwarzen Wesen vor ihm ausging und er wusste, dass er sie annehmen musste. Es war seine Pflicht als König und er war es seiner Ehre schuldig. Also zögerte er nicht lange, sondern zog sein großes Schwert, bedeutete Seth, zurück zu bleiben, und ging dann entschlossen auf den Drachen zu. Seth wollte ihm folgen, ihn aufhalten, doch da sah er zum ersten Mal die tiefschwarzen, intelligenten Augen des dunklen Wesens und er wusste, dass er sich in diesen Kampf nicht einmischen durfte. 
Der Ausgang war jedoch von Anfang an klar. Selon hatte allein keine Chance gegen diesen riesige Koloss und der Drache spielte mehr mit dem König, als dass er mit ihm kämpfte. Letztendlich hatte er nicht eine einzige Verwundung davongetragen, während der König sterbend im Staub lag. Der Drache rührte sich nicht, als Seth zu seinem Vater rannte und sich neben ihn kniete. Doch Selon war schon tot und sein Sohn konnte ihm nur noch die Augen schließen. 
Da spürte er plötzlich, wie ihn jemand beobachtete und Seth hob den Blick. Der Drache hockte nur zwei Meter entfernt auf dem Turnierplatz, wo Seth vorher seinen größten Triumph gefeiert hatte. Aber der Drache vermittelte keinen Triumph über seinen Sieg, ja er beachtete den toten König gar nicht. Seine großen, tiefschwarzen Augen nahmen nur Seth war und diesem erging es nicht anders. Seth sah die Intelligenz und das Wissen in den fast menschlichen Augen, welche seinen Blick nicht mehr losließen und beide, Mensch und Drache verloren sich in dem Blick des Anderen. Erst als sein Lehrmeister Kalin ihn an der Schulter berührte, erwachte Seth aus seiner Starre und auch der Drache wurde sich scheinbar erst jetzt wieder seiner Umgebung bewusst. Ohne Zögern warf er sich herum, breitete die riesigen Schwingen aus und war mit zwei Flügelschlägen schon hoch in der Luft. Noch einmal wandte der weibliche Drache den Hals und suchte diese tiefblauen Augen, doch in ihnen sah sie nun einen Hass, der zuvor nicht dagewesen war. 
Seth hatte sich erhoben und wurde sich erst jetzt der Tatsache bewusst, dass der Drache seinen Vater getötet hatte. Ihr Verhältnis war nie das Beste gewesen, aber niemand wollte seinen Vater so verlieren. Und Seth wurde klar, was der Ausdruck in den Augen des Drachen gewesen war, den er schon beim ersten Blick bemerkt hatte. Es war Hass. Hass auf seine Familie und besonders auf ihn selbst. Es musste Hass sein, etwas anderes war nicht möglich. Dieses Wesen war abgrundtief schlecht. Die wenigen Drachen, die noch existierten, waren nur darauf aus, die Menschen zu vernichten. Die Drachen waren Ungeheuer und somit konnte dieses Gefühl in den schwarzen Augen nur Hass sein. Etwas anderes konnten Drachen nicht empfinden. Sie verdienten den Tod. Und dieser schwarze Drache musste zuerst sterben. Seth schwor sich, während er dem Wesen nachblickte, wie es sich immer weiter entfernte, dass er sich an ihm rächen würde. Der Tod seines Vaters durfte nicht ungesühnt bleiben. Er war es seiner Ehre, seinem Vater und seinem Volk schuldig. 
Seth drehte sich um, als der Drache hinter dem Horizont verschwunden war und ging auf das Schloss zu. Schon bald würde seine Krönung folgen und er würde sich um das Land kümmern müssen. Das war es, worauf er sein Leben lang vorbereitet worden war und er würde niemanden enttäuschen. Er wusste, dass sein Vater nicht beliebt gewesen war und er würde besser regieren. Aber er würde auch seine Rache stillen und wenn es das letzte war, was er tat.
Als Seth einen letzten Blick in die Richtung warf, in der der Drache verschwunden war, fragte er sich heimlich, warum ihn diese schwarzen Augen so angezogen hatten und ihm so vertraut vorgekommen waren, doch er vergaß diesen Gedanken sofort wieder. Aber warum ....

Kapitel Zwei

Seth war mittlerweile seit fünf Jahren König und er führte das Land ganz anders als sein Vater. So war auch der drohende Krieg mit Kilanght schon kurz nach seinem Amtsantritt abgewendet worden. Während der letzten Jahre hatte Seths Königreich einen nie dagewesenen Aufschwung erlebt und selbst die Bauern waren nun zufrieden. Das Land liebte seinen jungen König und sie sahen ihm sogar nach, dass sich Seth weigerte zu heiraten. An Angeboten mangelte es nicht, aber für Seths Geschmack waren die Damen einfach zu sehr an seinem Land als an ihm interessiert. Und Seth spürte einfach, dass nie die richtige vor ihm erschien. Da draußen war ein weibliches Wesen, was perfekt zu ihm passte und auf das er noch warten musste. Sie war irgendwo dort und er wartete nur auf den Tag, an der er ihr begegnete. Nur manchmal in sehr einsamen Stunden glaubte er zu wissen, dass er ihr schon einmal begegnet war und sie gehen lassen hatte, ohne dass er es eigentlich wollte. Irgendwann würde er sie finden. 
Kurz nach Seths 20. Geburtstag starb der alte Hofmagier und da jeder königliche Hof einen Magier besitzen musste, nahm Seth den jungen Gehan auf. Der Magier war noch sehr jung und nicht jeder war davon begeistert, doch man akzeptierte ihn und Seth ließ zu Ehren Gehans ein Fest ausrichten.

