Die legendären Krieger von Rohan von Benedikt Julian Behnke
1. Teil: Der Herr der Winde / 1. Buch
Der Zerfall des Reiches 9 - Das unterirdische Lager

"Ein Haus, in dem ein Spiegel ist...", wiederholte der General, die Hand nachdenklich an das glattrasierte Kinn gelegt. "Nun, ich müsste mich doch sehr irren, aber... Ich glaube, ich weiß, welches Haus Ihr meint. Ich kenne den Besitzer." Seine Worte waren geheimnisvoll und das Gewirr aus Dunkelheit und dämmrigem Licht ließ seine schlanke Gestalt direkt geisterhaft wirken.
Rone mochte Arth nicht besonders, ihm gefiel diese jungenhafte, schelmische Art nicht, die der Tiefländer an sich hatte. Seine Haut war an den meisten Stellen gebräunt und glänzte, er war von zierlicher Gestalt, dennoch hatte er seine Waffe im Kampf gegen Thronn sicher und schnell geführt und er hätte vielleicht sogar eine Chance gegen den anderen gehabt, hätten sie nicht eingegriffen. Das pechschwarze Haar fiel ihm seiden und geradegeschnitten in den Nacken und seine Züge waren weich und sanft, dennoch aber hart geprägt und er wirkte sauber und ordentlich. Sein Körper wies keine weiteren Narben auf und seine Augen glommen in einem unergründlichen Grüngrau, das von hellblauen Rissen durchzogen war. Seine Art sich zu bewegen war geschmeidig und seine Stimme fest und gefasst, gab sich keine Blöße beim sprechen.
Thronn lächelte. "Ich suche das Haus um des Besitzers Willen." Das Lachen, was er von sich gab, war stockend und anders, als es Rone gewohnt war.
Zum ersten Mal sah er seinen Onkel in einem ganz anderen Licht. Sonst war er immer der große, verschwiegene Stille gewesen, doch jetzt schien er wie ein kontaktfreudiger Mensch, der nichts mehr liebte als den Witz an sich. Und er erkannte, dass es nicht der Hexer war, der da sprach, sondern etwas in diesem, etwas, das ihm bei der Erfüllung seiner Aufgabe behilflich sein konnte, der Schatten. Es war der Schatten Allagans, der zu ihm sprach, der Schatten ihrer Vorfahren und Rone wusste, dass auch er die Kraft in sich hatte, den Dunklen zu sehen, doch etwas war da, was das Sichtfenster in die Welt des einen verschloss und vor ihm geheim hielt. Wenn er es nicht schaffte die Wand zu durchbrechen, würde er dem Zauber Riagoths erliegen und die Eisfrau würde ihn holen kommen. Im Geiste sah er ihre Gestalt, wie er sie sich vorstellte, nachdem Thronn ihm das erste Mal von ihr erzählt hatte. Er hatte von ihr geredet wie einem kostbaren Juwel, das in den Farben des Eismeers schimmerte, und der Glanz ihres Aussehens würde ihn vielleicht niederringen, wenn er nicht stark genug war, um sich gegen sie zu wehren. Zusammenreißen musste er sich, wenn er sie betrachtete und nur auf die Stimme in sich hören, die ihm zuflüsterte, was er tun sollte. Gerade jetzt hörte er wieder diese vertraute Stimme, die wie das Säuseln des Windes klang und aus den tiefsten Tiefen seines Unterbewusstseins zu kommen schien.
Schatten und Eis.
Kannst du sie auseinanderhalten?
Sie spüren?
In dir und überall.
Folge dem Pfad des Vertrauens und wende dich nicht um, so schwer es dir auch fällt.
Er wollte tun, was die Stimme von ihm verlangte, ihm riet, doch es war so unsagbar schwer und seine Kraft auf ein Minimalmaß geschrumpft, sodass sogar das Wort 'Nein' die Aufgabe zu erdrücken schien, die ihm mit diesen einfachen Gedanken zugeflüstert wurde. Er lauschte dem Echo des Säuselns und fand sich dann in seiner Welt wieder, der Schatz seines Denkens verfloss, während er dem steinernen Pfad, den sie beschritten, mit den Augen folgte. Patrinell führte sie. Er hatte ihnen versprochen sie sicher in das Lager zu bringen, von dem er die ganze Zeit wie ein Besessener redete und das dort draußen in den Schatten des Pfades liegen sollte. Schon längst hatten sie die großen Bögen hinter sich gelassen und strebten einer Erhebung zu, die sie neben einem tiefen Abgrund vorbeiführte. Von dort unten schien ein Atmen und Seufzen zu kommen, ein Wälzen und ein Dröhnen, als wollte sich etwas mit aller Macht durch das Gestein und die Felsen schlagen.
