Wie drei Hobbits nicht nach Bree kamen von Dietmar Preuß

Ein vorlauter Hobbit

Der "Grüne Drache" war wie immer gut gefüllt, das hörten Merry und Pippin schon von draußen und traten ein. Die Tische mit den Platten aus dicken Eichenbohlen standen voller Krüge schäumenden Bieres. Muntere Hobbits saßen darum, pafften ihre langen Pfeifen, tranken schmatzend das kühle Bier, erzählten erfundene oder wahre Geschichten oder hörten den lautesten Erzählern einfach zu. Nelli, das rundliche Schankmädchen, eilte mit vollen Tabletts durch die Reihen. Durch den Raum waberten dicke Rauchschwaden des aromatischem Pfeifenkrauts. In irgendeiner Ecke spielte jemand auf einer kleinen Weidenflöte eine lustige Melodie.
Auch diesmal rief ein stattlicher Hobbit bei ihrem Anblick:
"Da kommen die Befreier des Auenlandes! Nelli, zwei Krüge Gerstensaft für meine Freunde Peregrin und Meriadoc! Schreib´ an für Borko Stolzfuß!"
Dieser Borko Stolzfuß war für einen Hobbit recht groß, hatte einen kantigen Schädel mit rotgeäderten Wangen und Augen, die selten klar blickten. Er saß mit dem Rücken zur Wand im hinteren Bereich der Schankwirtschaft, die Füße auf dem Tisch. Seinen Krug mit Gerstenbier ließ er nicht einen Augenblick los.
Das Hallo wollte nicht enden und aus verschiedenen Ecken wurde gerufen.
"Eine Geschichte, Herr Tuk! Erzähl uns was, Merry! Erzählt von euren Abenteuern."
Pippin und Merry war diese Aufmerksamkeit sehr recht. Wegen des Entwassers, das Baumbart sie vor vielen Jahren trinken ließ, waren sie größer als alle anderen Hobbits, größer sogar als die kräftigen Söhne und Knechte Bauer Maggots. Sie brauchten sich daher nicht auf einen Schemel zu stellen, um von allen gesehen und gehört zu werden, sie überragten auch so alle Anwesenden.

Pippin gefiel aber der Ton nicht, mit dem Borko Stolzfuß das Gerstenbier für sie bestellt hatte, denn es hatte ein wenig nach Spott und Hohn geklungen. Trotzdem begann er zu erzählen, vom Fangorn und ihren Abenteuern mit den Ents. Als Pippin zum halbhundertsten Male die Höhle des Ents Baumbart beschrieb, meldete sich Borko Stolzfuß zu Wort, der sich auch einmal gewisse Chancen auf das Thainsamt ausgerechnet hatte.
"Ist ja nun schon reichlich lange her, die Herren. Lebt seither ganz gut von dem, was man euch hinterlassen hat. Ehrliche Arbeit habt ihr nicht mehr gesehen und ein Abenteuer schon gar nicht."
Eine peinliche Stille war im "Grünen Drachen" entstanden. Alle Hobbits beobachteten Borko und Pippin und Merry. Pippin, der nicht auf Streit aus war, weil sein Bauch immer noch rund und voll vom Abendbrot war, rief daher:
"Nelli, ein Krug Gerstenbier für den alten Borko, als Dank für seine Runde! Und bring ihm auch noch vom Gebrannten."
Die Ostlinge, die im Namen Sarumans das Auenland besetzt und verwüstet hatten, hatten auch das Rezept für den Gebrannten mitgebracht. In einer der qualmenden und stinkenden Schlotschuppen hatten sie Hobbits gezwungen, aus gemaischtem Getreide dieses scharfe Getränk herzustellen. Die Aufmüpfigen unter den Auenländern hatten sie mit diesem scharfen Getränk gefügig gemacht. Sie zwangen sie, große Becher des Zeugs zu trinken, so dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnten.
Leider war der Gebrannte nicht wieder mit den Ostlingen verschwunden. Einige Hobbits vernachlässigten ihre Felder und Gärten, verpfändeten gar ihre Höhlen, um möglichst oft dem Gebrannten zuzusprechen. Borko Stolzfuß hatte zwar Feld und Höhle nicht verpfändet, denn dann hätte er eine Tracht Prügel von seiner Frau bekommen. Aber er trank mehr vom Gebrannten als er vertrug.

