Ich stand wie angewurzelt da und starrte auf den Eingang. Die Kühe
und der Hund taten das selbe. Bis auf das Rauschen des Windes in den Bäumen
war es still. Nichts geschah. Schließlich ging ich auf den Tunnel
zu und zog die erstarrten Tiere hinter mir her. Die Wände um mich
herum schienen sanft zu glühen, gerade genug, dass ich erkennen konnte,
wohin ich ging. Als wir einige Schritte im Inneren des Felsen waren, begann
der Boden plötzlich zu vibrieren. Ich sah mich um, hinter mir schloss
sich der Fels geräuschlos. Mir blieb nichts anderes übrig, als
mit den Tieren weiterzugehen, was auch nicht besonders schwierig war, weil
sie vor der unheimlichen Bewegung hinter ihnen flüchten wollten. Der
Weg führte in einer Linkskurve gleichmäßig bergab. Wir
liefen und liefen, und so langsam taten mir die Füße weh. Schließlich
blieb ich stehen. Der Tunnel hinter mir hörte auf zu verschwinden.
Ich ging weiter und das seltsame Schauspiel ging weiter, ich blieb stehen
und das vibrieren stoppte wieder. Ich ging ein Stück zurück und
berührte den Teil des Steins, der vorher noch nicht da gewesen war.
Er war kalt und relativ glatt, so wie der übrige Tunnel, und steinhart.
Mich interessierte, wie der Mechanismus funktionierte, und ob der Stein
flüssig oder heiß wurde, wenn er den Tunnel "verschlang" und
ob ich vielleicht durch den Stein hindurchgreifen, oder den Vorgang umkehren
konnte, wenn ich schnell genug war. Also ging ich weiter, als das Vibrieren
nach einer Weile wieder begann, drehte ich mich um und rannte so schnell
ich konnte wieder zurück und fasste an den Fels. Zu spät, der
Vorgang hatte lange gestoppt und der Stein war kühl und fest. Ich
versuchte es wieder und wieder. Das Ergebnis blieb das selbe. Plötzlich
donnerte eine Stimme durch den Gang:
"Elisa! Hör auf zu spielen und bring mir mein Frühstück!"
Merlin! Offenbar konnte er alles, was ich tat, beobachten. Ich hasste
diesen Drachen!
Also setzte ich meinen Weg fort und erreichte schließlich die
unterirdische Halle. Merlin lag auf seinem Bett und sah die Kühe gierig
an. Mich beachtete er nicht weiter. Hugin und Munin saßen vor ihm
auf dem Boden und beobachteten mich im Gegensatz dazu ganz genau. Mit einem
Brüllen, bei dem die ganze Halle bebte, erhob sich Merlin von seinem
Lager und schien im Raum zu wachsen. Er streckte sich in alle Richtungen,
auch die kleinen Stummelflügel, die mir vorher nie aufgefallen waren.
Stummelflügel nur im Vergleich zu dem gigantischen Rest seines Körpers.
"Geh zur Seite, Elisa." Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, ich
sprang zur Seite und zog den zitternden Hund mit mir. Der Drache schien
sich vor den paralysierten Kühen niederzuknien. Vorsichtig hob er
eine seiner schwarzen Krallen und durchtrennte damit die Halsbänder
der Tiere. Dann streckte er seine Klauen und leckte sich genüsslich
die Schnauze. "Du solltest jetzt lieber die Augen schließen."
Natürlich schloss ich die Augen nicht. Ich sah wie der gold-grüne
Riese eine Kuh mit zwei 'Fingern' packte und hochhob, das Maul öffnete
und sie hineinfallen ließ. Das Tier wehrte sich nicht, mit wie unter
Schock aufgerissenen Augen, wurde sie von den spitzen Raubzähnen des
Drachen zermalmt. Die übrigen Tiere standen dicht zusammengedrängt
und sahen ihren Vernichter an. Dieser schoss auf sie zu und riss alle drei
gleichzeitig in die Luft. Mit einem furchtbaren Krachen von Knochen und
Spritzen von Blut verschwanden sie in seinem Rachen. Mir wurde übel.
"Das war lecker!" Mit diesen Worten leckte er ein paar Blutspritzer von
seiner Schnauze und stieß auf. In diesem Moment kam mir mein Essen
wieder hoch. Nur die Angst vor dem Drachen hielt es noch zurück. "Und
den Hund gibt’s zum Nachtisch?" Er zog sich einen rosa Fleischbrocken aus
den Zähnen. Ich übergab mich auf den Fußboden.
