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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern zur
besten Fantasy-Story 2006 im Drachental gewählt!

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Der Drache Korbinianus von Peter Lässig

Die Geschichte um den Drachen Korbinianus hub an an einem nebligen, trüben Novembermorgen in einem Landstrich, der so abgelegen war, dass er von den Menschen aus der großen Stadt immer nur "Der Wald" genannt wurde.
Gar wunderliche und auch schaurige Dinge wusste man aus dieser Gegend zu berichten: In diesen vor Kälte und Dunkelheit starrenden Wäldern hausten Wildschweine und Wölfe, Einhörner und Drachen. Die Menschen, die dort unter diesen unwirtlichen Bedingungen zu leben hatten, waren furchteinflößende Barbaren, die ihren heidnischen Bräuchen frönten, sei es nun das Stemmen von großen, schweren Glasbehältnissen, die normalerweise mit Gerstensaft gefüllt waren, oder wilde, gotteslästerliche Tänze zu einer schaurigen Form von Musik, die kaum mehr war als ein tösendes Gekreische.  Jegliche Versuche einer Christianisierung und einer damit einhergehenden Zivilisierung dieses Volksstammes waren gescheitert, der letzte Geistliche, Pater Florian, war vor einiger Zeit unter mysteriösen Umständen verschwunden.
Die Menschen aus dem Wald sprachen nur wenig, und meist waren es nur einzelne Worte, ein häufig gebrauchtes klang in etwa nach "Weizpier" und auch die Redewendung "Mechst denn?" war häufig zu vernehmen.

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Winfried war guter Dinge: Nachdem die morgendlichen Stallarbeiten verrichtet waren, gestand ihm sein Vater einen freien Tag zu und diesen würde er auch zu nutzen wissen. Zwar hätte es seine Mutter lieber gesehen, dass er seine Freizeit "sinnvoll" - wie sie sich auszudrücken pflegte - nutzen würde, aber wie alle Kinder in seinem Alter waren Schule und Hausaufgaben keine Optionen für ihn. Stattdessen würde er sich sein Fahrrad schnappen und zum alten Kurt radeln, ein verschrobener, alter Mann, der beinahe ein Eremitendasein in seinem kleinen Häuschen tief im Walde führte. Früher lebte er in der großen Stadt, wo er am Hofe des Königs treue Dienste geleistet hatte, doch als er zum Arbeiten zu alt wurde, zog er in diese abgelegene Gegend.
Winfried liebte es, seine freie Zeit beim alten Kurt zu verbringen, hatte dieser doch stets irgendwelche spannenden Geschichten zu erzählen aus seiner Zeit bei Hofe und der großen Stadt. Am liebsten mochte es Winfried, wenn sich der alte Mann über seinen deutlich jüngeren Nachfolger ausließ, dessen Lässigkeit ihm ein ganz furchtbarer Dorn im Auge war. Doch auch aus einem anderen Grund hielt sich Winfried gerne beim Kurt auf: An manchen Tagen hatte Helga, die gute Seele des Hauses, Plätzchen und Kuchen gebacken; Leckereien, denen man einfach nicht widerstehen konnte.

Leider war der alte Kurt nicht zu Hause, als Winfried verschwitzt und außer Atem bei der kleinen Hütte ankam. Er warf einen Blick durch die sauber geputzte Scheibe und ihm lief das Wasser im Munde zusammen: Auf dem Tisch in der Stube stand ein Teller voll herrlichster Schleckereien, doch weder Kurt noch Helga ließen sich blicken.
Unschlüssig stand der Junge am Fenster und überlegte, ob er nach Hause radeln sollte, wo die Gefahr bestand, dass er seiner Mutter in die Arme lief, die bestimmt die eine oder andere Arbeit für ihn hatte. Er entschied sich, auf Kurts Rückkehr zu warten, schließlich würde dieser, dem gedeckten Tisch nach zu urteilen, wohl nicht allzu lange fortbleiben.
Er kletterte auf das Dach und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Vielleicht war der alte Kurt wieder unterwegs in die große Stadt. Wie gerne würde Winfried auch einmal dorthin. Den Geschichten nach zu urteilen musste es sich um eine Stätte voller Wunder und Gefahren, voller Pracht und Schönheit handeln. Er war noch nie aus dem Wald herausgekommen und so wie die Dinge lagen, würde das wohl auch nie der Fall sein. Auch wenn ihn seine Eltern damit vertrösteten, dass er noch oft genug in die große Stadt kommen würde, wäre er erst einmal alt genug.