"Majestät dieses Fest ist das großartigste, was ich bisher erlebt habe."
"Nun, Gehan, ich denke es ist auch das einzige, was du bis jetzt erlebt hast, oder?", erwiderte Seth zu dem Magier an seiner rechten Seite. Dieser blickte Seth kurz an und wandte sich dann wieder dem Geschehen in dem großen Saal zu. Normalerweise vermittelte der Thronsaal den Eindruck eines riesigen Raumes ohne Ende, doch heute, vollgestopft mit Tischen, Stühlen, Essen und Menschen, wirkte er klein und stickig. Überall an den Tischen lachten und scherzten die Männer und Frauen, während sie das Bankett genossen und die Barden versuchten erfolglos das Gelächter zu übertönen. Seth trank erneut aus seinem Weinbecher, wobei sein Blick auf den Sternenhimmel fiel, der durch das große, magisch errichtete Deckenfenster sichtbar war. Plötzlich glaubte er einen riesigen, dunklen Schemen mit großen Schwingen gesehen zu haben, der die Sterne kurz verdeckte und sein Gesicht verfinsterte sich als er an den Drachen dachte. 
Nur wenige Augenblicke später entstand ein Tumult am entgegengesetzten Ende der Halle, als jemand versuchte an den Wachen vorbei in den Saal zu gelangen. Einer der Ritter kam zu Seth und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sofort befahl dieser Ruhe und ließ den Eindringling zu sich bringen. Die Gespräche verebbten nur langsam, während ein älterer Mann, mit tiefen Falten im Gesicht, ergrautem Haar und gekleidet wie ein Bauer zum Tisch des Königs gebracht wurde.
"Du hast eine wichtige Botschaft, Bauer?"
"Ja, Herr. Mein Name ist Simo und ich besitze ein kleines Stück Land 20 km östlich von hier. Es liegt am Fuße des Schattenwaldes und wir gehen wegen der Dämonen nicht sehr oft da hinein und wenn dann nicht sehr weit. Doch gestern haben wir im Morgengrauen den schwarzen Drachen gesehen, wie er in den Wald flog und ich und mein ältester Sohn gingen nachsehen. Herr, wir haben seine Höhle gesehen und ich schwöre, dass dieser Drache das Untier ist, welches Euren Vater tötete. Ich bin sofort hergeritten, um Euch dies zu berichten."
Während der Bauer gesprochen hatte, war es in dem Saal totenstill geworden und alle blickten Seth an. Dessen tiefblaue Augen waren zu Schlitzen verengt, während er dem Bericht des Bauern gelauscht hatte. Endlich Rache.
Jetzt richtete er das Wort an den alten Mann: "Und du bist sicher, dass es dieser Drache war?"
"Ich schwöre es, Herr.", bekräftigte dieser.
"Kannst du die Höhle wiederfinden und mich und meine Männer morgen dort hinführen?", Seths Stimme klang entschlossen.
"Ja, Herr!" erneut nickte der Bauer.
"Gut. Die mutigsten unter euch werden mich morgen in den Schattenwald begleiten. Wir werden uns für den Tod meines Vaters rächen und die Bestie töten!" Jubel und zustimmendes Gebrüll übertönte alles und niemand außer Gehan bemerkte die Zweifel, die Seths Augen verdunkelten. Nicht einmal Seth selbst bemerkte es...

Kapitel Drei

Es war am frühen Morgen, die Sonne war gerade erst aufgegangen und der Tau benetzte noch die Wiesen. Seth, Gehan und 20 Ritter, geführt von Simo, erreichten die Höhle des Drachen und blickten sich gespannt um. Nichts deutete auf die Anwesenheit des Ungeheuers hin und auch Gehan spürte es mit seinen magischen Fähigkeiten nicht. Also ließ Seth absitzen und gemeinsam mit den Rittern wagte er sich in die Höhle vor. Doch schon nach wenigen Schritten war klar, dass sie leer war. Sie war ziemlich klein und nichts deutete darauf hin, dass der Drache hier war. In dem dunklen Zwielicht konnte Seth weder Knochen, noch Schätze oder irgendetwas anderes finden, was er unbewusst in einer Drachenhöhle erwartete. Als Seth aus der Höhle zurückkehrte, wollte er den Bauer schon fragen, ob das auch die richtige sei, als er am Horizont einen kleinen Punkt bemerkte, der immer größer wurde. Nun erübrigten sich Fragen. Der Drache kehrte zurück!
Seth rief allen eine Warnung zu und gemeinsam trieben sie die Pferde von der Lichtung in den Wald hinein und versteckten sich selbst am Waldrand. Seth hockte mit gezogenem Schwert neben Gehan und blickte den zitternden jungen Mann beruhigend an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem größer werdenden Drachen zuwandte. Gehan war der, auf den es jetzt ankam und wenn er die Nerven verlor, war alles aus. Doch Gehan wurde ruhiger, je näher der Drache kam und je mehr er sich auf seine Aufgabe konzentrierte. Heute würde er seine Macht beweisen und sich einem Hofmagier würdig erweisen. Gehan formte in Gedanken lange, feste Seile und bildete große Schlingen in der Luft, genau in der Flugbahn des Drachen. Dieser bemerkte die Gefahr nicht und flog genau in die Falle. Als sich der Körper des Drachens in den Schlingen befand, zog Gehan die Gedankenseile ruckartig zu und nach unten, so dass der schwarze Körper hilflos, aber mit voller Wucht auf den Boden prallte. Die Fesseln waren immer noch straff gezogen und hielten ihn am Boden, so dass er den Rittern und Seth völlig ausgeliefert war, als diese aus dem Wald brachen und sich auf den Drachen stürzten. 
