Virani sah vom Binokular ihres Mikroskops
auf, als sie Motorengeräusche hörte. Seltsam, dachte sie. Wer
wollte den Nationalpark noch besuchen, jetzt, da er nur noch aus verbrannter
Erde bestand. Sie dachte wieder an die schreckliche Nacht zurück,
in der sich die Brände aus der Steppe kommend immer weiter ausbreiteten.
Die Löschkräfte waren machtlos. Der Sommer war sehr heiß
gewesen und Feuer waren an so vielen Stellen gleichzeitig ausgebrochen,
dass sich die Männer auf den Schutz der Städte und menschlichen
Siedlungen konzentrieren mussten. So hatte das Feuer schließlich
auf den Park übergegriffen. Der Wind war durch die aufsteigende Hitze
noch stärker geworden und ihr ganzer Stolz, ihr Lebenswerk, war in
einer Nacht zerstört worden. Nur verkohlte Reste der uralten Bäume
deuteten noch an, dass es hier einmal einen Wald gegeben hatte. Nun mühte
sie sich ab, auf der Suche nach noch lebenden Zellen, um daraus vielleicht
die eine oder andere Art von Pflanze noch zu retten.
Die Biologin trat an das breite Fenster ihres
Labors heran um sehen zu können, wer sie besuchte. Außer ihr
selbst lebte nur noch eine Handvoll Menschen hier. Das restliche Personal
war abgezogen worden und hatte andere Aufgaben erhalten. Seitdem verfiel
das Gebäude immer mehr. Es waren zwei Hubschrauber der Regierung,
erkannte sie schließlich. Was wollen sie hier noch, fragte sie sich.
Sie hasste Politiker. Viele waren hier erschienen nachdem der Nationalpark
zerstört war. Sie redeten und redeten und hielten sie doch nur von
ihrer Arbeit ab. Viele Versprechungen hatte sie gehört, aber geholfen
hatte nichts. Alles Leben war erloschen. Die Hitze war so stark gewesen,
dass sogar die Kleinstlebewesen im Boden abgestorben waren. Unweigerlich
traten ihr die Tränen in die Augen. Sie wischte sie weg und warf einen
kurzen Blick in einen Spiegel. Ich bin alt geworden, dachte sie, als sie
ihr von Sorgen zerfurchtes Gesicht sah. Dann wandte sie sich ab und trat
ins Freie hinaus.
Cassandra stützte sich dankend auf die
Hand des Leibwächters, als sie aus dem Helikopter stieg. Der Pilot
hatte soeben die Turbine heruntergefahren und der ohrenbetäubende
Lärm ließ langsam nach. Hinter ihr schwang sich Harpon elegant
aus dem Transportmittel. Sie wandte sich kurz nach ihm um, dann ging sie
auf die schwarze Fläche zu. Sie kniete nieder und befühlte die
Erde.
"Nein. Es war nicht Seth-Anat", sagte sie
erleichtert.
Virani hatte den Landeplatz erreicht. Einer
der Sicherheitskräfte kam ihr entgegen.
"Mein Name ist Marek", stellte er sich vor.
"Ich bin Regierungsbeamter und Sicherheitsexperte. Ich habe das Kommando
über den Trupp, der unsere Gäste bewacht. Unsere Passagiere wollten
hier landen. Ich habe Anweisung, ihren Wünschen zu folgen."
Virani beobachtete, wie die Sicherheitsleute
einen weiten Kreis um sie bildeten.
"Wer sind Ihre Gäste?"
Der Mann holte erst einmal tief Luft. "Verfolgen
sie keine Nachrichten? Das sind die Menschen, die mit unseren Kosmonauten
den ersten Kontakt hergestellt haben."
Politiker oder Prominente. Es war ihr egal.
Diese Menschen hielten sich immer für sehr wichtig. Sie wollte in
Ruhe gelassen werden.
"Diese Menschen interessieren mich nicht.
Sie halten mich nur von meiner Arbeit ab."
Der Wind wehte Virani ihre Haare ins Gesicht.
Sie strich sie hinter ihre Ohren und sah den Mann verärgert an.
"Bitte. Sprechen Sie ein paar Worte mit unseren
Gästen. Womöglich haben sie Fragen."