"Der Fluss.", erklärte ihnen Arth und setzte seinen Weg auf einem schmalen Sims fort, das sie direkt über die Schlucht brachte, in der wallender Nebel und Dunst über dem Nass hing. "Von hier sind es noch wenige Yard!" Der General ging etwas schneller und seine Schritte klangen dumpf und hohl auf dem von schäumender Gischt ausgehöhlten Felsen. Sie verließen die Nähe des Luftschachtes und die ewige Dunkelheit der Tunnel brach bedrückend und kalt über sie herein. Aus den hintersten Ecken hörten sie Laute, gedämpfte Stimmen und das vorsichtige Schleifen von Stahl auf Stein. "Wir sind nicht mehr fern! Wenn wir jetzt eine Fackel oder etwas ähnliches..." Er wurde mitten im Satz unterbrochen, denn Thronn war auf einmal auf ihn zugetreten, hochgewachsen und gehüllt in die pechschwarzen Gewänder der Druiden, der Magier des höchsten Ordens. Seine Augen glommen hell auf, zwei Sterne in den Schatten und dann entflammten Warrkets Fingerspitzen, das weiße Druidenfeuer leuchtete hell und warm, geschaffen wie aus tausend Sonnen und sie schimmerten blau in der Farbe der eigenen Magie der mentalen Kräfte. Patrinell nickte und sie sahen nun, dass sich der schmale Gang zu einer großen Halle geweitet hatte, durch deren Mitte sich ein riesiger Riss in die untere Schwärze zog. "Die Haupthalle!", bekannte der Gesetzeshüter und betrachtete einige Momente fasziniert die prächtig aus dem Gestein geschlagenen Säulen und Figuren in den Ecken.
Bald gingen sie weiter, das Gemurmel und Getuschel wurde lauter und der Spalt schien in die Breite zu wachsen, als sie sich ihm mit großen Schritten näherten. Mitten über den bodenlosen, zerklüfteten Tiefen - das erkannten sie jetzt - erschien eine Hängebrücke, die aus morschen und zum Teil zersplitterten Brettern gezimmert war. Die Taue, die in das Holz eingeflochten waren und es hielten, waren an manchen Stellen durchgescheuert und von Schwertklingen angeschnitten. 
Warrket ließ sein Feuer höher schlagen, um schließlich auch die andere Seite des Raumes ganz auszuleuchten, und das weißblaue Licht schimmerte und spiegelte sich auf den rauen Granitblöcken, aus denen die Figuren und Stützbalken gemeißelt waren. Wieder sah man diese seltsamen Schriftzüge auf den Wänden und Torbögen und Thronn las, was er verstand.
Die legendäre Halle der Könige. Hier ruhen die Gebeine der alten Könige von Rohan.
"Die Halle der Könige.", sagte der Hexer und ein Lächeln überspielte seine Lippen, während er die Hände in die Hüfte stemmte. "Die Katakomben von Trishol." In seinen Zügen lag Erstaunen und Wiedererkennen, und Rone sah zu ihm auf, wie man zu einem großen Bruder aufsieht. Er wollte sein wie sein Onkel, groß, stark und gelehrt, doch er verschwieg es und zog sich in sich selbst zurück, während er den Magier aus bekümmerten Augen betrachtete. "Hier lag der erste König der Welt", erzählte er. "und bereitete das ewige Bett des langen Schlafes für die Kommenden. Schätze von unvorstellbarem Reichtum, Grabbeigaben, sind hier unten versteckt!" Er sandte seine Magie in viele Richtungen, wobei er das eisige Gefühl in seinen Fingerspitzen ganz vergaß, es pulsierte und stach wie feine Nadelspitzen.
