Der Wind erzählt von Liothri Nachtschatten

Es wird kühler, die Tage kürzer, man macht sich für den Winter bereit. Auch ich erwache langsam, nicht mehr träge durch die sommerliche Hitze. Zuerst hauche ich die Blätter einer alten Buche an. Der stattliche Baum straft diesen kläglichen Versuch, ihm die Blätter zu nehmen, mit Missachten. Ich fahre zornig erneut wilder als beim vorigen Mal durch die nun ächzende Baumkrone. Äste zittern, Zweige klackern in einer wilden Sinfonie gegeneinander. Viele viele Blätter fallen ab, wirbeln erregt durcheinander, leuchten in sanftem Farbenspiel von der Sonne beschienen rot, orange, gelb und braun auf, bevor sie zu Boden fallen oder in meinem Arm weitergetragen werden.
Die grünen Blätter, die noch an der Buche hängen, lasse ich dort. Ihre Zeit wird kommen.

Weiter, weiter. Über Wiesen, wo ich den Spätsommerblumen rote, blaue, gelbe und verdorrte Blütenblätter abreiße. Sie wirbeln, von der Sonne beschienen, in meiner Hand wild umher. In die Wälder. Es klackern die Nadeln, es knistert das Laub. Eichen, Birken, Erlen, Weiden, Buchen, Tannen und Fichten beugen sich unter meiner Macht. Äste krachen auf dem erbebenden Boden auf. Vögel segeln durch den Sturm. Ich schleife Bergspitzen ab, fege durch ächzende Wetterfichten. Ein Blitz fährt herab und schlägt in einen Baum ein. Zischend verbrennen Nadeln,  Holz und Harz. Man riecht den Brandgeruch weit. Bald darauf setzt rettender Regen ein, sintflutartig, bevor andere Bäume in Flammen aufgehen können. Der Baum brennt noch kurz weiter, steht als riesige Fackel in dieser blinden Gewalt. Dann tut der Regen seine Arbeit und das Feuer erlischt knisternd. Weiter wütet das Unwetter, Blitze fahren schnell aufeinanderfolgend in das gequälte Land. Der Regen prasselt hernieder. Tiere verkriechen sich angstvoll, Vögel klammern sich durchnässt an Äste. Ich streiche über den toten, kalten Körper einer Rabenkrähe.  Sie stürzte ab. Der Himmel weint.  Als das Unwetter abflaut, mache auch ich mich auf.

In Wüsten fahre ich über ausgedörrten Boden. Trage Sandkörnchen, Muschelstücke und Knochensplitter mit mir. Ich verforme das Antlitz der Dünen. Spiele in den Rippen eines Kamelskelettes, fliege über verdorrten und aufgerissenen Boden, tiefe Spalten in gepeinigtem Boden. Fege über eine Karawane aus Kamelen und Menschen. Die Wesen leiden unter mir. Sand prasselt ihnen ins Gesicht. Sie halten an, wollen sich vor mir schützen, doch der Sand in meiner Hand dringt überall hin, nimmt den Atem. Mensch und Tier halten inne, beten, mir zu entkommen, doch es gibt für mich kein Halten. Keine Reue. Husten klingt zu mit herauf, verzerrt durch das Fauchen des Orkans. Leben erlöschen, ich spüre das Leid. Als ich weiterziehe, sieht man nichts mehr von den Wesen. Nur die Wüste unter mir, die ein paar neue Dünen bekommen hat. Nichts hält mich auf.

In einer Stadt bringe ich Wolkenkratzer zum wanken. Markisen brechen aus Verankerungen. Röcke und Mäntel fliegen hoch. Töpfe mit Pflanzen fallen auf die Straße und zerschellen. Hüte wehen Menschen von den Köpfen. Schindeln fliegen klackernd ab. Eine kracht in die Windschutzscheibe eines Autos. Panisch bremst der Fahrer, andere donnern hinten in den Wagen hinein. Schadenfreudig fliege ich weiter zu einer älteren Frau mit Perücke. Die blonden Plastikhaare werden mit meiner Hilfe hochgeweht und bleiben in den Ästen einer hohen Pappel am Straßenrand hängen. Ich lache innerlich, als die Frau, bloßgestellt mit ihrem schütteren grauen Haar,  ein Handy zückt und die Feuerwehr ruft. Bevor sie zu Ende sprechen kann, fahre ich fauchend zwischen die Äste der Pappeln. Krachend splittert ein riesiger Ast ab, an dessen Spitze eine Perücke hängt. Er fällt wie in Zeitlupe auf die Straße, in ein Auto hinein. Schreie ertönen, als das Auto schlenkernd in die Gegenfahrbahn hinein fährt. Ein Wagen donnert aus voller Fahrt in das Auto hinein. Von hinten fahren noch andere Fahrzeuge auf die beiden schon ineinander verkeilten ein. Weitere Äste fallen auf die Stelle des Unfalls und die übrige Straße. Meine Macht.

Voller Freude fliege ich weiter. Meine Arbeit hört nicht auf. Es gibt noch viel zu tun. 
Ich muss weiter, weiter, weiter!
 

© Liothri Nachtschatten
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