Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 1. Buch
Der Zerfall des Reiches 3 - Der gläserne Spiegel

Auch der Mundschenk versuchte verbissen zu lächeln, doch die innere Unruhe und Wut verzerrte seine Züge zu einer Grimasse. Er konnte es nicht fassen, jemand hatte es geschafft, seinen Geist zu übertreffen und seine Fallen zu umgehen, so einen Geist hatte er noch nie zu spüren bekommen.
Plötzlich drehte sich der Schwarze kurz vor der Tür noch einmal um und sah dem Wirt direkt ins Gesicht, wobei seine Hand unmerklich in den Taschen kramte. "Danke für Eure Großzügigkeit mir gegenüber. Schade, dass sich unser Gespräch so schnell in einen Wettkampf verwandelt hat. Nun, Ihr werdet Eure Gründe haben, aber bevor Ihr handelt, solltet Ihr erst herausfinden, mit wem Ihr es zu tun habt. Meinen Namen? Nein, das meinte ich nicht." Er hatte eine kleinen Goldmünze aus seiner Manteltasche gekramt und spielte damit. Auf einmal machte er ein paar große Schritte nach vorn, auf den Wirt und die Theke zu.
Entgeistert wich dieser zurück, hob die Hände schützend in die Höhe, während die Zuschauer des Schauspiels staunten und in ihrem Tun inne hielten, den schnellen Mann beäugten.
Dieser stand jetzt direkt vor dem Thekentisch und setzte mit einem harten Geräusch die Münze drauf ab und ließ sie auf der Stelle tanzen, sich drehen, sodass der Spiegel der Öllampenlichter im Raum sich auf der Oberfläche brachen.
Die Münze kreiselte jetzt schemenhaft und atemlose Stille herrschte im Gastzimmer, der Wirt sah Warrket in die schattigen Augen, die er nur erahnen konnte.
"Ahntet Ihr, dass Ihr es mit einem Hexer zu tun habt?", fragte dieser spitz, so leise und ruhig, dass nur der Wirt es im Klang der sich drehenden Münze vernehmen konnte und mit hochgezogenen, blonden Brauen.
"Es scheint doch nicht nur so, dass Ihr einen Fehler begangen habt, als Ihr mir über Euer Leben berichtetet... Passt auf, dass nur die richtigen Ohren den Klang der Magie in Eurer Stimme erkennen, denn sonst wird es Euch ins Verderben stürzen!" Und damit presste er die flache Hand auf die Münze, sodass ihre Drehungen stoppten und sie flach auf die Tischplatte gedrückt wurde. Jetzt herrschte wahrlich keine Regung im Raum oder in der Luft, keine Schallwellen trafen Trommelfelle.
Thronn nickte stumm und ging dann, einen bleibenden Eindruck hinterlassend, aus dem Gasthaus, hörte, wie die Tür wieder fest hinter ihm verschlossen wurde. Nach einem kurzen Zögern wandte er sich dem Geräteschuppen neben dem Haus zu, dann schickte er seine Gucker nach oben, um den Schneefall richtig einzuschätzen. Er kam zu dem Schluss, dass seine Spuren nach etwa einer halben Stunde nicht mehr zu erkennen sein würden, da die Flocken dick und dicht fielen. Wie ein weißer Teppich hatte sich der Schnee in einer weiten Ebene vor ihm ausgebreitet und nachdem er sich ein weiteres Mal prüfend umgesehen hatte, verschwand er im Schutze der Dunkelheit, die im Schuppen herrschte, verzog sich in dessen hinterste Ecke und nahm dann auf einem Strohsack platz und hüllte sich mit dem Mantel noch etwas enger ein. Von hier aus konnte er den ganzen Marktplatz überschauen und würde jede Gestalt genauestens erkennen, die aus der Gaststube und raus ins Licht der zahlreichen, aber oft erloschenen Straßenlaternen trat. Er hatte dem Wirt nicht ganz geglaubt und wollte jetzt lieber abwarten, wer sich nur auf ein paar Bier scharf in diesem Gasthaus befand. Kalt war ihm nicht, denn er konnte Kälte einfach aus seinen Empfindungen ausschließen, sie verschwinden lassen und sich in mollig warme Stille hüllen. Bedächtig schloss er die Augen, um ein wenig zu ruhen. Er würde es hören, wenn ein Lebewesen jeglicher Art durch den Schnee stapfen würde und durch seine gute Lage konnte er sie, aber sie nicht ihn sehen. Sein Atem wurde langsamer und fließender, war nur noch eine Bewegung seiner Nasenflügel und er schien plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, meditierte, um seine Kräfte zu sparen.