"Meine Augen sehen keine Gräber, Thronn.", bemerkte Dario, die Arme über der Brust verschränkt und die dunklen Gewänder flossen an ihm herab wie ein Leib, der in flüssige Dunkelheit getaucht war.
"Die Dämonen haben sie sich genommen und geschändet." Arths Blick war ernst auf den Boden gerichtet und seine Züge wirkten streng und beinahe mutlos, kurz flammte Hass auf und verwandelte sich in Trauer. "Alles. Sogar vor den Gebeinen selbst haben sie nicht halt gemacht. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Welt verloren ist und in den Schatten versinkt. Die Prophezeiung hat es so bestimmt." Er schloss für einen Moment die Augen, um sich zu erinnern. "Sie kamen, Hunderte, vielleicht auch Tausende, und alle krochen sie aus den Spalten und Gängen hervor, füllten den Saal schnell. Ich und meine Leute kämpften und rangen mit ihnen, doch sie drängten uns zurück, bis zu der Brücke..."
"Patrinell!"
"Milchemia!"
"Fang!"
Schatten, Dunkelheit, alles war überschüttet mit der Düsternis, nur der Hagel der brennenden Pfeile dauerte an, war ein Funkenregen auf dem schwarzen Tuch der Nacht. Schreie gellten, laut und durcheinander, ein Pfeifen und Sausen, Kampfgebrüll und das Klirren von Waffen war zu hören, denn die Männer und Frauen kämpften um ihr Leben.
Arth fing das Seil geschickt auf, das ihm der Hauptmann zugeworfen hatte und verknotete damit schnell die eisernen Ringe im Boden, auf der Brücke tobte der Kampf. Alles war voll von Tieflanddämonen, die sich über die letzten Überlebenden stürzten und ihre Klauen und Krallen in die Leiber der Verteidiger schlugen. Ihr Atem ging rasselnd, Blut und Schweiß mischte sich, die Schwerter waren voller Schleim und in der Luft lag der Gestank von Schwefel und das stetige Surren von Insekten. Jetzt ging der General schnell zu einem der anderen Ringe und führte das Tau hindurch. Er bemerkte das Aufblitzen von Krallen gerade noch im rechten Moment und stieß den Gegner mit dem Fuß  zurück. Der Dämon schrie, und warf die Pranken in die Luft, dann verschwand er in der Dunkelheit außerhalb der brennenden, toten Körper, aus denen noch immer die geschwärzten Feuerpfeile ragten, wie groteske Auswüchse der Haut.
Er spürte den rauen, flachen Stein unter seinen Stiefeln und seine Haut war überzogen von einem dünnen, glänzenden Schweißfilm und sein Atem ging schwer, in seinen Ohren verklang das Pochen seines Herzens wie ein unnachgiebiges Dröhnen. Vor seinen Augen begann bereits schon alles zu verwischen, die Gestalten der Feinde waren nur noch vage Schemen, die vor seinem Blickfeld auf und ab huschten. Mit einem kraftvollen Ruck zog er an dem Tau und die Brücke war fest, die anderen konnten sich an die Überquerung machen. Ohne zu zögern zog er sein Schwert aus der Scheide, sein Gewand aus rotem Tuch und braunem Leder war zerschlissen und dort, wo sich Narben gezogen hatten, sickerte Blut hindurch. Die Klinge funkelte bedrohlich und heldenhaft erhob er sich, in seinem Blick, den er auf die Brücke gerichtet hatte, die sie aus Seil und losem Holz geknotet hatten, als sie durch die Gänge geflohen waren, lag Entschlossenheit. Er sah die angstverzerrten und kraftlosen Gesichter seiner Leute und das winderhitzte Milchemias, der sich mit zwei Schwertern gleichzeitig einen Weg durch die Reihen bahnte. Um ihn herum schien alles zu zerbrechen, die Angreifer gewannen immer mehr und mehr die Überhand und erst die Wenigsten hatten es geschafft den Weg auf die andere Seite der Schlucht zu nehmen. Fast synchron stolperten die Gefallenen die Felswand hinab und die meisten waren Menschen!
Patrinell musste schnell handeln.
