Ein vorlauter Hobbit
Der "Grüne Drache" war wie immer gut gefüllt,
das hörten Merry und Pippin schon von draußen und traten ein.
Die Tische mit den Platten aus dicken Eichenbohlen standen voller Krüge
schäumenden Bieres. Muntere Hobbits saßen darum, pafften ihre
langen Pfeifen, tranken schmatzend das kühle Bier, erzählten
erfundene oder wahre Geschichten oder hörten den lautesten Erzählern
einfach zu. Nelli, das rundliche Schankmädchen, eilte mit vollen Tabletts
durch die Reihen. Durch den Raum waberten dicke Rauchschwaden des aromatischem
Pfeifenkrauts. In irgendeiner Ecke spielte jemand auf einer kleinen Weidenflöte
eine lustige Melodie.
Auch diesmal rief ein stattlicher Hobbit bei
ihrem Anblick:
"Da kommen die Befreier des Auenlandes! Nelli,
zwei Krüge Gerstensaft für meine Freunde Peregrin und Meriadoc!
Schreib´ an für Borko Stolzfuß!"
Dieser Borko Stolzfuß war für einen
Hobbit recht groß, hatte einen kantigen Schädel mit rotgeäderten
Wangen und Augen, die selten klar blickten. Er saß mit dem Rücken
zur Wand im hinteren Bereich der Schankwirtschaft, die Füße
auf dem Tisch. Seinen Krug mit Gerstenbier ließ er nicht einen Augenblick
los.
Das Hallo wollte nicht enden und aus verschiedenen
Ecken wurde gerufen.
"Eine Geschichte, Herr Tuk! Erzähl uns
was, Merry! Erzählt von euren Abenteuern."
Pippin und Merry war diese Aufmerksamkeit
sehr recht. Wegen des Entwassers, das Baumbart sie vor vielen Jahren trinken
ließ, waren sie größer als alle anderen Hobbits, größer
sogar als die kräftigen Söhne und Knechte Bauer Maggots. Sie
brauchten sich daher nicht auf einen Schemel zu stellen, um von allen gesehen
und gehört zu werden, sie überragten auch so alle Anwesenden.
Pippin gefiel aber der Ton nicht, mit dem Borko
Stolzfuß das Gerstenbier für sie bestellt hatte, denn es hatte
ein wenig nach Spott und Hohn geklungen. Trotzdem begann er zu erzählen,
vom Fangorn und ihren Abenteuern mit den Ents. Als Pippin zum halbhundertsten
Male die Höhle des Ents Baumbart beschrieb, meldete sich Borko Stolzfuß
zu Wort, der sich auch einmal gewisse Chancen auf das Thainsamt ausgerechnet
hatte.
"Ist ja nun schon reichlich lange her, die
Herren. Lebt seither ganz gut von dem, was man euch hinterlassen hat. Ehrliche
Arbeit habt ihr nicht mehr gesehen und ein Abenteuer schon gar nicht."
Eine peinliche Stille war im "Grünen
Drachen" entstanden. Alle Hobbits beobachteten Borko und Pippin und Merry.
Pippin, der nicht auf Streit aus war, weil sein Bauch immer noch rund und
voll vom Abendbrot war, rief daher:
"Nelli, ein Krug Gerstenbier für den
alten Borko, als Dank für seine Runde! Und bring ihm auch noch vom
Gebrannten."
Die Ostlinge, die im Namen Sarumans das Auenland
besetzt und verwüstet hatten, hatten auch das Rezept für den
Gebrannten mitgebracht. In einer der qualmenden und stinkenden Schlotschuppen
hatten sie Hobbits gezwungen, aus gemaischtem Getreide dieses scharfe Getränk
herzustellen. Die Aufmüpfigen unter den Auenländern hatten sie
mit diesem scharfen Getränk gefügig gemacht. Sie zwangen sie,
große Becher des Zeugs zu trinken, so dass sie keinen klaren Gedanken
mehr fassen konnten.