Für den Moment war Borko Stolzfuß ruhiggestellt. Peregrin und Meriadoc wurden von den anderen Hobbits umlagert. Man klopfte ihnen auf die Schultern und manch einer nannte Pippin schon den zukünftigen Thain des Auenlands. So waren die Hobbits: Zwar zerrissen sie sich gerne und lange die Mäuler über die bedenklich abenteuerliche Lebensart des Herrn Tuk. Aber dennoch anerkannten sie seine Tüchtigkeit, die ihn zu dem Kandidaten auf das Amt des Thain machte. Damit war Borko Stolzfuß nun aber doch nicht einverstanden.
"Warum sollte gerade der Herr Tuk Thain werden?", rief er dazwischen.
Seine Zunge war schon etwas schwer vom Gebrannten. Merry und Pippin sahen mit einigem Abscheu zu ihm herüber. Sie hassten das scharfe Getränk, hatten sie doch auf ihrem Gewaltmarsch mit den Orks unfreiwillig damit Bekanntschaft damit machen müssen.
"Nur weil Herr Tuk in seltsame Abenteuer geschlittert und heile zurückgekehrt ist?", grölte Borko Stolzfuß weiter.
"Ich habe auch gekämpft, um Orks und Ostlinge aus dem Auenland zu vertreiben. Danach bin ich aber weiter meiner ehrlichen Arbeit nachgegangen und habe mich nicht auf meinen Lorbeeren ausgeruht, wie diese beiden Herren."
Wieder war Stille eingekehrt. Diejenigen Hobbits, die auch nach dieser dunklen Zeit Abenteuer für verwerflich hielten, pflichteten Borko insgeheim bei. Merry wollte dem Stolzfuß gerade erklären, dass ohne sie beide gar kein Aufstand gegen Sarumans und Saurons Diener begonnen hätte und dass sie noch viel größere Abenteuer als dieses erlebt hatten. Aber Pippin legte eine Hand auf Merrys Arm und sprach mit sonderbar ruhiger Stimme.
"Wir haben uns nicht auf unseren Lorbeeren ausgeruht. Wir haben geholfen, das Auenland wieder herzurichten. Zwar mag unser letztes Abenteuer lange her sein, aber wir werden bald ein neues beginnen. Wir werden einen alten Freund in Bree besuchen. Wenn Du so mutig bist, wie der Gebrannte Dich reden lässt, komm doch mit, Borko Stolzfuß. Die Ernte ist eingebracht, gleich morgen geht es los. Wenn du Thain werden willst, ist es vielleicht nicht schlecht zu wissen, wie es außerhalb des Auenlandes aussieht."