Doch Seth und die anderen erlebten eine Überraschung. Der junge König stand Augenblicke nach der Gefangennahme des Drachen breitbeinig vor dessen großem Kopf und hatte sein silbernes Schwert hoch erhoben. Als er die Klinge jedoch zum tödlichen Schlag heruntersausen ließ, prallte sie von den schwarzen Schuppen des Wesens ab, ohne auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Auch als Seth ein weiteres Mal zuschlug, wurde das Schwert abgelenkt und keinem der Ritter erging es anders. Verunsichert richtete Seth den Blick auf Gehan, der, auf den Arm des Bauern gestützt und sich noch immer konzentrierend, langsam herangekommen war. 
"Was bedeutet das?" wollte Seth von ihm wissen, während er sich die schmerzende Schwerthand hielt, die durch die Wucht des Abprallens taub zu werden begann. 
"Nun, das kann nur bedeuten, dass dieser Drache so mächtig ist, dass ihn keine menschlichen Waffen verletzen können.", entgegnete Gehan leise und blickte zu dem majestätischen Wesen vor sich. Seth folgte seinem Blick und während er begriff, warum sein Vater diesen Drachen damals mit seinem Schwert nicht besiegen konnte, trafen seine tiefblauen Augen wieder die schwarzen des Drachen. Seth bemerkte, dass er nun plötzlich nicht mehr in der Lage war, dieses Wesen als Monster oder Bestie zu bezeichnen, weder in Gedanken noch mit Worten. Der Drache war viel zu schön und vollkommen, um so beschimpft werden zu können. Seine Augen ließen Seth nicht mehr los und er war drauf und dran Gehan zu sagen, er solle den Drachen wieder frei lassen. Doch da sah Seth wieder dieses Gefühl in den Augen des Wesens und wieder interpretierte er es als Hass. Diese Tatsache half ihm, sich von dem Blick zu befreien und in die Gegenwart zurück zu kehren. Er wandte sich an Gehan: "Wenn er so mächtig ist, warum hat er dann deine Falle nicht bemerkt und warum halten ihn deine Seile jetzt am Boden gefangen?"
Tatsächlich kämpfte der Drache vergeblich, von den unsichtbaren Fesseln loszukommen. Seine Gliedmaßen und der rechte Flügel waren unter dem schweren Körper eingeklemmt und der linke Flügel wurde durch die Fesseln am Boden gehalten. Lautlos wie alles, was der Drache bis jetzt getan hatte, versuchte er sich zu befreien, doch noch war Gehan mächtiger als er.
"Vielleicht können wir ihn nur auf magischer Ebene vernichten, wenn es schon nicht mit dem Schwert geht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich so mächtig bin, dass ich den Drachen besiegen kann. Vielleicht hat meine Macht ihn auch einfach nur überrumpelt und er braucht nur Zeit, seine Kräfte zu sammeln." überlegte Gehan laut und Seth erkannte, dass der Magier eine Idee hatte und sich nicht sicher war ob sie funktionierte oder ob er sie überhaupt äußern sollte. Tief in seinem Inneren wollte  Seth diese Idee auch gar nicht hören, denn alles in ihm verlangte, das wunderschöne Wesen, dessen dunkler Blick ihn nicht mehr losließ, einfach ziehen zu lassen. Doch die Rachegefühle siegten und so verlangte er: "Dann sollten wir schnell handeln, Gehan. Was schlägst du vor?"
"Das einzige was mir einfällt", sagte der junge Magier nach kurzem Zögern, "ist, den Drachen magisch so zu verändern, dass er seinen natürlichen Schutz durch die Schuppen verliert. Wenn ich ihn in ein Lebewesen verwandeln kann, welches durch ein Schwert leicht getötet werden kann, dürfte auch seine Magie nichts mehr ausrichten können." Gehan blickte Seth nach diesen Worten, die einem Todesurteil für den Drachen gleichkamen, lange in die Augen, so als suche er in ihnen Protest oder Widerwillen. Doch Seth nickte nur. Also wandte sich Gehan mit einem unguten Gefühl wieder zu dem Drachen und konzentrierte sich. Dabei vermied er es, in die Augen des schwarzen Wesens zu sehen, denn genau wie Seth wurde auch er von dem tiefen Blick angezogen. Gehan bewunderte dieses mächtige Wesen und er spürte einfach, dass es nicht böse sein konnte, doch er musste Seth gehorchen und er wollte beweisen, welche Macht er hatte.
Seth fühlte sich nicht ganz wohl bei dem Gedanken, den Drachen jeden Augenblick töten zu müssen, doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, wollte er nicht seine Ehre verlieren. Tief innen hoffte er, dass Gehan nicht mächtig genug war, das Wesen zu bezwingen und als der Magier gequält aufstöhnte und verzweifelt flüsterte: "Es geht nicht, ich kann ihn nicht nach meinen Wünschen verändern.", da hoffte Seth ein wenig, auch wenn er es sich nicht eingestand. Aber Gehan gab nicht auf und tatsächlich begann sich der Körper des Drachen zu verändern. Allerdings nicht in das, was Seth und alle anderen erwartet hatten. Am Ende lag vor ihnen kein hilfloses Kaninchen oder sonst ein kleines Tier, was leicht zu töten war. Als Gehan sich erschöpft gegen den Bauern, der ihn die ganze Zeit stützte, sinken ließ, lag vor Seth ein nacktes, vielleicht 19-jähriges Mädchen mit knielangem, schwarzen Haar, welches seine Blöße bedeckte und schwarzen Schwingen, die aus dem Schulterblatt hervorwuchsen. Und sie blickte Seth aus den gleichen schwarzen Augen an, wie der Drache. Sie zeigten keine Angst oder Wut, gefangen zu sein, nur dieses Gefühl, welches schon die ganze Zeit in ihnen stand. Dieses Gefühl, welches nur Hass sein konnte, nichts anderes. Ohne zu zögern hob Seth das silberne Schwert und ließ es auf den Kopf des Mädchens vor ihm sausen, nur um sich Augenblicke später die schmerzende rechte Hand zu halten, aus der ihm die Klinge geprellt worden war. Wieder war die Waffe abgelenkt worden, ohne dass sie das Wesen töten konnte.
