Um nichts in der Welt hätte Itrani sein Dorf ohne weiteres
verlassen, wenn Ptaul ihm nicht so sehr gedrängt hätte aufzubrechen.
Die Zeit wäre schon sehr knapp und er müsse sofort mit seiner
Ausbildung beginnen.
Anfangs war er äußerst skeptisch. Es bedurfte seitens
der Wächterin einer enormen Überredungskunst, ihn zu überzeugen,
daß das alles, was sie ihm erzählte, der Wahrheit entsprach.
Es erschien ihm alles so unreal, besonders die Geschichte mit dem
Drachen. Doch dann gab Ptaul ihm das Buch der Drachen, in dem alles über
solche geschrieben stand. Es handeltete sich um ein anderes, als sie Kadis
geben würde. Auf dem Einband fand er ein Symbol, das einen fliegenden
Drachen darstellen sollte, und das Symbol würde später
für ihn sehr wichtig werden.
Jenes Buch enthielt Angaben über alle Drachen, Wächter,
über Elben, die der Drachensprache mächtig waren, über einfach
alles, was in einem direkten Zusammenhang mit den Drachen stand.
Itrani wußte wohl, daß die Wächterin gut mit allerart
seltsamer Magie umgehen konnte, und war wachsam.
Nach einer gewissen Zeit, in der sich der junge Elb über verschiedene
Dingen belesen hatte, sagte sie ihm schließlich, daß er eine
Reise zu einem anderen Wächter unternehmen mußte, ans andere
Ende des Dunkelwaldes, weit weg von seinem Heimatdorf , dort, wo die Berge
den Wald fast einschlossen. Er sollte Itrani seiner Fähigkeiten bewußt
machen, von denen er bis jetzt nichts geahnt hatte.
"Aber wieso soll ich meine Heimat so schnell verlassen? Ich weiß
ja nicht einmal wie lange meine Reise dauern wird, wann ich zurückkehren
werde! Mein Dorf wird sich Sorgen machen." Seine grünen Augen kreuzten
den Blick der alten Ptaul, deren Augen in ein tiefes Blau gehüllt
waren.
"Keine Sorge, sie werden rechtzeitig erfahren, wo Deine Reise hingeht",
erwiderte sie in einem ruhigen Tonfall.
Itrani überlegte.
"Außerdem habe ich keine weiteren Sachen mit. Die liegen -
"
"Glaube mir Itrani, alles was Du brauchst, trägst Du bei Dir.
Für andere Dinge wird zum entsprechenden Zeitpunkt gesorgt werden.
Ich kann Deine Sorgen verstehen, es ist kein leichter Abschied.
"Sie berührte seine Hand, als könne sie seinen Kummer dadurch
lindern. Fuhr aber mit einer ebenso entschlossenen Stimme fort:
"Es steht jedoch viel auf dem Spiel - das Leben der Drachen. Und
Du gehörst nun mal zu den Wenigen, die die Sprache der Drachen noch
verstehen und sprechen können.
Niemand wird Dich zwingen, wenn Du zurück in Dein Dorf möchtest,
dann kannst Du das tun. Allerdings wirst Du es nicht mehr schaffen, den
Drachen zu retten. Die Zeit ist sehr knapp bemessen, Du würdest es
gerade noch schaffen, brichst Du in den nächsten zwei Stunden auf."
Einfach würde es nicht werden. Aber das erwartete er auch nicht.
Nur die Ungewissheit machte ihm zu schaffen, was dann aus all den Anderen
wird, sein plötzliches Verschwinden, ... Kadis ...
Und was diesen Drachen anging, dem er sich später annehmen
sollte, nun, das war ihm nicht ganz geheuer.
'Drachen? Kadis' Urgroßvater erzählte gelegentlich etwas
über das Vergangene Volk, die wohl in einer Zeit lebten, in der die
Drachen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft lebten. Über dieses Volk
ist jedoch nicht allzuviel bekannt. Schade. Das hätte mir vielleicht
helfen können', überlegte Itrani.
Er bemerkte, daß ihm jemand fehlte, mit dem er über seine
Gedanken sprechen konnte. Kadis.
Für einen Moment übermannte ihn dieselbe Traurigkeit,
die Kadis für ihn empfand, als ihr bewußt wurde, daß sie
ihn so schnell nicht wiedersehen würde.
Er müßte seinen Auftrag umso schneller erfüllen,
damit er zurückkehren könnte. Ob das allerdings so schnell möglich
sein würde, das konnte er nicht einmal abschätzen. Wann hat man
es denn schon mit Drachen zu tun?