Alle Augen richteten sich auf Borko. Man war gespannt, ob er sich herausfordern oder ins Bockenburger Horn jagen ließ. Nur Merry sah Pippin an und versuchte, sich sein Staunen nicht anmerken zu lassen. Zwar hatten sie gerade erst über ein neues Abenteuer gesprochen. Aber das hatten sie in den letzten Jahren schon oft getan und waren dann bequem in ihrer warmen Höhlen geblieben.
Borko Stolzfuß fühlte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Wenn er nicht als Feigling dastehen wollte, musste er zusagen. Schließlich sollte es nur nach Bree gehen. Ließ man die Südländer und Ostlinge, die sich immer noch vereinzelt in der Gegend herumtrieben, außer acht, war das ja beinahe gar kein Abenteuer. Schlug er aus, wären seine Chancen, Thain zu werden, ein für alle mal zunichte gemacht.
"Natürlich komme ich mit. Wollen doch mal sehen, was an euch beiden dran ist", rief er laut, so dass alle Anwesenden es hörten. Die Wirkung des Gebrannten bei ihm war schlagartig verflogen und einige Hobbits behaupteten am nächsten Abend in der Schenke, seine Stimme hätte schon etwas gezittert.
Das Stimmengemurmel wurde lauter ob dieser kleinen Sensation. Borko Stolzfuß geht auf eine abenteuerliche Reise mit Meriadoc Brandybock und Peregrin Tuk! Das würde Gesprächsstoff für die nächsten Tage liefern.
Viele Hände klopften Borko Stolzfuß, der nicht wusste, ob er sich im neuen Ruhm sonnen oder im Boden versinken solle, auf die Schultern.
"Wann geht es los?", riefen viele Stimmen aus der Menge.
"Bist Du Dir sicher, dass Du so eine weite Strecke schaffst, Borko?", fragte Pippin, an Borkos Ausdauer zweifelnd.
"Na, warum sollte ich das nicht schaffen, Herr Tuk? Ich bin schließlich ein Hobbit im besten Alter und einer der kräftigsten hier in Hobbingen", gab Borko mächtig an und setzte noch hinzu: "Ihr glaubt wohl, die einzigen tüchtigen und abenteuertauglichen Hobbits zu sein."
"Ich frage ja nur zu deinem besten, Borko."
Pippin ließ sich nicht anmerken, dass ihn die ständigen Sticheleien ärgerten.
"Bist Du schon einmal so eine weite Strecke gewandert, Herr Stolzfuß?", wollte Merry wissen. Borko machte ein entrüstetes Gesicht.
"Also glaubt auch der Herr Brandybock, dass ich weder zu Abenteuern tauge, noch sonst zu etwas. Noch letzte Woche bin ich täglich zwei mal zu meinem nördlichen Acker gewandert."

Alle Hobbits in der Schenke hatten die Ohren gespitzt und verfolgten den Disput.
"Deine Felder sind doch nur eine Stunde zu Fuß von deiner Höhle entfernt, Stolzfuß!" rief jemand aus dem vorderen Bereich des Schankraums.
"Und außerdem bist Du nur deshalb gelaufen, weil Du dem Wirt Dein Pferd und Deinen Karren als Pfand für die vielen angeschriebenen Gerstenbiere und Krüge mit Gebrannten geben musstest", kam es aus einer anderen Ecke. Viele Hobbits lachten laut. Borko nahm die Füße vom Tisch und richtete sich auf, konnte aber nicht erkennen, wer der Rufer war.
"Und nach Bree seid ihr Tage unterwegs", rief ein dritter Hobbit. Bevor Borko aufbrausen konnte, fuhr Pippin dazwischen.
"Können wir uns auf Deine Klinge verlassen, wenn Haradrim oder Ostlinge uns angreifen? Denn das ist nicht ganz unwahrscheinlich, Borko Stolzfuß."
"Aber selbstverständlich. Bei der Schlacht von Wasserau habe ich die Halunken reihenweise niedergemacht." Borko sprach immer hitziger. Aber jetzt erklang wieder Lachen aus mehreren Winkeln des "Grünen Drachen".
"Davongelaufen bist Du!"
"Einen einzigen hast Du erwischt!"
"Und der war schon fast tot!"
"Unter einem Fuhrwerk hast Du Dich versteckt!"
Und so ging der Spott weiter.
Schließlich stand Borko auf. Sein Gesicht war rot vor Zorn und zuviel Gebranntem.
"Ich werde Euch zeigen, wie Borko Stolzfuß so ein lächerliches Abenteuer besteht. Morgen früh stehe ich bereit, und wenn sich hundert Haradrim gegen uns stellen."
Damit verschwand er heftig schnaufend und stieß ein paar der anderen Gäste zur Seite, die ihm nicht schnell genug aus dem Weg kamen.
Pippin stand auf und rief ihm hinterher:
"Morgen früh bei Sonnenaufgang machen wir uns auf den Weg." Der Stolzfuß sollte keine Zeit mehr haben, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, dachte sich Pippin. "Wir treffen uns vor der Schenke, Borko. Bring einen guten Stock und reichlich Proviant mit. Und natürlich ein Schwert."

