Lebe von Marc Kuhn

Schnee legte sich über eisengraues und schwarzschimmerndes Fell. Beharrlich in seinem Versuch die beiden ruhenden Körper vollständig zu bedecken. Doch plötzliche Böen und das gelegentliche Zucken einer der beiden Wölfe machte dies zu einem schwierigen Unterfangen.
Fest zusammengedrängt lagen sie in einer flachen Mulde und trotzten auf die unterbewußte Art dem Schicksal, die jedem Wesen mehr oder weniger gegeben ist, keinem völlig fehlt.
Ein leises Wimmern entrang sich der Kehle des Weibchens. Fast nicht wahrnehmbar im an-  und abschwellenden Wind.
Müde und mit deutlicher Anstrengung hoben sich die Lider des alten Wolfes, der neben ihr lag. "Was bedrückt dich, Tochter?" fragte er leise.
Erst schien ihm nur der Wind zu antworten, doch dann kam ihre Antwort. Mit einer Wut, die den Alten überraschte, fauchte sie: "Ich will dich nicht gehen lassen!"
Stille schloß sich ihrem Ausbruch an.
Enttäuschung und Wut begannen in dem Weibchen aufzusteigen. Wie konnte er nur hier liegen und auf sein Ende warten. War das die Art zu leben, die der Alte und ihre Erfahrungen sie gelehrt hatten. Nur zu ertragen? Nicht mehr zu kämpfen? Gerade wollte sie erneut aufbegehren, als sie an ihrer an ihn gepreßten Flanke ein Zittern wahrnahm. Wut wandelte sich in Besorgnis. Sie befürchtete das letzte Aufbegehren seines Körpers zu spüren.
Geschmeidig schnellte sie in die Höhe um ihn genauer zu betrachten. Sorgenvoll ruhte ihr Blick auf ihm.
Doch er lachte.
Die letzte Kraft die sein altes Herz noch hergab, verwandte er darauf zu lachen, seinen Kopf zu heben und dem Weibchen in die Augen zu sehen das ihn auf seiner letzten Wanderung begleitet hatte.
"Warum?" fragte er.
Gebannt von der Stärke, mit der er dieses eine Wort hervorgebracht hatte, und dem humorvollen, aber harten Glitzern in seinen Augen fand sie zuerst keine Antwort.
"Warum?" flüsterte sie dann: "Warum ich dich nicht gehen lassen kann? Warum mein Herz brennt bei dem Gedanken dich zu verlieren?"
Wärme kam in seinen Blick, auch wenn seine Erheiterung noch immer deutlich zu spüren war. Doch es war deutlich, daß ihm bewußt war, daß es an ihr war zu reden. So wartete er.
Als ob sie plötzlich die Alte, am Ende ihres Lebens stehende Wölfin wäre sank sie vor ihm im Schnee zusammen. Die Wolke ihres Atems vermischte sich mit der seinen. Für einen Moment schloß sie die Augen, als wolle sie sich vor der Welt verstecken. 
Doch sie spürte seinen Blick auf ihr ruhen und so öffneten sich ihre Lider widerstrebend. Noch immer starrte er sie unverwandt an und schien jetzt der kräftigere von beiden zu sein. Verschämt wandte sie den Kopf ab.
"Ich habe Angst", kam es langsam aus ihr hervor. "Ich habe Angst vor dem Leben, der Verantwortung, der Einsamkeit. Ich kann ohne deinen Rat nicht weitermachen. Wenn du stirbst, dann stirbt der Teil von mir, der mich befähigte, mein Leben zu leben."
Wieder antwortete nur Stille auf ihre Worte. Sie suchte seinen Blick und mußte feststellen, das er sie ernst musterte. Aber er schwieg.
Sie knurrte. "Du bist der Vater des Rudels. Du hast mich und meine Mutter vor mir gelehrt, was es heißt zu leben. Wie kannst du erwarten, daß ich dich gehen lassen kann?"
Leichte Enttäuschung kam in seinen Blick. "Ich habe dich nichts gelehrt. Du hast gelebt. Alles was ich für dich tat war mein eigenes Leben zu leben im Bewußtsein für dich und das Rudel da zu sein. Bürde mir nicht die Verantwortung auf, die du selbst nicht bereit bist zu tragen."
Verletzter Stolz klang aus ihren antwortenden Zischen: "Aber du..."
Ein weiteres Lachen antwortete ihr. "Ist das die Rudelgefährtin, die ihr kurzes Leben mit soviel Trotz, soviel Wut aber auch soviel Freude und Liebe gelebt hat? Will sie mir erzählen, daß sie das alles wegen mir, einem alten Wolf, der nie mehr für sie sein konnte als für den Rest des Rudels, getan hat?" 
Mit erstaunlicher Kraft erhob er erneut seinen Kopf um nun von oben in ihre Augen zu schauen.
"Nein. Das bist du nicht. Bezweifle das nie. Du hast gelebt wie jeder von uns. Du hast das genommen, was sich dir in den Weg stellte und bist auf deine Art damit fertig geworden. Mehr kann niemand von dir verlangen. Und wie hätte ich dich das lehren sollen? Diese einfache Wahrheit?"
Sie wimmerte: "Du warst immer für mich da..."
"Das war ich. Aber niemals als Quelle deiner Kraft. Die ruht in dir. So wie die meine in mir. So wie die deiner Tochter in ihr ruht." Müde sank sein Haupt wieder auf seine Pfoten herab. "Oh Tochter", sagte er mit einem liebevollen Unterton, "die Sorge in deinem Herzen ist jedem von uns eigen. Sein Leben lang."
Sanft stieß er sie mit der Schnauze an. "Sehr lange habe ich gelebt. Und nie anders als du. Ich bin glücklich. Finde auch du irgendwann deinen Frieden."
Seine Augen schlossen sich. Es wurde still.
"Aber wie?" fragte sie.
"Du weißt es, Tochter. Lebe!" kam seine leise, murmelnde Antwort.
Ihr Blick ruhte auf ihm. Gemeinsam stieg der Nebel ihres Atems auf, um vom Wind zerrissen zu werden.
Dann war es nur noch ihr leises Wimmern, das die Luft Gestalt annehmen ließ.
Lange lag sie vor ihm und bewegte sich kaum. Ihr Wimmern verebbte.
Der Schnee rutschte von ihrer Flanke als sie sich letztendlich erhob. Behutsam legte sie ihren Kopf zum Abschied auf seinen Rücken.
Dann wandte sie sich entschlossen ab und rannte in das dichte Schneegestöber hinein. Sie hatte ein Leben zu leben. Und egal was er gesagt hatte, dachte sie mit einem Wolfslächeln, es gab viel, was er sie gelehrt hatte.
 
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Und hier wartet schon die nächste Story: Traumauge und Schattenläufer

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