Merlin grinste mich an und entblößte dabei bestimmt alle
seiner riesigen Zähne. Ich taumelte bis zur Höhlenwand zurück
und stützte mich ab, alles drehte sich. Das goldschimmernde Ungeheuer
begann zu lachen. Die ganze Höhle vibrierte vom Dröhnen, wie
jedes mal, wenn der Gigant sich viel bewegte oder Töne von sich gab.
Jetzt machte er mir wirklich Angst. Er war offensichtlich nicht nur groß,
grausam und gefährlich sondern auch noch wahnsinnig! Es strich sich
eine Träne aus den Augen und schlug mit einer Pranke auf den Boden.
Die Erde bebte so stark, dass ich hinfiel. Mein Hund verschwand laut kläffend
und so schnell er konnte in einem der Tunnel.
"Tut mir leid Elisa, ich hab´s wohl etwas übertrieben.
Aber du hättest dein Gesicht sehen müssen!" Er fing von neuem
an zu prusten. "He, es war ein Scherz, ich habe mich nur so aufgeführt,
um dich etwas zu schocken, ich bin doch ein zivilisierter Drache."
So sicher war ich mir da nicht.
Er sah mich eine Weile an, dann sagte er: "Du willst sicher dein
Gesicht waschen. Du weißt ja noch, wo das Bad ist, oder? Auf den
Hund passe ich so lange auf." Mit diesen Worten leckte er sich über
die Zähne.
"Ja, ich weiß es noch. Oh, du musst nicht auf ihn aufpassen,
er kann ruhig mitkommen..."
Merlin grinste "Na gut, nimm ihn mit."
Im Badezimmer entspannte ich mich etwas. Das kalte Licht hier wirkte
nicht so hypnotisch und magisch, wie das goldene Licht in der großen
Halle. Auch mein Hund schien sich etwas zu entspannen. Er hob das Bein
und pinkelte in eine Ecke.
"Na, wir beide hinterlassen dem Drachen ja eine schöne Sauerei."
Der Hund sah mich verständnislos an. "Ist schon ok."
Ich wusch mir das Gesicht und kehrte schnell in die Halle zurück.
Zwar hatte ich immer noch Angst vor dem Drachen, aber ich wollte nach dem
ganzen Warten und der Ungewissheit in den letzten Tagen endlich wissen,
was auf mich zukam. Nach einigem Zögern folgte mir der Rottweiler.
Merlin wartete schon. "Kommt, lasst uns gehen, ich freue mich sehr
darauf, meine kleinen Freunde wieder zu sehen."
Die beiden Raben verschwanden sofort im linken der drei Gänge,
aber ich sah ihn nur verständnislos an. "Kleine Freunde? Gehen? Wohin
denn?"
"Lass dich überraschen,... dumdidum..." Er summte gutgelaunt
vor sich hin, während er mich vor sich her in den Gang schob.
Wie die anderen Gänge war auch dieser kreisrund und von einem
warmen Licht erleuchtet. Er endete abrupt in einer Sackgasse.
"Tretet bitte zur Seite", sagte Merlin in einem feierlichen Tonfall.
Dann trat er genau vor die Wand und begann zu singen. Dabei hielt er die
Augen geschlossen und wiegte den Kopf hin und her. Einige Zeit geschah
gar nichts und der Drache, der in einem unverständlichen Singsang
vor einer einfachen Felswand hin und her schwankte, wirkte irgendwie lächerlich.
Dann aber wurde es in der ganzen Höhle dunkel und das magische Glühen
verschwand. Vor Merlin löste sich die Felswand auf und ein blendendes
rotes Licht erschien stattdessen an dieser Stelle. Merlin öffnete
seine Augen und nickte den Raben zu. Diese flogen ohne zu zögern direkt
in das Licht. "Jetzt du." Er schob mich mit der Schnauze vorwärts.
Dieses etwas erschien mir wie eine Wand aus flüssigem Licht. Ein Tor
zur Hölle vielleicht, musste ich denken. Ich streckte die Hände
aus. Als meine Fingerspitzen die flüssige Masse berührten, spürte
ich eine angenehme Hitze. Was immer meine Zukunft sein würde, sie
lag hinter diesem Licht. Ich holte tief Luft, schloss meine Augen und trat
einen Schritt vorwärts. Ein kräftiger Sog riss mich vorwärts.
