Der Gesang des Kornvogels von Latsi

Die Geräusche waren ihm mehr Zuhause als die Wände, die ihn umschlossen. Davon hatte er schon so viele gesehen - ein Krieger kannte kein Heim. Das Scheppern des Kürasses, als er ihn von der Wandhalterung nahm, das leise Knarren der Lederbänder beim Schließen, das kaum hörbare, schabende Geräusch, das die auf seine Finger gleitenden ledernen Handschuhe machten, und schließlich das feine Klingeln und Kratzen seiner braunen Haare auf dem Helm, als sie, mit dem Haken durch die Öffnung über dem Scheitel gezogen, lang daran herunterfielen - die vertrauten Geräusche gaben ihm das Gefühl von Geborgenheit. Sicherheit. Zukunft. Rückhalt und Stärke.
Er war Wirbelklinge, der Krieger. War es schon gewesen, als er seinen Namen erhielt, lange vor seiner Ausbildung, und er würde es um so mehr sein, wenn er in Kürze ein Bortenhelm werden und fünfzig Männer anführen würde. Er fuhr mit den Fingern leicht über die Unterkante seines Helmes, die Stelle, an der dann die silberne Borte aus Zwergenproduktion angebracht werden würde, und lächelte. Dann hing er sich mit einer geübten Bewegung seinen Waffengurt über die Schulter, stieß die knarrende Tür auf und trat ins Freie. Es war Zeit für seine Streife.
Die fünf ihm zugeteilten Streifenreiter standen, wie es sich gehörte, in einer Reihe vor seiner Tür und warteten auf ihn. Prüfend wanderten seine Augen über ihre Ausrüstung. Glänzende Kürasse und Helme, die Schwerter vorschriftsmäßig an der linken Seite, einer statt dessen eine Muskete, alle hatten die dicksohligen Holzschuhe blankgewienert. Zwei von ihnen kannte er, und seine Nasenflügel zuckten unzufrieden, als er Regenlaufs dunkel über den Helm fallende Locken sah. Regenlauf! Ausgerechnet. Er sagte nichts, drehte sich nur um und ging zu den Ställen hinüber.
Sein kastanienbrauner Renner schnaubte empört, als Wirbelklinge seinen Ärger in den Schwung legte, mit dem er den Sattel auf dessen Rücken beförderte. Beruhigend strich er dem Tier über die helle Mähne und versuchte, selbst gelassener zu werden. Es gelang ihm nicht so recht. Regenlauf. Der Schwächling. Wirbelklinge verstand nicht, wieso der Silberbrust, der Führer ihrer Hundertschaft, den jungen Mann immer noch dabehielt. Dass ein Krieger weinte, wenn sein Bruder tot von einer Streife zurückgebracht wurde - gut, das konnte man noch hinnehmen. Aber dabei war es ja nicht geblieben. Regenlauf zitterte seitdem jedes Mal, wenn er dem Tod auch nur in Gestalt eines wegen Lahmens zu erschießenden Renners begegnete, und wenn ein Mensch starb, weinte er, ob er denjenigen gekannt hatte oder nicht. Wirbelklinge schüttelte den Kopf. Auf Streife mit einem von Todesfurcht durchdrungenen Schlappschwanz - er hoffte, dass seine Sorgen unbegründet waren.
In flottem Trab verließen sie das Dorf, in dem sie einquartiert worden waren. Es lag zwar im Norden Trutznoilas, aber eigentlich nicht in direkter Nachbarschaft zu den Hochebenen, auf denen die nomadisch lebenden Gelbmäntel ihren Herden folgten, und von wo aus die Rebellen ihren Aufstand gegen den König in Trutz verfochten. Dass sie hier bereits Patrouille ritten, war also eine reine Vorsichtsmaßnahme - eine Begegnung mit Rebellen war kaum zu erwarten. Wirbelklinge seufzte leise. Er hatte mehrmals um Versetzung an die Front gebeten, wo es eher möglich war, sich auszeichnen zu können, aber bisher hatte er jedes Mal eine Absage bekommen. Wenn er seinen Wert erneut zeigen könnte, würde er seine Beförderung schneller erhalten, aber hier, wo es nur um geradezu symbolische Wachsamkeit ging, war es mehr als unwahrscheinlich, eine Chance dazu zu bekommen. Missmutig starrte er auf den wippenden Pferdehals vor ihm. Sie ritten jetzt im Schritt: es hatte keinen Sinn, die Tiere vorzeitig zu verausgaben, die Streife umfasste einen weiten Bogen um das Dorf.