Nein, Goran schüttelte wieder den Kopf, es gab keine Geister, die ihm solche Worte zuflüstern konnten! Oder doch? Das unbehagliche Gefühl weitete sich, dehnte sich nach allen Richtungen aus, bis er vor Kälte und Kraftlosigkeit fast zersprungen wäre. Mit einem harten Ruck befahl er seinen Körper in sein Schlafzimmer, tastete schwankend und unheilahnend nach dem Streichholzhälftchen und der Kerze, welche immer neben der Tür in seinem Zimmer standen. Erleichtert fand und griff er es. Mit einem Ratsch hatte er es entzündet und brannte schließlich, wenn auch mit zittrigen Fingern, den Kerzendocht an.
Die Flamme loderte hell, schien wie ein verirrtes Licht in der großen Dunkelheit der Welt. Jetzt sah er, vom schwachen Kerzenschein erhellt, das Innere seines Raumes, betrachtete die Einrichtung. Das Bett stand links an Wand, alt und klobig, doch verlieh es dem Wohnraum einen Tick Größe. Ein passendes Tischchen stand daneben, darauf eine Öllampe aus Messing. Ganz weit im Zimmer - es war fensterlos - befand sich neben einem saphirblauen Wandbehang ein Spiegel aus Kristallglas. Er hatte einen stark verzierten Rand aus Silber, welcher sich in langen, korallenähnlichen Fortsätzen ein paar Zoll weit ausbreitete. Mit Hilfe der Kerze zündete Ascan schließlich die Öllampe an und nun ergoss sich das Licht durch den ganzen Raum, ließ aber trotzdem flackernd einige Ecken unberührt von der Helligkeit.
"Gute Nacht, Milliana... Das hoffe ich jedenfalls..." Die letzten Worte seines Nachtgrußes hatte er nur leise zu sich selbst gesprochen und so erntete er nur ein schwungvolles: "Gute Nacht!" bis es dann schließlich erebbte und er die Tür schloss.
Er schämte sich leicht und war traurig, dass seine Schwester immer noch nicht das komische in seiner Stimme erkannt hatte. Konnte oder wollte sie es nicht verstehen? Diese Frage blieb offen und er hatte auch dann noch nicht die Antwort herausgefunden, als er sich noch einmal vor dem Spiegel betrachtete, wollte sehen, zu was er es in diesen mehr als achtzig Jahren gebracht hatte. Die Furcht hatte sich etwas gelindert, als er spürte, dass seine Tür fest verschlossen war und keiner dieser dunklen Männer unbemerkt und ohne, dass er die Türklinke vernehmen würde, in sein Schlafgemach eindringen konnte. Da musste er an seine Schwester, Milliana, denken. Was wäre, wenn die Schattenwesen sie in ihre Klauen bekommen würden, sollten sie wirklich existieren? Der eisige Hauch des nahen Todes begann sich wieder über ihn zu legen, versuchte ihn einzuschließen und festzuhalten, zwang ihn plötzlich wie gebannt auf die Oberfläche seines Spiegels zu blicken. Nicht etwa auf sein Spiegelbild, sondern direkt auf das Kristallglas des Spiegels. Ein Schauder zog sich von seinen Fersen an bis in seinen Nacken hinauf und der Angstschweiß rann ihm über Gesicht und Brust. Warum hatte er überhaupt Angst? In seinem Zimmer gab es keine Regung, nicht die geringste, und trotzdem erschauderte er. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass ihm der Spiegel diese Angst einjagte. Verzweifelt versuchte er den Sog, den das Kristall auf ihn ausübte, niederzukämpfen, doch egal wie stark er sich mit dem Spiegel stritt, dieser blieb der Sieger. Jetzt schien er wie in einen Traum zu fallen, sah Schnee, eine einsame Insel, mitten im Eismeer, winzig und mit nur einem Hügel, überzogen mit Schnee und Spitzhängen aus Gletschereis. Mitten in diesem Schneetreiben stand eine Frau, sie war jung und schön, wurde nur von einem schwarzen Gewand aus zerfetzten und durchlöcherten Leinen bekleidet. Blitzartig schien er auf die Insel und auf die Frau, die in schrägem Kontrast zu den weißen Hügeln stand, zuzurasen, nein, sie kam ihm entgegen und jetzt erkannte er auch, dass es sich im Spiegel abspielte und gar kein Traum war. Der Bann, in den ihn der Spiegel geschlagen hatte, war hart und zwingend und so sehr er es auch wollte, konnte er sich dem Kristall nicht abwenden. In seinen Knochen plagte ihn der Schmerz, sie waren nicht mehr länger fähig ihn zu halten, doch irgendwie schaffte er es über diese inneren Wunden hinwegzusehen und ganz mit der Seele des Spiegels zu verschmelzen.
