Sunaj war eine alte Stadt. Zwar nicht so alt
wie N’hoa, aber trotzdem deutlich älter als die meisten Städte
in Cinhyal. Deswegen hatte Sunaj viele Gebäude mit Spuren von seltsamer,
vergangener Architektur. Auch die Straßen waren teilweise sehr merkwürdig.
Obwohl sie alle erneuert wurden, als Òdrean an die Herrschaft kam,
war das Grundgerüst das gleiche geblieben und die Ausrichtung von
diesem war sehr... nun, rechtwinklig.
Es gab vier Hauptstraßen, die in die
vier Himmelsrichtungen wiesen und von der Mitte der Stadt, von einem Punkt
im Burghof, ausgingen. Diese Straßen teilten die Stadt in vier gleichgroße
Teile und wurden Himmelsstraßen genannt. Aber das war noch nicht
alles, denn seit uralten Zeiten gab es ein Ober- und ein Untersunaj. Das
hatte nichts mit der Stadtlage zu tun, sondern mit den Bürgerschichten.
Im oberen Sunaj lebten die Adligen und die reicheren Bürger und im
unteren der Rest. Um beides so deutlich wie möglich voneinander abzugrenzen,
umgab eine breite Straße das obere Sunaj, die die Himmelsstraßen
in einem neunzig Grad Winkel kreuzte - natürlich befand sich das Obersunaj
im Zentrum der Stadt und umgab das Königsschloss. Diese Straße
zwischen den Schichten hieß Sternenstraße, weil sie angeblich
früher mal mit Smaragden in Form von Sternen gepflastert gewesen war.
Das alles war Gaya von Geburt an bekannt.
Doch dies war nur eine notdürftige Beschreibung von Sunaj. Denn natürlich
gab es in der Hauptstadt nicht nur rechtwinklige Straßen.
Schon vom weiten waren die Obeliskentürme
zu sehen. Das waren die acht Türme in den acht Teilen der Stadt, die
aus Obsidian bestanden und höher als jedes Gebäude waren. Tiefschwarz
erhoben sie sich über den zahlreichen Dächern und die Sonne schimmerte
auf den glatten Oberflächen. Keiner hatte Zugang zu diesen Wächtern
der Zeit. Es wurde gemunkelt, dass das Herrschergeschlecht von Sunaj die
Schlüssel zu den Obeliskentürmen wie einen Augapfel hütete,
denn eines Tages würden diese die Rettung von ganz Cinhyal bedeuten.
Allerdings hatte noch kein König zugegeben, etwas davon zu wissen,
und keiner wusste, wie die Türme Cinhyal denn retten sollten oder
was für einen Nutzen sie überhaupt hatten. Jedoch waren
sie ein Wahrzeichen Sunajs und sehr bekannt.
Das berühmteste Gebäude war natürlich
das Königsschloss. Es war zur gleichen Zeit gebaut worden wie die
Stadt selbst und seit dem so gut wie unverändert geblieben. Aus Marmor
erbaut, hielt es der Zeit stand und hatte unzählige Generationen von
Königen miterlebt, ohne sichtbar zu altern. Es hatte hohe Türme,
mit Edelsteinen in verschiedenen Farben geschmückt, glänzende
Fenster aus buntem Glas und wunderschöne Verzierungen. Die Königsburg
war nicht zur Verteidigung gebaut worden und ähnelte mehr einem Märchenschloss,
aber trotzdem hatte sie hohe, dicke Mauern und nur ein Tor, das jedoch
immer offen stand. Die Flaggen zeigten einen der Obeliskentürme, überdeckt
von sich kreuzenden Schwertern und gekrönt von einer goldenen Krone.
Das war das Wappen der Könige von Sunaj und Cinhyal.
Die Gebäude in der Stadt waren zum Teil
sehr einfach und oder gar armselig, aber es gab auch richtige Paläste,
die abseits von allem standen und manchmal sogar ein kleines Grundstück
hatten. Das waren fast ausschließlich Besitztümer von Adligen
oder von sehr ruhmreichen Rittern. Es gab keine Anordnung, nur eine bunte
Ansammlung von den verschiedensten Häusertypen. Hier und da waren
auch Gärten zu sehen, die zur Verschönerung beitrugen.