Leider war der Gebrannte nicht wieder mit
den Ostlingen verschwunden. Einige Hobbits vernachlässigten ihre Felder
und Gärten, verpfändeten gar ihre Höhlen, um möglichst
oft dem Gebrannten zuzusprechen. Borko Stolzfuß hatte zwar Feld und
Höhle nicht verpfändet, denn dann hätte er eine Tracht Prügel
von seiner Frau bekommen. Aber er trank mehr vom Gebrannten als er vertrug.
Für den Moment war Borko Stolzfuß
ruhiggestellt. Peregrin und Meriadoc wurden von den anderen Hobbits umlagert.
Man klopfte ihnen auf die Schultern und manch einer nannte Pippin schon
den zukünftigen Thain des Auenlands. So waren die Hobbits: Zwar zerrissen
sie sich gerne und lange die Mäuler über die bedenklich abenteuerliche
Lebensart des Herrn Tuk. Aber dennoch anerkannten sie seine Tüchtigkeit,
die ihn zu dem Kandidaten auf das Amt des Thain machte. Damit war Borko
Stolzfuß nun aber doch nicht einverstanden.
"Warum sollte gerade der Herr Tuk Thain werden?",
rief er dazwischen.
Seine Zunge war schon etwas schwer vom Gebrannten.
Merry und Pippin sahen mit einigem Abscheu zu ihm herüber. Sie hassten
das scharfe Getränk, hatten sie doch auf ihrem Gewaltmarsch mit den
Orks unfreiwillig damit Bekanntschaft damit machen müssen.
"Nur weil Herr Tuk in seltsame Abenteuer geschlittert
und heile zurückgekehrt ist?", grölte Borko Stolzfuß weiter.
"Ich habe auch gekämpft, um Orks und
Ostlinge aus dem Auenland zu vertreiben. Danach bin ich aber weiter meiner
ehrlichen Arbeit nachgegangen und habe mich nicht auf meinen Lorbeeren
ausgeruht, wie diese beiden Herren."
Wieder war Stille eingekehrt. Diejenigen Hobbits,
die auch nach dieser dunklen Zeit Abenteuer für verwerflich hielten,
pflichteten Borko insgeheim bei. Merry wollte dem Stolzfuß gerade
erklären, dass ohne sie beide gar kein Aufstand gegen Sarumans und
Saurons Diener begonnen hätte und dass sie noch viel größere
Abenteuer als dieses erlebt hatten. Aber Pippin legte eine Hand auf Merrys
Arm und sprach mit sonderbar ruhiger Stimme.
"Wir haben uns nicht auf unseren Lorbeeren
ausgeruht. Wir haben geholfen, das Auenland wieder herzurichten. Zwar mag
unser letztes Abenteuer lange her sein, aber wir werden bald ein neues
beginnen. Wir werden einen alten Freund in Bree besuchen. Wenn Du so mutig
bist, wie der Gebrannte Dich reden lässt, komm doch mit, Borko Stolzfuß.
Die Ernte ist eingebracht, gleich morgen geht es los. Wenn du Thain werden
willst, ist es vielleicht nicht schlecht zu wissen, wie es außerhalb
des Auenlandes aussieht."
Alle Augen richteten sich auf Borko. Man war
gespannt, ob er sich herausfordern oder ins Bockenburger Horn jagen ließ.
Nur Merry sah Pippin an und versuchte, sich sein Staunen nicht anmerken
zu lassen. Zwar hatten sie gerade erst über ein neues Abenteuer gesprochen.
Aber das hatten sie in den letzten Jahren schon oft getan und waren dann
bequem in ihrer warmen Höhlen geblieben.
Borko Stolzfuß fühlte, dass alle
Augen auf ihn gerichtet waren. Wenn er nicht als Feigling dastehen wollte,
musste er zusagen. Schließlich sollte es nur nach Bree gehen. Ließ
man die Südländer und Ostlinge, die sich immer noch vereinzelt
in der Gegend herumtrieben, außer acht, war das ja beinahe gar kein
Abenteuer. Schlug er aus, wären seine Chancen, Thain zu werden, ein
für alle mal zunichte gemacht.
