Wie drei Hobbits nicht nach Bree kamen von Dietmar Preuß

Rabe und Krähe

Zu ihrer großen Überraschung brauchten sie nur noch wenige Schritte gehen, bis sie den Waldrand erreichten. Borko hatte zwar recht, dass der Wald dichter wurde: Es war das Unterholz an seinem Rand, mit dem er sich vor Blicken und Eindringlingen zu schützen suchte.
Die Hobbits hatten es schwer, sich durch einen großen Ginsterbusch zu kämpfen, der bis dicht an die Felswand reichte und sie von dem offenen Land vor den Hügelgräberhöhen trennte. Merry, der einige Zweige mit dem Schwert weghacken wollte, bekam einen dicken Zweig ins Gesicht, stolperte und fiel auf den Hosenboden. Borko lachte hämisch auf, aber auch ihm erging es nicht besser. Ständig schnellten neue Zweige und Äste in die Lücke, die sie gerade erst geschnitten hatten. Es war, als wolle der Alte Wald die Hobbits nicht entweichen lassen. Schließlich spuckt er sie förmlich aus. Der Ginsterbusch gab nach, und die drei Hobbits stolperten ins Licht der zur Hälfte untergegangenen Sonne.
Vor ihnen, gegen Osten, erstreckte sich das weite Hügelland. Die Sonne, die gerade noch über die Baumwipfel schien, tauchte die ineinander übergehenden Linien der flachen Kämme in ein gelbliches Schimmern. Die Oststraße war im Zwielicht nicht zu sehen, musste sich aber irgendwo im Norden befinden. Das Licht behagte Pippin nicht. Anders als im Auenland tauchte die untergehende Sonne die Landschaft nicht in eine goldene Wärme. Das gelbliche Licht bedeckte das Land wie ein ungesunder Schleier, beinahe wie ein Schimmelpilz verdorbene Speisen überzieht, die vor Wochen in der Speisekammer vergessen worden waren.
Auf den Kuppen waren vereinzelt grasüberwachsene, runde Erhebungen zu sehen. Borko Stolzfuß starrte hinüber. Für einen Moment glaubte Pippin, einen gierigen Gesichtsausdruck in seinem Gesicht zu sehen. Dennoch waren die Hobbits froh, den langen Weg durch den Alten Wald geschafft zu haben. Nachdem sie seine Gefahren und düsteren Geheimnisse hinter sich gelassen hatten, erschienen ihnen selbst die Hügelgräberhöhen einladend.

"Bei Tageslicht sehen die Höhen fast freundlich aus", sagte Merry. "Aber wenn ich daran denke, wie im Nebel die Grabwichte aus den Hügelgräbern kamen und uns schnappten, wird mir ganz seltsam zumute."
Pippin nickte.
"Wir gehen noch ein paar Schritte. Seht ihr, wo auf halbem Wege zwischen Waldrand und dem ersten Anstieg der kleine Bachlauf glitzert?"
Merry und Borko folgten mit den Augen Pippins ausgestrecktem Arm und nickten.
"Dort wollen wir für die Nacht unser Lager aufschlagen. Nicht zu nahe am Wald aber auch noch nicht zu nah an den Hügelgräbern. Packt Euch die Arme voll Holz, dann können wir über Nacht ein Feuer brennen lassen."
Die Hobbits sammelten am Waldrand auf, was an Brennbarem herumlag. Dann gingen sie das letzte kleine Stück und begannen das Nachtlager herzurichten. Die letzten Sonnenstrahlen erhellten ein trügerisch friedliches Bild: An einem kleinen, klaren Bachlauf inmitten von grünem, stoppeligem Gras, zwischen Waldrand und einer sanft ansteigenden, ebenfalls grasgrünen Hügelflanke lagerten die drei kleinen Gestalten um ein gemütliches Feuer.
Die Reisegefährten fühlten sich aber gar nicht richtig wohl. In der beginnenden Dämmerung rückten die Umrisse der Hügelgräberhöhen und der düstere Rand des Alten Waldes bedrohlich nahe. Auch dass der Wald sich gewehrt hatte, als sie ihn verlassen wollten, gab den Hobbits noch zu denken.
Da ihre Wasserflaschen schon halb leer waren und noch ein anstrengender Tag auf sie wartete, tranken sie nur wenig. Dabei hatte sie der lange Marsch durstig gemacht, und der Kampf gegen den Ginsterbusch hatte sie noch einmal erhitzt. Sie trauten sich aber nicht, Wasser aus dem Bach zu trinken, der womöglich im verhexten Wald entsprang oder im Norden einem Hügelgrab zu nahe kam.