Nicht weit von ihnen lag der kleine Hafen
am Königlichen Fluss. Die Stadt war an der einen Seite fast völlig
vom Fluss eingekreist und an der anderen vom Celine eingegrenzt. Außerdem
umgab sie eine hohe Mauer, die nur vier Eingänge in die Stadt ließ
- dort, wo die Himmelsstraßen endeten. Gaya dachte bei sich, dass
das wahrscheinlich der Grund war, warum Sunaj zur Hauptstadt erkoren wurde
- es würde schwer sein, sie anzugreifen.
Sie sah Dajana an, die gar nicht wusste, wohin
sie zuerst hinsehen sollte, und lächelte.
"Mund zu, das sieht besser aus", riet sie
ihr. Dajana bemerkte, dass sie die einzige war, die die Stadt anstarrte
und wurde rot.
"Hmm, ganz hübsch", sagte sie so geringschätzig
wie sie es vermochte. Als sie das Grinsen der anderen sah, verschränkte
sie die Arme. "Was? Bin ich hier die einzige, die zum ersten Mal diese
Stadt sieht?" Alle nickten und sie seufzte verzweifelt. "Na wunderbar.
Würdet ihr bitte aufhören so zu grinsen? Ich kann kräftig
zuschlagen!"
"Das sieht man", flüsterte Julian, aber
nur Gaya hörte es, die neben ihm stand.
"Ich würde vorschlagen, dass wir uns
in Bewegung setzen", sagte Johannes. Da keiner von ihnen Lust hatte, noch
länger so nah beim Wald zu verweilen, befolgten sie diesen Vorschlag
und näherten sich Sunaj.
"Was machen wir zuerst? Den Brief ausliefern?",
erkundigte sich Gaya.
"Ich denke schon...", setzte Julian an, aber
Dajana unterbrach ihn.
"Nein! Wir gehen erst mal ein Bad nehmen,
danach essen und sich ausruhen, und dann liefern wir den Brief aus!"
"Hieß es nicht, wir sollten den Brief
so schnell wie möglich überbringen?"
"Ach, Gaya, wir werden es auch so schnell
wie möglich machen - nach Bad, Essen und Schlaf! Schneller geht es
eben nicht!"
"Unsinn. Wir gehen gleich hin, übergeben
Alay Sorèndyo den Brief und gehen dann in ein Gasthaus", stellte
Johannes fest. "Sonst wird es schon Abend sein und das ist zu spät,
um ihn abzuliefern. Ihr wollt sie doch nicht mitten im Schlaf stören?"
"Wir sind ja nicht wahnsinnig! Aber wir können
uns ja aufteilen. Es ist doch egal, ob wir alle zusammen zu ihr gehen oder
nur zu zweit", meinte Julian. Dajana nickte begeistert, aber Johannes hatte
Bedenken.
"Wir wissen nicht, wie sie ungeladene Besucher
empfängt. Vielleicht ist sie ja leicht reizbar und wird uns angreifen."
"Sie ist doch nicht verrückt, sondern
eine Zauberin!", widersprach Gaya.
"Man erzählt sich seltsame Dinge über
Lichtzauberer", erwiderte er. "Aber von mir aus können wir uns auch
aufteilen. Ich gehe auf jeden Fall mit zu ihr. Vielleicht empfängt
sie Magier freundlicher."
"Der einzige freundliche Empfang, den ich
im Moment will, ist der von einer Wanne voll warmen Wasser", sagte Dajana
entschieden.
"Ich begleite dich, Johannes. Du kommst auch
mit, oder, Julian?", fragte Gaya. Er nickte.
"Klar doch. Ich habe ja auch den Brief."
"Ich gehe mit Dajana zum Wirtshaus. Ich glaube,
es wäre das beste, wenn sich ein Heiler meinen Arm ansehen würde,
bevor die Wunde sich entzündet", sagte Cycil. "Wir können auch
gleich fünf Zimmer mieten. In welches Wirtshaus gehen wir überhaupt?"
"Ich würde die "Goldene Lilie" empfehlen.
Es ist nicht zu teuer und das Essen ist ganz erträglich", entgegnete
Gaya.
