Narben des Krieges von Anna Hohenberger

Der Tag war strahlend schön. Kairan saß auf der kleinen Bank vor dem Haus seiner Mutter und starrte auf den Marktplatz, wo die Luft vor Hitze flimmerte. Die Besitzer der schäbigen Buden hatten sich in das einzige Gasthaus des Dorfes verzogen, denn es war viel zu heiß für Geschäfte. Fast schien es, als wäre Kairan, außer einem Huhn, der einzige lebende Mensch hier.
Er ließ seine Gedanken schweifen, träumte eine Weile vor sich hin. Plötzlich rannten zwei Kinder auf den Platz. Von irgendwo her ertönte Musik. Die beiden tanzten dazu, ein Junge und ein Mädchen, die beide höchstens zwölf Sommer zählten, in einem wilden Gehüpfe. Doch dieses Gehüpfe war ein richtiger Tanz, wild und ungezähmt, flüchtig wie der Wind. Schon jetzt wussten sie die Schritte nicht mehr, mit denen sie begonnen hatten.
Kairan war nicht erstaunt, als sich der blonde Junge umdrehte, und er kurz in seine eigenen, braunen Augen sah. Wieder ein Traum. Er blickte hinüber zu dem Mädchen, sah seine von der Sonne hell gebleichten Haare fliegen, seine weißen Zähne blitzen, als es lachte. Doch seine Augen sah er nicht, nie. Schon so oft hatte er diesen Traum geträumt, jedes Mal vergeblich auf den Anblick ihrer schönen grünen Augen gehofft. Scheinbar würde er sie niemals wieder sehen, sie schlief schon zu lange unter den grünen Hügeln. Seine Liebe war schon zu lange tot.

"Kairan! Steh’ auf!", seine Mutter, eine alte Frau voller Runzeln, der man nachsagte, eine Hexe zu sein, stand vor ihm.
"Was ist denn, Mutter?", er hätte gern noch ein wenig länger alten Erinnerungen nachgehangen. Doch sie zog ihn einfach mit sich, über den Marktplatz, ins Gasthaus.
"Es ist eine Musikantin im Dorf. Ich dachte, es würde dir vielleicht gefallen, wieder zu tanzen. Das mochtest du doch so gerne.", sagte seine Mutter, die Runzelfrau im hellgrünen Kleid, mit den weißen Haaren, und setzte sich. Sie deutete auf eine schwarzhaarige, sonnenverbrannte Frau. Einer der Männer holte ihre Trommel herbei, sie bedankte sich, und lachte über einen Witz, den ein anderer gemacht hatte. Ihr Lachen war heiter, so froh, dass es Kairan beinahe vergessen machte. Er schloss die Augen.
Einen Moment später dröhnte die Trommel in einem wilden Rhythmus. Er war schwer zu singen, schwerer zu verfolgen, fast zu schwer zu tanzen. Aber er spürte, dass er ihm folgen konnte, dass er dazu tanzen konnte, er hatte es schon immer gekonnt.
"Nein", flüsterte er tränenerstickt. Er konnte nicht, er durfte nicht, es durfte nicht sein! Er hatte es geschworen, seine Buße...! Nicht nach ihrem Tod, er hatte es nicht verdient, NEIN!

