Das Lied der Wanderin - Drachentränen von Ela
Kapitel 1

Mara öffnete die Haustür und trat nach draußen. Eisige Nachtluft schlug ihr entgegen und augenblicklich lief ihr eine Gänsehaut über die Arme. Sie wickelte sich enger in ihre Jacke und sah hinauf in den Himmel. Einige wenige Sterne blitzten durch die Wolken. Es sah nach Regen oder vielleicht sogar Schnee aus.
Sie drehte sich zu ihrer Freundin um, die noch im Hausflur stand.
"Mach’s gut, Sonja und sag deinem Mann einen schönen Gruß von mir."
"Werde ich tun. Und du fahr vorsichtig, und lass dich nicht unterkriegen." 
"Ich werd’s versuchen", antwortete sie und spürte wieder diesen Kloß im Hals. Auf einmal fielen ihr noch so viele Dinge ein, die ihr auf dem Herzen lagen und in denen sie den Rat ihrer Freundin dringend gebrauchen konnte. Aber es war schon spät und Sonja hatte einen langen Tag hinter sich und Mara wollte sie nicht noch länger aufhalten. 
Sie legte die wenigen Schritte bis zur Straße im Laufschritt zurück und winkte ihrer Freundin noch einmal zu, bevor sie ihren Wagen aufsperrte und sich hineinfallen ließ. Mara sah auf die Uhr. Halb drei. Kein Wunder, dass sie müde war. Sie gähnte ungeniert und freute sich schon auf ihr weiches Bett. Wenn es jetzt nicht noch zu regnen oder zu schneien anfing, würde sie in einer knappen Stunde zuhause sein.
Zwanzig Minuten später verließ sie die Autobahn und bog auf die Landstraße ab. Am Himmel hatten sich inzwischen alle Sterne hinter dichten Wolken versteckt und der Wind war stärker geworden. Die Bäume, die wie Zinnsoldaten entlang der Straße aufgereiht waren, reckten ihre kahlen Äste in die Dunkelheit, und ab und zu wirbelte wie eine letzte Erinnerung an wärmere, sonnige Tage noch ein einsames Blatt durch die helle Schneise, die die Scheinwerfer aus der Nacht herausschnitten, nur um Augenblicke später wieder von der allumfassenden, gleichgültigen Dunkelheit verschluckt zu werden. 
Ein Gefühl von Leere und Einsamkeit machte sich in Mara breit und sie schaltete das Radio ein. Aber welchen Sender sie auch anwählte, überall nur Lieder über unglückliche, verlassene Menschen, die einer zerbrochenen Liebe hinterher trauerten. 
Genervt schaltete sie das Radio wieder aus. Warum war das Leben nur so kompliziert? Warum gab es kein vorprogrammiertes Happy End wie im Kino, dann könnte sie sich sicher sein, dass irgendwo ein strahlender Held auftauchen und sie aus ihrem trübseligen Dasein retten würde. 
Aber das hier war eben kein Film, das war das richtige Leben. Und außerdem waren die Zeiten der Helden und edlen Ritter, die Prinzessinnen aus den Klauen böser Zauberer und feuerspeiender Drachen befreiten, sowieso endgültig vorbei. 
Mara seufzte resigniert und rieb sich die Augen. Langsam wurde sie wirklich müde. Sie rutschte ein wenig in ihrem Sitz hin und her und öffnete das Fenster einen Spalt. Vielleicht half ja auch ein Kaugummi. Sie kramte in ihrer Handtasche, die auf dem Beifahrersitz lag und ließ für einen Moment die Straße aus den Augen. Als sie wieder nach vorne schaute, einen noch einigermaßen unversehrten Streifen Kaugummi zwischen den Zähnen, fand sie sich urplötzlich einer schier undurchdringlichen weißen Wand gegenüber.
Für die Dauer eines Wimpernschlages war sie so irritiert, dass Mara gar nicht verstand, was um sie herum vorging. Erst, als der Schreck einen enormen Schwall Adrenalin durch ihren Körper jagte, dämmerte es ihr.
"Verdammte Scheiße!", presste sie zwischen Zähnen und Kaugummi hervor. "Wo kommt denn dieser  verflixte Nebel auf einmal her?"
Ohne zu überlegen, klammerte sie sich an das Lenkrad, trat mit Wucht auf die Bremse –  und da sah sie ihn. 
