"Luuzioooooooo!"
Eine gewaltige Stimme hallte durch die Unterwelt. Zweifellos gehörte
sie dem Herrn der Fliegen, Mephisto. Er hatte das Kommando über die
Unterwelt, welche sich im Inneren des Planeten Wasser befand. Den Bewohnern
von Wasser war schnell klargeworden, dass der ganze Platz unterhalb der
Oberfläche nicht ungenutzt bleiben durfte. Aufgrund diverser unfreiwilliger
Bekanntschaften mit Vulkanen kam man schnell zu dem Schluss, dass sich
dort nur etwas Böses aufhalten konnte, denn wer sonst, außer
einer Gruppe von Masochisten, wohnte schon gerne bei einer Raumtemperatur
von mehreren tausend Grad Celsius. Diese Erkenntnis war die Geburtstunde
der Unterwelt, die auf Wasser auch gleichzeitig die Funktion der Hölle
übernahm. Auch Mephisto existierte seit dieser Zeit, obwohl sich sein
äußeres Erscheinungsbild im Laufe der Jahrtausende doch stark
verändert hatte.
Er symbolisierte die tiefsten Ängste der Lebewesen von Wasser,
und diese konnten stark variieren. Als es noch keine Zivilisation gab und
die Evolution die ersten mehr oder weniger intelligenten Lebewesen zu Tage
brachte, konnte es schon einmal vorkommen, dass Mephisto als riesige Lammkeule
durch die Hallen der Unterwelt wandelte. Die Angst vor dem Verhungern war
damals eben sehr verbreitet.
Derlei Ängste waren jedoch zu Mephistos Glück zu der Zeit
unserer Geschichte nicht mehr vorrangig, weshalb es in der Hölle auch
nach Schwefel und nicht mehr nach Lammbraten roch. Man stelle sich einen
mehrere tausend Grad heißen, riesigen Ofen vor... Mephisto hatte
jegliche Erinnerung daran aus seinem Gedächtnis verdrängt, wohingegen
sein Therapeut die Anzahl der Sitzungen immer noch auswendig kannte. Hierzu
muss erwähnt werden, dass er danach in den Ruhestand treten konnte,
aufgrund der goldenen Nase, die er sich dabei verdient hatte. Sein Leibgericht
war von da an Lammkeule, obwohl er eigentlich Vegetarier war.
Luzio jedenfalls tat gerade das, was er am besten konnte: schlafen.
Bis zum bereits erwähnten Schrei. Aufgeschreckt und orientierungslos
sprang er auf, um gleich darauf gegen die nächstbeste Wand zu laufen.
Beim zweiten Versuch etwas vorsichtiger, rappelte er sich auf und nahm
seine Umwelt zur Kenntnis.
Er befand sich in einer kleinen Höhle, die aus mehr Wänden
als Raum zu bestehen schien. Sie war spärlich eingerichtet. Lediglich
ein Nagelbett und eine kleine, windschiefe Kommode zierten die Höhle.
Nicht zu vergessen natürlich das Bild von Mephisto, der herrschend
herabsah. Zumindest tat er dies ursprünglich. Da das Portrait aber
schon hunderte Male überpinselt wurde, um dem Original weiterhin gleich
zu sehen, erinnerte es eher an jene Werbezeichnungen, die in der Oberwelt
an jeder Straße zu finden waren und von unerzogenen Burschen mit
diversen Frisuren oder Bärten verunstaltet wurden.
Nachdem sich Luzio bewusst wurde, dass er sich in seiner Unterkunft
befand und soeben vom Teufel höchstpersönlich gerufen worden
war, eilte er hinaus und machte sich auf den Weg zu den Gemächern
des Höllenlords. Er rannte so schnell es seine Stummelbeinchen zuließen,
doch viel war dies nicht. Luzio war für einen Dämon extrem kleingewachsen.
Wenn er sich streckte, brachte er es auf eine Körpergröße
von anderthalb Metern. Andere Artgenossen waren doppelt so groß.
Auch sonst war er keine sonderlich angsteinflößende Gestalt.
Sein ganzer Körper wirkte zusammengedrückt, auch seine Ärmchen
waren mickrig. Während hässliche Fratzen die Gesichter anderer
Dämonen zierten, war Luzio mit einem Geburtsfehler auf die Welt gekommen.
Seine Lippen bildeten stets ein freundliches, sympathisches Lächeln,
selbst wenn er vor Wut kochte (bei Dämonen ist dies nicht nur symbolisch
zu verstehen).
Die Unterwelt war ein gigantisches Labyrinth, das aus unzähligen
engen und verwinkelten Gängen bestand. Seltsamerweise gelangte man
schlussendlich aber immer zu Mephisto, selbst oder gerade wenn man es nicht
wollte und egal wie oft man sich verlief. Die am meisten ausgeprägtesten
Farben waren rot und schwarz. Um genau zu sein gab es gar keine anderen
und dies bezog sich auf alles und jeden: von den Wänden über
die Gegenstände bis hin zu den Bewohnern der Unterwelt. Überall
lodernde Flammen und sich regelmäßig wiederholende Schmerzensschreie
von gepeinigten Seelen sorgten für eine angenehme Atmosphäre.
Doch Luzio hatte keine Zeit dies zu genießen.