Tinwes Augen waren geschlossen. Ihre Hände folgten den unsichtbaren Pfaden auf dem straff gespannten Trommelfell.
Ahh! Dieser Rhythmus, diese Geschwindigkeit! Langsamer wollte sie nicht spielen. Sie wollte mit diesem Tanz den Tänzer finden, den sich suchte, den sie brauchte. Für ihren Traum, einmal in der Arena zu stehen und zu spielen, musste sie eine Truppe gründen, musste sie mindestens zwei Tänzer haben.
"Wo bist du?", sang ihre Seele.
"Wo bist du?", sangen ihre Hände. Doch sie würde den Traumtänzer, wie sie ihn in ihren Gedanken nannte, nicht mit geschlossenen Augen finden. Also hob sie die Lider ein wenig und sah sich unauffällig um. Ihre Hände fanden die Wege der Trommel auch allein.
Ein paar Jungen stolperten herum, versuchten, ihr zu folgen. Sie konnten es nicht, doch sie spielte unbarmherzig weiter, und ließ ihren Blick weiter wandern: Sehr weit hinten entdeckte Tinwe einen jungen Mann. Seine blonden Haare fielen ihm ins Gesicht, er trug eine helle, blaue Tunika und eine Hose aus ungefärbtem Hirschleder, die ihm bis an die Knie reichte. Seine Füße waren nackt, seine schlanken Waden von hässlichen Narben entstellt, weißliche Striche auf der braunen Haut. Überreste von tiefen, schmerzhaften Einschnitten. Narben des Krieges.
Plötzlich hob er den Kopf, als würde er lautlos schreien. Seine Augen, eben noch geschlossen, erwiderten nun ihren Blick. Er weinte, die Tränen liefen seine schmalen Wangen hinunter. In diesen dunklen, sanften braunen Augen erkannte sie eine tiefe Sehnsucht. Für einen Moment brannte auch ein Feuer darin, wie es die schwarzhaarige Trommlerin noch nie zuvor gesehen hatte.
Auf einmal war es still. Ihre Hände hatten den Tanz beendet. Alle Blicke waren auf sie gerichtete, doch das kümmerte Tinwe nicht.
"Komm.", sagte sie.
Kairan stand auf. Ihre Augen, genau so braun wie die seinen, zogen ihn magisch an.
Sie trug eine rostrote Bluse, eine orange Hose. Ihre Füße steckten in flachen, braunen Schuhen. Das linke Bein war in Bandagen gewickelt, das Hosenbein bis zur Mitte des Oberschenkels abgetrennt. Die Trommel ruhte auf ihrem Schoß.
Drei Schritte vor ihr blieb er stehen, sah auf sie hinunter, wie sie da auf ihrem Hocker saß. Er weinte nun nicht mehr.
"Tinwe", stellte sie sich vor. Der junge Mann war groß, gelenkig und schön. Er besaß eine natürliche Eleganz, die es so aussehen ließ, als bewege er sich schwerelos.
Das ist er, dachte sie.
"Kairan", erwiderte er.
"Du kannst es.", die Konturen der andern Menschen schienen zu verschwimmen, mit ihnen die seiner zornigen Mutter. Allein Tinwe blieb klar umrissen.
"Ja."
"Warum tanzt du dann nicht? Du bist besser als die da.", mit einer wegwerfenden Bewegung wischte die Trommlerin die anderen Tänzer beiseite. Der Tänzer vor ihr lachte amüsiert auf.
"Woran siehst du das? Ich habe nicht getanzt."
"Ich habe das Feuer und die Sehnsucht in deinen Augen gesehen. Aber sag mir: Wo ist das Feuer geblieben? Es brannte hell in dir, nun sehe ich nur noch die Sehnsucht darin. Wo ist das Feuer geblieben?", wiederholte sie verständnislos. Auf einmal sah der junge Mann aus, wie ein Stück Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank, den Widerstand gebrochen, den Blick gesenkt.
"Nie werde ich wieder tanzen."
"Warum?", fragte Tinwe schlicht. Wieder sah sie Tränen auf seinen Wangen glitzern.
"Ich habe es geschworen! Denn ich habe es nicht verdient. Sie war besser als ich, viel, viel besser, und ich habe überlebt, sie aber ist gestorben. Ich kann nicht mehr! Ich hätte sterben sollen!!", mit diesen Worten wandte er sich um und floh. Tinwe konnte ihm nur nachsehen.

"Du folgst ihm nicht.", Kairans Mutter, das Gesicht voller Runzeln, sprach diese Worte aus. Halb waren sie eine Feststellung, halb ein Befehl. Tinwe lachte freudlos.
"Närrische Alte! Wie sollte ich ihm folgen?", sie deutete auf ihr Bein. "Ich kann es doch schon so lange nicht mehr."
"Nein", sagte die Alte und lächelte. Aber auch Tinwe lächelte auf einmal, denn ihr kam etwas in den Sinn.

