Der Tag war strahlend schön. Kairan saß
auf der kleinen Bank vor dem Haus seiner Mutter und starrte auf den Marktplatz,
wo die Luft vor Hitze flimmerte. Die Besitzer der schäbigen Buden
hatten sich in das einzige Gasthaus des Dorfes verzogen, denn es war viel
zu heiß für Geschäfte. Fast schien es, als wäre Kairan,
außer einem Huhn, der einzige lebende Mensch hier.
Er ließ seine Gedanken schweifen, träumte
eine Weile vor sich hin. Plötzlich rannten zwei Kinder auf den Platz.
Von irgendwo her ertönte Musik. Die beiden tanzten dazu, ein Junge
und ein Mädchen, die beide höchstens zwölf Sommer zählten,
in einem wilden Gehüpfe. Doch dieses Gehüpfe war ein richtiger
Tanz, wild und ungezähmt, flüchtig wie der Wind. Schon jetzt
wussten sie die Schritte nicht mehr, mit denen sie begonnen hatten.
Kairan war nicht erstaunt, als sich der blonde
Junge umdrehte, und er kurz in seine eigenen, braunen Augen sah. Wieder
ein Traum. Er blickte hinüber zu dem Mädchen, sah seine von der
Sonne hell gebleichten Haare fliegen, seine weißen Zähne blitzen,
als es lachte. Doch seine Augen sah er nicht, nie. Schon so oft hatte er
diesen Traum geträumt, jedes Mal vergeblich auf den Anblick ihrer
schönen grünen Augen gehofft. Scheinbar würde er sie niemals
wieder sehen, sie schlief schon zu lange unter den grünen Hügeln.
Seine Liebe war schon zu lange tot.
"Kairan! Steh’ auf!", seine Mutter, eine alte
Frau voller Runzeln, der man nachsagte, eine Hexe zu sein, stand vor ihm.
"Was ist denn, Mutter?", er hätte gern
noch ein wenig länger alten Erinnerungen nachgehangen. Doch sie zog
ihn einfach mit sich, über den Marktplatz, ins Gasthaus.
"Es ist eine Musikantin im Dorf. Ich dachte,
es würde dir vielleicht gefallen, wieder zu tanzen. Das mochtest du
doch so gerne.", sagte seine Mutter, die Runzelfrau im hellgrünen
Kleid, mit den weißen Haaren, und setzte sich. Sie deutete auf eine
schwarzhaarige, sonnenverbrannte Frau. Einer der Männer holte ihre
Trommel herbei, sie bedankte sich, und lachte über einen Witz, den
ein anderer gemacht hatte. Ihr Lachen war heiter, so froh, dass es Kairan
beinahe vergessen machte. Er schloss die Augen.
Einen Moment später dröhnte die
Trommel in einem wilden Rhythmus. Er war schwer zu singen, schwerer zu
verfolgen, fast zu schwer zu tanzen. Aber er spürte, dass er ihm folgen
konnte, dass er dazu tanzen konnte, er hatte es schon immer gekonnt.
"Nein", flüsterte er tränenerstickt.
Er konnte nicht, er durfte nicht, es durfte nicht sein! Er hatte es geschworen,
seine Buße...! Nicht nach ihrem Tod, er hatte es nicht verdient,
NEIN!
Tinwes Augen waren geschlossen. Ihre Hände
folgten den unsichtbaren Pfaden auf dem straff gespannten Trommelfell.
Ahh! Dieser Rhythmus, diese Geschwindigkeit!
Langsamer wollte sie nicht spielen. Sie wollte mit diesem Tanz den Tänzer
finden, den sich suchte, den sie brauchte. Für ihren Traum, einmal
in der Arena zu stehen und zu spielen, musste sie eine Truppe gründen,
musste sie mindestens zwei Tänzer haben.
"Wo bist du?", sang ihre Seele.
"Wo bist du?", sangen ihre Hände. Doch
sie würde den Traumtänzer, wie sie ihn in ihren Gedanken nannte,
nicht mit geschlossenen Augen finden. Also hob sie die Lider ein wenig
und sah sich unauffällig um. Ihre Hände fanden die Wege der Trommel
auch allein.