Die darauffolgenden Tage verbrachte er versunken in Grübeleien,
Zeit dafür hatte er mehr als genug. Und seine Reise würde wohl
noch einige Tage andauern, ehe er den Rand dieses Waldes erreichte.
Obwohl er von Zeit zu Zeit seinen Gedanken nachhing, so fiel ihm
doch auf, je weiter er sich von dem ihm bekannten Gebiet entfernte, desto
ruhiger wurde es. Seit einem gewissen Zeitraum sah er keine Tiere,
und den Gesang der Vögel hatte er bestimmt schon seit dem gestrigen
Tag nicht gehört. Der Wald wurde immer eigenartiger. Offenbar befand
er sich in einem Gebiet, in dem scheinbar keine ihm bekannten Wesen lebten.
Der schmale Weg verlor sich irgendwann im Dickicht und Itrani mußte
sich nun auf seinen Instinkt verlassen, um die Richtung beizubehalten.
Die Rilta-Bäume wichen ihm unbekannten Arten, welche nicht so
hoch waren und weit ausladende, dicht begrünte Kronen hatten. In ihrem
Geäst hingen rot-violette, langgezogene Früchte, die nicht gerade
den Eindruck erweckten, genießbar zu sein. Zudem ließen sie
weniger Licht durch den eher dunklen Laubbewuchs und tauchten den Wald
in einen Dämmerzustand. Und wäre Itrani kein Elb und würde
nicht über Infravision verfügen, dann hätte er des Nachts
nicht einmal die Hand vor Augen sehen können, das dichte Blätterdach
ließ nicht einmal das Licht der Monde und Sterne hindurch.
Nicht die Dunkelheit empfand er als beängstigend, als er sich
durch des Gebüsch schlug, sondern die Ungwißheit, daß
er nicht abschätzen konnte, was ihn in diesem Wald erwarten könnte.
Selten drang ein Elb soweit in das Gebiet jenseits der Ruinenstadt vor.
Zumindestens schätzte Itrani seine Position so ein.
Seine Sinne konzentrierten sich auf die Geräusche des
seltsamen Waldes, die ein befremdendes Gefühl in ihm wachriefen, das
er nicht einordnen konnte. Mitunter stoppte er seinen Lauf und versuchte
zu bestimmen, von woher manche dieser Geräusche kamen. Manchmal klapperte
es neben ihm, dann knarrte aus einer anderen Richtung anscheinend ein Baum,
ein Rascheln nicht weit vor ihm und so ging das die ganze Nacht über,
ohne, daß er auch nur das Geringste zu sehen bekam.
In diesen Nächten legte er die größten Entfernungen
zurück. Einige Male meinte Itrani, beobachtet zu werden und große
Schatten zu sehen. Gelegentlich verspürte er Wind. Inwieweit dieser
einem natürlichen Ursprung entstammte, vermochte er nicht festzustellen.
Eines Morgens sah er mit großer Erleichterung zwischen
den Bäumen, die ihm voraus lagen, kleine Lichteinfälle, die darauf
hindeuteten, daß der Wald sich dort höchstwahrscheinlich öffnen
würde. Zunmindest hoffte er dies.
Mit großen Schritten, die mehr und mehr in einen Lauf übergingen,
rannte er dem Licht entgegen, das er als vermeintliches Ziel annahm und
von dem er sich ein Ende erhoffte. Immer näher kam das Sonnenlicht.
Am Waldboden fanden sich immer mehr kleine Pflanzen, die sich dem durchscheinenden
Licht entgegenreckten. Je näher er an den Rand des Waldes kam, desto
grüner wurde es rings um ihn. Auch erschien ihm der Wald nicht mehr
so unheimlich.
Und dann hatte Itrani es geschafft. Eine warme Woge empfing ihn
und er schloß die Augen, um diese Sekunden zu genießen. Das
Zirpen der Grillen, der Duft des Grases. Es war einfach wunderbar. Nach
einiger Zeit öffnete er die Augen. Für einige Sekunden blendete
das Sonnenlicht. Dann ließ er erleichtert Tasche und Bogen
fallen und wollte sich in das Gras legen, das ihm bis zur Taille reichte,
als sich seine Augen endlich an das grelle Licht gewöhnt hatten,
und plötzlich ein großer Schatten über ihm stand. Entgeistert
sah er nach oben.
"Das kann nicht sein", flüsterte er kaum hörbar. Unfähig
sich von der Stelle zu bewegen, starrte Itrani gebannt nach oben und konnte
seinen Blick nicht abwenden.