"Gehan, was bedeutet das nun schon wieder?" Noch immer ließ Seth keinen anderen Gedanken außer den an Rache zu.
Der Magier schüttelte nur ungläubig den Kopf, bis sich sein Gesicht plötzlich aufhellte. Natürlich, das war es.
"Wahrscheinlich können wir den Drachen gar nicht töten, egal in welcher Gestalt er ist. Das vermag vielleicht nicht einmal Magie. In den Büchern stand ja auch, dass ein Drache nur von seinesgleichen getötet werden kann. Aber wir können sie gefangen nehmen. Jetzt habe ich sie noch unter Kontrolle, weil sie ihre Kräfte noch nicht gesammelt hat. Wenn wir ihr einen Teil ihrer Macht nehmen, können wir sie immer unter dem magischen Bann halten."
"Aber wie sollen wir sie so schwächen?", Seth war noch immer skeptisch und eine leise Stimme flüsterte ihm in Gedanken zu, es dabei zu belassen. Sich umzudrehen und zu gehen, bevor er das schöne Mädchen verletzte. Doch das konnte er nicht.
"Wir müssen ihr einen Teil ihres Körpers nehmen, damit verliert sie auch einen großen Teil ihrer Kraft. Ihr müsst ihr einen Flügel ausreißen."
"Verstehe, dazu bräuchte ich auch keine Waffe, sondern nur meinen Körper und gegen den ist sie sicher nicht geschützt." Sich über die Kälte in seiner Stimme wundernd, begriff Seth allmählich und bevor ihn die Augen des Mädchens weiter bannen konnten, trat er entschlossen vor und kniete sich neben sie. Seth berührte die warme Haut der jungen Frau, die ihn nicht aus den Augen ließ und für einen winzigen Moment kamen ihm erneut Zweifel. Diese schwarzen Augen, wie tiefdunkle Seen, in die er zu fallen drohte, sagten ihm, dass dieses Wesen nicht verletzt werden durfte. Sie war so perfekt, so wunderschön und für die Freiheit der Lüfte geschaffen. Das durfte er nicht zerstören und er wollte es eigentlich auch gar nicht. Aber dann erinnerte sich Seth wieder an seine Aufgabe und die Rachegedanken gewannen erneut die Oberhand. Wenn er sie schon nicht töten konnte, so wollte Seth die Mörderin seines Vaters wenigstens gefangen nehmen. 
Seth schloss die Augen, um das Mädchen nicht mehr sehen zu müssen, umfasste die ledrige Schwinge und zog. 
Nach wenigen Sekunden schlug er die Augen wieder auf und fand sich ein wenig von der jungen Frau entfernt im Gras wieder. Die Schwinge, die er in der Hand hielt, begann sich gerade in schimmerndes Licht aufzulösen und Seth versuchte sich an seine Tat zu erinnern. Jetzt erst hörte er ihren Schrei. Es war der erste Ton, den das Mädchen oder der Drache überhaupt von sich gegeben hatten, doch er rührte Seth und die Ritter bis zum Grund ihrer Seele. Die schwarzen Augen waren vor Schock und Schmerz weit aufgerissen und in dem herzzerreißenden aber auch unglaublich schönen Schrei, der mehr wie der eines Menschen, denn wie der eines Drachen klang, schwang soviel Schmerz mit, dass alle Mitleid mit dem Mädchen empfanden und für eine kurze Zeit ihre Rache vergaßen.
Als der Schrei verstummte, lag in den schwarzen Augen weiterhin Schmerz und Schock, aber Seth sah keinen Vorwurf und keine Angst, nur dieses Gefühl, welches Hass sein musste. Plötzlich bemerkte Seth den Strom roten, menschlichen Blutes, der aus dem Schulterblatt floss, als wolle er den Flügel ersetzen. Ohne nachzudenken, riss sich Seth von dem Blick der jungen Frau los, nahm seinen Umhang und wickelte ihn um den nackten Körper, in der Hoffnung auch die Blutung stillen zu können. Erst jetzt wurde Seth und den Rittern klar, dass dieses Wesen vor ihnen noch immer für den Tod König Selons verantwortlich war. Sie gaben sich nicht der Illusion hin, der verwandelte Drache würde nun einfach verbluten, das wäre viel zu einfach. Auch wenn sie Mitleid mit ihr empfanden, hatte sie die Gefangenschaft verdient und sie durften nicht länger zögern.
Seth befahl daraufhin, das Mädchen auf ein Pferd zu binden und zurück zu reiten. Die Verletzte verlor dabei das Bewusstsein, da ja auch ihr rechter Flügel, der die ganze Zeit unter ihrem Körper eingeklemmt war, gebrochen war. Seth entlohnte Simo, als habe er dem König einen großen Gefallen getan, doch als sie zurück zum Schloss ritten, wünschte sich Seth, dass Simo nie zu ihm gekommen wäre.