Er drehte sich im Sattel um und blickte die Reihe der ihm müde folgenden Krieger entlang. Direkt hinter ihm ritt Krummnagel - mürrisch, aber zuverlässig -, dann der blonde Krieger, dessen Namen er nicht kannte, dann Regenlauf und die beiden übrigen. Sogar aus dieser Entfernung konnte Wirbelklinge die Angst in Regenlaufs Haltung ausmachen. Er atmete verächtlich schnaubend aus, dann hob er den Arm, um das Zeichen zum erneuten Antraben zu geben und so die Krieger aus ihrer Lethargie zu wecken. Er selber gab ja nicht gerade das beste Beispiel, schalt er sich im Stillen.
Die Sonne verwandelte die reifen Felder, zwischen denen sie hindurchritten, in golden leuchtende Flächen. Ein Kornvogel sang seine glückliche kleine Weise, und die Hufe der Renner waren auf dem grasbewachsenen Weg kaum zu hören. Links vor ihnen, eine gute Strecke entfernt, war wie ein dunkler Schatten der Anfang eines kleinen Wäldchens zu sehen. Wirbelklinges Augen wanderten über diese friedliche Landschaft, ohne ihre Schönheit wahrzunehmen. Erstaunlich eigentlich, dass er es trotz der ungünstigen Ausgangslage geschafft hatte, die Zusage zur Beförderung zu bekommen. Nun ja, besonders stolz war er auf die Festsetzung eines Spions auch eigentlich nicht gewesen. Schon deshalb hätte er sich gern noch einmal in einem wirklichen Kampf bewährt...
"Da!" Der atemlose Ruf riss ihn aus seinen Gedanken und im Sattel herum. Der ausgestreckte Arm des blonden Kriegers wies auf das Wäldchen. Wirbelklinge richtete den Blick dorthin. Zuerst sah er nichts, doch dann - ja, tatsächlich: rasend schnell bewegten sich schemenhafte Figuren aus dem Wald in ihre Richtung. Rebellen! Mindestens zwanzig, eher dreißig Reiter. Einer von ihnen musste ohne Rücksicht auf sein Tier schnellstens zurückreiten, um das Lager zu warnen! Er fing Regenlaufs bittenden Blick auf und wandte den seinen ab. "Du!" sagte er und zeigte auf den ihm unbekannten Krieger auf dem kräftig wirkenden Schimmel. Wortlos wendete der Mann den Renner und galoppierte über dessen Hals geduckt schräg zurück durch das Feld zu ihrer Rechten.
"Wir müssen sie so lange wie möglich aufhalten!" rief Wirbelklinge den übriggebliebenen vier Reitern zu. Krummnagel stieß einen heiseren Kampfschrei aus und presste seinem Pferd die Knie in die Flanken. Erschreckt sprang es nach vorn und galoppierte durch das hohe Korn auf die Feinde zu. Vier Kämpfer - er rechnete nicht mit Regenlauf - gegen dreißig. Es war Wahnsinn, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Wirbelklinge setzte Krummnagel nach, aus dem Augenwinkel sah er, dass auch die anderen ihre Pferde in unterschiedlichen Winkeln in das Feld trieben. Es musste ihnen gelingen, eine einigermaßen lange Reihe zu bilden, so dass die Rebellen an mehreren Punkten gleichzeitig aufgehalten wurden.
Wirbelklinge zog seine Wurfmesser. Mit dem Schwert war den Gelbmänteln nicht beizukommen, sie hielten niemals an. Man musste sich ihrer Kampfweise anpassen, wenn man eine Chance haben wollte.
Der Kornvogel hatte längst aufgehört zu singen. Das Donnern der Hufe von dreißig kleinen Nordpferden hatte ihn vertrieben. Jetzt konnte Wirbelklinge schon die gelblichen Wolltuniken sehen, die den Nordmenschen ihren Namen gegeben hatten. Unter den dunklen Lederkollern flatterten die Schöße hervor, gelbe Arme spannten Armbrüste, die Ohrenklappen ihrer Mützen sausten im Wind, den struppigen kleinen Pferden ging das Korn bis zum Bauch - ein Bolzen schoss an seinem Ohr vorbei, er warf sein erstes Messer, gleichzeitig dröhnte die Muskete: zwei Rebellen weniger, sie warfen die Pferde herum, rasten ein Stück zurück, aber er wusste, sie würden wiederkommen.