Die Frau lockte ihn und plötzlich begann sie mit sanfter, aber dennoch eisiger Stimme zu flüstern: "Du weißt, dein Tod ist nah. Siehst du ihn? Hast du ihn vernommen? Spürst du den Klang der Glocken, die an deinem Todestag läuten, schwarz und durchdringend, wie das Klirren von Eiswürfeln gegen ein Glas? Ja, ich bin dein Ende. Oder auch nicht, es liegt ganz bei dir. Man nennt mich Melwiora Riagoth, was Eisfrau bedeutet. Kennst du mich?" Das Mädchen, das er mitten in der Schneelandschaft völlig nackt, nur mit einem Stofffetzen bekleidet gesehen hatte, hatte nicht den Mund beweget, denn die Worte entstanden wie durch ein Wunder in seinem Kopf. Verführerisch hob sie den Arm, lächelte und winkte ihn mit den Fingern zu sich. Ihre Augen waren meergrün und strahlten eine selbstsichere Überlegenheit aus, ihre Haare lang und pechschwarz. "Es ist lange her, dass mich dein Vater gesehen hat." Fast unmerklich hatte sie wieder zu sprechen begonnen, umklammerte ihn von neuem mit ihren bittersüßen Worten. "Ah... Du willst mich? Du wirst mich bekommen, wie dein Vater mich bekommen hat... auf dem Totenbette noch habe ich ihn verführt...  Er war mir gehörig. Doch dafür hatte ich auch etwas von ihm bekommen, etwas, für das ich, wenn du es mir geben würdest, auch sehr dankbar währe."
Gerade wollte Goran sich ihr hingeben, da stoppte sie plötzlich und ließ ihre Hand sinken, einzig und allein streifte sie ihr dünnes Gewand ab. Die Schleier fielen und Ascan betrachtete das Vollkommene...
Er ächzte leise und sie lachte selbstsicher.
"Na komm, du willst es doch auch. Dein Vater ist an allem Schuld!" Diese Gefühlsregung kam so plötzlich, dass Goran mit einem Schock zurückgestoßen wurde, ihre Stimme war erfüllt von Hass und die Frau im Spiegel wies ihn plötzlich strikt ab. "Der Zauber des Bösen hat mich geschaffen... Versprich mir, dass du ihm untertänig sein wirst und du erhellst Leben... Du wirst wieder jung sein..."
Nichts wollte er mehr als das und so ließ er es geschehen, unterwarf sich ihr. Seine dürre Gestalt sank zu Boden, auf der Kristalloberfläche des Spiegels schienen sich kleine Wellen zu ziehen. Er konnte es nicht glauben, dass er ihr nicht stand gehalten hatte. Verbittert biss er die Zähne zusammen und ballte die runzelige Hand zur Faust. Woher kannte sie seinen Vater?
"Soll ich dir ein Geheimnis verraten?" Die Stimme war plötzlich nah, nicht mehr fern, sondern in diesem Raum. Melwiora Riagoth zog gerade ihren Fuß aus der welligen Oberfläche des Spiegels.
Sie war zu ihm gekommen, das war das einzige, was in seinen Gedanken noch existierte, sie hatte sich zu ihm gesellt!
"Milliana", begann sie es ihm zu erklären, "ist nicht deine Schwester. Du hattest nie eine..."