Eine Bewegung und ein Rascheln im Unterholz rissen ihn aus seinen Gedanken. Ob es der alte Kurt war? Voll freudiger Erwartung auf leckere Plätzchen und einer neuen, spannenden Geschichte blickte er auf die Stelle, von der das Geräusch gekommen war.
Aber er wurde enttäuscht. Nicht der alte Kurt trat auf das Häuschen zu, sondern ein seltsam gekleideter Mann. Was für eine eigentümliche Erscheinung!
Vorsichtig kletterte Winfried vom Dach herunter und musterte den Fremden aufmerksam: Er mochte um die fünfundzwanzig sein und er hatte feuerrote Haare, die er wie eine Löwenmähne trug. Seine Schuhe schienen viermal so groß zu sein wie normal. Auffällig war aber die Krone, die er auf seinem Haupt trug. Das konnte doch nicht sein... Er wusste, dass in der großen Stadt ein König regieren würde, aber was sollte der König hier, hier mitten im Wald  und ganz alleine? Etwas stimmte da nicht.
Von seiner Neugierde übermannt, ging Winfried dem Fremden vorsichtig entgegen. Als der Mann ihn bemerkte, winkte er ihm fröhlich zu: "Hallo, mein Freund. Ich bin ein Reisender aus einem fernen Land jenseits der Meere und auf dem Weg nach Passavia, einer Stadt, die an drei Flüssen liegt. Die Menschen in Monacum schickten mich in diese Gegend. Bin ich auf dem rechten Wege?"
Winfrieds Herz schlug vor Aufregung schneller: Dieser Mann kam tatsächlich aus Monacum, der großen Stadt?
Mühsam brachte der Junge nur ein "Mechst denn?" heraus.
Der Fremde wiederholte seine Frage.
Winfried riss sich nun zusammen und antwortete in einer Sprache, die dem Fremden hoffentlich verständlich war: "Ja, Herr König, des passt scho'. Passavia liegt noch einen knappen Tagesmarsch entfernt. Doch nehmen's liaba d' Kutsch'n, die Fahrt vom Dorf jeden Tag einmal nach Passavia. Da Woid is g'fährlich."
"König? Oh, Du meinst wegen meiner Krone. Naja, ich bin kein solcher König. Du kannst mich 'Ronald' nennen. Wann und wo fährt denn diese Kutsche ab?"
Als sich herausstellte, dass der Fremde die Kutsche nicht mehr rechtzeitig erreichen würde und Winfried ihm empfahl, in dem Wirtshaus im Dorf zu übernachten, erwiderte der Fremde kopfschüttelnd: "Ich fürchte, ich werde es mir nicht leisten können zu übernachten. Ich habe nur noch sehr wenig Geld und bin auf Wanderschaft in der Hoffnung, in Passavia mein Glück zu machen."
Winfried bot ihm an, er könne es sich im Stall des elterlichen Hofes gemütlich machen, aber zuvor müsse er selbstverständlich seine Eltern um Erlaubnis fragen.

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Korbinianus erwachte grummelnd, als der Morgennebel seine kalt-feuchten Finger nach seinem tiefschwarz geschuppten Drachenleib ausstreckte. Missmutig richtete er sich auf und schüttelte sich seine lange, silberne Mähne, die fein wie Federwolken seinen Nacken bis hin zur Mitte seines Rückens floss. Wenn die Nächte doch nicht immer so kurz wären. Er trottete aus seiner Höhle zu dem nahegelegenen Tümpel, seinen Durst zu stillen. Während er das brackige Wasser soff, betrachtete er stolz sein Spiegelbild auf der ruhigen Wasseroberfläche. Er war ein prächtiger Drache, in der Blüte seiner Kraft, sein Körper war schlank und strahlte Kraft und Ausdauer aus. Doch über seinen eisblauen Augen lag eine bleierne Müdigkeit, die einfach nicht weichen wollte.
Dieser verdammte Mensch, der es gewagt hatte, seine Nachtruhe zu stören. Ein Reisender, der dumm genug war, in der Dunkelheit des Waldes den Weg zu verlieren und in seine Höhle zu stolpern. Er hatte ihn mit einem einfachen Hieb seiner Pranke von dieser in eine andere Welt befördert und ihn dann gefressen. Aber irgendwie lag ihm dieser Mann schwer im Magen und raubte ihm den Schlaf. Dennoch knurrte sein Magen vernehmlich - eigentlich müsste es doch sogar schon wieder Zeit sein...
Er hob sein stattliches Haupt und prüfte schnuppernd die Luft. Nichts. Das konnte nicht sein. Um diese Zeit kam sie doch sonst immer. Man würde es doch nicht wagen, ihn, den mächtigen Drachen Korbinianus, warten zu lassen. Wehe, wenn dieses Weib keine ausreichende Erklärung dafür hatte...
Er wartete noch einige Augenblicke und schleppte sich mit einem Knurren im Bauch, das nicht nur vom Hunger herrührte, sondern auch von langsam aufsteigendem Zorn, in seine Behausung zurück.
Gerade als er sich einen Vergeltungsplan zurechtlegte, einige Bauern sollten mit ihren Pferden und Kühen für diese Unverfrorenheit büßen, strich ihm der vertraute, so sehr geliebte Duft um seine Nüstern.
"Weshalb aber so spät, und weshalb nur in so schwacher Konzentration?" knurrte Korbinianus gereizt und schob seinen schuppigen Körper langsam aus der Höhle. Doch es war niemand mehr zu sehen und auch der Duft, der ihn gelockt hatte, verflüchtigte sich bereits wieder. Er lauschte und sein empfindliches Gehör nahm schließlich die entfernten Schritte eines Menschen wahr. Nur, es waren nicht die Schritte jener Person, die er so ungeduldig erwartet hatte - und dennoch, auch an jener unbekannten Gestalt, die durch den Wald huschte, hing zumindest eine Spur des Duftes, der sein Blut so sehr in Wallung brachte.
Korbinianus' Entschluss was schnell gefasst: Er verschmolz nahezu vollständig mit seiner Umgebung, als er die Verfolgung aufnahm. Abgesehen von der Aussicht auf Beute wollte er wissen, was das für ein seltsam gekleideter Mensch war, der da durch sein Reich streifte.
 