Plötzlich flatterte etwas großes, schwarzes über ihnen herum. Die Hobbits zuckten zusammen und griffen nach ihren Schwertern.
"Es ist wieder der Rabe, der uns nun schon den ganzen Tag folgt und dem wir auch an der Brandyweinbrücke und beim ersten Nachtlager begegnet sind", sagte Borko.
Er griff nach einem halb verkohlten Ast, der aus dem Feuer ragte, und wollte ihn nach dem Vogel werfen, der sich inzwischen in den kleinen Wasserlauf auf einen glattpolierten Kiesel gestellt hatte. Pippin hielt Borkos Arm fest.
"Warte!"
Der Rabe beugte mehrmals seinen Schnabel ins Wasser und trank. Dazwischen sah er sie aus schwarzen Knopfaugen an, als wolle er eine Aufforderung aussprechen.
"Arbael wacht seit der Brücke über uns und tut es immer noch. Daran glaube ich jetzt ganz fest", sagte Pippin, stand auf und ging mit seinem Trinkbecher an den Rand des Wasserlaufes.
Er tauchte seinen Becher in das klare, kühle Wasser, während der schwarze Vogel, der nur einen Schritt beiseite gehüpft war, zu nicken schien. Pippin nahm einen tiefen Schluck.
"Herrlich frisch. Es schmeckt so, wie frisches Quellwasser schmecken muss", rief er und trank seinen Becher leer.
Der Rabe sah im Wechsel Borko und Merry an. Als die beiden sich erhoben, ihre Becher füllten und ebenfalls tranken, nickte er nochmals und flatterte endlich davon.
Nachdem sich die Hobbits dermaßen erfrischt hatten, spießten sie ein paar Würste, Zwiebeln und Tomaten aus den Rucksäcken auf saubere Stecken und hielten sie übers Feuer. Mit der Aussicht auf eine warme Mahlzeit waren sie wieder guter Dinge, plauderten und sangen vor sich hin.