"Nein, der "Hammereisen" ist der beste!",
widersprach Julian energisch. "Dort gibt es das beste Bier in der Stadt!"
"Dein Geschmack ist nicht immer der beste,
Julian", bemerkte Gaya trocken.
"Es gibt auch einen ziemlich guten Rinderbraten",
fügte er hinzu. Dajana mischte sich schnell ein – bei der Erwähnung
des Wortes Rinderbraten wurde ihr bewusst, wie hungrig sie eigentlich war.
"Was liegt näher?" Gaya und Julian wechselten
Blicke.
"Der Hammereisen!", verkündete er triumphierend.
"Dann gehen wir halt dahin! Hauptsache, ich
bekomme bald..."
"Wir haben es verstanden!", unterbrach Gaya.
"Dann treffen wir uns dort. Wir beeilen uns – natürlich wenn wir nicht
zu Asche verbrannt werden oder so!"
"Keine Sorge, ich werde es zu verhindern wissen,
dass wir zu Asche verbrannt werden", beruhigte Johannes sie. "Außerdem
ist das gar nicht so leicht wie es klingt!" Also trennten sie sich, nachdem
sie die Stadt durch das Nordtor betreten hatten.
"Cycil, ist es eigentlich weit bis zu diesem
Wirtshaus?", fragte Dajana. Die beiden gingen einen schmalen Weg entlang,
der zwischen zwei baufälligen, düsteren Häusern hindurchführte.
Sie fand es ziemlich bedrückend, aber er hatte ihr versichert, dass
das der kürzeste Weg war und sie protestierte nicht mehr.
"Nicht besonders. Im dritten Abschnitt, das
sechste Haus von rechts." Lärm drang zu ihnen; es hörte sich
an, als wäre irgendwo vor ihnen eine große Menschenmenge versammelt.
Dajana beschleunigte ihre Schritte, um diese Gasse so schnell wie möglich
zu verlassen.
"Ah ja. Ich habe die Ortsangabe zwar nicht
verstanden, aber ich glaube dir mal so."
"Mach das", sagte er geistesabwesend. Sie
warf ihm einen schiefen Blick zu.
"Worüber denkst du nach?"
"Ich? Über nichts besonderes."
"Wirklich? Du siehst aus, als würdest
du dir Sorgen machen."
"Tatsächlich?"
"Ja, tatsächlich. Also?"
"Es ist nichts wichtiges."
"Im Klartext heißt das, du willst mit
mir nicht darüber sprechen." Er hörte den verletzten Unteron
in ihrer Stimme und sah auf.
"Es hat nichts mit dir zutun. Es sind eben
meine Sorgen, sie betreffen dich nicht." Sie verzog den Mund, aber sie
begriff, dass er wirklich nicht darüber sprechen wollte und verstummte.
Sollte er seine Sorgen eben für sich behalten, das war wirklich nicht
ihr Problem.
Der Weg mündete in eine ziemlich breite
Straße. Als Dajana sich umsah, verstand sie den Lärm: es
war Markttag. Überall waren Marktstände
und es wurde lautstark gefeilscht. Sie machte große Augen, als sie
die Menschenmassen sah, die sich hier aufhielten, und vergaß, dass
Cycil sie gekränkt hatte.
"Bei den Göttern! Ich hätte nie
gedacht, dass es irgendwo so viele Menschen gibt!"
"Der Markt ist sehr lang. Er zieht sich durch
die ganze Stadt. Für viele Leute ist das wie ein Feiertag und deswegen
versammeln sich alle draußen, auch wenn sie nichts kaufen können",
erklärte Cycil.
"Das verstehe ich... Ich würde das auch
tun. Guck mal, was für hübsche Stickereien sie verkaufen!", rief
sie verzückt. "Und was für Krüge!" Ihre Blicke flogen hin
und her und ihre Augen leuchteten. "Was würde ich nicht alles für
so ein Tuch geben...", seufzte sie sehnsüchtig. Cycil, der sich normalerweise
keine Gelegenheit entgehen ließ, Dajana eine Freude zu machen, hatte
freilich anderes zu tun. Er wusste nur zu gut, dass die Wachen an Markttagen
verdreifacht wurden und das machte ihm Sorgen. Er vergaß sogar die
Schmerzen an der Wunde. Wachsam huschten seine Augen über die Menschenmenge.