Schon schienen sie beide sich zu vereinen. Sie war völlig nackt und als die Verschmelzung der Körper vollendet war, erschallte ein heller Schrei das Haus, gellend und herzzerreißend, ein Todesschrei...
Die schwarzen Männer gingen, wie sie gekommen waren, durch die Schatten, schlichen sich durch die Schatten der schneebedeckten Straßen und ihr furchteinflößendes Kreischen durchdrang noch lange die eisige Nacht.
In dieser Nacht hatte Goran Ascan einen Pakt mit Melwiora Riagoth geschlossen, einen Pakt, der mit Blut besiegelt war, mit dem Blut seiner ehemaligen Schwester. Er hatte der Versuchung einfach nicht standhalten können.
Keiner der Bewohner hatte die Schreie der dunklen Wesen gehört, außer einem einzigen, und dieser hatte schon die ganze Zeit auf ein Zeichen oder etwas Ähnlichem gewartet...

Der Raum war durchzogen von einem beißenden Gestank, überall lagen Körper bis zur Unkenntlichkeit geschändet am Boden, blutgetränkt waren die Dielen. Das Gasthaus war völlig verwüstet, Tische umgestoßen, Stühle zerschmettert. Die Flaschen im Regal hinter der Theke waren allesamt zerbrochen und hier und da in den steinernen Wänden zeigten sich Löcher, dort, wo die Felsquader herausgebrochen waren. Licht drang gleißend durch die Lücken, ließ helle Flecken auf den Boden fallen, beschien Fliegen, die sich surrend über das tote Fleisch hermachten. Entsetzt und volle Abscheu presste Hauptmann Milchemia ein Tuch vor Mund und Nase, versuchte ruhig zu atmen, doch der Anblick der Toten ließ seinen Puls schneller schlagen. "Oh, mein Gott!" japste er und war kurz davor sich zu übergeben. "Wer... Wer ist nur zu so etwas fähig?" Er presste sich die Hand krampfhaft auf den Bauch, seine Augen flimmerten und der faulige Gestank schien von Mal zu Mal schlimmer zu werden. "General!" Er rief es den Kopf leicht zur Seite geneigt, sodass er das Gemetzelte nicht mehr ansehen musste, lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen. Sein Plattenpanzer klirrte, als er in die Hocke ging. "General!", rief er wieder und diesmal vernahm er Schritte, die über den Hof kamen und auf dem Pflaster hallten. Es war General Arth Patrinell, der ebenfalls für die Sicherheit der Feste verantwortlich war.
"Hauptmann", begrüßte er ihn, "was ist hier vorgefallen?" Er besah sich kurz den Gastraum und unterdrückte ein angewidertes Kopfschütteln.
"Keine Ahnung... Ich war gerade auf meiner morgendlichen Streife, da... Ich fand alles so vor." Er ließ den Kopf wieder hängen und sah bestürzt und unschlüssig auf seine Füße, wusste nicht, was er noch sagen sollte.
"Hat irgendjemand etwas genaueres gesehen?", erkundigte sich Patrinell und schickte seine Blicke einmal über den Hof. "Der Morgen bringt oft schlimme Sachen mit sich, die in der Nacht verborgen sind!" Er hatte die Augen eng zusammengekniffen und schützte sie vor der Sonne, die nun hell und rund am Vormittaghimmel stand und die dunstigen Wolkenschichten am Horizont schon lange durchbrochen hatte. Schnell richtete er das Wort wieder an Milchemia: "Und es hat wirklich niemand etwas gesehen?" Seine langen Haare flatterten im Wind.
"Glaube nicht, aber wir wissen nicht, ob nicht schon jemand vor uns hier war! Dieser Jemand müsste dann umgehend gefunden werden.", antwortete er und richtete seinen Blick wieder auf Arth, der die Hände in die Hüften gelegt hatte und mit dem Rücken zu ihm stand. "Oder gedenken sie etwas anderes zu unternehmen, General?"
Lächelnd wandte er sich zu ihm um. "Sie begreifen schnell, Hauptmann. Bevor wir die anderen Leute befragen, werden wir uns drinnen mal genauer umsehen, schließlich wollen wir ja noch heute herausfinden, wer der Täter war!" Er nickte bekräftigend und als Milchemia immer noch nicht Anstalten machte aufzustehen, sagte er: "Ich überlasse ihnen den Vortritt, Hauptmann." Entgeistert sah der ihn an, seufzte und begann seine Arbeit als Hauptmann zu erledigen, wobei er sich immer wieder selbst im Geiste schlug, dass er nicht einem einfachen Gefreiten diese Aufgabe auferlegen konnte.