Als die Spieße heiß genug waren, begannen sie zu knabbern. Borko fragte endlich, was ihm schon lange auf der Zunge brannte.
"In den Hügelgräbern ist wirklich Gold zu finden, sagtet ihr?"
Die Geschichte von Tom Bombadil und wie sie zu ihren Schwertern gekommen waren, hatten Merry und Pippin oft im "Grünen Drachen" zum besten gegeben. Borko hatte aber wohl nur zugehört, als es um Gold und Edelsteine ging. Den Nebel, die Stimmen aus dem Boden, die Grabunholde hatte er wohl vergessen.
"In den Hügelgräbern warten nicht allein Gold und Geschmeide, sondern auch böse Gefahren. Die Grabunholde bannen dich in ewigen Schlaf. Wie Tote, in Leichenhemden und mit Grabschmuck behangen, lagen wir dort. Ohne Herrn Frodo und Tom Bombadil würden wir vielleicht heute noch dort liegen", sagte Merry.
"Hüte Dich vor Stimmen aus dem Nebel. Ich hoffe, wir bleiben diesseits des Baches vom Nebel verschont. Aber folgt man den Stimmen, endet man in einem Hügelgrab und wacht nicht mehr auf."
"Glaubt ihr, es gibt keine Möglichkeit, die Schätze ohne Gefahr zu bergen? Stellt euch nur vor, was wir damit in Hobbingen anstellen könnten." Borko ließen die Verlockungen des Goldes nicht los.
"Ich für meinen Teil hoffe, dass wir heute Nacht und morgen vom Nebel verschont bleiben. Wenn wir die Sonne sehen, finden wir besser durchs Hügelland und müssen dort keine  Nacht zubringen. Reich zu sein wäre schön, aber dieses Gold kann mir gestohlen bleiben."
Merry war zum Schluss eindringlich geworden, um Borko die Flausen aus dem Kopf zu treiben.
Die vollen Bäuche und das frische Wasser hatten die Stimmung der Hobbits gehoben. Sie plauderten noch eine Weile munter und fragten sich, was sich in Bree wohl verändert haben mochte. Merry und Pippin schwärmten von den riesigen Krügen frischen Gerstenbieres, die im "Tänzelnden Pony" ausgeschenkt wurden. Als es Schlafenszeit wurde, vereinbarten sie, Borko solle die erste Wache übernehmen. Merry würde folgen, Pippin hatte die letzte Wache.
Die beiden altbefahrenen Hobbits kuschelten sich in ihre Decken und schliefen auf der Stelle ein. Borko blieb beim Feuer sitzen und warf ab und an ein paar Äste nach. Er betrachtete die Sterne und dachte über die Reichtümer nach, die in den Gräbern warteten. Aus seinem Rucksack holte er die Feldflasche mit dem Gebrannten und ließ das scharfe Zeug die Kehle hinunterrinnen. Die Träume von Gold und Edelsteinen erschienen nach wenigen Herzschlägen noch blumiger und farbiger. Die Augen wurden ihm schwer und er wehrte sich nicht mehr gegen den Schlaf.

Borko wusste nicht, dass er schon eingenickt war, als er sich inmitten von goldenen Schätzen, Karfunkelsteinen und anderen Juwelen in seiner Höhle sitzen sah. Er brauchte nicht mehr selbst Garten und Äcker bestellen, sondern konnte Knechte großzügig dafür bezahlen. Abends, im "Grünen Drachen", war er der Mittelpunkt der Unterhaltung, denn eine Runde nach der anderen ging auf ihn.
Er schrak hoch und öffnete die Augen, schüttelte den Kopf. Wie lange er geschlafen hatte, konnte er nicht sagen, aber im Lichtschein des Feuers war nichts bedrohliches zu erkennen. Er lauschte in die Nacht und sah zum Himmel hoch. Die Sterne waren nicht mehr klar zu erkennen, denn ein dunstiger Schleier hatte sich wie ein Totenhemd über das strahlende Funkeln gelegt.
Ein Rauschen und Flügelschlagen ließ ihn hochfahren. Aber es war wieder nur der schwarze Vogel, der sie schon so lange begleitete, meinte Borko zu erkennen. Der Vogel hatte sich auf der anderen Seite des Baches, näher am Ausläufer der beginnenden Hügel, niedergelassen. Er schien Borko etwas größer geworden zu sein. Sein Gefieder glänzte auch nicht mehr so wie am Tage, sondern war matt, beinahe wie lehmverschmiert.
Das Tier sah Borko mit fast dem selben auffordernden Ausdruck an, wie am vergangenen Abend bei der Wasserprobe. Der schwarze Vogel hüpfte ein par Schritte auf die Hügel zu, flatterte zurück, hüpfte wieder weg. Borko stand auf und beobachtete den Vogel. Das ist der Vogel des Elben, redete er sich ein. Arbael will uns einen Weg zu den Schätzen zeigen.
Borko tastete nach seiner Feldflasche und nahm einen weiteren kräftigen Schluck Gebrannten. Immer noch voll ängstlicher Hoffnung ging er auf den Vogel zu und machte einen großen Schritt über den Bach. Seltsamerweise war es auf dieser Seite kälter und er begann zu frösteln. Der Vogel hüpfte vor ihm her, und Borko folgte ihm, bis der Boden leicht anzusteigen begann. Er sah vor seinem inneren Auge wieder Berge von Gold, die bald ihm gehören würden, als vor ihm eine Gestalt aus dem Boden wuchs.