Als Winfried und Ronald durch die Hofeinfahrt des kleinen Bauernhofes traten, wurden sie bereits von Winfrieds Vater erwartet: "Wen bringst'n do mit?" Dann wandte er sich an den Fremden: "Servus. Was mechst denn?"
"Seid gegrüßt", erwiderte der Fremde. "Euer Sohn deutete an, dass ich hier wohl nächtigen könnte, um morgen bei Tagesanbruch die Kutsche nach Passavia nehmen zu können. Er meinte weiterhin, zu Fuß sei es zu gefährlich in jene Stadt zu gelangen. Aber ich möchte Euch keine Umstände machen, mir würde ein warmer, trockener Platz zum Schlafen reichen, vielleicht im Stall..."
"Bei d'Kiah?" fragte Winfrieds Vater langsam.
Der Wortschwall des Fremden hatte ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht, so viel sprach er sonst den ganzen Tag nicht und außerdem schätzte er es gar nicht, wenn man ihn mitten bei seinem Weißbier störte. "Des passt scho'. Kumm eini."
Er bat den Fremden in die Stube, sich dabei über die seltsame äußere Erscheinung des Fremden wundernd. Da er aber ein gastfreundlicher und höflicher Mensch war, fragte er nicht weiter nach. Das würde schon seine Frau übernehmen, die es verstand, an Informationen jeglicher Art heranzukommen.
"Des is mei Frau, d' Gisela", stellte er sie vor.
Er wurde nicht enttäuscht, denn als Winfried seinen Eltern die Situation erklärte, fing seine Mutter sofort an, ihren Gast auszufragen: "Sie san oiso aus der großen Stadt, aus Monacum?"
"Nicht ganz", erwiderte Ronald. "Wie ich schon Eurem Sohn gegenüber andeutete, komme ich eigentlich aus einem fernen Land einer neuen Welt, die von hier viele, viele Tagesreisen entfernt ist. Ich musste sogar das große Wasser überqueren. Ich war in jener Stadt, Monacum genannt, um mich am Königshof zu bewerben, aber auch, um Frieden in dieses Land zu bringen, dessen Ruf bis auf die andere Seite des Wassers gedrungen war. Aber leider hatte man keine Verwendung für mich."
"Na ja", lachte Winfrieds Vater, "nix für ungut, aber in dem G'wand da, dad i sie a net nemma, Sie schaugn ja aus wia Kasperl."
"G'wand?" fragte der Fremde.
"Ihre Kleidung", übersetzte Winfrieds Mutter lächelnd, "des hat man vielleicht in dieser neuen Welt an, aber bei uns im Woid lauf' ma anständig rum."
"Kein Problem, meine Dame, mein Herr. Ich bin diese Reaktion gewöhnt, Ihr beleidigt mich nicht. Es freut mich sogar, dass Ihr über mein Aussehen lacht, denn so soll es tatsächlich sein."
Winfrieds Eltern waren alle erstaunt: Der Fremde freute sich darüber, dass man über ihn lachte?
"Warum?" fragte Gisela.
"Ich bin eine Art Hofnarr", erklärte der Fremde. "In dieser Eigenschaft hatte ich mich am Hofe des Königs beworben: Hofnarr und Koch, aber auch Diplomat, das alles zusammen verkörpere ich. Meine Künste vereinen die Menschen auf der ganzen Welt."
"Nachdem ich jedoch ein paar Kunststücke vorgeführt hatte", fuhr Ronald nach einer kurzen Pause fort, "meinte der Hofkämmerer, ich solle doch woanders hingehen. Wo das Publikum nicht so anspruchsvoll sei und er nannte mir die Stadt namens Passavia. Ich soll mich dort an den Bischof wenden."
"Was?!? Spinnt der?!?" fuhr Gisela auf. "Der soll bloß..."
"Lass geh', Gisela. Des sag'n de auf Passavia eam dann scho", sagte ihr Mann gelassen und wandte sich dann an Ronald: "Jetzt trink ma erstamoi a Weißbier. Magst was essen?"
"Wir haben allerdings nicht viel zur Auswahl, aber es langt für uns alle", warf Gisela ein.
"Danke für das Angebot. Aber nur etwas zum Trinken würde reichen, Speise habe ich selber genügend dabei. Der Koch des Königs persönlich war so gnädig, dass er mir meinen Wanderbeutel reichlich füllte mit Käse und Fleisch und einer Vielzahl anderer, erlesener Leckereien. Ich würde das alles gerne mit Euch teilen."
Als er seinen Rucksack leerte und ein Päckchen in der Hand hielt, das in einer Art Papier eingewickelt war, das den Bauernleuten völlig unbekannt war, meinte Ronald: "Ich muss jedoch zugeben, bei diesem hier", er legte das Päckchen auf den Tisch, "weiß ich nicht, um welche Art Fleisch es sich handelt. Man sagte mir, dass es sich um eine besondere Spezialität von Monacum handeln würde, zudem des Königs Leibgericht. Vinzenz, so ist übrigens der Name dieses Kochs, sagte jedoch auch, dass es sich nicht sehr lange halten würde, wie zum Beispiel geräucherte Würste."
In der Stube sprach niemand ein Wort und Ronald fuhr fort: "Vinzenz meinte jedoch auch, und das ist das, was für mich sehr rätselhaft ist, ich dürfte diese Spezialität unter keinen Umständen im Freien verkosten, angeblich würde sie dabei besonders verderblich sein..."