Gerade wollte Patrinell sich auf ihn zu begeben und ihm helfen, natürlich langsam und mit gemächlichen Schritten, als ihm jemand etwas zurief: "General Patrinell, der König wünscht sie zu sprechen!" Mist, dachte Arth, schon wieder versauen mir ein paar komische Geschehnisse den Tag! Wiederstrebend ging er durch den Schnee, verließ das Gasthaus 'Zum düsteren Ochsen' und bewegte sich auf die Trisholer Burg zu.

König Meridian saß gebückt über seinen Notizen und den Landkarten von ganz Rohan. Sichtlich bedrückte ihn irgendetwas, doch keiner traute sich ihn ansprechen, alle hatten Angst mit einer kurzen Geste verweißt zu werden oder ihren Job zu verlieren, schließlich war es strengstens verboten, den König bei seiner Arbeit zu stören. Nicht umsonst hatte ihr Herrscher ein neues Gesetz deshalb niederschreiben lassen. Nur einer durfte stetig bei ihm sein, General Arth Patrinell. Der hünenhafte Talbewohner war extra von Rovanion nach Trishol eingeschifft worden, um dem König in der Kriegsführung zu dienen, dennoch wies ihr Land oder irgend ein anderes Vorbereitungen für einen Krieg auf und so war es sehr rätselhaft, was Meridian den ganzen Tag mit ihm besprach. Keiner konnte direkt sagen, was sie besprachen, denn sobald der General in den Thronsaal kam, wurden sofort alle anderen Untertanen außer Hörweite geschickt und dies wohl auf Anweisung Arth’s, wie die meisten glaubten und ihn dafür hassten. Patrinell war groß, schlank, trug blutrote, abgerissene Kleider, einen ledernen Gürtel um den Bauch, in welchem ein blitzender Säbel steckte, hatte sich leichte Stiefel aus Leder und eisenbesetzte Handschuhe angezogen. Sein Haar war dunkel, hing ihm lang vom Kopf, sein Gesicht war ausgemergelt und von Wind und Wetter gegerbt, Narben zierten seinen muskulösen Körper und in seinen Augen lag Kraft und Wissen, die Ausdauer spürte man bereits in seinem Auftreten.
Als der König die dunklen Linien auf der Karte mit den Augen verfolgte, hing ihm eine lange, graue Haarsträhne ins Gesicht, die er beiläufig wegfegte. Er wusste, dass er alt war, bald sterben würde, dann seine Söhne die Herrschaft über das Reich bekamen und deshalb wollte er lieber vorsorgen, indem er alle möglichen Sicherheitsvorrichtungen zusammen mit dem Talbewohner aufstellte und eingehend besprach. Während er überlegte, huschten ab und zu seine Gedanken zu Bengor, Riagor und Rune, seinen Söhnen, jetzt als Heerführer im westlichen Hochland an den Passtoren kämpften. Er verschwendete keine Sekunde daran zu glauben, dass sie es nicht schaffen würden. Denn immerhin besaß das Hochland eine äußerst fähige, starke Kavallerie, die es mit beinahe jedem Gegner aufnehmen konnte, dazu noch mehrere hundert Fußsoldaten, die alle schwer bewaffnet waren. Außerdem hatten sie den Vorteil der Landeskenntnis und des Walles auf ihrer Seite. Jeder war mit Speer, Schwert und Schild bewaffnet, dreihundert Bogenschützen würden reichen, um dem Gegner zu trotzden. Im Grunde waren es doch bloß Tiere, die plötzlich verrückt spielten. Und was war so schwer daran, ein Tier zu töten? Es war leichter, als einen andere Menschen niederzumachen, besonders, wenn dieser Mensch aus den eigenen Reihen stammte. Er hoffte, es würde nie irgendwelche Spitzel geben, die sein Vertrauen erringen würden.
Der General lief aufgeregt um den Tisch herum, den einen Arm an seinem Rücken angewinkelt, mit dem anderen wild gestikulierend, trug dem König seine Ideen vor: "Eine Wehrmacht in unserem Land wäre nur von Vorteil!"