"Also gut. Ein paar Minuten gebe ich ihnen."
Mit langen Schritten ging Virani zu der fremden
Frau hinüber. Sie wollte das Interview möglichst schnell hinter
sich bringen.
"Was tun Sie da?", fragte sie die fremde Frau
barsch.
Die Fremde richtete sich auf und sah sie an.
Virani wich unweigerlich einen Schritt zurück. Es waren die Augen
dieser Frau. Ein Blick hatte Virani genügt, um die absolute Fremdartigkeit
zu erkennen.
"Mein Name ist Cassandra", stellte sie sich
vor. Sie lächelte Virani an.
Virani war zuerst sprachlos, fasste sich aber
schnell wieder. Sie hatte voreilig geurteilt. Es war nicht Böses im
Blick der Fremden, musste sie sich nun korrigieren.
"Virani", sagte sie kurz.
Virani hörte kaum zu, als Cassandra ihr
Harpon vorstellte.
"Was ist hier passiert?", wollte Cassandra
wissen.
Wie oft hatte Virani das schon erzählen
müssen? Gelangweilt rasselte sie ihre Erklärung herunter.
"Dieser Talkessel ist in seiner Form einmalig
auf der ganzen Welt. Er misst an der breitesten Stelle 20 km und ist über
50 km lang. Das hufeisenförmige Tal ist genau nach der Hauptwindrichtung
ausgerichtet. Die mit viel Feuchtigkeit beladenen Wolkenmassen werden vom
Gebirgsmassiv geleitet und regnen im Bereich der oberen Bergregionen ab.
Die Wassermassen fließen in vielen kleinen Bächen zurück,
die das ganze Tal der Länge nach durchziehen. So werden die annähernd
eintausend Quadratkilometer bewässert. Hier hatten sich Tier- und
Pflanzensorten entwickelt, die zusammen eine einmalige Lebensgemeinschaft
bildeten, ein Öko-System, das nirgends sonst auf Kyrilla vorkam. Es
gab tausende von Tier- und Pflanzensorten. Vor zwei Jahren wurde das Tal
durch einen Brand verwüstet. Nichts hat überlebt."
Virani wollte sich abwenden und wieder zum
Labor zurückgehen.
"Aber es gibt hier noch Leben", sagte Cassandra.
Sie wandte sich der Fremden zu. "Hier lebt
nichts mehr. Oder wollen Sie behaupten, Sie können mit bloßen
Augen mehr erkennen, als ich unter dem Mikroskop?"
Virani drehte sich um und wollte wieder gehen,
als ihr der Regierungsbeamte den Weg versperrte.
"Virani, bitte. So können Sie unsere
Gäste nicht behandeln. Geben Sie ihnen noch ein paar Minuten."
"Sie langweilen mich."
"Wollen Sie, dass ich meinen Vorgesetzten
von ihrem Verhalten berichte? Sie wissen, dass Sie auf die Zahlungen der
Regierung angewiesen sind. Es wird nur geduldet, dass sie hier ihren sinnlosen
Forschungen nachgehen."
"Erpresser!" Finster blickte sie den Regierungsmann
an. "Ich bemühe mich lediglich, zumindest einen Teil dieses einmaligen
Lebens zu retten."
Virani ging zu der Fremden zurück.
Cassandra hatte sich nieder gekauert und wandte
ihr den Rücken zu. Virani fiel ein eigenartiger Lichtschein auf, der
über die verbrannte Erde flimmerte. Dann erhob sich die Frau und sah
sie an.
"Ich fühle das Leben in der Erde. Und
ich habe einen Teil davon geweckt." Dann wies sie auf den Boden.
Virani glaubte, ihren Augen nicht trauen zu
können. Vor ihr wuchs eine blühende Felsenrose.
"Es... Das muss ich übersehen haben."
"Das ist unglaublich", sagte der Regierungsmann.
"Wie haben Sie das gemacht?"
"Ich muss die Pflanze übersehen haben",
wiederholte sich Virani.
"Die Pflanze war vorher nicht da!", versicherte
der Regierungsmann bestimmt.
"Ich glaube nicht, dass wir hier so schnell
wieder wegkommen", meinte Harpon zu Cassandra.