Er dachte, Dajana sei zu beschäftigt, um seine Unruhe zu bemerken,
aber da täuschte er sich. Obwohl sie einfach hingerissen von dem Schmuck
und den Kleidern war, die an den Marktständen feilgeboten wurden,
vergaß sie ihren schweigsamen Gefährten keineswegs. Deswegen
entging ihr seine Beunruhigung nicht und sie machte sich so ihre Gedanken.
"Wieso wohnt Alay Sorèndyo eigentlich
im unteren Sunaj? Sie ist doch eine Adlige", wunderte sich Johannes, während
sie sich ihren Weg zwischen den Menschen bahnten.
"Nicht unbedingt", antwortete Julian. "Über
ihre Familie ist nicht viel bekannt, obwohl sie schon seit Generationen
hier in Sunaj leben. Die Sorèndyos brauchen keine Adligen zu sein,
sie können auch einfach nur unverschämtes Reichtum angesammelt
haben."
"Trotzdem könnte Alay Sorèndyo
im oberen Sunaj wohnen."
"Vielleicht hat sie einfach keine Lust dazu?",
schlug Gaya vor. "Sie lebt doch sehr abgeschieden, am Rande der Stadt.
Im Obersunaj hätte sie diese Absonderung nicht." Julian zuckte mit
den Schultern.
"Es ist ja allgemein bekannt, dass die Magier
des Lichts Spinner sind", verkündete er und atmete auf, als sie den
vollen Platz verließen und sich in eine Nebenstraße vertieften.
Gaya sah sich unruhig um. Es wäre ihr viel lieber gewesen, einen anderen
Weg zu nehmen, aber die dichte Menschenmasse machte das unmöglich.
Ich
kann nur beten, dass sie ebenfalls am Markt sind. Sie hielt sich weiter
hinten und hoffte, dass Johannes ihr genügend Deckung bot, für
den Fall, dass ihre Eltern ihnen doch noch über den Weg liefen.
"Wie lange bleiben wir hier eigentlich?",
fragte sie.
"Wir wollten Dajana noch einen Bogen kaufen
und ich brauche auch noch einige Kleinigkeiten", antwortete Julian. "Vielleicht
zwei Tage? Aber wohin wir dann gehen, müssen wir noch festlegen."
"Johannes, was hast du vor?"
"Das ist eine gute Frage. Vielleicht gehe
ich nach Mendara, Nuab besuchen. In zwei Wochen ist Patreths Prüfung,
ich sollte dabei sein." Nein! Er muss bei uns bleiben!
"Willst du nicht doch noch mit uns kommen?",
fragte sie vorsichtig. Er sah sie über die Schulter hinweg an und
ein nachdenklicher Ausdruck stand in seinen Augen.
"Wer weiß", murmelte er so leise, dass
sie es kaum hörte. Hoffnung keimte in ihrem Herzen auf. "Ich werde
auch für eine Weile in der Stadt bleiben. Wir werden ja sehen, was
sich daraus entwickelt", sagte er laut. Gaya umklammerte ihren Stab fester
und sprach ein Gebet. Er gehörte doch bereits zu ihnen, er konnte
nicht einfach weggehen! Natürlich wusste sie, dass das lächerliche
Gedanken waren, aber es lag ihr wirklich viel an Johannes. Ist es nicht
merkwürdig, wie schnell wir uns alle näher gekommen sind? Ich
betrachte sie sogar als Freunde, obwohl es kaum drei Tage her ist, dass
ich ihnen misstraut habe. Aber wirklich verlassen kann ich mich nicht auf
sie, dazu weiß ich zu wenig... Nach einem kurzen Blick auf den
Feuermagier vor ihr, korrigierte sie sich. Ich kann mich nicht auf alle
verlassen. Es waren die Geheimnisse, die sie hüteten, die ihr
missfielen. Vor allem Cycil! Er war der merkwürdigste Mann, dem sie
je begegnet war. Aber irgendwann werde ich ihm schon auf die Schliche
kommen. Verlass dich darauf, Cycil...