Der alte Mann hinter dem Tisch horchte auf und hob seinen Blick von dem vergilbten Kartenpapier. "Sicher, doch wo soll sie partroulieren? Außerdem sind bereits genug Krieger vorhanden. Das Hochland besitzt eine dreitausend Mann starke Miliz!"
Arth grinste verschmitzt und hinterhältig und schüttelte dann den Kopf. "Diese befinden sich aber alle an den Passtoren. Außerdem... Ich dachte eher an..." Er suchte nach dem richtigen Wort. "...eine gelegentliche Wehrmacht, die nur zum Einsatz kommt, wenn etwas passiert. Ein Bündnis aus Bauern und Rittern. Söldner. Sie haben lange Zeit zum trainieren, dass heißt: so lange, bis der Feind kommt und dann kämpfen sie! Natürlich haben sie zwischendrin auch Zeit für ihre Felder, sie müssen ja nicht ewig trainieren. Nennt es Freitruppe, mein Herr! Sie hat keine direkte Partroulierbahn!"
"Aber wo sollen wir... Wir werden keine Leute auftreiben können, die sich freiwillig in den Tod stürzen!" Der Ausdruck in des Königs Gesicht war verwittert und schwach, müde des ewigen Kampfes. Plötzlich kam er zu einem ganz anderen Thema: "Glaubt Ihr, dass meine Söhne unter meiner ständigen Abwesenheit leiden? Ich meine, ich habe mich jetzt schon seit Tagen nicht mehr sehen lassen. Und in der Schlacht an vorderster Stelle bin ich auch nicht..."
"Sie werden es verstehen, glaube ich.", versuchte Arth ihn aufzuheitern. "Aber..." Ihm war gerade wieder etwas eingefallen. "Es gibt etwas, was ich Euch sagen möchte, Hoheit!"
Der König nickte verständnisvoll. "Was? Sprecht offen, Ihr steht völlig unter meinem Schutz. Gibt es etwa eine Frau, die..."
"Es ist nichts dergleichen, Majestät." Lächelte, klang aber betrübt und so, als ob er ein größeres Geheimnis lüftete, doch er wusste, dass es etwas ganz anderes war. "Heute Morgen entdeckte ich zusammen mit Hauptmann Milchemia..." Seine Stimme brach und er setzte neu an: "Das Gasthaus 'Zum düsteren Ochsen' ist verwüstet, als hätte dort ein Blitz eingeschlagen und alles zu Nichte gemacht. Es... Es gab Tote."
Der Blick des König verdüsterte sich. "Gibt es schon Hinweise, wer es gewesen sein könnte? ...Mir scheint, ich hätte mich wohl doch besser um Trishol kümmern sollen, als um die Verteidigung des ganzen Hochlandes." Ja, er hätte bei seinen Söhnen bleiben sollen, besonders Rune hätte er beistehen müssen. Der Junge war noch so unerfahren und wollte ständig zeigen, dass er genau so stark war wie seine Geschwister, aber das traf nicht zu. In Kämpfen flüchtete er immer als erster, ganz anders als seine Vorfahren, die einst eine mächtige Waffe gegen den Feind schwangen...
Mit einem abtuenden Wink beantwortete der General die Frage: "Hauptmann Milchemia untersucht den Fall gerade genauer. Ein grässlicher Anblick, diese Leichen." Er schwieg kurz, während er sann, meinte aber dann doch: "Wir Talbewohner bei uns in Rovanion haben nicht nur Wachtürme an den Stadtmauern, sondern auch in der Stadt. So können wir sehen, was unsere Polizeistreifen übersehen. Und bei dem vielen Schnee ist es sicher etwas leichter eine schwarze Gestalt von oben auf weißem Grund zu sehen!"
"Aber umso kälter für die Leute im Turm.", murmelte der König besonnen und hatte auch schon den Stadtplan von Trishol zum Vorschein gebracht, um sich die Stadt und die besten Plätze für einen Wachturm zu betrachten. "Außerdem ist uns das Bauholz in diesem Jahre ausgegangen. Bei uns im Hochland gibt es nur sehr wenige Bäume..." Mit angespannten Gesichtszügen überlegte er, während Patrinell die Antwort auf seine Fragen schon parat hatte.