"Natürlich komme ich mit. Wollen doch
mal sehen, was an euch beiden dran ist", rief er laut, so dass alle Anwesenden
es hörten. Die Wirkung des Gebrannten bei ihm war schlagartig verflogen
und einige Hobbits behaupteten am nächsten Abend in der Schenke, seine
Stimme hätte schon etwas gezittert.
Das Stimmengemurmel wurde lauter ob dieser
kleinen Sensation. Borko Stolzfuß geht auf eine abenteuerliche Reise
mit Meriadoc Brandybock und Peregrin Tuk! Das würde Gesprächsstoff
für die nächsten Tage liefern.
Viele Hände klopften Borko Stolzfuß,
der nicht wusste, ob er sich im neuen Ruhm sonnen oder im Boden versinken
solle, auf die Schultern.
"Wann geht es los?", riefen viele Stimmen
aus der Menge.
"Bist Du Dir sicher, dass Du so eine weite
Strecke schaffst, Borko?", fragte Pippin, an Borkos Ausdauer zweifelnd.
"Na, warum sollte ich das nicht schaffen,
Herr Tuk? Ich bin schließlich ein Hobbit im besten Alter und einer
der kräftigsten hier in Hobbingen", gab Borko mächtig an und
setzte noch hinzu: "Ihr glaubt wohl, die einzigen tüchtigen und abenteuertauglichen
Hobbits zu sein."
"Ich frage ja nur zu deinem besten, Borko."
Pippin ließ sich nicht anmerken, dass
ihn die ständigen Sticheleien ärgerten.
"Bist Du schon einmal so eine weite Strecke
gewandert, Herr Stolzfuß?", wollte Merry wissen. Borko machte ein
entrüstetes Gesicht.
"Also glaubt auch der Herr Brandybock, dass
ich weder zu Abenteuern tauge, noch sonst zu etwas. Noch letzte Woche bin
ich täglich zwei mal zu meinem nördlichen Acker gewandert."
Alle Hobbits in der Schenke hatten die Ohren
gespitzt und verfolgten den Disput.
"Deine Felder sind doch nur eine Stunde zu
Fuß von deiner Höhle entfernt, Stolzfuß!" rief jemand
aus dem vorderen Bereich des Schankraums.
"Und außerdem bist Du nur deshalb gelaufen,
weil Du dem Wirt Dein Pferd und Deinen Karren als Pfand für die vielen
angeschriebenen Gerstenbiere und Krüge mit Gebrannten geben musstest",
kam es aus einer anderen Ecke. Viele Hobbits lachten laut. Borko nahm die
Füße vom Tisch und richtete sich auf, konnte aber nicht erkennen,
wer der Rufer war.
"Und nach Bree seid ihr Tage unterwegs", rief
ein dritter Hobbit. Bevor Borko aufbrausen konnte, fuhr Pippin dazwischen.
"Können wir uns auf Deine Klinge verlassen,
wenn Haradrim oder Ostlinge uns angreifen? Denn das ist nicht ganz unwahrscheinlich,
Borko Stolzfuß."
"Aber selbstverständlich. Bei der Schlacht
von Wasserau habe ich die Halunken reihenweise niedergemacht." Borko sprach
immer hitziger. Aber jetzt erklang wieder Lachen aus mehreren Winkeln des
"Grünen Drachen".
"Davongelaufen bist Du!"
"Einen einzigen hast Du erwischt!"
"Und der war schon fast tot!"
"Unter einem Fuhrwerk hast Du Dich versteckt!"
Und so ging der Spott weiter.
Schließlich stand Borko auf. Sein Gesicht
war rot vor Zorn und zuviel Gebranntem.
"Ich werde Euch zeigen, wie Borko Stolzfuß
so ein lächerliches Abenteuer besteht. Morgen früh stehe ich
bereit, und wenn sich hundert Haradrim gegen uns stellen."
Damit verschwand er heftig schnaufend und
stieß ein paar der anderen Gäste zur Seite, die ihm nicht schnell
genug aus dem Weg kamen.