Durch die Nebenstraße kamen sie auf
einen kleinen Platz mit sechs Häusern, die sich im Kreis aneinander
reihten. Zwei Wege führten weiter, einer direkt zu einem Obeliskenturm,
der andere nach draußen.
Alays Haus stand am Rande der zweiten Straße,
soweit Gaya wusste. Die Häuser waren in ziemlich gutem Zustand und
zeigten deutlich, dass das eins der wohlhabenderen Viertel war. Eins der
Gebäude war ein Waschgeschäft mit dem Namen "Die Seemuschel"
und vielbesucht. Während die beiden Männer unbekümmert den
Platz überquerten, um sich in die Straße zu vertiefen, schielte
Gaya vorsichtig auf dieses Geschäft und versuchte unsichtbar zu werden.
Entweder hatte sie einfach einen schlechten
Tag oder es war Schicksal, aber in diesem Moment öffnete sich die
Tür leise knarrend und eine junge Frau trat heraus. Nein, nein,
bitte nicht... Gayas mentales Flehen hielt die Frau mit den rotbraunen
Haaren und den Grübchen auf den Wangen nicht davon ab in ihre Richtung
zu blicken und einen freudigen Ausruf auszustoßen. Julian und Johannes
blieben stehen und sahen sich überrascht um, währenddessen Gaya
ungeschickt eine stürmische Umarmung ihrer Cousine Elvira erwiderte
und versuchte einen ruhigen Gesichtsausdruck beizubehalten.
"Gaya! Oh, ihr Götter, wie froh bin ich
doch, dich zu sehen! Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermisst
habe, Schwesterchen!", rief Elvira hell. Man kann sie in der ganzen Stadt
hören, dachte Gaya düster. Obwohl ihr die Sicht von einer Kaskade
ungewaschener Haare genommen wurde, konnte sie sich Julians fragend-spöttischen
Blick bildlich vorstellen. Es dauerte eine Weile, bis Gaya es geschafft
hatte Elvira von sich loszureißen, die entschlossen schien, sie zu
erdrücken, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun. Die Druidin warf
ihr Haar zurück und schob ihren Stab unauffällig zwischen sich
und ihre Cousine. Nur für alle Fälle. Erst dann wandte sie sich
den wartendenden Männern zu, zeigte ein dünnes Lächeln und
sagte:
"Darf ich euch vorstellen – meine Cousine
Elvira Kenuin." Julian deutete eine leichte Verbeugung an und stellte nun
seinerseits sich und Johannes vor. Elvira strahlte, von soviel elegantem
und höflichem Verhalten begeistert.
"Das finde ich toll! Gaya, warum hast du uns
nicht erzählt, in was für einer netten Gesellschaft du dich rumtreibst?"
Was für eine Formulierung.
"Ich habe die beiden erst vor kurzem kennen
gelernt, Elvira."
"Umso besser!" Sie zwinkerte Julian unverhohlen
zu und schien vergessen zu haben, dass sie seit zwei Monaten verlobt war.
Gaya beschloss, sie, sobald wie möglich, über diesen Umstand
in Kenntnis zu setzen.
"Elvira, meine Liebe, wo ist denn deine Schwester?",
fragte Gaya äußerst liebenswürdig. Elviras Schwester sollte
eigentlich auf das Mädchen aufpassen.
"Edna? Beim Markt, wo denn sonst." Sie nestelte
an einer billigen Silberkette, die ihr um den Hals hing und warf weiterhin
mit koketten Blicken um sich. Julian bewahrte zwar ein ernstes Gesicht,
aber seine Augen glänzten belustigt. Elvira war sechzehn Jahre alt.
"Wieso bist du denn nicht dort?", erkundigte
sich Gaya. Ein Schulterzucken.
"Keine Lust." Ah ja. Gaya wusste nicht, was
sie jetzt tun sollte. Wie konnte sie Elvira an den Rand der Welt verbannen?
Bestimmt gab es dafür einen Zauberspruch, aber im Moment wollte er
ihr nicht einfallen. Vielleicht hatte Elviras eisenharter Griff die Blutzufuhr
zum Gehirn unterbrochen.