In der Burg angekommen, ließ Seth die jungen Frau in einen Kerker bringen und anketten, wie es sich für einen Gefangenen gehörte. Die ärztliche Versorgung ihrer Wunden durch Gehan, die Kleidung, die aufgrund der Schwinge einige Probleme bereitete, und das Schlaflager waren zwar weniger üblich aber niemand stellte Seth deswegen in Frage. Der rechte Flügel wurde geschient und Gehan verband die große Wunde an der Schulter, die schon aufgehört hatte zu bluten. Doch auch in den folgenden zwei Monaten verheilten die Verletzungen nicht und das Mädchen war den größten Teil der Zeit bewusstlos, da sie immer noch Schmerzen hatte.
Seth versuchte, das Königreich so normal weiter zu beherrschen, wie zuvor, doch er spürte, dass es anders war. Er hatte seine Ehre und die Ehre seines Vaters durch die Rache an dem Drachen wieder hergestellt, doch eigentlich hatte auch vorher nie jemand von ihm verlangt, den Tod König Selons zu sühnen. Wäre Simo nicht aufgetaucht, hätte sich nie jemand beschwert, dass der Drache noch da draußen herumflog. Es war ein Kampf gewesen, den Selon niemals gewinnen konnte und er war selbst schuld, dass er sich allein darauf eingelassen hatte. Und sehr beliebt war König Selon nie gewesen. Wem wolltest du dann etwas vormachen? fragte sich Seth immer wieder. Doch er fand keine Antwort und irgendwann gab er es auf. Er bereute, was vor der Höhle geschehen war, doch er konnte es nicht mehr ändern. 
Aber genauso wenig wie er den Drachen töten konnte, konnte er sie jetzt gehen lassen. Seth hatte seine Rache durch den Sieg zwar schon bekommen, doch er konnte sich dem Mädchen nicht entziehen. Ihre Augen und ihr Körper zogen ihn an, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Seth wollte ihr nahe sein, sie berühren, alles über sie erfahren und ihre Seele kennen lernen. Er wollte sie begreifen und verstehen und er wollte sie spüren ...
Das war der Grund, warum der junge König in diesen zwei Monaten mehr Zeit in der Zelle bei der Verletzten zubrachte, als bei seinen Ministern im Thronsaal. Das Mädchen war zwar die meiste Zeit ohnmächtig oder schlief einfach, doch das reichte Seth schon. Er setzte sich einfach neben sie, berührte ihre heiße, samtene Hand und bewunderte die überirdische, fast perfekte Schönheit, die vollkommen gewesen wäre, wenn die linke Schwinge nicht gefehlt hätte. Manchmal erwachte sie, wenn Seth noch neben ihr saß und dieser floh sofort, damit er nicht zu lange in diese tiefen, schwarzen Augen blicken musste. Doch was er in ihnen sah, bevor er den Kontakt abbrach, verunsicherte ihn. In dem Blick der jungen Frau lag immer eine Spur von Schmerz, aber nie Angst oder Verachtung und Wut, nur dieses Gefühl, bei dem sich Seth ständig selbst überzeugen musste, dass es Hass war. Und die Augen schienen alles zu verstehen, was in Seths Seele vor sich ging, sie schienen auf den Grund seiner Seele blicken zu können und alles zu spüren, was Seth dachte, was ihn bewegte und was ihn ausmachte. Nur empfand es Seth nicht als unangenehm. Vielmehr sehnte er sich danach, eins mit diesem Mädchen zu sein, alles mit ihr zu teilen und keine Geheimnisse voreinander zu haben. Noch konnte er sich nicht dazu überwinden, den Blick länger als einige Sekunden zuzulassen, um sich nicht in den schwarzen Augen zu verlieren, doch er würde die junge Frau bald nicht mehr zurückweisen können. Und er würde seine Gefühle bald nicht mehr unterdrücken können...

Kapitel Vier

Wieder einmal saß Seth neben dem schlafenden jungen Mädchen und dachte darüber nach, wie schnell sich der Hof doch an seine Angewohnheit, hier herunter zu gehen, gewöhnt hatte. Natürlich war diese Frau wunderschön und unter anderen Umständen hätte kein andere gezögert, sich in sie zu verlieben, doch sie war noch immer die Mörderin des alten Königs. Aber Seth war der König und solange es niemandem schadete, konnte er noch immer tun und lassen, was er wollte. 
Wie ein unschuldiges Kind lag das Mädchen da, angestrahlt durch die warmen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster drangen, und Seth war so gefangen von dem Anblick der sich ihm bot, dass er nicht sofort bemerkte, dass seine Gefangene die Augen geöffnet hatte und ihn ansah. Als Seth sich des Blickes bewusst wurde, war es schon zu spät und er konnte sich ihr nicht mehr entziehen. Im Licht der Sonne bemerkte Seth zum ersten Mal, dass die Augen seines Gegenübers doch nicht so schwarz waren. Da die Iris bei jedem Lichtstrahl, der sie traf, so bläulich schimmerte wie damals die Drachenschuppen, konnte man Pupille und Regenbogenhaut immer von einander unterscheiden. Dadurch wirkten die Augen selbst bei dem Drachen so menschlich und geheimnisvoll und sie zog immer den Blick auf sich.
Und Seth erkannte so viele Gefühle und Gedanken in diesen Augen, dass es ihn fast überwältigte. Plötzlich sah er wieder diesen Ausdruck, den er die ganze Zeit als Hass interpretiert hatte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Drache etwas anderes empfinden konnte. Doch jetzt erkannte Seth seinen Irrtum. Dieses Wesen konnte nicht hassen, dazu war es zu rein und gut. Nein, dieses Gefühl, welches in dem Blick lag, seit Seth zum ersten Mal nach dem Tod seines Vaters in diese schwarzen Augen geblickt hatte, war Liebe. Liebe oder Anteilnahme oder Aufrichtigkeit oder eine Mischung aus allem, die nie, nicht einmal bei dem großen Schmerz vor der Höhle, aus dem Blick wich. Dieses Wesen hatte Seth nie gehasst, egal was er ihm angetan hatte, und es hatte auch seinen Vater nie gehasst, das konnte es gar nicht. Der Drache liebte Seth dafür viel zu sehr. 