"Ich könnte mit einer Handvoll Männern nach Westen reisen und in Rovanion nach Bauholz fragen. Sicher werde ich in einigen Wochen wieder hier sein."
"Wochen?" Der König stutzte erschrocken. "In mehreren Wochen wird sich dieser Mörder der ganzen Stadt entledigt haben! Zur Zeit ist der Pass sowieso nicht passierbar und das Tiefland voll von diesem Ungeziefer!" Er war sichtlich aufgebracht und seine Stimme hallte in dem großen Saal.
Arth schüttelte den Kopf und beugte sich zu dem Alten hinunter, in seinen Augen loderte kein Feuer wie sonst, sie waren gelassen, doch seine Stimme durchdringend und sie ließ den König regelrecht zurückschrecken: "Ein Dieb ermordet nicht die ganze Stadt!"
"Aber ihren König!", brachte Meridian in scharfem Tonfall hervor. Er hatte das Kinn entschlossen emporgereckt und ihr gegenseitiges Vertrauen war erloschen. "Geht jetzt, General, bevor ich es mir anders überlege und Euch zum Offizier degradiere!"
Patrinell biss sich verzweifelt der Macht gegenüber auf die Lippen, drehte sich mit einem harten Ruck herum, wobei er fast das Kartenpapier vom Tisch gefegt hätte und verließ den Thronsaal. Mit einem Knallen flogen hinter ihm die großen Flügeltüren zu. Er war erbost, denn der König schimpfte ihn völlig zu Unrecht! Sein Leben wurde bestens genug von den Soldaten und Rittern in der Burg bewacht, warum wollte dieser eingebildete Kerl denn nicht, dass er die Stadt verließ? Man könnte ihn selbst doch locker durch zwei einfache Wachen ersetzen! Vor Wut schnaubend wie ein Schlachtross trampelte er die Treppe zur Empfangshalle hinunter, wo ihn Grafen und Barone hochnäsig und entsetzt über sein Benehmen ansahen. Aber es war ihm vollkommen egal. Er hasste diesen ganzen Adel! Er würde jetzt in die Altstadt gehen und sich erst einmal ein paar Biere reinkippen, bevor er überlegte, wo er eine Unterkunft finden sollte. Jedenfalls würde er in den nächsten Tagen nicht mehr zum König gehen!

Gestern konnte ich nicht herausfinden von wo dieser seltsame Schrei kam, dachte Thronn, aber vielleicht kann ich es heute bei Licht besehen. Der Schneefall hatte sehr stark nachgelassen und der Himmel war wieder klar. Er stand in der Ruine eines alten Glockenturms und überlegte. Dort wo früher immer die bronzene Glocke war, befand sich jetzt nichts mehr, ein Haken an der Unterseite des grünspanigen Kuppeldachs allein erinnerte an ihre Existenz vor mehr als hundert Jahren. Der Stein, aus welchem der Turm gebaut war, war nur grob behauen und jetzt prangten große Löcher in den Wänden. Das war sein Versteck, denn nur von hier oben hatte er die Möglichkeit, ganz Trishol zu überblicken und so wusste er auch, was in den Straßen so vor sich ging. Auch versuchte er herauszufinden, wer den Mord an den Leuten im Gasthaus begangen hatte und natürlich hatte er schon sein Vermutungen, Melwiora Riagoth zum Beispiel ließ seit Tagen ihre Truppen und Spitzel durch die Lande streifen, doch warum, hatte bis heute noch niemand verstanden. Deswegen war er ja auch da, um ans Licht zu bringen, was die Zauberin aus dem Osten dazu brachte ihre Dämonen über die Länder zu verteilen. Der einzige wirkliche Anhaltspunkt, den er hatte, war der, dass sie nach alten Menschen suchte, deren Träume und Wünsche im Leben nicht in Erfüllung gegangen waren, Näheres musste er noch herausfinden, doch er spürte, dass es etwas damit zu tun hatte.
In dem Moment wurde ihm eine Präsenz der Macht bewusst, die sich unten über die Straße gelegt hatte. Neugierig blickt er nach unten und entdeckte einen jungen Mann, der aufrecht durch die Reihen von Bettlern und Arbeitslosen marschierte, er schien getrieben von irgendetwas Unsichtbarem zu sein. Es war, als ob er sich immer wieder umdrehen wollte, um zu sehen, ob jemand hinter ihm war, doch als er sich dann endlich überwinden konnte, war niemand da, der ihn verfolgte.