Die Stille in der Stube war nahezu greifbar und Ronald verstummte, peinlich betreten. Ob er was Falsches gesagt hatte, die Leute auf irgendeine Weise beleidigt? Auch Winfried entging der besorgte Blick seines Vaters keineswegs, als Ronald von dieser Spezialität sprach.
Schließlich brach Winfrieds Vater das Schweigen: "Zeig amoi."
"Gerne", erwiderte Ronald und entfernte das Papier. "Ich wollte es ohnehin mit Euch teilen."
Auf dem Tisch lag nun ein kastenförmiges Stück Fleisch, oben dunkler als auf der Seite. Gisela stieß einen erstickten Schrei aus und Vater und Sohn bekreuzigten sich rasch. "Gott steh uns bei",  murmelte Winfrieds Vater.
Dann rief er: "Schnell, macht's Tür auf!" Er packte die Fleischspezialität und warf sie in hohem Bogen aus dem Haus.
"Macht's Licht aus und Deckung, damit er uns nicht sieht!" schrie er. Er packte den verdutzten Ronald und stieß ihn unsanft unter die Bank.
"Aber was...", stammelte der Hofnarr.
"Still!" zischte Gisela. "Sonst hört er uns und es ist aus mit uns."

Noch bevor Ronald etwas sagen konnte, erschütterte ein schauriges Brüllen die Luft und schwere, schlurfende Schritte näherten sich dem Bauernhaus. Irgendetwas war da draußen und es musste riesenhaft sein. Ein triumphierendes Grollen war zu hören, gefolgt von einem geräuschvollen Schmatzen.
Das Holz der Türe splitterte unter lautem Getöse, als etwas großes, schwarz Geschupptes in den Raum zuckte. Ronald meinte gerade noch einen zuckenden, pfeilförmigen Schwanz erkannt zu haben, mit dem das mächtige Wesen die Tür eingeschlagen hatte. Doch noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, dröhnte auch schon eine tiefe, furchteinflößende Stimme: "Lasst Euch das eine Lehre sein, das nächste Mal werde ich nicht so gnädig sein. Und sagt dem Weib, dass es nicht noch einmal wagen soll, einen Fremden zu schicken, der nicht weiß, was er da tut!"
"Mir vorzuenthalten, was meines ist, so wie es seit jeher Tradition ist..." Die Stimme verklang in der Ferne, als sich das gewaltige Tier langsam vom Haus entfernte.

"Was war das", fragte Ronald nach einer Weile. Sein Gesicht hatte die Farbe von Haferschleim angenommen.
"Sog's Du eam, Gisela", sprach Winfrieds Vater und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier.
"Das war der Grund, weshalb man dieses Fleisch nicht im Freien essen darf", sagte Gisela leise. "Das war der Drache Korbinianus."
"Aber... Aber Drachen gibt es doch gar nicht mehr", sagte Ronald sichtlich verwirrt. Er wusste nicht, was er da eben mit eigenen Augen gesehen hatte.
"Vielleicht net in da neuen Welt bei Euch drüb'n", brummte Windfrieds Vater, als er aufstand und aus einem Schrank drei kleine Gläser und eine große Flasche mit einer klaren, durchsichtigen Flüssigkeit herausholte. "Auf den Schreck hin brauch i jetzt wos g'scheit's."
Er füllte die Gläser und setzte sich zu dem immer noch ungläubig dreinschauenden Ronald.