Entschlossen griff er nach einem Stück Seil, das lose von der bemängelwerten Brücke herab hing, umfasste es während er mit nach vorn gestreckten Armen fiel und schwang sich auf die andere Seite. Ein Ruck hätte ihm fast den Arm ausgekugelt, als er von seinem eignen Gewicht in die Tiefe gerissen wurde und die Brücke knarrte und ächzte bedrohlich, dann war alles vorbei. Er flog einige Yard, bekam mit den Fingern gerade noch den Klippenvorsprung zu fassen und zog sich in der gleichen Bewegung mit dem Schwung seines Absprungs hinauf. Sein Kopf dröhnte und seine Muskeln rebellierten, als er in die Mitte der steingrauen, zuckenden Leiber geriet. Ein rotglühender Hagel aus Fluggeschossen zischte durch die Luft, traf die Stelle neben ihm und prallte ab, Holzsplitter zerfurchten und zerschrammten seine Haut, doch er riss seine Klinge in die Höhe und schlug nach seinen Feinden. Bereits der erste Angriff ließ zwei der mindestens Zehnduzend Dämonen zurücktaumeln und er setzte ihnen noch im gleichen Augenblick nach und stach behände nach ihren Leibern. Er traf mehrere Male und sprang dann zur Seite, um dem nächsten Klauenhieb auszuweichen, den er mehr spürte, als dass er ihn sah. Ohne sich weiter darum zu kümmern, stieß er das schlanke Schwert in die Richtung, aus der die Krallen hervorgezischt waren und erwischte etwas, was darauf jaulend in den Schatten zurückwich. Unglaublich schnell kämpfte er sich durch die Menge, immer wieder abwehrend und ausweichend, bis er endlich bei dem Hauptmann stand. Milchemias Gesicht war schweißbedeckt und Blut lief ihm in einem langen, dunkelroten Faden von der Schläfe. Seine Hände hatten sich wie gebleichtes Wurzelwerk um den Griff geschlungen und als er zustieß, wurde klar, dass nicht mehr viel Kraft in seinem Arm wohnte.
"Zurück!", befahl er seinem Untergebenen und trat nach einem Dämonen, der mit seinen weit geöffneten Kiefern auf ihn zugerannt gekommen war, und Knochen knackten unter seinen Schuhen. "Los schon!"
Der Andere sah ihn noch einen Augenblick entgeistert an, dann gehorchte er, wie aus Trance erwacht.
"Ich rief ihm zu, er solle verschwinden, ich würde die Brücke alleine sichern. Doch er hat nicht auf mich gehört. Nachdem er mich aus verständnislosen Blicken gemessen hatte, hatte er sich mit doppeltem Einsatz auf die Wesen gestürzt, die uns umringt hatten und hatte sie mit der bloßen Wucht seines Aufpralls zurückgeschleudert." Er seufzte und schloss die Augen, um das im Geiste gerade neu erlebte zu verarbeiten. "Dann wurde ich von den Händen der anderen gepackt, zurückgerissen und in Sicherheit..." Er schniefte und eine Träne lief ihm wie ein funkelnder Diamant aus seinem glasig gewordenen Blick. "Er hat sich geopfert..."
Thronn richtete sich auf und sein obsidianschwarzer Umhang bauschte sich in den stillen Luftzügen. "Lasst uns weitergehen. Bald bricht die Nacht über uns herein. Schon zu viel Zeit haben wir in der Gegenwart des Todes verbracht."
"Sobald sich der Schatten über das Land legt, wimmelt es hier gerade nur so von Dämonen.", warf Dario mit überschnappender Stimme ein, die behandschuhte Hand zur Faust geballt. "Wir müssen hier verschwinden! Und wir sollten schnell sein!" Eilig kramten die Gefährten ihre Sachen zusammen, die sie abgelegt hatten, als sie der Geschichte des Generals gelauscht hatten.