Der Hexer erkannte, dass der Mann genau vor dem Angst hatte, was er, der große, dunkle Riese, suchte. Sein Mantel flatterte elegant im Wind, als er sich auf das brüchige Kirchendach schwang, dort ein paar Meter über den Dachfirst lief, immer die Augen auf den Mann in der Straße gerichtet.
Bald hatte er das Ende erreicht und kletterte von dem Schindeldach herab zu einem der zahlreichen, wenn auch zum Teil beschädigten Wasserspeier hinunter. Es waren Kreaturen mit spitzen Ohren und gewaltigen Flügeln, Greife und Ungeheuer aus den alten Zeiten. Hinter einem dieser schattigen Wesen ließ sich Warrket nieder, kniete sich hinter ihm hin und legte die flache Hand auf den rauen, steinernen Kopf. Er war kalt, und Eis und Schnee hatten ihm zugesetzt, doch der Druide wusste, dass dessen Seele noch nicht ganz verloren war.
Plötzlich floss ein leichter Kraftstrom durch die Hand des Großen in den Schädel des Flügelmonsters und der harte Stein schien zu erweichen und von innen wärmer zu werden. Irgendetwas begann in dem Steinernen zu lodern, vielleicht eine Flamme des Lebens, die Blut durch felsige Adern pumpte. Vorsichtig und mit zitternden Fingern ließ Thronn seine Hand zurück unter seinen Mantel gleiten. Sie war kalt wie ein Eiszapfen, brannte und jeder seiner Knochen schien zu Eis zu zersplittern, unglaubliche Kälte ging von seiner Hand aus...
Es war jedes Mal so, wenn er Magie benutzte, er hatte die Kälte aus dem Herzen des Greifs gesogen und dafür seine Wärme gegeben. Es war schmerzhaft gewesen, doch es hatte sich gelohnt. Der zuerst noch Steingraue war zu einer rötlichen Gestalt mit goldgleißenden Augen geworden, deren dürre Glieder und kräftige Pranken sich über den kalten Sims schoben. Das Wesen hatte lederne Flügel und aus seinem zahnlosen Kiefer drang ein erwachendes Ächzen und Stöhnen. 
Der Hexer atmete eine Rauchfahne aus, als er endlich wieder das warme Gefühl in beiden Händen hatte, dann schickte er den Roten an:
"Geh, mein dunkler Seraphim! Bring mir bald Kunde von dem Mann mit der Angst vor dem Eis Riagoth’s!" Der steinerne Seraphim erhob sich lautlos und wie ein großer Schatten von seinem Stammplatz in die Lüfte, schwebte höher und war bald außer Sichtweite, doch der Magier wusste, dass der Rote mehr sehen konnte, als jeder andere Mensch. "Bring mir Kunde..." wiederholte er noch einmal, bevor er sich dann in eine verwüstete, abgeschirmte Nebengasse fallen ließ.
Das Geräusch, mit welchem er auf dem Boden aufkam, war nur leise und hätte niemand hören können. Erleichtert zog Warrket sich wieder die schwarze Kapuze vors Gesicht, schlang den langen, ebenfalls obsidianschwarzen Mantel enger um sich. Verschnaufend lehnte er sich gegen die Hauswand und warf einen Blick aus den trübenden Schatten heraus auf die Straße, wo gerade noch der ängstliche Mann gelaufen war. Nun hoffte er, dass der Seraphim ihm wirklich gute Neuigkeiten bringen würde, denn das war es, was er jetzt brauchte. Noch so einen Vorfall wie gestern im Lokal konnte er nicht gebrauchen, schon gar nicht deswegen, weil gewiss einige Leute, die das Haus verlassen hatten, bevor der Mörder sie fassen konnte, ihn gesehen hatten. Irgendwie musste er herausfinden, wer diese Leute waren. Der einzige Name, der ihm einfiel, war Katren Arsca, es hätte zwar nur eine Finte des Wirts sein können, doch das Risiko, dass es keine war, war einfach zu groß.
 

© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 4. Kapitel: "Der Fall"

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