"Dieser Drache lebte schon immer bei uns im Woid, aber er war bisher nie eine Bedrohung für uns. Erst seit ungefähr drei Jahren terrorisiert er uns", erzählte Gisela.
"Warum, darüber können wir nur spekulieren. Vielleicht, weil ihm ein noch viel schrecklicheres Untier sein Revier streitig macht: Der Wolpertinger. Der Drache hat wohl daraufhin das Gebiet weiter erkundet, er wurde sogar in der Nähe der großen Stadt gesichtet. Dort muss er wohl zugegen gewesen sein, als man bei Hofe jene Spezialität frisch aus dem Rohr herausgeholt hatte. Man berichtete von einem gewaltigen, schwarzen Monstrum, das das Fleisch an sich gerissen und noch an Ort und Stelle verschlungen hatte. Kurz darauf verschwand einer der Hofköche spurlos. Wahrscheinlich ist er vom Drachen entführt worden." 
Während Gisela erzählte, kramte Winfrieds Vater in seinem Beutel und zog etwas Tabak und eine Pfeife heraus. Er stopfte sie und bot Ronald, der schweigend zugehört hatte, noch einen Schnaps an.
"Jedenfalls, der Drache, der seit Menschengedenken Korbinianus genannt wird, wollte sich nun in der großen Stadt, eben Monacum, niederlassen, aber den Soldaten des Königs ist es unter großen Verlusten gelungen, ihn aus den Stadtmauern zu jagen. Daraufhin kehrte er leider wieder in diese Gegend zurück. Seitdem ist es lebensgefährlich, diese Fleischspezialität auch nur beim Namen zu nennen, geschweige denn, etwas davon bei sich zu haben. Seine hochempfindlichen Sinne sind vollständig auf diese Art von Nahrung eingestellt. Unser Nachbar hatte einmal versucht, diesen Fleischlaib selber zu backen; er dachte wohl, der Drache würde es nicht bemerken."
"Verzeiht", unterbrach sie Ronald an dieser Stelle, "von welchem Nachbarn sprecht Ihr? Auf dem Weg hierher ist mir keine andere Behausung aufgefallen."
"Jetzt eh nimma", brummte Winfrieds Vater mürrisch.
"Natürlich bemerkte der Drache diesen Verrat und tauchte auch prompt bei unserem Nachbarn auf. Doch dieser machte den Fehler und weigerte sich, den Laib dem Untier zu geben. Der Drache Korbinianus hat ihn sich dann ohne weitere Umstände selber geholt. Es blieb kein Stein auf dem anderen", klärte ihn Gisela auf.
"Aber was unternimmt denn Euer König gegen dieses Untier? Oder dieser Bischof in Passavia? Gewiss leiden die Menschen dort unter dieser Geißel genauso?"
Gisela schüttelte den Kopf: "Unser König? Pah! König Edmund ist unfähig und von der Kirche kann man ohnehin keine Hilfe erwarten. Nein, wir einfachen Leute müssen uns selber helfen."
"Ja, aber was macht Ihr? Offensichtlich habt Ihr ihn noch nicht besiegen können."
"Wir haben alles versucht, so manche Ritter aus der Gegend, die ein Herz für uns einfache Leute haben, sind ausgezogen, ohne Erfolg. Man versuchte, Feuerwände gegen ihn zu errichten, die ihn bannen sollten. Es hat nichts geholfen, den Ritter Dirk den Dicklichen fand man tags darauf in seine Einzelteile zerlegt vor der Drachenhöhle. Ritter Peter von Purzeln rückte mit gewaltigen Netzen an, auf dass sich der Drache Korbinianus darin verstrickte - er ward nie mehr gesehen. Der reiche Junker Willibald der Bärtige war besonders kühn: Er lockte den Drachen mit französischem Essen aus seiner Höhle. Doch der Drache Korbinianus kostete nur ein wenig davon und kam zu dem Entschluss, dass ihm das bei weitem nicht ausreichte und so verschlang er den armen Willibald gleich mit Haut und Haaren. In unserer Not wandten wir uns auch an einen Söldner aus dem Norden, doch der Freiherr von Beck mit seinen Truppen wurde ebenfalls vernichtend geschlagen. Nicht einmal das edle Burgfräulein Marion, das freiwillig in seine Höhle ging, um ihn bei einem Spiel mit neun Hölzern und einer Kugel zu ermüden, konnte den Zorn des Untiers dämpfen."
"Das ist ja entsetzlich!" entfuhr es dem Hofnarr, der nun sehr blass im Gesicht war. "Es muss doch ein Mittel gegen diese Bedrohung geben."
"Das gibt es in der Tat", bestätigte Gisela. "Der Drache Korbinianus selbst unterbreitete uns ein Friedensangebot: Jeden Tag muss die Hofköchin Anna aus der großen Stadt dem Drachen pünktlich um halb zehn einen Ochsenkarren voll dieser Fleischspezialität liefern und ihn damit füttern. Was er nicht zu fressen schafft, hortet er in seiner Höhle. Erfüllen wir nicht diese Bedingung, dann müssen wir es büßen mit Gut und Blut, denn der Drache Korbinianus vergisst nicht. Nur, auf Dauer können wir uns das nicht mehr leisten, obwohl der König ein ganz klein wenig aus seiner königlichen Schatzkammer beisteuert, denn der Drache ist mittags und abends erneut hungrig und verlangt nach seiner Leibspeise. Wir wissen einfach nicht mehr weiter. Und nun will der König auch noch diese paar Taler täglich einsparen und seine Beihilfe weiter kürzen."
Bei diesen Worten traten ein paar Tränen in Giselas Antlitz.
"Es is scho spät", warf Winfrieds Vater ein, als er seinen Sohn gähnen sah. "Gemma schlafen und morgen bring i di selber zum Bischof nach Passavia mit dem Fuhrwerk."