"Ich will euch zwei ja nicht stören,
aber wir haben noch etwas vor", mischte sich Johannes ein. Sie verspürte
ein unendliches Gefühl der Dankbarkeit. Aber Elvira runzelte die Stirn.
"Aber Gaya, du willst doch nicht schon jetzt
weggehen? Willst du denn gar nicht deine Eltern begrüßen? Und
Edna? Und Albert?" Nein, hätte Gaya am liebsten gesagt. Aber auch
die Angehörigkeit zum Druiden-Orden machte einen nicht immun gegen
die Familie. Das wusste sie selbst nur zu gut. Und ihre Schwierigkeiten
mit ihren Eltern mussten nicht noch größer werden.
"Tja, ich fürchte, Elvira hat recht",
wandte sie sich an die beiden. "Ich kann hier nicht weggehen, bis ich meiner
ganzen Verwandtschaft Hallo gesagt habe." Sie musste einen verzweifelten
Ton in der Stimme gehabt haben, denn Julian grinste breit.
"Natürlich, wir verstehen das, Gaya.
Die Familie hat schließlich Vorrang", sagte er gönnerhaft. "Wir
treffen uns einfach nachher im "Hammereisen". Du brauchst dich nicht zu
beeilen!" Sie sah ihn drohend an, aber er grinste unbeeindruckt weiter.
"Aber, Sir, wieso kommt ihr nicht auch noch
mit? Gayas Freunde sind immer willkommen!", rief Elvira dazwischen. Jetzt
war es an Gaya zu grinsen.
"Ja, Julian. Komm doch mit. Die Familie hat
schließlich Vorrang!"
"Nein, nein, ich will dich ja nicht stören...",
wehrte er hastig ab. "Du hast dir schließlich eine ungestörte
Zusammenkunft mit deiner Familie verdient. Ich und Johannes führen
den Auftrag aus und wir treffen uns dann im Wirtshaus. Also viel Spaß
noch! War sehr nett, dich kennen zulernen, Elvira!" Er begann vorsichtig
zurückzuweichen, um Elvira keine Gelegenheit zu geben, ihn erneut
aufzuhalten. Gaya musste ein Auflachen zurückhalten. Er ist wirklich
süß. Johannes zögerte noch.
"Wir können auch warten...", begann er
und verstummte, als er Gayas beruhigenden Blick einfing. Geht ruhig.
Ich komme schon zurecht, schien er zu sagen.
"Aber nein, tut mir leid, Elvira, wir haben
es wirklich eilig", fiel Julian ein. Diesmal sagte der Feuermagier nichts.
Er und Gaya wechselten ein rasches, warmes Lächeln, dann wandten sich
die beiden um und verließen den Platz. Elvira sah ihnen unverhohlen
enttäuscht hinterher und seufzte. Ihre betrübte Miene war fast
schon komisch, aber Gaya gab ihrer Stimme einen mitfühlenden Ton.
"Sei nicht traurig, Elvira, wir bleiben noch
einige Tage in der Stadt. Ich bin sicher, Julian wird dich mit Vergnügen
wieder treffen." Das Mädchen strahlte hoffnungsvoll auf. Tja, Julian,
so leicht kommst du mir nicht davon, dachte Gaya ihrerseits zufrieden.
"Komm, meine Liebe, gehen wir rein. Erzähl mir, wie geht es Edna?
Hatte sie bereits ihren schweren Tag?..."
"Cycil, denkst du, Julian würde es mir
übel nehmen, wenn ich mein Geld für so ein Kleid ausgeben würde?",
fragte Dajana.
"Ich weiß nicht."
"Würdest du es denn?", startete
sie einen neuen Versuch. Sie wollte ihn unbedingt zum Reden bringen und
dann vorsichtig herausfinden, warum er so nervös war. Leider schien
Cycil sie nicht sehr zu beachten, was ihr ganz und gar nicht gefiel. Irgendwie
hatte sie sich schon an seine Aufmerksamkeit gewöhnt.