Pippin stand auf und rief ihm hinterher:
"Morgen früh bei Sonnenaufgang machen
wir uns auf den Weg." Der Stolzfuß sollte keine Zeit mehr haben,
sich eine Ausrede einfallen zu lassen, dachte sich Pippin. "Wir treffen
uns vor der Schenke, Borko. Bring einen guten Stock und reichlich Proviant
mit. Und natürlich ein Schwert."
Merry, der immer noch nicht fassen konnte,
was sein alter Freund da eben angestiftet hatte, nahm Pippin beiseite.
"Wir gehen jetzt nach Hause. Schließlich
wollen wir morgen ausgeruht sein."
Er zerrte Pippin aus der Schenke, denn er
wollte ihn endlich fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Um nicht noch
zurückgehalten zu werden, stiegen sie eilig den Bühl hinauf,
der zwischen der Schenke und ihrer Höhle lag. Dort, wo der Weg sich
wieder talwärts neigte, blieben sie stehen.
"Was hast Du Dir dabei gedacht, Peregrin Tuk?",
verlangte Merry zu wissen.
Pippin sah in den Himmel. Zahllose kristallene
Flammenpunkte durchstachen die Nacht mit ihrem Glanz. Es dauerte eine Weile,
bis Pippin antwortete.
"Ich musste heute an Bilbo Beutlin denken.
Auch er hat ein großes Abenteuer bestanden und war danach so lange
nicht glücklich, bis er zum zweiten Mal aufgebrochen ist. Erst in
Bruchtal hat er seinen Frieden gefunden."
Beide Hobbits schwiegen eine Weile. Merry
verstand seinen Freund, waren ihm in der letzten Zeit doch oft ähnlich
Gedanken durch den Kopf gegangen. Pippin grinste jetzt.
"Außerdem können wir so mehrere
Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wir können uns einen Spaß
mit Bauer Maggot machen und danach für eine Weile verschwinden. Außerdem
verpassen wir diesem vorlauten Stolzfuß einen Denkzettel."
"Ach, ich wette, der kommt gar nicht. Er wird
morgen mit einem Brummschädel aufwachen und sich lieber noch einmal
umdrehen", meinte Merry.
"Und dann hält er ein paar Wochen die
Klappe", bestätigte Pippin.
"Was wollen wir eigentlich in Bree? Ich meine,
außer bei Butterblüm ein paar große Krüge Gerstenbier
zu trinken?", fragte jetzt Merry.
"Uns wird schon etwas einfallen", gab Pippin
zurück.
"Du meinst, mir wird schon was einfallen.
Schließlich bin ich derjenige von uns beiden, der denkt", spöttelte
Merry und spurtete los. Johlend lief Pippin hinter ihm her.
"Na warte!", rief er. "Das werde ich Dir gleich
zeigen."
Bis zu ihrer Höhle balgten sie sich,
stießen einander mit den Schultern und berieten, was auf die Reise
mitzunehmen sein. Jetzt, wo auch sie sich auf den Weg machen mussten, um
nicht zum Gespött von Hobbingen zu werden, waren sie glücklich
und aufgeregt.
Nachdem Sie reichlich Proviant in zwei geräumige
Rucksäcke gepackt hatten, suchten sie alles andere zusammen. Ihre
Schwerter, die sie vor scheinbar unendlich langer Zeit in den Hügelgräbern
fanden, waren immer noch tadellos in Schuss. Die Klingen glänzten
und waren scharf geschliffen. Die Gehänge waren immer gut eingefettet
worden, damit das Leder nicht spröde wurde. Aus einem Ständer
nahe der Eingangstür wählten sie zwei kräftige Wanderstöcke,
mit denen sich zur Not auch ein aufdringlicher Wolfsfuchs vertreiben ließ.
Decken, Seile und ein Kochgeschirr, für einen anständigen Hobbit
unentbehrlich, wanderten ebenso in die Rucksäcke. Noch einmal gingen
sie ihr Reisegepäck durch und fanden es komplett.
"Nicht mehr lange und die Sonne geht auf,
Merry", sagte Pippin.
"Wir sollten versuchen, wenigsten eine kurze
Weile zu schlafen. Wir wollen auf unsere Wanderung ja nicht vor Borko Stolzfuß
Müdigkeit zeigen."
© Dietmar
Preuß
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|