"Es gab so viel Leben an diesem Ort", sagte
Cassandra mit glänzenden Augen. "Die Erde ist noch durchdrungen davon.
Aber die Lebensenergie beginnt langsam zu entweichen." Dann wandte sie
sich der sprachlosen Virani zu. "Noch könnte der Wald gerettet werden.
Aber wir sollten möglichst bald handeln."
Virani gab schließlich auf Drängen
des Regierungsmannes hin nach und willigte ein, dass die Fremden ein paar
Tage im Gästehaus des ehemaligen Nationalparks blieben. Platz genug
gab es. Als Virani den Bereich verließ, den sie den Fremden und der
Wachmannschaft zugeteilt hatte, wurde ihr das ganze Ausmaß der Verlorenheit
und des Verfalls dieses einst von so vielen Menschen bevölkerten Gebäudes
bewusst. Noch vor zwei Jahren erhielt man erst nach langer Wartezeit für
wenige Tage eine Zimmerreservierung, und jetzt standen fünf Stockwerke
leer. Sie trat ins Freie und der nahezu immer wehende Wind ließ sie
frösteln. Virani schlang ihren Umhang enger um sich und eilte auf
den Laborbereich zu, wo sie ihre Unterkunft hatte.
"Was ist das?", fragte Virani.
Die fremde Frau legte ihr etwas Warmes, das
sich bewegte, in ihre linke Hand. Vorsichtig schloss sie die rechte darüber.
Sie fühlte Fell und kleine Pfoten, die sich gegen ihre Haut stemmten.
Ungläubig hob sie einen Zeigefinger ein Stück an und ein kleines
Tier streckte seine schnüffelnde Nase aus dem Spalt.
"Ein junger Waldhamster! Aber wie ist das
möglich? Wir haben das ganze Gebiet immer und immer wieder abgesucht."
Virani spürte, wie ihr vor Freude Tränen
in die Augen traten. Sie blinzelte sie weg und strich zärtlich über
das weiche Fell des kleinen Geschöpfes.
"Er hat sicherlich Hunger", sagte Cassandra.
Virani setzte den jungen Hamster in einen
Käfig und schloss vorsichtig den Deckel. Das Tier begann sofort sein
neues Zuhause zu untersuchen und schnüffelte neugierig in jede Ecke.
"Aber was kann ich dem Tier nun zum Fressen
geben?", sagte sie wie im Selbstgespräch. Sie verschwand für
kurze Zeit aus dem Labor und kehrte dann mit einer Blechdose zurück.
"Ich habe Nüsse gefunden. Sie sind unbehandelt."
Mit zitternden Fingern füllte sie eine
kleine Glasschale und stellte sie zu dem Tier in den Käfig. Der Hamster
hatte sofort die Witterung aufgenommen und kletterte in die Futterschale.
Er nahm eine der Nüsse zwischen seine Vorderpfoten und begann zu fressen.
"Ich kann es einfach nicht glauben", sagte
Virani, während sie die Augen nicht von dem Tier ließ.
"Virani, ich möchte Ihnen helfen", sagte
Cassandra.
"Ich muss jetzt herausfinden, wo das Tier
hergekommen ist. Wo haben Sie es gefunden? Das ist ein Jungtier. Also muss
es auch ältere Exemplare geben."
In diesem Augenblick betrat Harpon das Labor.
"Ich habe einen Anruf erhalten. Der Botschafter wird in vier Tagen eintreffen."
"In vier Tagen! Ich habe also nur vier Tage
Zeit, um den Wald zu retten."
"Nun?", fragte Cassandra, nachdem Virani den
Waldhamster untersucht hatte.
"Die Untersuchungen haben ergeben", antwortete
Virani, "dass das Tier etwa drei Stunden alt ist."
Virani hatte die Ergebnisse dreimal überprüft
und dann noch eine zweite Messmethode gewählt, um ganz sicher zu gehen.
Aber die Ergebnisse waren alle gleich.
"Gibt Ihnen das nicht zu denken?", ragte Cassandra.
"Es kann unmöglich wahr sein. Der Hamster
ist etwa so weit ausgebildet wie ein sechs Wochen altes Tier."