Rone fand, dass das Gepäck auf einmal viel schwerer war und die Last schien nahezu unerträglich auf seinen Schultern zu liegen, als sie sich daran machten die Brücke zu überqueren. Das Holz knarrte unter ihren Füßen und sie erinnerte sich an die Geschichte des Tiefländers und daran, dass die Brücke nur lose an zwei in den Fels getriebenen Eisenringen befestigt war. Schwindelige Gefühl und Aufwind ergriff Rone und seine Hände legten sich fester um die groben Fasern der Seile. Er sah die dunklen Brandflecken an den Dielen und die Löcher, die Pfeile hinterlassen hatten, als sie sich mit ungeheurer Wucht auf die Brücke hatten stürzen lassen. Gefährlich schwankte sie unter ihren Tritten und die Luft um sie herum wurde wärmer und schien von irgendwo dort unten aus der Düsternis zu kommen. "Sie suchen nach uns.", sagte Rone, doch es war etwas fragendes daran und Thron antwortete mit einem zustimmenden Kopfnicken.
"Sowem Dun weiß, wo wir uns aufhalten. Sie schickte ihre Schergen aus, doch das Licht des Tages hindert sie daran uns anzugreifen." Er machte eine kurze Pause und sagte dann etwas leiser mit gedämpfter Stimme, die sich wie Rauch in den Tiefen der Höhlen verlor: "Ich hoffe nur es bleibt so."
Er wechselte das Thema: "Wie entstand die Magie?"
"Sie kam mit einem Feuerball, der auf die Erde herabstürzte und alles versengte." Er schien abzuschweifen und seine Bewegungen wurden leicht und schlaff, fast wie im Schlaf bewegte er sich über das Gerippe der Brücke. "Lange Jahre dauerte es, bis sich die Natur regeneriert hatte und in der Zeit, hatte die Magie zeitgefunden sich zu entfalten und begann in den Herzen der Menschen wiedergeboren zu werden." Der dunkle Onkel spielte einige Momente mit dem blitzenden Licht in seinen Fingern, das wie ein Eiskristall oder eine kleine Sonne zwischen seinen schlanken Fingern versteckt war, Finger, die klamm und zu Eis erstarrt waren.
"Kann ich das auch?", fragte Rone wissbegierig, doch da änderte sich die ruhige Miene des Großen in einen starren, missfälligen Ausdruck und er entzog Rone seine Hand und verbarg die Macht nun vor seinem Körper. Der junge Elf wusste nicht, was das bedeuten sollte und erschrak leicht, verschloss seine Angst aber in sich, damit sie ihm keiner ansehen konnte. Er sah hinab auf einen nur erahnbaren Boden und Kälte schoss zu ihm hinauf, auf unerklärliche Weise legte sie sich um sein Herz... Mit einem festen Ruck schüttelte er die Angst von sich ab und die eisigen Hände glitten wieder zurück in die Schatten, um am rechten Zeitpunkt ein weiteres Mal hervorzuschnellen. Doch dieser Zeitpunkt kam nicht. Sie erreichten schon in kürzester Zeit die andere Seite, traten über den scharfgezackten Abgrund hinweg und erkannten nun, was Arth gemeint hatte.
Der Anblick war grauenvoll. Es hing ein Geruch in der Luft, der nach Tod und Verwesung roch, und eine Stille war gegenwärtig, die ihnen bittere Vorahnung in die Glieder trieb. Am Boden waren Spuren von eingetrocknetem Blut, und kleine Knochen und Gerippe lagen herum - an den meisten war die Haut nur noch eine dünne, vertrocknete Schicht, welche die leblosen Knochen abdeckte, und auch in ihr zogen sich Risse. Maden und andere Insekten krochen zwischen den Gebeinen herum und das leise Summen von schwirrenden Insekten und Fliegen lag über dem Tod. Sie spürten seine Anwesenheit und der Zwerg legte seine Hände probeweise fester um den aus schwarzem Kirschholz geschnitzten Griff seiner Streitaxt. Auf seinen Zügen breitete sich Entschlossenheit und Ehrfurcht aus und er biss die Zähne aufeinander, stellte sich kampfbereit vor die Brücke, deren Gerippe noch immer leicht schwankte. Plötzlich blitzten seine Augen in einem seltsamen, kühlen Licht und ein Schock wie von einem Blitz zischte durch die Luft, dann wurde die gespannte Atmosphäre von dem nahenden Geräusch von Stiefeln wie aus einem langen Schlaf erweckt.