Ein paar Jungen stolperten herum, versuchten,
ihr zu folgen. Sie konnten es nicht, doch sie spielte unbarmherzig weiter,
und ließ ihren Blick weiter wandern: Sehr weit hinten entdeckte Tinwe
einen jungen Mann. Seine blonden Haare fielen ihm ins Gesicht, er trug
eine helle, blaue Tunika und eine Hose aus ungefärbtem Hirschleder,
die ihm bis an die Knie reichte. Seine Füße waren nackt, seine
schlanken Waden von hässlichen Narben entstellt, weißliche Striche
auf der braunen Haut. Überreste von tiefen, schmerzhaften Einschnitten.
Narben des Krieges.
Plötzlich hob er den Kopf, als würde
er lautlos schreien. Seine Augen, eben noch geschlossen, erwiderten nun
ihren Blick. Er weinte, die Tränen liefen seine schmalen Wangen hinunter.
In diesen dunklen, sanften braunen Augen erkannte sie eine tiefe Sehnsucht.
Für einen Moment brannte auch ein Feuer darin, wie es die schwarzhaarige
Trommlerin noch nie zuvor gesehen hatte.
Auf einmal war es still. Ihre Hände hatten
den Tanz beendet. Alle Blicke waren auf sie gerichtete, doch das kümmerte
Tinwe nicht.
"Komm.", sagte sie.
Kairan stand auf. Ihre Augen, genau so braun
wie die seinen, zogen ihn magisch an.
Sie trug eine rostrote Bluse, eine orange
Hose. Ihre Füße steckten in flachen, braunen Schuhen. Das linke
Bein war in Bandagen gewickelt, das Hosenbein bis zur Mitte des Oberschenkels
abgetrennt. Die Trommel ruhte auf ihrem Schoß.
Drei Schritte vor ihr blieb er stehen, sah
auf sie hinunter, wie sie da auf ihrem Hocker saß. Er weinte nun
nicht mehr.
"Tinwe", stellte sie sich vor. Der junge Mann
war groß, gelenkig und schön. Er besaß eine natürliche
Eleganz, die es so aussehen ließ, als bewege er sich schwerelos.
Das ist er, dachte sie.
"Kairan", erwiderte er.
"Du kannst es.", die Konturen der andern Menschen
schienen zu verschwimmen, mit ihnen die seiner zornigen Mutter. Allein
Tinwe blieb klar umrissen.
"Ja."
"Warum tanzt du dann nicht? Du bist besser
als die da.", mit einer wegwerfenden Bewegung wischte die Trommlerin die
anderen Tänzer beiseite. Der Tänzer vor ihr lachte amüsiert
auf.
"Woran siehst du das? Ich habe nicht getanzt."
"Ich habe das Feuer und die Sehnsucht in deinen
Augen gesehen. Aber sag mir: Wo ist das Feuer geblieben? Es brannte hell
in dir, nun sehe ich nur noch die Sehnsucht darin. Wo ist das Feuer geblieben?",
wiederholte sie verständnislos. Auf einmal sah der junge Mann aus,
wie ein Stück Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank, den Widerstand gebrochen,
den Blick gesenkt.
"Nie werde ich wieder tanzen."
"Warum?", fragte Tinwe schlicht. Wieder sah
sie Tränen auf seinen Wangen glitzern.
"Ich habe es geschworen! Denn ich habe es
nicht verdient. Sie war besser als ich, viel, viel besser, und ich habe
überlebt, sie aber ist gestorben. Ich kann nicht mehr! Ich hätte
sterben sollen!!", mit diesen Worten wandte er sich um und floh. Tinwe
konnte ihm nur nachsehen.
"Du folgst ihm nicht.", Kairans Mutter, das
Gesicht voller Runzeln, sprach diese Worte aus. Halb waren sie eine Feststellung,
halb ein Befehl. Tinwe lachte freudlos.
"Närrische Alte! Wie sollte ich ihm folgen?",
sie deutete auf ihr Bein. "Ich kann es doch schon so lange nicht mehr."
"Nein", sagte die Alte und lächelte.
Aber auch Tinwe lächelte auf einmal, denn ihr kam etwas in den Sinn.
