Der Winterdrache von Joe Estrada

Ganit hockte auf einem Schemel neben dem Ofen und schaute seiner Mutter gelangweilt zu, wie sie einen Korb Herzknollen putzte und in einen großen Topf mit Wasser legte. In der geräumigen Küche roch es mollig nach Rauch und Essen. Laida, seine siebenjährige Schwester, saß auf dem Boden unter dem Tisch und spielte mit ihren Puppen. Der Junge wirkte schläfrig, warm eingehüllt in den Geruch und die vertrauten Geräusche. Das Feuer im Herd knisterte und mochte draußen der Winter noch so bitter das Land heimsuchen – hier war eine Insel der Wärme.
Doch Ganit hatte heute keinen Sinn dafür. Wenngleich er den Anschein erweckte, halb eingenickt zu sein, waren seine Sinne scharf. Heute würde er erfahren, ob er reif und erwachsen genug war, der Schütze zu sein. Er wusste, dass drüben in der großen Ratshütte sein Vater mit den Dorfältesten beisammen saß. So wie er wusste, dass Vater für ihn sprach. Doch die Entscheidung lag einzig und allein bei den Weisen des Klans. Wie lange sie schon redeten! War das ein gutes Zeichen? Seine Mutter stellte den Topf auf den Herd. Nachdem sie sich die Finger an der Schürze abgewischt hatte, legte sie ihrem Sohn die Hand auf die Schulter und sprach:
"Sei nicht traurig, Ganit! Wenn es heuer nichts wird, dann bestimmt im nächsten Jahr!"
Ganit zeigte keine Reaktion. Im nächsten Jahr?
Wozu denn hatte er seit dem Frühsommer geübt? Niemand im Klan - nicht einmal der starke Manak, der sich rühmte, einen Fangzahn mit einem einzigen Pfeil zu erlegen - konnte es mit ihm aufnehmen. Dabei zählte Manak über vierzig Sommer, wie sein Vater Dagmon. Ganit hingegen war heuer erst sechzehn geworden. In dem Alter konnte einfach niemand aus dem Halbmondklan so gut mit Pfeil und Bogen umgehen. So war die Meinung der Ältesten, und Ganit war wütend und traurig zugleich ob dieser Sturheit. Wenn doch das Orakel von ihm redete. Nur er konnte gemeint sein. Denn eine Hexe aus dem Wald hatte eine Woche nach seiner Geburt prophezeit:
"Ein Kind ward geboren dem Halbmondklan, und ihm sei in die Wiege gelegt, dereinst den Winterdrachen zu erlegen!"
Wer konnte sonst gemeint sein? Von den zwei anderen Knaben, die ungefähr zur gleichen Zeit das Licht der Welt erblickten, war noch keiner imstande, den großen Stammesbogen zu spannen. Nur er, Ganit, vermochte dies. Und alle erwachsenen Krieger des Dorfes. Jedoch traf keiner von ihnen sein Ziel so oft wie er. Er schlug sie alle beim Schießen auf die Scheibe. Nur, die weisen Männer warfen ein, dass es ein Unterschied sei, auf eine Übungsscheibe zu schießen oder auf den Winterdrachen. Noch nie hatte einer je getroffen, ja. Aber was, wenn Ganit traf, aber der Schuss zu schwach ausfiel? Bislang, in all den Jahren, hatte der Drache seine Bahn hoch am nächtlichen Firmament gezogen. Immer in der Nacht der Wintersonnenwende. Vielleicht waren ihm die Pfeile nie aufgefallen. Nicht auszudenken, wenn Ganit traf, ihn aber nicht tödlich verletzte. Sich die Rache eines wütenden Drachen vorzustellen, dazu brauchte es nicht viel Phantasie.
"Ganit schießt daneben, Ganit schießt daneben!", sang Laida unter dem Tisch. Er hörte es nicht, wollte es nicht hören. Nein, er würde den Winterdrachen vom Himmel holen. Da knirschten schwere Schritte auf dem Schnee vor der Haustür.
Sein Vater kam - und nicht allein. War das ein gutes Zeichen? Ganit sprang auf und stand nun neben dem Tisch. Er hatte das Gefühl, sich an der schweren Tischplatte festhalten zu müssen. Die Haustüre ging auf und herein kamen sein Vater in Begleitung von Nume, dem Häuptling des Dorfes.
War das ein gutes Zeichen?