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Korbinianus leckte sich zufrieden seine Lefzen. Zwar war es bei weitem nicht seine übliche Ration gewesen, aber es war besser als gar nichts an diesem Tag. Ob ihn diese elenden Menschen hinters Licht führen wollten? Vor allem, wo war das Menschenweib, das sonst immer sein tägliches Futter brachte? Und wer war dieser Mensch, der offensichtlich nicht aus dieser Gegend war und aussah wie ein Narr? Er hielt inne; eigentlich interessierte es ihn gar nicht, um wen es sich handelte, sondern woher dieser Mann diesen Fleischlaib hatte. Bestimmt gab es dort noch weitaus mehr davon. Vielleicht sollte er ihn vorerst am Leben lassen und eine Weile beobachten.
Sinnierend machte er sich auf den Weg zu seiner Höhle. Auf alle Fälle hatte es nicht geschadet, diesen Bauersleuten einen kleinen Schrecken einzujagen. Er lächelte grimmig, als er daran dachte, dass er eigentlich nur müde mit seinem kräftigen Schuppenschwanz zu zucken brauchte und schon hatte er freien Zugang zu der Behausung der Menschen. Die Zweibeiner hatten also immer noch keine effiziente Methode entwickelt, sich vor Drachen zu schützen.
Ein leichtes Grollen tief in seinem Inneren erinnerte Korbinianus daran, dass er eigentlich immer noch Hunger hatte. Das bisschen Fleisch war ja gerade mal ein Appetithappen gewesen. Außerdem hatten sich die Menschen nicht an die Abmachung gehalten, ein kleines Exempel zu statuieren tat folglich Not, eine eingeschlagene Tür war bei weitem nicht genug.
Als er auf eine große Lichtung heraustrat, breitete er seine gewaltigen, ledernen Schwingen aus und stieß sich kraftvoll ab. Er stieg steil in den Himmel empor und kreiste ähnlich einem Raubvogel auf der Suche nach Beute. Es dauerte nicht lange und seine scharfen Augen machten eine etwas abseits gelegene Weide aus, auf der genüsslich einige Haflinger grasten und auch einige Kühe waren zu sehen. Korbinianus stieg ein wenig höher und er erblickte den dazugehörigen Bauernhof. Nun, er war ein wenig weiter entfernt von dem anderen Hof, aber dennoch nahe genug, so dass seine Bestrafungsaktion sich bald in der Gegend herumsprechen würde.
Der appetitliche Duft seines Abendessens in Spe lag in der Luft. Er konnte sich nur nicht entscheiden, ob Rind oder Pferd, beides duftete verführerisch.
"Na schön, heute frischer Kuhbraten“, traf Korbinianus schließlich die Wahl, sich voller Vorfreude die Lippen leckend. "Dennoch, das andere wäre mir lieber gewesen." Er seufzte und ging in einen Sturzflug über, er hatte eine Kuh ausgewählt, die träge herumlag und sein Kommen nicht einmal bemerkte.
Erst als sich seine todbringenden Krallen tief in ihren Rücken gruben und er sie vom Boden riss, muhte sie erschrocken auf. Er schleuderte sie kraftvoll über den Weidezaun und sie blieb mit gebrochenem Rückgrat liegen. Er würde sich gleich an seiner Beute gütlich tun, doch Korbinianus hatte noch eine Mission zu erfüllen.
Die Tiere rannten in Panik auf der Weide herum, doch für sie gab es kein Entkommen. Ihre angstvollen Schreie erstarben jäh, als ein gewaltiger Feuersturm über sie hinwegtobte. Der schwarze Drache tobte über ihnen wie ein Racheengel des jüngsten Gerichts, eine Feuersalve nach der anderen abgebend. Wenn die Bauern ihr Vieh später in die Ställe zurücktreiben wollten, sollten sie nur noch Staub und Asche vorfinden.
Nach getaner Arbeit las Korbinianus seine geschlagene Beute auf und flog mit seinem Abendessen zurück in seine Höhle.

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Unruhig wälzte sich Ronald in seinem Bett umher. Man hatte ihm ein kleines Gästezimmer für die Nacht hergerichtet, doch obwohl das Federbett flauschig weich und warm war und die Matratze für ihn geradezu ideal, er konnte einfach keinen Schlaf finden. Die Not der Menschen beschäftigte ihn. Diese ganze Geschichte erinnerte ihn an seine alte, schottische Heimat, aus der seine Vorfahren stammten. Auch dort hatte es ein Untier gegeben, das Angst und Schrecken verbreitete. Als er noch ein kleines Kind war, hatte ihm sein Großvater immer wieder jene alten Legenden und Mythen vorgetragen, die diesem Drachen gewidmet waren.
Irgendwie hatten es die Menschen damals fertig gebracht, den Zorn dieses Ungeheuers auf ziemlich unkonventionelle Art und Weise zu zügeln. Wenn er sich nur daran erinnern konnte. Freilich gab es die zahlreichen Legenden von Heiligen, die nur durch das Schlagen eines Kreuzes mit Weihwasser so manchen Drachen bezwungen hatten, sicherlich waren da die bekannten Drachentöter Beowulf und Georg und wie sie alle hießen, doch keiner dieser Herren hatte diese Ausgeburt der Hölle bezwingen können.
Von Müdigkeit übermannt, glitt Ronald schließlich in einen unruhigen Halbschlaf, in dem sich Traum und Wirklichkeit miteinander vermengten.
Als er jedoch am nächsten Morgen am Frühstückstisch Gisela einen Laib Brot aufschneiden sah, durchzuckte ihn ein Gedanke.
"Wenn es Euch nichts ausmacht, fahrt mich bitte nachher nicht nach Passavia sondern zurück zum Hofe nach Monacum."
"Mechst denn?" fragte Winfrieds Vater überrascht.
"Ich glaube, ich habe da eine Idee, das könnte funktionieren."
"Darf ich mit? Bitte, Pappi!" quäckte Winfried dazwischen.
"Euer Sohn kann gerne mitkommen, auf diese Weise kommt er auch mal nach Monacum. Er hat mir gestern schon erzählt, dass es sein Herzenswunsch wäre, einmal..."
"Nix da!" beendete Gisela die Diskussion. "Der Bub bleibt da, es gibt genug Arbeit am Hof, die heute erledigt werden muss. Ich selber hab keine Zeit, ich muss zu einer Versammlung ins Dorf."
"Was wuist'n do?" fragte Winfrieds Vater überrascht.
"Gestern ist der Hof vom Nürnberlinger Sepp angegriffen worden. Wahrscheinlich vom Drachen. Jedenfalls treffen wir uns alle hernach im Schlafenden Peter zu einer kurzen Besprechung. Du fahrst ja unseren Gast in die Stadt, hast Du gesagt."
"Schlafender Peter?" fragte Ronald erstaunt.
"So heißt das Wirtshaus im Dorf", erklärte Gisela.
Gleich nach dem Frühstück brachen Winfrieds Vater und Ronald auf, Winfried blickte frustriert hinterher. Wieder einmal blieb für ihn die große Stadt in unerreichbarer Ferne. Er tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, später vielleicht noch einmal zum alten Kurt zu fahren, wer weiß, vielleicht war ja auch die Helga da und hatte was gebacken.