"Lasst uns weitergehen!", riet ihnen der General und setzte sich in Bewegung, nachdem er einen unsicheren Blick auf den Zwerg geworfen hatte. Mit schnellen, sanften Schritten entfernten sie sich von der Halle der Toten, setzten ihren Weg in einem der zahlreichen Gänge fort. Hier war der Tunnel schmaler und auch kein Abwasserkanal mehr, sondern eher eine Mine, die tief in den Berg führte. Jedoch gingen sie nicht direkt in einen der Schächte, deren Deckengewölbe mit Holzbalken gestützt wurde, sondern wandten sich nach links und gingen eine schmale, brüchige Wendeltreppe hinauf. Ihre Schritte waren leise Geräusche, gegen das knurren ihrer Mägen, denn das Essen auf den Reisen war oft ausgeblieben, wie jetzt auch in dieser Zeit ihrer Wanderung.
Die Treppe endete etwa in der Höhe von fünf Yard und ein kleiner Korridor zeigte sich, an dessen Ende eine hölzerne Tür lag, auf der die Spuren der Zeit deutlich sichtbar waren und die tief in den Felsen eingelassen war. Das Tor war groß und mit Eisen beschlagen, Löcher waren von Waffen und anderem zerstoßen. Thronn ließ seine Magie ermatten, denn durch die Tür drang der helle Schein von Fackeln, der den Boden und die Wände in ihrer unmittelbaren Umgebung erhellte, Stimmengemurmel, träge und matt, war zu vernehmen.
Plötzlich wurden lange Spieße und Speere in ihre Mitte gestoßen und sie wurden von diesem unerwarteten Angriff auseinander getrieben, dennoch fanden alle Zeit ihre Klingen zu ziehen, bis auf Arth. Er trat näher an die Lanzenträger heran, Wächter der Tore, die sich in den Schatten der weiterführenden Treppe verborgen hatten und nun herangeschnellt waren, um ihre Gegner zu empfangen. Ihre Gesichter waren rau und narbenübersät, auf ihren Muskeln glänzte der Schweiß. Ihre Körper waren abgemagert und die einstige Kraft war aus ihren Augen gewichen. Patrinell redete in leisem Ton mit ihnen und sie nickten oft und viel und lauschten, was ihnen der langhaarige Mann zu sagen hatte, wobei er viele Gesten benutzte, um ihnen alles klar zu machen und ab und zu sogar auf die Gefährten deutete.
Endlich schien er die Soldaten überredet zu haben, denn diese gesellten sich, nachdem der General geendet hatte, wieder zurück in die Dunkelheit und ihre Pupillen spiegelten als helle Zeichen das matte Fackellicht. Einer von ihnen jedoch trat zwischen ihnen hindurch und machte sich daran das Tor zu öffnen, das nach mehreren Klopfzeichen aufschwang und sie hektisch hindurch gewunken wurden. "Für euch ist der Weg nun frei!", sagte der Ritter und nahm seine Lanze auf, an der Blut und Dreck klebte und alle schienen sie müde und ausgemergelt, dünn, wie Butter auf zu viel Brot verstrichen. Ihre Kleidung war zerrissen und auf ihren Rücken ruhten Bogen und Köcher mit Pfeilen.
Während sie durch das Tor schritten, betrachtete Rone sie mit einem misstrauischem Blick. Sicher waren sie treu ergeben Soldaten von Arth, doch sie waren angespannt und es kam ihm vor, als könnten sie sich nicht mehr auf den Beinen halten. Auf der anderen Seite des Eingangs jedoch erwartete sie ein Trubel von mehreren Hundert Menschen, die sich auf einem etwa hundert Yard langem und fünfzig Yard breitem Gelände aufhielten, dass von Fackeln auf feinen, schmiedeeisernen Ständern erhellt wurde. Die Menschen, die sich im vorderen Teil aufhielten, waren bewaffnete Kämpfer und etwa drei Duzend, während die Zahl der verletzten oder in Lumpen gekleideten Menschen auf mehr als das Doppelte zu schätzen war. Alle hatten sie harte Gesichter und unterhielten sich oder hatten sich zwischen Felstrümmern niedergelassen und starrten einfach nur auf die leere, graue Wand. Keiner von ihnen hatte Lust zum Lachen oder Karten zu spielen, sie redeten und redeten - oft wirres zusammenhangloses Zeug - und hatten sich an kleinen Lagerfeuern, in denen mehr Sachen als nur Holz verfeuert wurden, niedergelassen. Es herrschte eine fast betrübte Stimmung und der Qualm der Glut stieg zu dem großen Deckengewölbe auf, das in einem trichterförmigen Schornstein endete, an dem viele Löcher prangten, wo einst felsiges Gestein und Mörtel gewesen war. Auch hier standen Säulen, aber die meisten waren nur noch die kläglichen Bruchstücke einer einstigen wunderbaren Kulturarbeit. Trishol war gefallen und mit ihnen Tausende von Menschen und die Halle der Könige verwüstet und geschändet. Gab es überhaupt noch Hoffnung für das zerrüttete Imperium der Menschen? Er versuchte es zu hoffen, doch der Gedanke an die Dämonen und Sowem Dun lagen ihm schwer wie ein Sack Steine im Rücken. Entweder würde er laufen müssen, oder sich ihr stellen. Was würde er bevorzugen? Prüfend sog der die Luft durch die Nasenlöcher. Sie war stickig und in ihr lag der Schweiß und die verschiedenen Gerüche der Männer.