Kairan lief, lief immer weiter, über den
Marktplatz, am Haus seiner Mutter vorbei. Über die Felder, an erstaunten
Bauern vorbei. Der Wind trocknete die Tränen auf seinen Wangen. Schließlich
blieb er stehen, hob den Kopf und lauschte: Von fern wehten Trommelschläge
mit dem Wind herüber. Verzeih mir. Es tut mir leid. Komm bitte zurück,
sangen sie.
Mit gesenktem Kopf schlich Kairan zurück,
immer den um Verzeihung bittenden Rufen der Trommel folgend. Als die Trommelschläge
ganz nahe waren, blickte er auf und sah sich vor dem Friedhofstor stehen.
Es schwang langsam auf, bevor er die Hand
auf den Griff legte. Nichts konnte sich der Magie der Musik entziehen.
Seine Füße folgten den dröhnenden Rufen der Trommel wie
von allein. Tief in seinem Inneren wusste er, dass alles in ihm sich danach
sehnte, wieder zu tanzen. Und er wollte es auch, verzehrte sich vor Sehnsucht
nach den Rhythmen, die durch seinen Körper pulsten, die er am liebsten
niemals missen wollte. Sein Herz sagte ja, doch sein Kopf verweigerte die
Zustimmung, drohte mit Schuldgefühlen. So kam es, dass Kairan nicht
auf sein Herz hörte, aus Angst, er könne durch seine Tänze
ihr Andenken beflecken.
"Du bist da.", sagte Tinwe in seine düsteren
Gedanken hinein. Sie saß auf der Erde und lehnte sich gegen einen
Grabstein, auf dem ein lächelnder Engel stand.
"Das ist ihr Grab.", flüsterte Kairan
tonlos.
"Das ist es.", bestätigte Tinwe ernst.
Sie legte den Kopf dagegen, als wäre der kalte Stein die Schulter
einer lieben Freundin.
"Wie lange ist dieser Krieg nun schon zu Ende?
Ein Jahr lang, zwei?", fragte sie nachdenklich.
"Drei.", Kairan blickte düster. Schon
begannen seine Augen, sich wieder mit Tränen zu füllen.
"In diesen drei Jahren hat sich viel verändert.
Wunden heilten, Trauer wurde vergessen, Schmerz verging. Und doch: Die
Narben des Krieges, die schwärenden Wunden sind noch immer da. Auch
du trägst tiefe Narben, auf deinem Körper, auf deiner Seele.
Die Trauer um sie ist jedoch eine schwere Wunde." Tinwes braune Augen waren
dunkel vor Schmerz.
"Du hast nicht erwartet, lebend nach Hause
zu kommen, nur um sie tot zu finden, nicht wahr?", meinte sie leise, wie
zu sich selbst. Die Tränen, der Schmerz dieses längst vergangenen
Tages malten silberhelle Spuren in Kairans Gesicht.
"Woher weißt du das?", hauchte er ungläubig.
"Ich habe sie gekannt. Auch ich diente im
Krieg, als Kurier. Als ihr Herz von einem Pfeil berührt wurde, war
ich an ihrer Seite. Bevor sie in meinen Armen starb, sagte sie mir etwas:
'Richte diesem Idioten Kairan aus, dass er
gefälligst weiter machen soll. Für mich.'
Sie wollte nicht, dass du dir Vorwürfe
machst, verstehst du mich? Sie wollte, dass du da weiter machst, wo sie
aufgehört hat. Sie wollte, dass du glücklich bist, Kairan." Tinwe
lächelte sanft, noch immer eine Spur Trauer in ihrem Gesicht. Kairan
nickte langsam.
"Es tut mir leid, dass ich...", sie unterbrach
ihn wütend.
"Es braucht dir doch nicht leid zu tun, du
Esel! Niemand konnte das wissen. Also tu’ mir den Gefallen und erfülle
ihren letzten Wunsch." Der Tänzer wischte sich lachend die Tränen
aus dem Gesicht und nickte ihr zu. Die Trommlerin lachte ebenfalls und
ihre Hände begannen einen neuen Weg zu gehen, einen wilden Rhythmus
zu spielen. Und Kairan tanzte, tanzte wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Plötzlich konnte er sie spüren, seine Liebe, und sein Herz jubelte.