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"Ihr seid wahrlich ein Narr, wenn Ihr glaubt, das würde funktionieren", sagte der König zu Ronald. "In der Tat, Ihr habt ein Talent zum Hofnarren, Ihr bringt mich zum Lachen, doch Verwendung habe ich..."
"Bitte, Majestät, hört mich noch einmal an", bat Ronald. Er durfte jetzt nicht locker lassen. Er hatte es tatsächlich geschafft, eine Audienz beim König zu bekommen, diese Chance durfte er sich einfach nicht entgehen lassen. "Ich versichere es Euch, Eure Majestät. Zwar wird Hofköchin Anna weiterhin täglich um halb zehn dem Drachen seinen Tribut bringen müssen, aber nicht mehr in dieser Menge wie bisher, da Ihr ihm ja auch zu Mittag etwas reichen werdet. Diese billig herzustellende Mahlzeit wird Eure königlichen Schatzkammern deutlich weniger belasten als die täglichen Wagenladungen dieser Spezialität."
"Mag ja sein, dass diese Speise durchaus billig ist in ihrer Herstellung", räumte König Edmund ein, "es ist ja nichts weiter als ein Brot mit viel Luft, dazu etwas Fleisch, Grünzeug und Käse."
"Eben, bedenkt, was Ihr dabei einsparen werdet, Eure Majestät!" rief Ronald freudestrahlend.
"Einsparen klingt gut", sagte der König leise zu sich. "Dennoch", fuhr er mit einem raschen Seitenblick auf seinen Sekretär, der sich bei dem Wort 'Einsparen' bereits die Hände gerieben hatte, fort, "den Vierundzwanzig-Stunden-Tag für meine Diener, den ich vor gut einem Jahr höchstpersönlich erfunden habe, werde ich deswegen nach wie vor nicht wieder abschaffen."
"Aber nun zurück an Euch, Hofnarr", wandte er sich erneut Ronald zu. "Denkt Ihr wirklich, dass dies eine Mahlzeit ist, die einem Drachen geziemt? Das ist doch viel zu weich und kaum mehr als eine Zahnfüllung, auch wenn die Kreation, die Ihr mir zubereitet habt, hervorragend mundet."
"Doch, sicher, Eure Majestät. Das Grünzeug und auch die vielen Zwiebel blähen und das luftige Weizenmehlbrot verklumpt, wodurch der Drache sich gesättigt fühlt. Aber Ihr müsst unter allen Umständen darauf achten, dass auf keinen Fall jenes kugelrunde, rote Gemüse in frischer Form darauf geschnitten wird."
"Weshalb?" fragte der König und blickte Ronald mit zusammengekniffenen Augen an. Entweder war dieser Mann ein absolutes Genie oder tatsächlich ein Narr.
"Legenden aus meiner Heimat berichten davon, dass Drachen nach dem Genuss dieses Gemüses noch viel unberechenbarer und damit gefährlicher werden. Man darf da kein Risiko eingehen", entgegnete Ronald.
"Nun denn, so sei es." König Edmund lächelte. "Am besten gefällt mir natürlich der Gedanke des Sparens. Aber wenn es auch meinem Volke zu Gute kommt, dann denke ich, bestehen gar keine Zweifel mehr, es zu versuchen. Gelingt Euer Vorhaben, Hofnarr, so werde ich Euch einstellen als königlicher Hofnarr und auch als königlichen Lieferanten dieser Nahrung für meine Bediensteten. Denn was für Drachen in meinem Reiche recht ist, ist auch für meinen Hofstaat billig."

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Der Drache Korbinianus war erzürnt. Zwar war Anna diesen Morgen tatsächlich wieder erschienen, doch anstatt der gewohnten Wagenfuhre seiner Leibspeise, war es gerade einmal die Hälfte davon. Als er sie wütend zur Rede stellen wollte, war sie kreischend davon gerannt. Er warf einen verächtlichen Blick auf die beiden ausgemergelten Ochsen, die den Karren gezogen hatten. Nein, so tief würde er nicht sinken, dass er sich an ihnen gütlich tat, sie waren nur Haut und Knochen. Diese Anna war für ihren Geiz weithin bekannt und so war es kein Wunder, dass sie ihre Zugtiere nicht ordentlich fütterte. Wahrscheinlich, dachte sich Korbinianus grimmig, würde sie die beiden Tiere, nachdem sie verendet waren, noch zu einem Wucherpreis als Futter verkaufen wollen.
Nahezu beiläufig beendete er mit einem lässigen Prankenschlag die armselige Existenz dieser beiden Kreaturen und äscherte die Kadaver mit seinem Feueratem vollständig ein.
Diese verdammten Menschen. Erst wollten sie ihm seine Leibspeise vollständig vorenthalten, heute kam nur die Hälfte der vereinbarten Ration, was würde morgen sein? Nein, er musste etwas unternehmen. Diesmal würde seinem Zorn jedoch mehr zum Opfer fallen als ein paar Pferde und Kühe.
Er gähnte herzhaft und bettete grollend sein Haupt auf seine Vordertatzen: Jetzt würde er erst einmal schlafen und Kräfte sammeln für den geplanten Rachefeldzug.