"Ich habe das Tier letzte Nacht aus einem
Knochenstück geschaffen, das ich draußen gefunden habe."
Virani sah die Fremde an, als ob sie verrückt
wäre. "Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Ihnen das abnehme."
"Dann beweisen Sie, warum es erst drei Stunden
alt ist."
"Ich bin Wissenschaftlerin. Und in der Wissenschaft
ist alles beweisbar. Es muss einen Grund dafür geben."
"In einigen Jahren werden Sie womöglich
Dinge beweisen können, die Sie jetzt noch für unmöglich
halten."
Virani antwortete nicht, sondern betrachtete
mit verträumten Augen den kleinen Waldhamster, der sie aus schwarzen
Knopfaugen anblickte. Er steckte seine kleine Schnauze zwischen den Gitterstäben
seines Käfigs hindurch und schnupperte in ihre Richtung.
"Wünschen Sie sich nicht, dass das Tal
wieder voller Leben ist? Dass ganze Scharen dieser kleinen Geschöpfe
da draußen leben?"
In Gedanken erlebte Virani einen Sonnenaufgang,
sah die hellen Strahlen durch die feinen Nebelschleier dringen, die über
dem Boden schwebten, und hörte die Stimmen der Tiere, welche die frische
Morgenluft erfüllten.
"Ja", antwortete sie. "Das wünsche ich
mir von ganzem Herzen. Es war mein Lebensinhalt. Ich habe beobachtet, katalogisiert
und beschützt. Ich habe die Führer ausgebildet, die die Besucher
in den Wald begleitet haben. Ich bin hier aufgewachsen. Ich bin sogar...".
Sie stutzte und suchte Cassandras Blick.
Cassandra lächelte sie ermutigend an.
"Ich bin sogar im Wald gezeugt worden", setzte
Virani fort.
"Virani, ich verstehe Sie. Und ich fühle
Ihre tiefe Verbundenheit mit diesem Ort. Darf ich Ihnen etwas anvertrauen?"
"Ja. Bitte. Ich werde es für mich behalten",
versicherte Virani.
"Ich bin in einem Wald geboren worden", erzählte
ihr Cassandra. "Nachts auf einer Lichtung, im Schein dreier Monde erblickte
ich das Licht der Welt."
"Drei Monde?"
"Ja. Neardark heißt diese Welt."
"Wie phantastisch mag es sein, durch den Weltraum
zu reisen", überlegte Virani laut. "Fremde Welten und fremde Lebewesen
zu sehen..."
"Avalon."
"Avalon?"
"So heißt meine Heimatwelt."
Cassandra beschloss, noch einen Schritt weiter
zu gehen.
"Virani, ich möchte Ihnen die Quelle
meiner Macht zeigen", sagte Cassandra.
"Die Quelle Ihrer Macht? Es ist doch wohl
nicht gefährlich?"
"Nein. Schon seit vielen Jahren arbeite ich
damit. Es ist nicht gefährlich."
Virani beobachtete, wie Cassandra einen kleinen
Stoffbeutel hervorholte, den sie an einer dünnen Kette um ihren Hals
trug. Sie öffnete ihn und ließ daraus einen Stein in ihre linke
Hand gleiten.
"Das ist die Quelle meiner Macht, mein Sternenstein."
Virani betrachtete den Stein neugierig, aber
die Formen darin schienen sich ständig zu ändern und zogen ihren
Blick in eine unendliche Tiefe. Ihr schwindelte und sie wandte den Blick
ab. Sie schloss kurz die Augen und das Unwohlsein verschwand langsam wieder.
"Welches Mineral ist das? Stammt es von Avalon?"
"Woher dieser Stein stammt, das wissen nur
wenige. Aber mein Leben ist damit verbunden."
"Darf ich ihn berühren?"
"Bitte. Aber sei vorsichtig. Berühre
ihn, als sei er ein Lebewesen."
Virani streckte eine Hand nach dem Stein aus.
Kurz zögerte sie, dann berührten ihre Fingerspitzen die Oberfläche.
Sie zuckte zurück und versuchte es ein zweites Mal.
"Es ist weich und warm", stellte sie erstaunt
fest. "Besitzen alle Frauen Ihres Volkes einen solchen Stein?"