Ganits Hände zitterten. Sein langes, braunschwarzes Haar fiel ihm in die Stirn und er warf es mit einem jähen Rucken des Kopfes zurück auf die Schulter. Die graugrünen Augen im Gesicht des Knaben waren voller Erwartung und Bangen auf die zwei Männer gerichtet. Dagmon und Nume schüttelten sich den Schnee von den Stiefeln und hängten ihre schweren Umhänge neben der Tür an die Wand. Dann drehten sie sich um und -
Ganit sah das Lächeln in Vaters Augen!
Er wusste es, dieses Jahr würde er den Schuss abgeben. Einen einzigen, wie immer. Denn die alten Geschichten warnten davor, zweimal zu schießen. Ein einziger Pfeil, und der hatte zu sitzen.
"Vater, darf ich?", fragte Ganit aufgeregt. Sein Vater nickte, während er und Nume am Tisch Platz nahmen.
"Ja, mein Sohn, du darfst!", sprach Dagmon, "Wir reden gleich darüber. Sianda, hast du einen Schluck für mich und Nume?"
"Und auch für den Jungen!", ergänzte der große, immer finster blickende Nume. Doch jetzt lagen Wärme und Wohlwollen in seiner rauen Stimme. Ganits Mutter stellte lachend einen Krug und vier Becher auf den Tisch und setzte sich. Dabei sagte sie:
"Macht mir bloß keinen Säufer aus meinem Kleinen!"
Alle lachten, bis auf Ganit. Er mochte es nicht, wenn sie ihn meinen Kleinen nannte. Zum ersten Mal in seinem Leben erhielt er einen Becher vom Sonnenbeerenwein. Nicht sein erster Schluck war es, aber der erste, den er nicht heimlich und verstohlen tat.
"Du bist heuer an der Reihe, mein Junge!", sagte Nume und hob den Becher.

Dann kam der große Tag - Ganits Tag. Und auf einmal kam er ihm viel zu schnell. Plötzlich waren da Zweifel in seiner Brust. Ob er in der Kälte der Nacht Kraft genug aufbringen würde, den langen, alten Bogen zu spannen? Ob seine Hände ruhig genug waren, um einen sicheren Schuss von der Sehne zu lassen? Je näher dieser Tag, welchen er so heiß herbeisehnte, kam, desto nervöser wurde er. Nun war es soweit.
Am späten Nachmittag, als sich die blasse Sonne grade hinter den Regenbergen zur Ruhe begab, bestieg man die Pferde. Es waren alle erwachsenen Männer des Dorfes - und Ganit. Der Weg bis zum großen Hügel der Ahnen war nicht weit, aber man gedachte, lange vor Mitternacht dort anzukommen. So ritt man hintereinander durch den dichten Wald. Hie und da fiel der schwere Schnee von den Ästen auf sie herab. Manchmal vernahm man das Krächzen eines Vogels. Ansonsten lag das Land still und wie tot. Nur die Hufe der Reittiere klangen dumpf auf dem harten Firn, und das Sattelzeug knirschte. Niemand redete. Am Fuße des heiligen Hügels angekommen, entzündeten die Männer den großen Holzstapel, der seit Tagen schon aufgeschichtet lag. Sie saßen um das Feuer und trotzten so der klirrenden Kälte. Ganit blickte hoch und sah tausende von kalten Sternen. Noch war es nicht Zeit.
So verstrichen die Stunden und ein bleicher Mond hing im Süden knapp über dem Horizont.
"Mach dich bereit!", befahl Nume und reichte Ganit den Bogen. Und einen Pfeil. Der Junge wog die Waffe in seinen Händen und merkte, dass diese anfingen, zu zittern. Jeder musste es sehen, aber keiner sagte ein Wort. Sie geleiteten ihn hinauf zur flachen Bergkuppe, wo der uralte Ahnenstein aus dem tiefen Schnee ragte. Einen Kreis bildeten die Krieger, und in seinem Mittelpunkt waren der Stein und der Junge. Ganit befreite sich von seinem dicken Umhang und wog den Bogen in der Linken.
"Gleich kommt er!", rief einer der Umstehenden. Ganit blickte gen Himmel. Noch war nichts zu sehen. Er musste warten, und dann hatte alles schnell zu gehen. So schwer war der Bogen, dass er nicht mit gespannter Sehne lange verharren konnte. Nach wenigen Augenblicken würden ihm die Arme vor Kraftanstrengung zu zittern beginnen. Wenn der Drache am Sternenzelt erschien, dann musste er den Bogen spannen und schießen. Sehr wenig Zeit blieb dazu, denn der Winterdrache flog schnell. Ganit schluckte und fühlte seine Beine vor Anspannung steif werden. Er hob den linken Arm und legte einen Pfeil auf die Sehne. Ohne sie zu spannen. Der Schaft des langen Pfeils in den Fingern seiner Rechten, das massive Holz des Bogens in seiner Linken gaben ihm Kraft. Auf einmal war das Zittern vorbei. Genauso wie die Zweifel der letzten schlaflosen Nächte. Ganit stand mit leicht gespreizten Beinen und sein Blick war wie festgenagelt auf den östlichen Horizont gerichtet.