Die Gestalt bildete sich aus dem Nichts, war zunächst durchsichtig und nahm immer festere Gestalt an. Sie ähnelte einem großen Menschen, gewandet in einen lehmigen, verwitterten Umhang. Eine Kapuze verbarg das Gesicht. Die wie gehauchte aber sehr eindringliche Stimme konnte Borko nur in seinem Kopf hören.
Kalte Schauer liefen dem Hobbit den Rücken hinunter. Er kannte die Sprache nicht, verstand aber dennoch, wozu ihn die Gestalt aufforderte. Eine Hand wurde Borko entgegengestreckt. Ein goldenes Schmuckstück, eine Brosche, besetzt mit Perlen und Bergkristallen, lag darin.
Wie befohlen ging er auf das Wesen zu, das über dem kurzen Gras zu schweben schien. Er griff nach der Brosche und der Grabunhold hob den Kopf. Zwei fahle Lichter starrten Borko aus einem Gesicht an, das Jahrhunderte Zeit gehabt hatte, einzufallen. Die Augen spiegelten das Licht des Mondes wider, schienen aber viel weiter entfernt als der Himmelskörper.
Im Bann dieser kalten Augen griff Borko nach der Brosche und berührte dabei die Hand des Grabunholdes.

Merry und Pippin waren von dem langen Marsch durch den Alten Wald so erschöpft, dass sie erst mit dem morgendlichen Vogelgezwitscher aufwachten. Beide hatten sie ihre Wache verschlafen.
"Pippin, wach auf! Wo ist Borko?", rief Merry.
Aber beide hatten eine Ahnung von dem, was in der Nacht geschehen war.
"Rucksack, Schwert und Gehstock sind noch da", stellte Pippn fest. "In den Wald wird er nicht allein gegangen sein. Also muss er sich in die Hügel aufgemacht haben, dieser Verrückte!"
"Oder etwas hat ihn hineingelockt", gab Pippin zu bedenken.
Eilig packten die beiden das Nachtlager zusammen. Selbst das Frühstück musste sich auf  einen eilig verschlungenen Apfel beschränken. Pippin hängte sich seinen eigenen und Borkos Rucksack über je eine Schulter. Merry schnalle die große Pfanne an seinen Rucksack und nahm Borkos Schwert. So waren die Lasten gleichmäßig verteilt. Obwohl die Sonne bereits wärmende Strahlen aussandten, zitterten die Hobbits vor Aufregung und Angst um den Kameraden.
Mit geschulterten Rücksäcken überquerten sie den kleinen Bach und spürten sofort die Kälte auf der anderen Seite. Fußspuren waren nicht zu entdecken, aber am Fuße des beginnenden Hügels war das Gras niedergedrückt. Das platte Gras bildete eine breite Spur, die mitten in die Hügelgräberhöhen hineinführten.
Merry und Pippin sahen sich an. Merry zuckte mit den Schultern.
"Wir müssen sowieso durch die Hügel. Die Spur führt nach Osten, die Richtung stimmt also auch. Folgen wir der Spur. Wir können den alten Stolzfuß schließlich nicht alleine lassen, auch wenn er sich bisher nur als Maulheld erwiesen hat."
Pippin nickte.
"Sicher liegt er schon in ein Totenhemd gekleidet und mit kaltem Gold geschmückt in einem der Gräber. Wenn er nur noch lebte!"
 

© Dietmar Preuß
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