Ich verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum und schwebte im Nichts.
Plötzlich prallte ich mit dem Kopf gegen etwas hartes. Ich riss die
Augen auf und schnappte nach Luft. Das Harte etwas war ein Fußboden.
Ich befand mich in einer weiteren Höhle. Jemand stand am Eingang und
lachte mich aus. Eine weiße Gestalt mit einer Fackel in der Hand.
Sie kam auf mich zu und redete in einer fremden Sprache auf mich ein. Als
ich nicht reagierte, griff die Gestalt nach meiner Hand und zerrte mich
zur Seite. Einen Moment später kam Merlin durch das Tor, das von dieser
Seite aus blau leuchtete. Als der riesige Drache den Boden berührte,
vibrierte die Halle. Hätte mich die Gestalt nicht zur Seite gezogen,
wäre ich jetzt wahrscheinlich tot! Sie ließ mich los und ging
auf Merlin zu. Die Gestalt schien ein Mensch zu sein, ein junger Mann.
Er sprach mit Merlin und verbeugte sich vor ihm. Immer noch beschienen
von dem blauen Licht, erschien die Szene irgendwie geisterhaft und unnatürlich.
Der Drache hatte ein kleines, schwarzes Etwas zwischen den Krallen. Den
Hund! Er ließ ihn los und das zitternde Tier rannte hilfesuchend
auf mich zu. An ihn gepresst und wie ein Kind auf dem Boden sitzend, beobachtete
ich diesen seltsamen Menschen. Er war ganz in weiß gekleidet und
hatte lange weiße Haare. Trotzdem war er nicht alt, er schien nur
einige Jahre älter als ich zu sein. Ich war damals knapp 16 Jahre
alt. Das blaue Licht im Hintergrund verschwand und weißer Fels erschien
an dieser Stelle. Überhaupt war der gesamte Fels um mich herum so
kalkweiß, wie es mein schadenfroher Retter war. Dieser grinste mich
jetzt wieder breit an. Ich warf einen bösen Blick zurück und
mein Hund begann leise zu knurren. Ein Mensch war wohl eher ein Gegner
mit dem er fertig werden konnte.
Merlin drehte den Kopf zu mir: "Komm mit Elisa, hier beginnt dein
neues Leben."
Ich hätte lieber selbst entschieden wie und wo mein neues Leben
beginnen würde. Bestimmt nicht mit einer solchen Blamage.
Wir verließen den Raum mit dem Tor, oder was immer es war,
und betraten ein unterirdisches Labyrinth aus Gängen. Die Fackeln
an den Seiten gaben dem hellen Stein ein warmes Aussehen. Es war eine schöne
Abwechslung zu dem unnatürlichen Glühen in der anderen Höhle.
Während wir liefen, fragte Merlin mich in herablassendem Ton: "Wie
heißt dein Hund eigentlich? Du hast sicher noch keinen Namen für
ihn, oder? Jedes Lebewesen braucht..."
"Schiller."
"Was?"
"Der Hund, er heißt Schiller", sagte ich müde.
"Was soll denn das für ein Name sein?"
"Das ist der Name eines... ach vergiss es, ist doch egal."
"Ich sehe schon, mit dir kann man heute nicht mehr vernünftig
reden. Ich werde jetzt gehen, am besten Scythe bringt dich zu den anderen
und zeigt dir, wo du schläfst." Mit diesen Worten verschwand der Drache
in einem der vielen Gänge.
Etwas unwohl war mir jetzt doch, allein mit diesem Fremden.
Er zeigte auf sich, "Scythe", dann auf mich. Aus vielen Filmen wusste
ich, dass ich ihm jetzt meinen Namen nennen würde, dann würden
wir uns ineinander verlieben und am Ende...
Ich musste über meine Gedanken lachen, aber das hier war wirklich
alles, wie in einem schlechten Film.
"Elisa."
"Elissâ", wiederholte er mit einer seltsamen Betonung, dann
deutete er auf den Hund, der misstrauisch Abstand zu ihm hielt, und sagte:
"Schilla."
"Ja, Schiller." Er schien stolz auf sich zu sein. Vielleicht war
ja doch nicht alles so schlimm wie ich gedacht hatte.
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