Gegen Mittag drang ein verführerischer Duft an seine empfindlichen Nüstern. Korbinianus öffnete seine Augen und schnupperte in die Luft. Es war definitiv nicht der Geruch seiner so sehr geliebten Fleischspezialität und doch, dieser Duft war äußerst appetitanregend. Der Drache leckte sich seine Lefzen und kroch aus seiner Höhle. Ob man ihm erneut eine Falle gestellt hatte? Vorsichtig blickte er sich um, doch es war keine Menschenseele zu sehen. Allerdings vor ihm auf dem Waldboden, angerichtet auf einem großen, hölzernen Tablett, lag etwas, ein seltsam geformtes Päckchen. Es war in ein spezielles Papier gewickelt, das der Drache noch nie zuvor gesehen hatte in dieser Art. Darauf waren Schriftzeichen zu erkennen, die Korbinianus jedoch nicht zu deuten vermochte. "Big..." konnte er gerade noch entziffern. Ob es sich hierbei um einen Zauberspruch handelte, der ihn bannen oder gar töten sollte? Misstrauisch schnupperte er daran. Da lag noch ein zweites, ein wenig kleiner als das erste. Der Duft, der von diesen beiden Päckchen ausging, war einfach zu verführerisch.
"Wer nicht wagt, der nicht gewinnt", dachte sich Korbinianus. "Ich kenne sämtliche Heilzauber, die mich beschützen. Und sind nicht bisher alle kläglichen Versuche der Menschen, mich zu überlisten, gescheitert?"
Vorsichtig öffnete er mit seinen scharfen Krallen diese unerwartete Gabe und betrachtete das, was nun entblößt vor ihm lag: Es sah aus wie Brot und darin war eindeutig eine Art Fleisch zu erkennen. Doch da war noch mehr...
Nachdem er noch einmal daran geschnüffelt hatte, verschlang er gierig diese beiden Brote und leckte sich zufrieden schmatzend seine besudelte Schnauzenspitze sauber.
Es dauerte nicht lange und die Brote taten ihre Wirkung: Kaum war Korbinianus in seine Höhle zurückgekehrt, fühlte sich der Drache mit einem Mal sehr satt und müde.
Zufrieden legte er sich hin, rollte sich zusammen und schlief friedlich bis zum späten Abend.

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Fortan wurden dem Drachen Korbinianus Tag für Tag gegen halb zehn etwas von jenem Fleischlaib vorgesetzt und einige Stunden später jenes weiche, gefüllte Brot, eingehüllt in dem Papier, das dem Drachen eine Art Frischegarantie war.
Die Menschen im Wald hatten nun nichts mehr von dem Drachen Korbinianus zu befürchten, sie konnten sogar wieder jene Fleischspezialität aus der großen Stadt in Ruhe genießen.
Da der Drache nun friedlich war, ließen ihn die Bewohner dieser Gegend unbehelligt in seiner Höhle leben. Man sorgte jedoch dafür, dass für alle Fälle immer genügend Futterstellen für den Drachen Korbinianus vorhanden waren.
So entstanden innerhalb der Stadtmauern Monacums, aber auch außerhalb der großen Stadt bis hin zu Passavia zahlreiche Stätten dieser Art. Damit sie von dem Drachen Korbinianus auch als solche ohne Schwierigkeiten erkannt werden konnten, überlegte man sich eine besondere Kennzeichnung. Zu Ehren des klugen Hofnarren, aber auch eingedenk der Tatsache, dass der weise König Edmund auf diese Weise seine Schatzkammerbestände besser wahren, ja aufgrund der damit verbundenen Steuereinnahmen gar mehren konnte, wurde ein Teil dieser Futterplätze mit dem ersten Buchstaben des Nachnamens des Erfinders des Drachenfutters und der andere Teil mit einer großen rot-gelben Krone gekennzeichnet.

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Ihr zweifelt an meinen Worten? Dann macht Euch auf in das heutige Monacum, dort werdet Ihr jene Futterstellen ohne Zweifel erkennen. Sucht einfach die Häuser mit jener rot-gelben Krone oder jenem goldenen M als ihr Zeichen, tretet ein und speist, wie es sich für einen Drachen geziemt. Und wenn Ihr großes Glück habt, so begegnet Ihr vielleicht sogar des Königs eigenen Koch, den Vinzenz, der Euch gegen ein geringes Entgelt von seiner berühmten Fleischspezialität, die sogar bei Drachen äußerst begehrt ist, kosten lässt.
 

© Peter Lässig
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