Verzweifelt versuchte Seth diesen Gedanken zu verdrängen, doch das gelang ihm nicht. Tränen traten ihm in die wasserblauen Augen, ohne dass er wusste warum. Dieses Wesen war sein Feind, es durfte ihn nicht lieben, aber das tat es! Und er selbst ... er... Das durfte nicht sein. Das war unmöglich! 
Immer mehr Tränen flossen ihm über die Wangen und erst, als er das Blut an seinen Händen spürte, kam Seth wieder zu sich. Ohne es zu merken, hatte er auf das Mädchen eingeschlagen und versucht, so die unmöglichen Gedanken zu vertreiben. Was keine Waffe vermochte, hatte er mit seinen bloßen Händen erreicht. Er hatte die hilflose Frau vor sich, die sich aufgrund der Ketten nicht wehren konnte, fast zu Tode geprügelt. In Seth stieg Entsetzen hoch, über das, was er gerade getan hatte und nun zögert er nicht länger. Er löste die Ketten, wickelte das ohnmächtige Mädchen in eine der Decken und trug sie hinauf in seine Zimmer. Dort legte er die Verwundete behutsam auf das Bett und beachtete nicht, dass er die kostbaren Stoffe mit Blut besudelte. Augenblicke später hatte er schon Gehan gerufen, der ohne ein Wort des Tadels daran ging, die junge Frau auf dem Bett zu verarzten. 
In den folgenden Tagen, in denen Seth nicht von der Seite des Mädchens wich und ständig ihre Hand hielt, hatte der junge König Zeit, über sein Handeln nachzudenken. Nicht, dass er es jetzt mehr verstand als unten im Kerker. Seth wusste nicht, wie er so etwas hatte tun können, wie er so brutal hatte sein können, zu jemandem, den er ...
Er verstand es einfach nicht. Gehan sah immer wieder herein und kümmerte sich um die allmählich ein wenig stärker werdende Verletzte, doch er machte Seth für seine Tat keinen Vorwurf. Der Magier hatte schon lange gespürt, dass zwischen Seth und der jungen Frau ein Gefühl war, was nun dabei war, stärker zu werden und sich zu zeigen. Seth, der noch nie ernsthaft mit einer Frau zusammen war, konnte am Anfang nicht damit umgehen und seine Reaktion war entsprechend heftig, aber Gehan hoffte, dass Seth dieses Verhältnis bald akzeptieren würde. Es würde den Drachen vielleicht retten und es würde Seth helfen, der auch jetzt noch, unbemerkt von ihm selbst, unter dem Tod seines Vaters und unter dem litt, was er dem Drachen angetan hatte. Der Drache war nicht böse und es gab einen Grund, warum der alte König sterben musste. Gehan hoffte nur, dass auch Seth das endlich akzeptierte.
Nach zwei Tagen erwacht die Verletzte wieder, doch Seth wich ihr auch die nächste Woche nicht von der Seite, selbst wenn das Mädchen wach war und ihre Blicke sich trafen. Keiner von beiden redete ein Wort, doch die junge Frau hatte noch nie gesprochen und so störte ihr Schweigen keinen von beiden. Beide genossen ihr Zusammensein, auch wenn es Seth noch nicht wahrhaben wollte. 
Neun Tage nachdem Seth sie verletzt hatte, war die Frau soweit genesen, dass sie sich aufsetzen und zum Fenster herausblicken konnte. Auch ihre neuen Wunden verheilten nicht, dafür wurde ihr mit der linken Schwinge zu viel Macht genommen, doch die gemeinsame Zeit mit Seth stärkte sie sehr. Der junge König kam gerade von seinen Amtsgeschäften, zu denen ihn seine Minister angesichts der Genesung des Mädchens überreden konnten, und fand dieses die Vögel beobachtend vor. Seth erkannte, dass der Drache für die Freiheit geschaffen war und nicht länger gefangen bleiben durfte. Er hatte seine Rache gestillt und er fürchtete sich nun vor den angenehmen Gefühlen, die er in Gegenwart des Mädchens - der Feindin - verspürte. Also beschloss er sie gehen zu lassen.
Seth stützte sie, als er sie auf den Balkon führte und sprach nun das erste Mal mit ihr:
"Ich kann nicht wieder gut machen, was ich dir angetan habe und ich weiß nicht einmal richtig, warum ich das jetzt tue, aber ich lasse dich gehen. Du bist frei, der Bann ist aufgehoben und du kannst gehen. Lass deinen Flügel nachwachsen und verwandle dich wieder. Niemand wird dich aufhalten. Geh! Du solltest frei sein und ich werde dem nicht mehr im Weg stehen." Seth blickte zu Boden, weil er dem Mädchen nicht zeigen wollte, wie aufgewühlt seine Gefühle waren. Eigentlich wollte er sie nicht gehen lassen, wollte ihr nahe sein, doch das durfte nicht, konnte nicht sein. Er erwartete schon das Rauschen lederner Schwingen zu hören, doch plötzlich spürte er die warme Hand der Anderen auf seinem Arm. Bei dieser ersten freiwilligen Berührung seitens des Drachen sah Seth überrascht auf und blickte genau in die Augen seines Gegenüber. Lange sahen sich die beiden nur an und dann sprach auch die junge Frau das erste Mal, seit sie sich kannten.