Dort hielt sich mit mächtigen Flügelschlägen ein
Wesen aus längst vergangenen Zeiten, dessen Körper in ein gleißendes
Licht getaucht schien. Die Umgebung war erfüllt vom Rauschen der Luft
unter den großen, starken Schwingen.
Die Anstrengung der letzten Tage und nun auch noch die Begegnung
mit dem Wesen, welches er noch nie gesehen (und in frühstens einer
Woche erwartet) hatte, von einer enormen Größe, das war zuviel,
selbst für einen Elb.
Itrani merkte, daß sein Blickfeld zunehmend mit dunklen Flecken
übersät war.
Ein mächtig gurgelnder Laut riß ihn aus seinem traumlosen
Schlaf. Langsam richtete sich Itrani von seinem Schlafplatz auf. Er fühlte
sich so, wie er wahrscheinlich aussah. In den blonden Haaren hatte sich
allerlei Laub angesammelt, seine Hosen und auch der Umhang war von oben
bis unten mit eingetrocknetem Schlamm verschmutzt. In seinem Hemd entdeckte
er zahlreiche Risse und auch das Gesicht hatte hier und da kleine Kratzer.
Nur die Schuhe schienen die Reise heil überstanden zu haben. Ein kurzes
Lächeln überflog sein Gesicht. Sie waren Kadis' Geschenk zum
Blumenfest. Einige Erinnerungen kamen hervor, und dann ein äußerst
seltsamer Geruch. Woher der wohl kam? Itrani stand von der Liege auf und
lief im Zimmer umher, aber er war beständig da. Schließlich
roch er an seinem Hemd und rümpfte kurz die Nase. Es war wohl an der
Zeit, ein Bad zu nehmen.
Und sicherlich würde es in dieser Hütte auch eine Wanne
geben, oder vielleicht war in der Nähe auch ein kleiner Fluß.
Er beschloß, sich ein wenig in der Behausung umzusehen, in
die es ihn verschlagen hatte.
Alles war sauber, ordentlich. Der Raum, in dem er geschlafen hatte,
war hell und frische Luft strömte durch ein offenes Fenster. Itrani
beugte sich hinaus. Weit und breit war weder ein Wald noch ein Berg zu
sehen, stattdessen befand sich dort eine große Wiese.
'Irgend jemand wird doch hier sein, der mir sagen kann, wo ich bin.
Und was eigentlich passierte.'
Ungeduldig stieß er die Tür zum nächsten Zimmer
auf. Auch hier fand er alles sauber und ordentlich vor. Völlig anders
als bei der alten Ptaul, bei der alles seltsam roch und leuchtete.
In gewisser Weise war er verunsichert. Und dann dieser eigenartige
Laut, der Itrani aus dem Schlaf gerissen hatte.
'Eure Fragen werden alle beantwortet werden. Setzt Euch. Ich werde
sogleich bei Euch sein und alles erklären.'
Im ersten Moment konnte er nicht unterscheiden, ob ihm seine eigenen
Gedanken einen Streich spielten oder ob es Realität war. Verunsichert
tat er, wie ihm gehießen wurde.
Sein Ziel schien er also erreicht zu haben, wenn er auch nicht bewußt
war, wie er die letzten Schritte oder Meilen zurückgelegt hatte. Vielleicht
war es besser, nicht weiter darüber nachzudenken. Alleine seine letzte
Erinnerung, jagte ihm einen gewaltigen Schrecken ein.
Momentan spürte er in seinem Inneren ein Gefühl, welches
sich nicht in das 'normale' Denken und Fühlen einpassen ließ.
Es war ihm nicht unbekannt, und doch wußte er, daß er es noch
nie erlebt hatte. Vielleicht in gewisser Weise ein Deja vu.
In diesem Augenblick dröhnte von draußen ein mächtiger
Laut durch die Fenster. Diesmal vibrierte das ganze Haus mit. Itrani war
drauf und dran, sich auf den Boden zu werfen, weil er dachte, daß
nun das Gebäude zusammenstürzen würde. Nichts dergleichen
geschah. Stattdessen öffnete sich eine Minute später die Tür
und ein alter Mann kam herein. Seine Hosen, die Weste und der Umhang waren
in ebensolchem Blau, wie er es an dem Kleid von Ptaul sah. Aber zusätzlich
trug der Mann eine Kette aus einem dunklen Material, das weder aus Metall
noch aus Leder bestand. An ihr hing ein kleiner Anhänger, der genauso
aussah, wie das Symbol auf Ptauls Drachenbuch - ein fliegender Drache.