Ein schneller Blick zu seinen Leuten - die Muskete rauchte, ihr Träger lud sie hastig neu. Der Renner des Blonden galoppierte mit leerem Sattel davon, Krummnagel hielt sich den Arm, Regenlauf hielt einen Wurfstern bereit. Regenlauf? Tatsächlich! Aber es blieb keine Zeit für weiteres Nachdenken, denn wieder stürmten die Gelbmäntel heran. Wieder die kurzgeschnittenen Mähnen und verfilzten Schweife, die dunklen Lederkappen, die hohen Stiefel mit dem Umschlag - die fliegenden Bolzen, ein wirbelnder Wurfstern von links, ein Musketenschuss, zwei Messer, und Wirbelklinge warf sein letztes nach, traf nicht - dafür spürte er, wie etwas ihm mit einer solchen Wucht durch den Harnisch in die Schulter rammte, dass er vom Pferd stürzte. Ein fahlgelber Pferdebauch sprang über ihn hinweg, sein eigener Renner wieherte schrill, ein reißender Schmerz durchglühte seine Schulter und nahm ihm einen Augenblick den Atem, dann biss er die Zähne zusammen und zog sich auf die Knie hoch. Die Rebellen hatten bereits die ersten Meter des nächsten Feldes durchquert, ein kastanienbrauner und ein schwarzer Renner galoppierten hinterher. Von seinen Gefährten war nichts zu sehen. Alle tot?
Wirbelklinge stand mühsam auf. Taumelnd ging er über das nur teilweise zertrampelte Feld. Die Sonne verschwand hinter einer Wolkenbank.
Den Blonden fand er zuerst. Er rührte sich nicht und schien in den Himmel zu starren... Tot. Mit versteinertem Gesicht stolperte Wirbelklinge weiter, nur um bald darauf auf den verkrümmten Leichnam Krummnagels zu stoßen. Er biss sich auf die Lippen. Auf seine Art hatte er den grimmigen Mann gemocht.
Ein Stöhnen lockte ihn weiter. So nah? Wirbelklinge konnte im hohen Korn nichts sehen. Er lief auf das Geräusch zu. Leben! Nicht alle waren tot!
Als er die Halme beiseite schob, sah er auf einen Blick, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde: Regenlauf war blutüberströmt. Eine breite Schleifspur und sein völlig verdreht daliegendes linkes Bein sprachen für sich - sein Renner war durchgegangen. Als er näher kam, sah Wirbelklinge, dass das nicht das Schlimmste war. Ein Bolzen hatte den jungen Mann seitlich in den Hals getroffen, so dass sein Leben langsam aus ihm herausfloss. Wirbelklinge fiel neben ihm auf die Knie. Alles, was er in diesem Moment wollte, war sich bei Regenlauf für seine Verachtung zu entschuldigen, aber er brachte kein Wort heraus. Der Verwundete schlug die Augen auf und sah ihn an.
"Haben... aufgehalten?" krächzte er, und bei jedem Wort verstärkte sich der Blutstrom aus seinem Hals.
Wirbelklinge konnte nur nicken.
Ein erstaunter Ausdruck huschte auf einmal über Regenlaufs Gesicht. Er riss die Augen weit auf, und Wirbelklinge sah etwas darin glänzen. Er wandte den Kopf um, in die Richtung, in die der Verwundete schaute - doch dort gab es nichts, nur Korn und grauen Himmel. Was war das? Die Sonne war nicht zu sehen, und doch schimmerten Regenlaufs Augen wie von einer Lichtspiegelung! Ein kalter Schauer lief über Wirbelklinges Rücken.
Regenlauf holte noch einmal mühsam Luft. Ein strahlendes Lächeln erhellte sein Gesicht, als er flüsterte: "Er ist ja nicht Schrecken, sondern Frieden!"
Ein letzter Schwall Blut rann aus seiner Wunde, dann fiel sein Kopf auf die Seite. Auch er war tot. Immer noch lächelte er, und als Wirbelklinge den Blick erneut auf seine Augen richtete, sah er, dass der goldene Glanz darin die Form eines Menschen hatte, der die Arme ausbreitete. Einen Wimpernschlag später war die Erscheinung verschwunden.
Im gleichen Moment begann der Kornvogel wieder zu flöten.
Wirbelklinge hockte vor der Leiche und zitterte. Tränen rannen ungehindert über seine Wangen, und er schämte sich nicht dafür.
Er konnte später nie sagen, wie lange er dort gesessen hatte, den Gesang des Kornvogels im Ohr, bis ihn ein warmer Hauch im Nacken traf, er sich wie im Traum auf seinen Renner schwang, unterwegs noch den humpelnden Musketenschützen aufgabelte und schließlich im Lager eintraf. Dass die Rebellen wegen der rechtzeitigen Warnung vernichtend geschlagen worden waren und dass ihm eine Belobigung bevorstand, interessierte ihn nur am Rande. Die Silberborte an seinem Helm war ihm völlig gleichgültig geworden.
Er hatte in seinem Leben schon viele Tote gesehen - diesmal war er dem Tod selbst begegnet.
 
© Latsi
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