"Ich kann nicht gehen, da es mir nicht möglich ist, meine frühere Gestalt anzunehmen, wenn nicht eine große Veränderung geschieht. Und auch wenn ich es könnte, ich möchte nicht gehen. Ich möchte hier bleiben, hier bei dir." Und Seth sah diesen Wunsch auch in den schwarzen Augen des Mädchens. Er verstand nicht, warum die junge Frau, die er so lange gefangen gehalten und die er mit seinen eigenen Händen so verletzt hatte, noch immer bei ihm bleiben wollte. Natürlich wünschte er es sich selbst auch. Er liebte dieses Mädchen mehr als alles andere und ihm war egal, wer sie war. Er wollte selbst nicht, dass sie beide getrennt wurden, ob sie seinen Vater nun umgebracht hatte oder nicht. Sie zog ihn an und er konnte ihr nicht widerstehen, wollte sie nicht verlieren. Er wollte ihre weichen, warmen, samtenen Lippen auf seinen spüren und er wollte in ihren tiefschwarzen Augen ertrinken. Seth wollte ihr sein ganzes Vertrauen schenken und ihr Vertrauen gewinnen. Aber er hatte ihr so oft weh getan. War es wirklich das, was sie wollte?
Der junge König zögerte kurz und sah ihr lange in die tiefschwarzen Augen, in denen er wieder die Liebe erblickte, die immer in ihnen stand, wenn sie Seth anschauten. Seth versuchte in diesen Augen Bestätigung, Unterstützung und auch Halt zu finden, als er sich vorbeugte und sie küsste. 
Vorsichtig umarmte Seth die junge Frau um ihr seine Liebe zu vermitteln, ohne etwas zu tun, was ihr nicht gefiel. Dabei berührte er unbeabsichtigt das linke Schulterblatt der Anderen, welches 
noch eine Stunde zuvor eine offene Wunde gewesen war, die seit dem Fehlen des linken Flügels nicht mehr verheilen wollte. Doch jetzt zuckte das Mädchen nicht einmal vor Schmerz zusammen, sondern lehnte nur ihren Kopf gegen seine Schulter. Als Seth die Stelle vorsichtig abtastete, spürte er, dass sie schon fast vollständig verheilt war und sich sogar schon der neue Flügel als Auswuchs abzeichnete. Verblüfft wollte Seth die junge Frau fragen, was das zu bedeuten hatte, doch diese kam ihm zuvor, indem sie meinte: "Ich glaube, ich schulde dir langsam eine Erklärung."
Dabei hob sie den Kopf und sah Seth in die tiefblauen Augen, wie um sich zu versichern, dass sie ihm völlig vertrauen konnte. Der junge König nickte zustimmend und schlang seine Arme fester um die Taille das Mädchens an seiner Brust. Er wollte ihr zeigen, dass er sie nicht mehr gehen lassen würde, egal was er nun erfahren würde. Also begann der verwandelte Drache zu berichten, während sie sich umarmten und die gegenseitige Wärme genossen.
"Mein Name ist Aidin und ich bin eine der wenigen Drachen, die noch existieren. Wir sind sehr mächtige und sehr alte Wesen, doch wie du selbst weißt, können selbst wir verletzt oder sogar vernichtet werden. Eure Magie kann zwar unseren Tod nicht sofort herbei führen, aber wenn ich noch länger in deiner Gefangenschaft geblieben wäre, mit der schweren Wunde die ich selbst nicht so ohne weiteres heilen kann, dann wäre ich vermutlich gestorben."
"Aber warum hast du nie etwas gesagt? Du wusstest, wie ich für dich empfinde. Wenn ich gewusst hätte, dass du sterben würdest, hätte ich dich viel eher gehen lassen...", unterbrach Seth sie, doch Aidin schüttelte den Kopf.
"Was ich dir vorhin sagte, ist wahr. Ich kann meine Wunden nicht selbst heilen, da mir durch den fehlenden Flügel auch ein Teil meiner Kraft fehlt. Die bloße Freiheit hätte mir dabei nicht geholfen..."
"Aber jetzt ist...", verstört unterbrach Seth Aidin erneut. Ihr Flügel heilte doch gerade, also was...?
"Das jetzt ist nicht nur mein Verdienst. Ich habe dich schon seit deiner Geburt beobachtet und du weißt, dass ich sehr viel für dich empfinde." Aidin stockte und blickte Seth lange in die Augen und erst als sie gefunden hatte, was sie dort suchte, fuhr sie fort. "Ich liebe dich, Seth. Das half mir, die Gefangenschaft zu ertragen und so lange zu warten, bis du den Mut hattest, deine eigenen Gefühle zuzulassen. Ich weiß, dass du mich auch liebst und das ist der Grund meiner Heilung. Nur durch die echte Liebe desjenigen, der einen Drachen verletzte, kann der Drache wieder geheilt werden. Nur durch deine Liebe kann ich den Flügel nachwachsen lassen."
Plötzlich stockte Aidin, da sie spürte, wie sich Seth innerlich ein Stück zurück zog, ohne dass er seinen Körper bewegte.
"Also bist du jetzt nur bei mir, weil du dadurch wieder geheilt wirst und weil du ohne meine Gefühle für dich sterben würdest?", mit zusammengekniffenen Augen betrachtete der junge König das Mädchen in seinen Armen, doch dieses lächelte nur leise.
"Nur durch echte Liebe kann ein Drache geheilt werden. Würde ich dich nur ausnutzen, wäre es das nicht." Erleichtert atmete Seth auf und lange hielten sich die beiden einfach nur fest, damit kein Wort und keine Bewegung die friedliche Atmosphäre zerstörte. Doch Aidin wusste, dass noch nicht alles gesagt war.
"Seth, ich verspreche dir, dich nie mehr allein zu lassen oder dich zu verletzen. Ich möchte dich nicht verlieren." Aidin spürte, wie Seth innerlich erschauerte, als ein dunkles Bild seiner Vergangenheit auftauchte und sie wusste, was nun kommen würde.