"Nein. Nur sehr wenige besitzen die Gabe und
können die Energien, die in einem Sternenstein schlummern, freisetzen."
Erneut musterte Virani den Stein und die Wirbel
unter seiner Oberfläche.
"Was kannst du damit tun?" Unbewusst hatte
sie die vertrauliche Anrede gewählt.
"Ich kann das Wachstum von Zellen beeinflussen.
Willst du es sehen?"
Virani war noch immer skeptisch, aber die
Neugier der Wissenschaftlerin in ihr war erwacht.
"Ja. Zeige es mir."
Cassandra bückte sich und zog ihre Schuhe
aus. Dann zog sie Virani hinter sich her aus dem Labor hinaus.
Cassandra war am Rand des befestigten Platzes,
kurz vor der verbrannten Erde, stehen geblieben. Virani bemerkte, dass
der Stein in ihrer Hand zu leuchten begonnen hatte. Die Fremde setzte vorsichtig
einen bloßen Fuß auf die tote Erde und ging dann ein paar Schritte
in die Asche hinein. Virani wollte ihr folgen, da bemerkte sie eine Veränderung
in den Fußabdrücken, die Cassandra hinterlassen hatte. Sie bückte
sich, um genauer beobachten zu können. Es waren winzige, grüne
Triebe, die ihre Spitzen aus dem Boden streckten. Virani konnte beobachten,
wie sie sich reckten und kleine Blätter entfalteten. Sie schloss die
Augen. Sie musste sich das alles einbilden. Vielleicht hatten sie die Formen,
die sie in dem fremdartigen Stein gesehen hatte, auf irgendeine Art beeinflusst.
Es gab keine logische Erklärung für diesen Vorgang. Langsam zählte
sie bis zehn, dann blickte sie wieder auf den Abdruck hinab. Die Pflänzchen
waren nun etwa so lang wie ihr Zeigefinger und soeben öffnete sich
die erste Blüte.
Virani sah hoch und begegnete Cassandras Blick.
Die Fremde breitete langsam die Arme aus. Der Stein in ihrer Hand leuchtete
nun so intensiv, dass er durch ihre Haut hindurch zu erkennen war. Virani
wagte nicht, sich zu bewegen. Um sie herum begannen sich immer mehr Pflanzen
aus der Erde zu schieben. Sie drehten sich und reckten ihre Spitzen der
Sonne entgegen. Blätter entfalteten sich, Knospen entstanden und öffneten
sich zu duftenden Blüten.
Virani erschrak, als sie eine Berührung
am Handgelenk verspürte. Es war eine Kletterpflanze, die einen Trieb
um ihren Arm gelegt hatte. Vorsichtig, um die Pflanze nicht zu verletzen,
löste sie das junge Grün und richtete sich langsam auf.
Soweit ihr Blick reichte hatte sich die verbrannte
Erde in eine bunte Sommerwiese verwandelt.
"Glaubst du mir jetzt, dass ich dir helfen
kann?"
Virani starrte noch immer fassungslos auf
das neue Leben. Sie kniete nieder und strich mit den Händen über
das frische Grün. Dann pflückte sie ein paar Gräser ab.
"Ich... Ich muss das alles erst untersuchen."
Die Wissenschaftlerin in ihr war erwacht.
Sie eilte mit den Gräsern in ihr Labor und legte die meisten davon
in den Probenschrank. Einige der Halme goss sie in Parafin ein und stellte
Schnittproben her, die mit einem vollautomatischen Mikroskop erfasst wurden.
Sie startete ein Programm, das die Einzelbilder erfasste, digitalisierte
und zu einem dreidimensionalen Schnittbild der Pflanze zusammensetzte.
Es war bereits spät in der Nacht, als
Virani erschöpft den Monitor ausschaltete. Es war keine Halluzination.
Alle Pflanzen waren real und ihr genetisches Muster entsprach den Werten,
die sie gesammelt und katalogisiert hatte.
Virani sah auf, als Cassandra das Labor betrat.