Er stand direkt vor ihr, mitten auf der Straße, in einem schwarzen wehenden Mantel, die Arme weit ausgestreckt, als wollte er ihren Wagen mit seinen bloßen Händen aufhalten. Mara stemmte sich mit den Füßen noch fester gegen die Pedale und riss das Steuer herum. Die Reifen kreischten empört auf und das letzte, was sie von ihm sah, waren seine schwarzen Haare, die wie Flammen um sein Gesicht züngelten und seine durchdringenden blauen Augen, die direkt bis in ihre Seele blickten. Dann verwandelte sich ihre Welt in ein wirbelndes Chaos aus Nebel, Scheinwerferlicht und Dunkelheit. In Sekundenbruchteilen schossen ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf und noch während sie verzweifelt versuchte, die Kontrolle über den Wagen zu behalten, redete sie sich ein, dass das alles nicht wahr sein konnte. 
Der Wagen schleuderte und drehte sich um die eigene Achse wie ein Kreisel. Mara hörte das schrille Quietschen der blockierenden Räder, hörte, wie Steine und Erde gegen das Fahrzeug geschleudert wurden und spürte, wie sie von der Straße abkam. Bilder von sich überschlagenden Autos, zerfetzten Fahrzeugwracks und toten Menschen, die am Straßenrand unter schwarzen Plastikplanen lagen, schossen durch ihren Kopf und für eine endlose Sekunde stellte sie sich vor, selbst unter einer solchen Plane zu liegen.
Mit einem letzten Ruck kam das wirbelnde Chaos zum Stehen. Es dauerte eine Weile, bis Mara verstand, dass sich der Wagen nicht mehr bewegte. 
Sie öffnete die Augen und versuchte, sich zu orientieren. Sie musste mehrmals blinzeln, bis die Welt vor ihren Augen nicht mehr verschwamm. Mit zitternden Händen tastete sie nach dem Sicherheitsgurt und befreite sich. Ihr Herz raste wie verrückt und als sie ausstieg, gaben ihre Knie nach, so dass sie sich am Wagendach festkrallen musste, um nicht zu stürzen. 
Der Nebel war immer noch so dicht, dass sie kaum zehn Meter weit sehen konnte. Verdammt, wie sollte sie in dieser Suppe nur den Mann finden? Was hatte der Typ eigentlich um diese Uhrzeit in dieser gottverlassenen Gegend zu suchen, noch dazu mitten auf der Straße? War der Kerl lebensmüde oder was? Wenn er sich schon umbringen wollte, dann sollte er sich gefälligst einen Strick nehmen oder von einer Brücke springen, aber er konnte doch nicht einfach vor ihr Auto hüpfen. Nicht  auszudenken, wenn sie ihn wirklich überfahren hätte. – Das hatte sie doch nicht, oder?
Panik kroch aus Maras Eingeweiden wie ein Heer Kakerlaken. Wenn sie ihn aber doch...?
"Hallo? Wo sind Sie? Können sie mich hören?"
Die Angst ließ ihre Stimme schrill und gepresst klingen. Sie lauschte angestrengt in die milchige Dunkelheit, aber kein Laut drang an ihre Ohren. Es war, als stünde sie in einem riesigen Berg aus Watte, die absolut jedes Geräusch absorbierte. Sie rief erneut, wieder und wieder, blieb aber ohne Antwort. 
Was sollte sie nur tun? Wenn der Mann nun schwer verletzt oder bewusstlos in der Dunkelheit lag und ihr deshalb nicht antworten konnte? Aber wie sollte sie ihn in diesem undurchdringlichen Nebel nur finden? Plötzlich lief ihr eine Gänsehaut über den Körper und die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Ihre Kopfhaut kribbelte und Mara hatte auf einmal das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. 
Ohne zu wissen, warum, drehte sie sich mit einer ruckartigen Bewegung auf dem Absatz um. Sie erschrak bis in das Mark, als sie dem Fremden direkt in das Gesicht starrte. Er war so nah, dass sie nur den Arm auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. Feine Atemwölkchen quollen aus seinem Mund und seine eisblauen Augen bohrten sich gnadenlos wie kristallene Dolche in die ihren. 