"Aber das hast du schon getan, als du meinen Vater getötet hast. Warum hast du ihn zu diesem Kampf gefordert, den er nur verlieren konnte, wenn du mir nicht weh tun wolltest? In deinen Augen waren schon damals diese starken Gefühle für mich, und doch hast du mir Vater genommen und damit meine Rache herausgefordert. Warum?"
Lange sah Aidin Seth nur in die dunklen Augen, bevor sie das alles entscheidende sagte: "Weil ich die Beschützerin dieses Landes bin. Jeder Drache wacht über ein Land, beobachtet die Menschen, die darin leben und sorgt dafür, dass es nicht untergeht. Wir greifen ein, wenn unserem Land durch eine Bedrohung innerhalb oder von außen Gefahr droht. Manchmal stirbt ein Drache dabei und dann wird meist auch das Land vernichtet, welches er beschützen sollte. Nur selten findet sich rechtzeitig ein neuer Drache, der darüber wacht. Dein Vater war dabei, dieses Land zu zerstören. Es wäre zu verheerenden Kriegen gekommen, die nicht einmal ich hätte verhindern können, wenn Selon weiter regiert hätte. Wenn ich nicht auf die Asche dieses Landes hinabblicken wollte, musste ich etwas unternehmen. Ich konnte nicht zusehen, wie König Selon dieses Land zerstörte und so tat ich das einzig mögliche: ich tötete ihn. Ich habe dich schon seit deiner Geburt beobachtet und ich liebe dich schon sehr lange, doch das war die einzige Chance für dich. Ich wollte dich nie verletzen, doch noch weniger wollte ich dich verlieren und ich musste auch meine Pflicht als Beschützer dieses Landes erfüllen. Es tut mir leid, Seth." Aidins Stimme war am Ende nur noch ein Flüstern gewesen und sie fürchtete sich vor Seths Reaktion. Dieser schob das Mädchen ein Stück von sich, ohne sie jedoch loszulassen, und blickt ihr ernst in die schwarzen Augen. 
"Ich denke du hast genug für den Tod meines Vaters gebüßt. Ich habe mich schon längst an dir für das gerächt, was du damals getan hast und ich weiß nun, dass du gar keine andere Wahl hattest. Schon damals habe ich deine Liebe zu mir in deinen wunderschönen Augen gesehen, doch ich glaubte, es Vater und meiner Ehre schuldig zu sein, das als Hass einzustufen. Das war falsch und unrecht und ich weiß jetzt, dass ich dich seit jenem Tag auf dem Turnierplatz genauso liebe, wie du mich schon mein ganzes Leben. Du musst dich für nichts mehr entschuldigen, Aidin. Ja, ich liebe dich und ich bin dankbar für deine Gefühle mir gegenüber." 
Nun war alles gesagt, das wussten sie beide. Trotzdem zögerte Aidin noch und so war es Seth, der den ersten Schritt wagte. Er presste seine Lippen zärtlich auf die des Mädchens und diese erwiderte den Kuss. 
Langsam ohne es bewusst wahr zu nehmen, landeten die beiden irgendwann auf dem Bett und verloren sich aneinander. Dass die Schwingen in dieser Zeit wieder völlig heilten und sogar verschwanden, bemerkte Seth nur am Rande. 

Epilog

Natürlich blieb niemandem verborgen, was zwischen Aidin und dem jungen König vorgefallen war und welche Gefühle sie füreinander empfanden. Doch in Anbetracht von Aidins Schönheit verwunderte es niemanden, dass Seth sie zu der Frau an seiner Seite erwählte und nachdem alle erfuhren, wer sie war und welche Aufgabe sie hatte, störte es auch keinen mehr.
Das Volk liebte Seth als einen guten und gerechten König und es war sich der Tatsache bewusst, dass er vielleicht der beste König war, der dieses Land jemals regiert hatte. 
Selon hatten sie nur geduldet, weil er eben gerade der König gewesen war, doch Seth wollten sie nicht verlieren. 
Aidin, die in der Zwischenzeit wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte war, beschloss ohne zu Zögern, dass sie auch aus dem Herzen dieses Landes, aus Seths Schloss, über das Land wachen konnte. Es bestand also nicht unbedingt die Notwendigkeit weiterhin nur in Höhlen zu leben. Doch die Tatsache, dass Aidin für die meiste Zeit ihren Drachenkörper zu Gunsten Seths aufgab, bedeutete noch lange nicht, dass sie auch das Wesen eines Drachens verlor. Sie war freiheitsliebender als jeder Vogel, den Seth zuvor besessen hatte und legte manches Mal eine erschreckende, unbezähmbare Wildheit an den Tag, wenn etwas, was sie für ungemein wichtig erachtete, nicht nach ihren Wünschen ausgeführt wurde. 
An manchen Tagen zweifelte Seth jedoch, ob es richtig war, Aidin nur wegen ihrer gemeinsamen Liebe in seiner Burg festzuhalten, in der sie sich offensichtlich zeitweise wie eine Gefangene vorkam. Erst als Seth akzeptierte, dass Aidin auch Stunden brauchte, in denen sie sich in ihre ursprüngliche Gestalt, in den Drachen, verwandeln konnte, fanden sie wieder zu ihrer Harmonie zurück. Seth begleitete Aidin auch manchmal auf ihren langen Flügen und genoss die Freiheit auf ihrem geschuppten Rücken. Nun endlich verstand er dieses majestätische Wesen ein wenig mehr und er war glücklich ihre Liebe errungen zu haben und ihr die gleichen Gefühle zurück geben zu können.
 

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