"Der Hohe Rat hat zugestimmt, deine Welt zu
den Vereinigten Planeten aufzunehmen. Mehr als vierzehntausend Welten haben
sich bereits zu dieser friedlichen Einheit zusammengeschlossen. Aber es
gibt Wesen, die noch über dieser Gemeinschaft stehen, und das Geschick
der Völker der Milchstrasse leiten. Diese Wesen nennen sich Yr."
"Warum erzählst du mir das, Cassandra?"
"Wir wollen dir helfen. Bitte erlaube es uns,
und ich werde alles, was in meiner Macht steht, tun, um den Nationalpark
wieder mit Leben zu füllen. Ich möchte nicht, dass die Lebensenergie
aus diesem Tal entweicht."
Virani überlegte und betrachtete dabei
den kleinen Waldhamster. Sie hatte ihm Stücke eines weichen Tuches
in den Käfig gelegt. Daraus hatte sich das Tier ein Nest gebaut, in
dem es nun friedlich schlief.
Was hatte sie noch zu verlieren? Vor wenigen
Wochen erst hatte sie ihr Lebenspartner verlassen. Virani hatte sich so
sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihre Beziehung vollkommen vernachlässigt
hatte, und eines Tages war sie alleine erwacht. Schon mehrmals hatte die
Regierung angedeutet, dass sie die Gelder streichen und den Park endgültig
schließen wolle. Nein. Sie konnte nichts mehr verlieren. Sie konnte
nur noch gewinnen.
"Ja. Bitte hilf mir."
Mitten in der Nacht war Virani hoch geschreckt.
Sie bemerkte einen Lichtschein, der flackernde Muster auf die Wand gegenüber
dem Fenster zeichnete. Feuer, dachte sie. Aber was soll hier noch brennen?
Es gibt nur noch Asche. Sie sprang aus dem Bett und wollte nach ihrer Kleidung
greifen. Da bemerkte sie, dass sie angezogen zu Bett gegangen war. Es war
nicht das erste Mal, dass sie vor Erschöpfung in ihrer Arbeitskleidung
eingeschlafen war. Sie lief zum Fenster, zerrte die Vorhänge zur Seite
und blickte hinaus. Nein, das war kein Feuer. Es war... Sie wurde wieder
an den leuchtenden Stein erinnerte, mit dem Cassandra die tote Wiese zum
Ergrünen gebracht hatte. Sie lief zur Tür, riss sie auf und stürmte
durch den Gang am Labor vorbei und ins Freie hinaus.
Draußen wäre sie beinahe mit Cassandra
zusammengestoßen.
"Sie sind da", sagte Cassandra mit leuchtenden
Augen.
"Wer?"
"Die Yr. Ich habe sie überzeugen können,
dass sie den Wald retten."
Gestern noch war Virani davon überzeugt
gewesen, dass Cassandra nicht verrückt war, auch wenn sie kurz gezweifelt
hatte, als sie barfuss aus dem Labor gelaufen war. Aber jetzt zweifelte
sie wieder an ihrem Verstand.
"Ich habe gespürt, dass du aufgewacht
bist, Virani. Deswegen bin ich gekommen, um dich zu holen."
"Was passiert da?", fragte Virani und deutete
auf das Leuchten. Über der Erde zeigte sich ein unwirkliches Wabern,
das sich von Blau über Rot zu einem Grün hin veränderte.
"Komm mit mir", sagte Cassandra. Das Licht
spiegelte sich in ihren fremdartigen Augen.
"Ich..."
"Du brauchst keine Angst zu haben. Oder glaubst
du, dass ich dir plötzlich schaden will?"
Cassandra nahm Viranis Hand und zog sie mit
sich, auf das unheimliche Irrlichtern zu.
"Was ist das?", fragte Virani und weigerte
sich, weiterzugehen.
"Lebensenergie", antwortete Cassandra. "Die
Energie all der Pflanzen und Tiere, die hier gelebt haben. Die Yr holen
sie aus dem Erdboden."
Cassandra trat in das Leuchten hinein und
war zum Teil nicht mehr zu erkennen.
"Komm! Bitte!", lockte sie Cassandra und hielt
ihr die Hand entgegen.
Viranis Herz klopfte ihr bis zum Hals, als
sie hinter der Fremden her in den Schein hinein trat.