Entkräftet ließ er sich auf einen Stuhl neben Itrani
fallen.
"Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, daß
Ihr endlich gekommen seid", sprach er Itrani etwas atemlos an. Seine
Stimme tönte tief und warm. Nachdem er sich seiner Jacke und seiner
Kappe entledigt hatte, sah Itrani, daß er ein Vertreter des Elbenvolkes
war. In gewisser Weise erleichterte Itrani diese Tatsache ein wenig.
"Entschuldigt bitte, ich bin Newyl, der erste Wächter", wandte
er sich an seinen Besucher und zukünftigen Schüler.
"Ehrwürdiger Newyl, ich bin Itrani von Fenan, aus der Siedlung
Noil."
Sein Blick musterte den jungen Elb von oben bis unten. Dann nickte
er knapp und erhob sich.
"Ihr müßt wissen, wir Wächter sind nicht mehr die
Jüngsten. Wir haben gehofft einen jungen Elb zu bekommen, der noch
über viel Kraft und die gewissen Gaben verfügt. Mir scheint,
unser Wunsch ist in Erfüllung gegangen.
Leider haben wir nicht viel Zeit. Ich kann Euch nur die Grundlagen
beibringen. Alles andere müßt Ihr euch selber lehren." Dabei
wandte er sich der Küche zu und forderte Itrani durch eine Handbewegung
auf, ihm zu helfen.
In den Schränken standen allerlei schmackhafte Lebensmittel,
die Newyl allesamt aufzutafeln begann.
Beim Anblick der köstlichen Speisen lief ihm das Wasser im
Mund zusammen.
Nach einem ausgiebigen Bad und einem guten Essen kam er endlich
dazu, Newyl zu all den seltsamen Begebenheiten zu befragen.
"Wieso sehe ich hier nirgendwo Bäume und Berge? Ich kann
mich erinnern, daß Ptaul mir eine andere Beschreibung gegeben hat."
Newyl lachte kurz auf.
"Oh, verzeiht mir mein Freund, ich vergaß, Euch zu erklären.
Nun, da hier ein Wesen lebt, welches besser nicht entdeckt werden
sollte, legte der Rat einen Verbergungszauber auf dieses Gebiet. Das schützte
uns eine gewisse Zeit vor neugierigen Blicken.
Gewisse Leute fanden aber trotz alledem heraus, was hier vor sich
ging. Deshalb mußten wir so schnell wie möglich fliehen. Jedoch
wußte ich auch, daß Ihr euch auf den Weg hierher befandet.
Also schickte ich Magos aus, Euch zu suchen und letztendlich an diese Stelle
zu bringen."
"Wer ist Magos?" fragte Itrani leise. Er hatte eine Vorahnung, sprach
sie aber nicht offen aus.
"Nun, das ist Euer zukünftiger Schüler."
"Mein was - ? Ihr meint nicht dieses riesige, geflügelte Monster?"
Entgeistert starrte er Newyl an.
Abwehrend erhob der Wächter die Hände. Sein Gesicht nahm
einen sehr ernsten Ausdruck an und in seinen Augen blitzte es kurz auf.
Enttäuscht schüttelte er den Kopf.
"Nein, Ihr seht das falsch. Magos ist kein Monster. Er ist der letzte
seiner Art. Wenn er nicht überlebt, wird es nie wieder Kristalldrachen
in dieser Welt geben. Dann werden sie für immer ausgelöscht sein,
wie all die anderen vor ihm. Wollt Ihr das wirklich?"
Der junge Elb wußte nicht was er sagen sollte.
"Kommt, Ihr müßt ihn kennenlernen, dann werdet Ihr sicherlich
anders über ihn denken."
Mit gemischten Gefühlen folgte Itrani. Sie gingen hinter dem
Haus über eine wirklich riesige Wiese. Auf den ersten Blick schien
nichts ungewöhnlich. Doch Newyl steuerte in eine bestimmte Richtung.
Und so sah Itrani, daß es in der scheinbar ebenen Wiese eine Mulde
gab. Er hörte ein mächtiges Schnaufen und anschließend
ein Grunzen, so ähnlich wie vor ein paar Stunden im Haus. Es war ein
wirklich grosse Vertiefung und Itrani konnte sich nicht vorstellen, wie
er diese übersehen konnte. War es Magie?
Er wusste es nicht, doch das, was sich in der Mulde befand war noch
viel fantastischer. Seine Gefühle waren so vielfältig, dass es
ihm unmöglich war alle zuzuordnen. Der Wächter beobachtete schmunzelnd
das Geschehen und war gespannt, was als nächstes geschehen würde...
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