Arth trat nach einiger Zeit wieder zu ihnen. Er schien gehetzt und in seinem Blick machte die Ungewissheit jagt. "Es ist etwas geschehen, was Ihr wissen solltet." Er sprach zu Thronn gewand und Rone sah seine Augen nur furchtsam von der Seite schimmern, während der Grenzländer, grobknochig und riesig wie immer, dunkel und verschlagen, den Blick fest auf ihn gerichtet hatte; er lauschte. "Während meiner Abwesenheit wurde unser Lager erneut von den Dämonen heimgesucht."
Dämonen.
Das Wort hallte finster und bedrückend in Rones Gedanken und er versuchte sich zu verstecken, rückte näher an seinen Vetter heran, lehnte sich an ihn und versuchte sich in den Falten seines Umhangs zu verbergen, während sein Blick hilfesuchend umherglitt und auf einem der zahlreichen Wächter gerichtet blieb, der gerade dabei war, das große Tor wieder zu verriegeln. Erst von innen konnte man sehen, wie verschrammt und brüchig die Türen waren, das Holz war trocken und rau, Rillen und Unebenheiten waren deutlich, Löcher zeigten sich dort, wo Holzstücke von den scharfen Klauen der Tieflanddämonen herausgebrochen waren.
Dario, der bis jetzt ruhig und wortlos dagestanden hatte, sein Gesicht eine steinerne Maske wie gemeißelt, hob jetzt das Haupt aus den dunklen Schatten der Kapuze, reckte sein mit Bartstoppeln überwuchertes Kinn dem General entgegen und seine Augen funkelten wissend.
"Sie haben sich den Tunnel und eine der Hallen genommen, bei Abenddämmerung werden sie hier sein und ihre Rache wird verheerend sein. Sie haben bereits sechs unser tapfersten Krieger mit in den Tod gerissen..."
"Wir sind da, das reicht!", unterbrach ihn der Hexer fest und die Bewegung seiner knochigen Hand sollte beweisen, dass sie es sein würden, welche die Verlorenen ersetzen würden. "Lasst uns nur für einige Zeit ruhen."
"Bis heute Abend sind es nur noch wenige Stunden! In so kurzer Zeit könnt ihr nicht den Schlaf von einer Woche nachholen!"
"Ich kann!" Der Ton des Druiden, machte dem anderen klar, dass ein Wiederspruch sinnlos war. Thronn würde mitkämpfen und sein Arm und sein Geschick würde sich in dieser Nacht vereinigen und die Dämonen zurückschleudern, wie eine Wand aus Flammen, die sich plötzlich vor den Angreifern erheben würde. Ja, dachte der Hexer von Rohan, eine Wand aus Feuer, aus blauweißem Druidenfeuer würde sie aufhalten! Er ballte die Hand leicht zu einer Faust und suchte in sich. Er fand die Magie unverändert und kalt vor, eingeschlossen in einem Raum nahe bei seinem Herzen. Es war gefährlich, doch es musste dieses Risiko eingehen, nicht nur um seinetwillen oder um Rohans, sondern um den Willen Rones...
 
© Benedikt Julian Behnke
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Und schon geht's weiter zum 10. Kapitel: "Der Geheimgang"

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