Ohne darüber nachzudenken, welche Abzweigungen er einschlagen
sollte, lief er einfach nur so schnell er konnte. Wenn Mephisto gefunden
werden wollte, fand man ihn auch. Unterwegs rempelte er unbeabsichtigt
einen Zombie, der daraufhin beinahe seinen Kopf verlor. Nur mit Mühe
konnte er ihn noch festhalten. Auch ein nichtsahnendes, gemütlich
herumschlenderndes Skelett rannte er über den Haufen, um genauer zu
sein zu einem Haufen – aus Knochen.
Laut fluchend versuchte es, sich wieder, der Anatomie entsprechend,
zu rekonstruieren. Als Luzio schon beinahe außer Sichtweite war,
hob es drohend den Fuß, an dessen Stelle sich eigentlich eine Hand
befinden sollte, und rief ihm einige Todeswünsche hinterher. Doch
der kleine Dämon bekam davon nichts mehr mit.
Luzio konnte noch im letzten Moment abbremsen, um nicht auch noch
gegen Mephisto zu laufen, der schon ungeduldig gewartet hatte und unruhig
umher ging. Sein Äußeres war seinem Zweck gemäß angsteinflößend.
Knallrote Haut bespannte seinen Körper, welcher nur mit einem Lendenschurz
bekleidet war.
Er war fast dreimal so groß wie Luzio und extrem muskulös.
Sein Gesicht wirkte hasserfüllt und lange, spitze Zähne ragten
aus seinem Mund. Auf seiner Stirn prangten zwei gewaltige Hörner und
einer seiner beiden Beine war ein Pferdefuß. Diese beiden Relikte
stammten aus einer Zeit, als die Lebewesen von Wasser glaubten, dass Huftiere
gefährliche Krankheiten übertragen konnten. Da dieser Glaube
immer noch weit verbreitet war, bekam er diese nervenden Körperteile
einfach nicht weg.
Der Raum, den er sein Eigen nannte, war sehr pompös und eindrucksvoll.
Der Thron, der nur aus Knochen zu bestehen schien, befand sich auf einer
runden Ebene, die von einem Graben umringt war, aus dem immer wieder hohe
Flammensäule emporschossen. Nur eine schmale steinerne Brück
führte darüber.
Es war hier noch heißer als in der restlichen Hölle.
Bei dieser Hitze war es kein Wunder, dass Mephisto als heimlicher Exhibitionist
verschrieen war.
Mit einer Stimme, die jegliche Vorstellungskraft um Dimensionen überschritt
und den Raum zum Erzittern brachte, sagte Mephisto: "Da bist du ja endlich,
Luzio. Das wurde auch allerhöchste Zeit. Ich habe auf dich gewartet.
Bestimmt hast du wieder auf der faulen Haut gelegen!"
Luzio war nervös und zögerte etwas, ehe er antwortete:
"Vergebt mir, eure Unbarmherzigkeit. Das beobachtende Auge könnte
es tatsächlich als auf der faulen Haut liegen betrachten, doch dies
ist nur der äußere Eindruck. In Wirklichkeit habe ich nur Kräfte
gesammelt, um das Böse mit neuer Energie in der Welt zu verbreiten."
Mephisto verzog abwertend das Gesicht. "Hör mir auf mit solchen
Floskeln. Hältst du mich für so dumm, dass ich dir deine billigen
Ausreden abnehme? Es ist weitgehend bekannt, dass du ein fauler Sack bist!
Du scherst dich einen Dreck darum, ob das Böse in der Welt verbreitet
wird oder nicht. Du verwendest deine Energie mehr dafür, sie nicht
zu beanspruchen, als sie sinnvoll zu benutzen. Aber mit dem Faulenzen ist
es nun vorbei. Wenn ich nicht bald etwas Negatives von dir höre, ist
dein Dasein als Dämon vorbei. Und du weißt, was das bedeutet,"
drohte er. "Und hör auf so dämlich zu grinsen!"
Luzio schluckte. Er wusste nur zu gut, was das bedeutete. Als Dämon
besaß man die Gabe, von der Seele eines Wesens Besitz zu nehmen,
wenn deren Widerstandskraft gering genug war. So konnte man nie vergessen
werden. Doch wenn einen Mephisto aus dem Dämonenstand enthob, und
man niemanden hatte, der an einen glaubte, konnte man sich auch nicht mehr
in Erinnerung rufen.
Mit gedämpfter Stimme, den Blick zu Boden gerichtet, antwortete
Luzio: "Es tut mir Leid, eure Schrecklichkeit." Dies war eine weitere Eigenheit
von Mephisto. Man dachte einfach an eine schlechte Eigenschaft, machte
daraus ein Nomen, und betitelte ihn damit. Nur dann war er einigermaßen
besänftigt.
Wenn man derlei viel zu tun hatte, brauchte man andere, die einen
daran erinnerten, wie schlecht und böse man war. "Ich werde Euch nicht
noch einmal enttäuschen und mich sofort ans Werk machen, damit man
vor Eurem Namen wieder zittert, eure Tödlichkeit."
Mephisto zog eine nicht vorhandene Augenbraue in die Höhe.
"Mir scheint, du warst schon ewig nicht mehr auf der Oberwelt. Man zittert
bereits vor meinem Namen. Ich verfüge über genügend wesentlich
fähigere Diener als dich, die dafür sorgen und gesorgt haben.
Dich schicke ich nur weg, um dich nicht hier zu haben." Ein trockenes Lachen
folgte.
Luzio fand das weniger komisch, verabschiedete sich aber ordnungsgemäß.
Als er den Raum verließ, murmelte er: "Jawohl, eure Ziegenbockigkeit."
"Das habe ich gehört!"
© Hyphistos
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|