Nackte Angst wallte in Mara auf und ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Noch nie hatte sie eine solche Kälte und solche Bosheit in einem anderen Menschen gesehen. Sein Blick bereitete ihr geradezu körperliche Schmerzen und sie wollte wegsehen, dieser Grausamkeit, die aus seinen Augen sprach, entgehen, doch gleichzeitig gab es da auch etwas anderes, das es ihr unmöglich machte, sich abzuwenden. 
Es lag noch etwas völlig anderes in seinem Blick, etwas, das in krassem Gegensatz zu diesem namenlosen Bösen stand und das sie in gleichem Maße verwirrte wie anzog. Es war eine uralte, unstillbare Sehnsucht nach etwas, das ihm vor langer Zeit auf grausamste Art und Weise entrissen worden war und ohne das er nicht weiterleben konnte und wollte.
Mara spürte, wie dieses Gefühl, das ihr so vertraut und gleichzeitig so fremd war, auch in ihr wuchs. Es machte ihr Angst und erregte sie zugleich. Trotz der namenlosen Furcht, die immer noch in ihren Eingeweiden wütete, wollte sie zu ihm, wollte seine Nähe spüren, wollte, dass er sie in seine Arme nahm, wollte seinen Atem, seine Küsse auf ihrer Haut fühlen – und wollte doch zugleich fort von ihm. Fort, so weit es nur ging. Sie wand sich unter seinem Blick und stöhnte gequält auf und nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft gelang es ihr, den Kopf abzuwenden.
Sie zwang sich, den Blick auf den Boden geheftet zu lassen. Sie starrte auf die Steine und Erdbrocken zu ihren Füßen, kämpfte mit dem Teil in ihr, der zu ihm wollte, der sich nach ihm sehnte, sich ihm hingeben wollte, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt und aufsah. 
Doch er war fort. Spurlos verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Mara stand da wie gelähmt. Ihr Herz raste und ihre Handflächen waren kalt und feucht. Mechanisch wischte sie sie an ihrer Jeans ab und steckte die Hände in ihre Jackentaschen. Die verwirrenden Echos von Angst und Verlangen hallten immer noch in ihr nach und sie war hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Enttäuschung, zwischen dem Wunsch, ihn sofort, jetzt und hier wiederzusehen und dem Drang, diesen Ort so schnell als nur irgend möglich zu verlassen. 
Mara konnte sich im Nachhinein nicht erinnern, wie lange sie dort gestanden und mit leeren Augen vor sich hingestarrt hatte. Irgendwann jedenfalls holte sie die Kälte endlich in die Wirklichkeit zurück und verwundert bemerkte sie, dass sich der Nebel vollständig aufgelöst hatte, als hätte er nie existiert. 
Genau wie der Fremde.
Zitternd ging sie zurück zu ihrem Wagen und setzte sich hinter das Steuer, doch obwohl sie auf einmal so erbärmlich fror, dass ihre Zähne klapperten, war sie einfach nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren. Hatte sie den Mann nun gesehen, oder nicht? Er hatte so real gewirkt, sie hatte ja sogar seinen Atem gesehen, wie er in der kalten Luft aufstieg – aber wie er urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und genauso spurlos wieder verschwunden war, das war schlicht unmöglich.
Irgendwann raffte Mara sich auf und ließ den Motor an. Die Scheiben waren bereits angelaufen, so dass sie nicht sehen konnte, was um sie herum vorging. Und wenn der Fremde immer noch da draußen lauerte? Hastig schlug sie auf den Verriegelungsknopf und mit einem beruhigenden Knacken versperrten sich alle Türen. Verflixt, was war nur los mit ihr? Einerseits wollte sie nichts lieber, als von hier zu verschwinden, andererseits hoffte sie, der Mann würde jeden Moment auftauchen und an ihr Fenster klopfen.
Doch zu ihrer Enttäuschung – oder war es doch Erleichterung? – klopfte niemand.
Die ganze restliche Fahrt über und selbst viel später, als sie bereits im Bett lag, kreisten ihre Gedanken ständig um dieses seltsame Ereignis. Immer wieder zerrte ihr Gedächtnis den Fremden hervor: seine stechend blauen Augen unter den dichten, dunklen Brauen, den dünnen, schwarzen Bart, der sich von seiner Oberlippe bis zu seinem Kinn hinabzog, seine schmale, leicht gebogene Nase, seine langen schwarzen Haare...
Ob sie ihn jemals wiedersah?
 
© Ela
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Und sicher schon bald geht's hier weiter zum 2. Kapitel...

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