Dann kam der Drache.
Ganit sah ihn zum ersten Mal in seinem Leben. Denn nur Männern war es erlaubt, in dieser Nacht hier zu stehen. Und er war nun einer von ihnen. Wie schrecklich das Geschöpf war – und wie schön. So hoch flog es, dass man nichts unterscheiden konnte außer einem silbernen Flimmern und Blinken. Wie ein glitzernder Vogelschwarm, gemacht aus blankem Eis.
"Schieß doch, Junge!", hörte Ganit ein Flüstern hinter ihm.
Er spannte den Bogen. Spürte, wie ihm die Waffe Widerstand entgegensetzte. Er zog mit aller Kraft an der Sehne. Dort war der Drache, schon über den Zenit hinaus. Da war die Spitze des langen Pfeils.
"Schieß!", schrieen nun alle.
Ganit ließ den Pfeil nach oben schnellen. Es sauste wie eine Peitschenschnur. Einen Lidschlag lang sahen alle das Geschoss kleiner werden und ins Himmelsschwarz eintauchen.
"Du hast ihn verfehlt!", brüllte Nume voller Enttäuschung.
Aber da änderte der Winterdrache seine Bahn. So stark änderte er sie, dass alle wussten, er würde nie den fernen Horizont erreichen.
"Er fällt!", schrieen alle durcheinander.
"Los, lasst uns hinreiten!"
Sie hasteten den Abhang hinunter und warfen sich auf ihre Pferde. Das Geschöpf fiel und sie sahen, dass es hart neben dem See herabkommen würde. Dann sahen sie den Drachen in einer gewaltigen Wolke aus Schnee aufschlagen.
Nun waren sie heran und die Wolke fing an, sich zu legen.
"Wer war das?", brüllte es schrecklich und wie Donner aus der Wolke. Alle erstarrten sie in tödlichem Schrecken. Der Drache war nicht tot, nur verwundet. Gleich musste er sich auf sie stürzen, sie zerfleischen und mit seinem kalten Atem verbrennen. Doch keine entsetzlichen Klauen, keine ellenlangen Hauer tauchten aus dem Nebel auf.
Ein Mann stolperte hinaus in den Schnee. Ein Mann mit rotem Gewand. Ein alter Mann, denn sein Haar und der lange Bart waren weiß.
Gleich sahen sie noch etwas. Kein Drache. Denn hinter dem Manne erkannten sie die zerschellten Überreste eines großen Schlittens. Und daneben die Zugtiere. Es waren Hirsche, aber viel kleiner als die großen Moorhirsche. Einer hatte den Pfeil im Halse stecken. Die anderen aber lagen mit verrenkten Gliedern und gebrochenen Hälsen daneben.
Die Tiere waren alle tot. Nur der Mann lebte.
Und der war wütend. 
"Wer - war - das?", sprach der Rote leise, aber mit so einem kalten Unterton, dass niemand eine Antwort wagte. Ganit stand da, den Bogen noch immer in den Händen. Da fiel der Blick des Fremden darauf und er wusste - alles Leugnen hatte keinen Zweck.
"Ich war es!", sagte Ganit leise und musste heftig schlucken.
Was war das? Der Mann lachte. Es war kein gutes Lachen - aber immerhin ein Lachen.
"Ein Kind, mein Gott! In einer anderen Welt, gleich neben dieser, bringe ich den Kindern Geschenke. Und hier werde ich von einem abgeschossen. Hört mir zu. Ich bin keine Beute für euch, ebenso wenig wie meine Rentiere. Nun bin ich gestrandet in einer Welt, in die ich nicht gehöre. Wisst ihr, was dagegen in der anderen Welt passieren wird? Ihr wisst es nicht, drum sage ich es euch. Dort braucht man mich. Aber weil ich nicht mehr zu den Kindern kommen kann, werden es andere tun. Die falschen Vertreter meiner Zunft. Sie werden ihnen so viele, so schöne Geschenke bringen, dass die Kinder es nicht merken, dass sie geblendet werden. Das Fest der Liebe wird zu einer Farce verkommen, zu einem schamlosen Geschäft, zur Jagd nach Profit. Junge, das verdanken die Kinder einer ganzen Welt dir und den anderen. Frohe Weihnachten!"
 

© Joe Estrada
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