Merry, der immer noch nicht fassen konnte, was sein alter Freund da eben angestiftet hatte, nahm Pippin beiseite.
"Wir gehen jetzt nach Hause. Schließlich wollen wir morgen ausgeruht sein."
Er zerrte Pippin aus der Schenke, denn er wollte ihn endlich fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Um nicht noch zurückgehalten zu werden, stiegen sie eilig den Bühl hinauf, der zwischen der Schenke und ihrer Höhle lag. Dort, wo der Weg sich wieder talwärts neigte, blieben sie stehen.
"Was hast Du Dir dabei gedacht, Peregrin Tuk?", verlangte Merry zu wissen.
Pippin sah in den Himmel. Zahllose kristallene Flammenpunkte durchstachen die Nacht mit ihrem Glanz. Es dauerte eine Weile, bis Pippin antwortete.
"Ich musste heute an Bilbo Beutlin denken. Auch er hat ein großes Abenteuer bestanden und war danach so lange nicht glücklich, bis er zum zweiten Mal aufgebrochen ist. Erst in Bruchtal hat er seinen Frieden gefunden."
Beide Hobbits schwiegen eine Weile. Merry verstand seinen Freund, waren ihm in der letzten Zeit doch oft ähnlich Gedanken durch den Kopf gegangen. Pippin grinste jetzt.
"Außerdem können wir so mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wir können uns einen Spaß mit Bauer Maggot machen und danach für eine Weile verschwinden. Außerdem verpassen wir diesem vorlauten Stolzfuß einen Denkzettel."
"Ach, ich wette, der kommt gar nicht. Er wird morgen mit einem Brummschädel aufwachen und sich lieber noch einmal umdrehen", meinte Merry.
"Und dann hält er ein paar Wochen die Klappe", bestätigte Pippin.
"Was wollen wir eigentlich in Bree? Ich meine, außer bei Butterblüm ein paar große Krüge Gerstenbier zu trinken?", fragte jetzt Merry.
"Uns wird schon etwas einfallen", gab Pippin zurück.
"Du meinst, mir wird schon was einfallen. Schließlich bin ich derjenige von uns beiden, der denkt", spöttelte Merry und spurtete los. Johlend lief Pippin hinter ihm her.
"Na warte!", rief er. "Das werde ich Dir gleich zeigen."
Bis zu ihrer Höhle balgten sie sich, stießen einander mit den Schultern und berieten, was auf die Reise mitzunehmen sein. Jetzt, wo auch sie sich auf den Weg machen mussten, um nicht zum Gespött von Hobbingen zu werden, waren sie glücklich und aufgeregt.

Nachdem Sie reichlich Proviant in zwei geräumige Rucksäcke gepackt hatten, suchten sie alles andere zusammen. Ihre Schwerter, die sie vor scheinbar unendlich langer Zeit in den Hügelgräbern fanden, waren immer noch tadellos in Schuss. Die Klingen glänzten und waren scharf geschliffen. Die Gehänge waren immer gut eingefettet worden, damit das Leder nicht spröde wurde. Aus einem Ständer nahe der Eingangstür wählten sie zwei kräftige Wanderstöcke, mit denen sich zur Not auch ein aufdringlicher Wolfsfuchs vertreiben ließ. Decken, Seile und ein Kochgeschirr, für einen anständigen Hobbit unentbehrlich, wanderten ebenso in die Rucksäcke. Noch einmal gingen sie ihr Reisegepäck durch und fanden es komplett.
"Nicht mehr lange und die Sonne geht auf, Merry", sagte Pippin.
"Wir sollten versuchen, wenigsten eine kurze Weile zu schlafen. Wir wollen auf unsere Wanderung ja nicht vor Borko Stolzfuß Müdigkeit zeigen."
 

© Dietmar Preuß
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