Cassandra zog sie zielstrebig in eine bestimmte
Richtung. Virani war es vollkommen unklar, woran sie sich orientierte.
Ringsum war nur dieses unheimliche Wabern. Ihre Füße fühlten
keinen festen Boden unter sich, als würde sie über weiches Gummi
laufen. Plötzlich wurde die Sicht klar und sie bemerkte, dass sie
sich auf einer kleinen Anhöhe befanden. Der Blick glitt weit das Tal
hinauf und was Virani erblickte, ließ ihr die Tränen in die
Augen treten: Büsche, Bäume und die uralten Urwaldriesen füllten
ihren Sichtbereich aus. Es war das Bild, das sie von Kindheit her in Erinnerung
hatte. Der Wald in aller Schönheit breitet sich vor ihr aus. Sogar
der kleine See, in dem sie so gerne gebadet hatte, war zu erkennen. Aber
irgendetwas schien nicht zu stimmen, erschien ihr unreal, denn von allen
Pflanzen ging dieses unwirkliche Licht aus, und als sich Virani bückte
um eine Blume zu berühren, glitt ihre Hand hindurch.
"Was ist das?", fragte Virani erschrocken
und zog ihre Hand zurück.
"Es wird noch einige Zeit vergehen, bis sich
die Lebensenergie vollständig materialisiert hat."
"Und die Tiere?", fragte Virani.
"Lass dir Zeit. Komm. Möchtest du zum
See hinunter gehen?"
Wenige Minuten darauf standen sie am Ufer des
kleinen Gewässers. Virani kniete nieder und steckte eine Hand ins
Wasser. Es war frisch und fühlte sich vollkommen real an. Sie spritzte
sich etwas davon ins Gesicht und stand wieder auf. Da bemerkte sie eine
Bewegung am anderen Ufer. Eine lichte Gestalt war erschienen. Sie lief
um den See herum auf sie zu.
"Wer ist das?", fragte Virani.
"Kyra."
"Ist sie eine...?"
"Ja. Sie ist eine Yr. Eines der mächtigsten
Wesen des Universums."
Gespannt blickte Virani dem Wesen entgegen.
Beinahe war sie ein bisschen enttäuscht, als sie feststellte, dass
es eine junge Frau war. Als sie aber in die Augen dieses Wesens sah, wurde
ihr klar, dass sie kein gewöhnlicher Mensch sein konnte.
Dort sah sie die Macht der Götter.
Und dann war nichts mehr...
Als Virani erwachte, fühlte sie weiches
Moos unter sich. Sie atmete tief ein und würzige Waldluft füllte
ihre Lungen. Sie roch Gras, Wasser und Blüten. Das Summen von Insekten
und Vogelgezwitscher drang an ihre Ohren. In der Ferne klopfte ein Specht.
Langsam öffnete sie die Augen und blickte genau in das Gesicht eines
grünen Frosches. Vorwurfsvoll glotzte er sie an, als wolle er sich
gleich über die Störung beschweren. Mit einem Satz verschwand
er. Virani vernahm ein plumpsendes Geräusch. Nachdem sie sich aufgerichtet
hatte, bemerkte sie Cassandra, die wenige Schritte von ihr entfernt auf
einem Baumstumpf saß.
Virani verspürte plötzlich einen
Juckreiz auf ihrem linken Handrücken. Nachdenklich betrachtete sie
die gerötete Stelle. "Ein Mückenstich!" Sie lachte. "Das ist
das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich über einen Mückenstich
freue."
Sie stand auf und sah sich um. Es war alles
so, wie sie es in Erinnerung hatte: Ein kleiner Bach, der aus dem Dunkel
des Waldes heraus den See mit Wasser speiste. Der einzelne, große
Stein in der Mitte des Sees, auf dem Wasservögel brüteten, und
das Schilf am Seeufer, in dem eine Armada von Fröschen lebte. Und
hinter dem See glitt der Blick in die Ferne. Dort breitete sich das grüne
Tal aus, so weit das Auge reichte.
"Es ist ein Wunder", sagte Virani.
"Nein", entgegnete Cassandra. "Es ist kein
Wunder. Es ist ein Geschenk, ein Geschenk der Yr."
© Hermann
Weigl
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