"Ich würde es dir nicht übel nehmen,
das ist schließlich deine Sache", antwortete er und bemerkte nicht,
wie seine Begleiterin das Gesicht verzog. Das Kleid war ihr herzlich egal,
sie kannte sowieso keinen Anlass, zu dem sie so etwas spitzenbesetztes
tragen konnte. Aber sie wollte, dass er mal ihre Anwesenheit zur Kenntnis
nahm. Zur Zeit hatte sie das unangenehme Gefühl, dass er mit demselben
Enthusiasmus mit einem Baum geredet hätte.
"Aber was würdest du davon halten?",
gab sie nicht auf. Endlich sah er sie an.
"Warum interessiert dich das?"
"Keine Ahnung. Nur so eine Frage."
"Also wenn du eine ehrliche Antwort haben
willst: ich weiß nicht, wozu du so ein Kleid gebrauchen könntest.
Und es ist ohnehin viel zu teuer, ein paar Straßen weiter könntest
du das gleiche für weniger Geld erstehen." Er wandte sich wieder ab.
"Übrigens würde ich es bevorzugen, wenn wir auf direktem Weg
zu dieser Gaststätte gehen und den Markt beiseite lassen."
"Warum?" Dajana ließ ihn nicht aus den
Augen.
"Weil ich müde bin und Hunger habe. Und
weil mein Arm ziemlich schmerzt", erwiderte er.
"Ja, klar", brummte sie, unzufrieden mit der
Antwort.
"Hast du etwas gesagt?"
"Nein." Missgelaunt beschloss sie ihn vorerst
in Ruhe zu lassen und auf eine bessere Gelegenheit zu warten. Schließlich
war es nicht so, dass er ihr weglaufen würde. "Ist es noch weit?"
"Nein." In unangenehmes Schweigen gehüllt
bewegten die beiden sich durch die lärmende, lachende Menge und schenkten
den Marktbuden nicht mehr als einen flüchtigen Blick.
"Hey, hübsches Mädchen, bleib doch
mal stehen! Wie wär’s mit feinem Tuch? Nur ein Goldstück und
vierzig Silber!" Dajana hatte sich an solche Ausrufe schon halbwegs gewöhnt
und ignorierte sie geflissentlich. Aber es schmeichelte ihr, dass sie hübsch
genannt wurde. Nach mehreren Tagen in diesem vermaledeiten Wald fühlte
sie sich nicht besonders attraktiv. Aber vielleicht sah sie mit Schlamm
in den Haaren einfach besser aus? Der Gedanke an Schlamm erinnerte sie
wieder an das warme Bad, das auf sie wartete, und sie beschleunigte ihre
Schritte.
Vor ihnen lag eine Kreuzung. Die große
Straße führte weiter geradeaus, aber sie wurde von einer anderen,
dünneren gekreuzt. Sunaj muss ein Labyrinth von Straßen sein,
dachte Dajana. Sie sah Cycil fragend an, aber er schien sie wieder mal
vergessen zu haben. Seine Aufmerksamkeit galt zwei Männern in gold-grünen
Uniformen, die mit Lanzen gerüstet durch die Menschen gingen. Sein
Schritt stockte für einen kurzen Moment, dann beherrschte er sich
wieder. Doch Dajana war es nicht entgangen, auch nicht der Ausdruck in
seinen Augen, der genauso schnell verschwand wie er aufgetaucht war. Wieso
hat er Angst vor ihnen? Nun, gleich werde ich es ja wissen. Die Männer
kamen direkt auf sie zu.
"Dajana, würde es dir etwas ausmachen,
wenn wir jetzt in die linke Straße einbiegen?", fragte Cycil gezwungen
ruhig.
"Ist der Weg dann kürzer?"
"Eigentlich nicht."
"Nun... Einverstanden." Jetzt wirst du
mir nicht ohne Erklärung davonkommen, mein Freund! Ohne auffällig
zu wirken, wechselte Cycil die Richtung und steuerte auf die Nebenstraße
zu. Sie bewunderte seine Ruhe: Er behielt seinen gemächlichen Gang
bei und schaute nicht einmal in Richtung der uniformierten Männer.