Da war sie, tanzte mit ihm, ging mit ihm den vielfach verschlungenen Weg
seiner Füße. Er konnte in ihre wundervollen grünen Augen
sehen, die ihn fröhlich anblickten. Sie hatte geweint, genau wie er
und nun waren sie beide wieder froh, sie waren einander wieder nahe. Und
auf einmal wusste er, warum sie geweint hatte: Durch das Tanzen war er
ihr nahe, und drei lange Jahre hatte er es vernachlässigt.
"Ich werde immer für dich tanzen.", flüsterte
er. Ihr Abbild, das für Tinwes Augen unsichtbar war, lachte ihm zu,
fuhr mit Geisterfingern über sein Gesicht.
Am Abend kamen die beiden ins Dorf, die Sonne
im Rücken, frei und gelöst. Langsam, weil Tinwe ein schlimmes
Bein hatte, und sich auf eine Krücke stützen musste. Kairan trug
die Trommel und tanzte hin und wieder ein paar Schritte um sie herum. Gerade
erzählte er etwas, gestikulierte wild mit den Händen. Beide lachten.
Die Dorfbewohner lächelten, wenn sie die beiden sahen. So fröhlich
hatten sie Kairan schon lange nicht mehr gesehen.
Er lieferte Tinwe beim Gasthaus ab, und ging
dann nach Hause. Seine Mutter erwartete ihn an der Tür, sprühend
vor Zorn.
"Wo bist du gewesen? Ich habe auf dich gewartet.",
schimpfte sie. Kairan lachte nur, und ging an ihr vorbei ins Haus.
"Ich habe mich wieder gefunden."
"Wie schön für dich." Er überhörte
den giftigen Ton in ihrer Stimme.
"Ich werde fortgehen." Er sagte es beiläufig,
eine Tatsache, mit der sie sich abfinden musste, ob sie nun wollte oder
nicht.
"WAS?!"
"Du hast richtig gehört, Mutter. Ich
werde mit Tinwe in die Arena gehen, mit den Stieren tanzen! Stell dir nur
vor!" Sein Gesicht leuchtete beim Gedanken daran.
"Dann hast du sie also schon vergessen, über
deiner Trommlerin", sagte die Alte. Das Wort Trommlerin troff nur so vor
Abscheu. Seine Augen wurden hart.
"Warum sagst du das?", fragte er, misstrauisch
geworden.
"Weil es die Wahrheit ist."
"Oh nein, Mutter! Das ist nicht die Wahrheit.
Das ist deine Wahrheit. Für mich ist es eine Lüge. Ich kann nicht
mehr um sie trauern, das hat sie nicht gewollt. Mein Schicksal liegt bei
Tinwe in der Arena. Auch du wirst mich nicht aufhalten. Mein Schicksal
war es nicht, auf dem Schlachtfeld zu sterben. Also hör auf, mir deine
Gedanken aufzuzwingen!"
"Du kannst nicht...", stammelte die Alte,
wurde immer älter, immer runzliger unter seinen Blicken. Leidenschaft
funkelte in seinen Augen.
"Ich werde dir sagen, was ich kann: Tanzen
kann ich und das werde ich auch tun! Schließlich hast du mir nichts
zu sagen."
"Ich bin deine Mutter!"
"Dann verabschiede dich von deinem Sohn!",
fauchte Kairan und stürmte hinaus.
.
Die Nächte waren nicht sehr kalt, und
so verbrachte Kairan seine letzte Nacht in seinem Heimatdorf unter dem
kalten Licht der Sterne. Am nächsten Morgen zog er mit Tinwe fort,
einer besseren Zukunft entgegen. Manch einer wäre gern mit ihnen gegangen.
Doch es war ihre Zukunft, nur ihre.
Die alte Frau starb bald. Die abergläubischen
Dorfbewohner begruben sie nicht, sondern verbrannten sie mitsamt ihrem
Haus. Viele meinten später, in dem Feuer Kairans lachendes Gesicht
gesehen zu haben, aber das ist wohl wirklich nur Aberglaube. Doch Kairans
Zukunft war voller Abenteuer, Spaß, Freunden und Liebe. Aber auch
wenn er fort ging, am Ende blieben die Narben des Krieges. Denn so ist
das mit Narben. Sie können zwar verblassen, aber ganz verschwinden
sie nie.
© Anna
Hohenberger
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