Kairan lief, lief immer weiter, über den Marktplatz, am Haus seiner Mutter vorbei. Über die Felder, an erstaunten Bauern vorbei. Der Wind trocknete die Tränen auf seinen Wangen. Schließlich blieb er stehen, hob den Kopf und lauschte: Von fern wehten Trommelschläge mit dem Wind herüber. Verzeih mir. Es tut mir leid. Komm bitte zurück, sangen sie.
Mit gesenktem Kopf schlich Kairan zurück, immer den um Verzeihung bittenden Rufen der Trommel folgend. Als die Trommelschläge ganz nahe waren, blickte er auf und sah sich vor dem Friedhofstor stehen.
Es schwang langsam auf, bevor er die Hand auf den Griff legte. Nichts konnte sich der Magie der Musik entziehen. Seine Füße folgten den dröhnenden Rufen der Trommel wie von allein. Tief in seinem Inneren wusste er, dass alles in ihm sich danach sehnte, wieder zu tanzen. Und er wollte es auch, verzehrte sich vor Sehnsucht nach den Rhythmen, die durch seinen Körper pulsten, die er am liebsten niemals missen wollte. Sein Herz sagte ja, doch sein Kopf verweigerte die Zustimmung, drohte mit Schuldgefühlen. So kam es, dass Kairan nicht auf sein Herz hörte, aus Angst, er könne durch seine Tänze ihr Andenken beflecken.
"Du bist da.", sagte Tinwe in seine düsteren Gedanken hinein. Sie saß auf der Erde und lehnte sich gegen einen Grabstein, auf dem ein lächelnder Engel stand.
"Das ist ihr Grab.", flüsterte Kairan tonlos.
"Das ist es.", bestätigte Tinwe ernst. Sie legte den Kopf dagegen, als wäre der kalte Stein die Schulter einer lieben Freundin.
"Wie lange ist dieser Krieg nun schon zu Ende? Ein Jahr lang, zwei?", fragte sie nachdenklich.
"Drei.", Kairan blickte düster. Schon begannen seine Augen, sich wieder mit Tränen zu füllen.
"In diesen drei Jahren hat sich viel verändert. Wunden heilten, Trauer wurde vergessen, Schmerz verging. Und doch: Die Narben des Krieges, die schwärenden Wunden sind noch immer da. Auch du trägst tiefe Narben, auf deinem Körper, auf deiner Seele. Die Trauer um sie ist jedoch eine schwere Wunde." Tinwes braune Augen waren dunkel vor Schmerz.
"Du hast nicht erwartet, lebend nach Hause zu kommen, nur um sie tot zu finden, nicht wahr?", meinte sie leise, wie zu sich selbst. Die Tränen, der Schmerz dieses längst vergangenen Tages malten silberhelle Spuren in Kairans Gesicht.
"Woher weißt du das?", hauchte er ungläubig.
"Ich habe sie gekannt. Auch ich diente im Krieg, als Kurier. Als ihr Herz von einem Pfeil berührt wurde, war ich an ihrer Seite. Bevor sie in meinen Armen starb, sagte sie mir etwas:
'Richte diesem Idioten Kairan aus, dass er gefälligst weiter machen soll. Für mich.'
Sie wollte nicht, dass du dir Vorwürfe machst, verstehst du mich? Sie wollte, dass du da weiter machst, wo sie aufgehört hat. Sie wollte, dass du glücklich bist, Kairan." Tinwe lächelte sanft, noch immer eine Spur Trauer in ihrem Gesicht. Kairan nickte langsam.
"Es tut mir leid, dass ich...", sie unterbrach ihn wütend.
"Es braucht dir doch nicht leid zu tun, du Esel! Niemand konnte das wissen. Also tu’ mir den Gefallen und erfülle ihren letzten Wunsch." Der Tänzer wischte sich lachend die Tränen aus dem Gesicht und nickte ihr zu. Die Trommlerin lachte ebenfalls und ihre Hände begannen einen neuen Weg zu gehen, einen wilden Rhythmus zu spielen. Und Kairan tanzte, tanzte wie noch nie zuvor in seinem Leben. Plötzlich konnte er sie spüren, seine Liebe, und sein Herz jubelte. Da war sie, tanzte mit ihm, ging mit ihm den vielfach verschlungenen Weg seiner Füße. Er konnte in ihre wundervollen grünen Augen sehen, die ihn fröhlich anblickten. Sie hatte geweint, genau wie er und nun waren sie beide wieder froh, sie waren einander wieder nahe. Und auf einmal wusste er, warum sie geweint hatte: Durch das Tanzen war er ihr nahe, und drei lange Jahre hatte er es vernachlässigt.
"Ich werde immer für dich tanzen.", flüsterte er. Ihr Abbild, das für Tinwes Augen unsichtbar war, lachte ihm zu, fuhr mit Geisterfingern über sein Gesicht.

Am Abend kamen die beiden ins Dorf, die Sonne im Rücken, frei und gelöst. Langsam, weil Tinwe ein schlimmes Bein hatte, und sich auf eine Krücke stützen musste. Kairan trug die Trommel und tanzte hin und wieder ein paar Schritte um sie herum. Gerade erzählte er etwas, gestikulierte wild mit den Händen. Beide lachten. Die Dorfbewohner lächelten, wenn sie die beiden sahen. So fröhlich hatten sie Kairan schon lange nicht mehr gesehen.
Er lieferte Tinwe beim Gasthaus ab, und ging dann nach Hause. Seine Mutter erwartete ihn an der Tür, sprühend vor Zorn.
"Wo bist du gewesen? Ich habe auf dich gewartet.", schimpfte sie. Kairan lachte nur, und ging an ihr vorbei ins Haus.
"Ich habe mich wieder gefunden."
"Wie schön für dich." Er überhörte den giftigen Ton in ihrer Stimme.
"Ich werde fortgehen." Er sagte es beiläufig, eine Tatsache, mit der sie sich abfinden musste, ob sie nun wollte oder nicht.
"WAS?!"
"Du hast richtig gehört, Mutter. Ich werde mit Tinwe in die Arena gehen, mit den Stieren tanzen! Stell dir nur vor!" Sein Gesicht leuchtete beim Gedanken daran.
"Dann hast du sie also schon vergessen, über deiner Trommlerin", sagte die Alte. Das Wort Trommlerin troff nur so vor Abscheu. Seine Augen wurden hart.
"Warum sagst du das?", fragte er, misstrauisch geworden.
"Weil es die Wahrheit ist."
"Oh nein, Mutter! Das ist nicht die Wahrheit. Das ist deine Wahrheit. Für mich ist es eine Lüge. Ich kann nicht mehr um sie trauern, das hat sie nicht gewollt. Mein Schicksal liegt bei Tinwe in der Arena. Auch du wirst mich nicht aufhalten. Mein Schicksal war es nicht, auf dem Schlachtfeld zu sterben. Also hör auf, mir deine Gedanken aufzuzwingen!"
"Du kannst nicht...", stammelte die Alte, wurde immer älter, immer runzliger unter seinen Blicken. Leidenschaft funkelte in seinen Augen.
"Ich werde dir sagen, was ich kann: Tanzen kann ich und das werde ich auch tun! Schließlich hast du mir nichts zu sagen."
"Ich bin deine Mutter!" 
"Dann verabschiede dich von deinem Sohn!", fauchte Kairan und stürmte hinaus.

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Die Nächte waren nicht sehr kalt, und so verbrachte Kairan seine letzte Nacht in seinem Heimatdorf unter dem kalten Licht der Sterne. Am nächsten Morgen zog er mit Tinwe fort, einer besseren Zukunft entgegen. Manch einer wäre gern mit ihnen gegangen. Doch es war ihre Zukunft, nur ihre.
Die alte Frau starb bald. Die abergläubischen Dorfbewohner begruben sie nicht, sondern verbrannten sie mitsamt ihrem Haus. Viele meinten später, in dem Feuer Kairans lachendes Gesicht gesehen zu haben, aber das ist wohl wirklich nur Aberglaube. Doch Kairans Zukunft war voller Abenteuer, Spaß, Freunden und Liebe. Aber auch wenn er fort ging, am Ende blieben die Narben des Krieges. Denn so ist das mit Narben. Sie können zwar verblassen, aber ganz verschwinden sie nie.
 

© Anna Hohenberger
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