Dajana folgte ihm und passte sich seinen Schritten an. Sie wurden nicht
aufgehalten und verschwanden unerkannt in der Seitenstraße. Hier
war die Menschenmasse nicht mehr so dicht, denn der Markt folgte hauptsächlich
der Hauptstraße. Dajana atmete auf. So viele Menschen auf einmal
zu sehen, hatte ihr Unbehagen eingeflößt. Cycil sah sich kurz
um.
"Gehen wir noch ein bisschen weiter", sagte
er dann. Langsam schlenderten sie den Weg entlang. Dajana forschte in seinem
Gesicht nach einer Antwort auf ihre Fragen, aber sie konnte nichts darin
lesen - der Augenblick der Schwäche war vorbei. Er war verschlossen
wie immer. Aber diesmal werde ich alles erfahren! Mit einer
für sie seltenen Geduld wartete sie noch einige Zeit, bis sie ihn
endlich fragte.
"Also, was ist los? Und wenn du mir nicht
ehrlich antwortest, werde ich sofort zu diesen Kerlen laufen und sagen,
wo du bist!"
"Das würdest du doch nicht wirklich tun,
oder?", wollte er wissen und sah ihr prüfend ins Gesicht. Sie verschränkte
die Arme ineinander und erwiderte trotzig seinen Blick.
"Vielleicht doch. Wenn du weiter so ausweichst!"
"Weißt du, das glaube ich dir sogar",
sagte er mit einem schelmischen Lächeln. "Aber es ist so wie ich es
vorhin gesagt habe: es sind meine Probleme, ich habe selbst genug mit ihnen
zu tun. Du brauchst sie nicht auch noch mit dir zu tragen." Obwohl er wirklich
ehrlich wirkte und sie überhaupt noch nie angelogen hatte, war sie
mit so einer Antwort nicht zufrieden.
"Nein, Cycil! Das reicht mir nicht! Was
ist los?"
"Du gibst wirklich nie auf." Es war keine
Frage, aber Dajana sah sich dazu genötigt ihre Unnachgiebigkeit unter
Nachdruck zu stellen.
"Ja, nie. Nun?" Er zögerte kurz
und sah dann weg.
"Ich habe doch schon erzählt, dass ich
nicht das erste Mal hier bin, oder? Na ja, man könnte es so ausdrücken,
dass ich ein paar Schwierigkeiten mit den Wachleuten hatte, als ich das
letzte Mal hier war. Und diese Schwierigkeiten haben, fürchte ich,
auch meinen weiteren Aufenthalt in dieser Stadt nicht sehr erwünscht
gemacht. Knapp zusammengefasst, heißt das ungefähr so viel,
dass seit ich einen Fuß auf Sunajs Boden gesetzt habe, mein Leben
nicht mehr als ein gebrochenes Silberstück wert ist. Wohl eher weniger."
"Du denkst, dass ich dir das glaube? Wofür
hältst du mich? Cycil, da wäre sogar mir etwas besseres eingefallen!
Soll ich die Wachen holen?"
"Ich halte dich für äußerst
intelligent, das versichere ich dir. Meinst du nicht, dass wenn ich dir
eine Lüge erzählen wollen würde, ich mir dann etwas glaubwürdigeres
ausgedacht hätte?" Machte er sich lustig über sie? Misstrauisch
forschte sie nach Anzeichen dafür, aber sie fand nichts.
"Ich weiß nicht... Aber es ist wirklich
nicht sehr viel, was du mir sagst! Gibt es keine Einzelheiten?"
"Nein. Tut mir leid, Dajana, aber mehr kann
ich dir nicht sagen", sagte er fest. "Doch es ist die Wahrheit. Ich schwöre
es bei den Allmächtigen Fünf." Dajana glaubte nicht an die Götter.
Nicht sehr jedenfalls. Aber trotzdem war dieser Schwur auch für sie
etwas heiliges.
"Muss ich mich wohl damit zufrieden geben",
seufzte sie. Ihr war ein bisschen unbehaglich zumute. Er machte so einen
ernsten Eindruck, daran war sie gar nicht gewohnt. Und auch noch dieser
Schwur... Dajana war zwar nicht mehr so jung, wie Julian sie immer darstellte,
aber trotzdem jung genug, dass es ihr unangenehm war, ganz ernste Gespräche
über wichtige Themen zu führen. Sie versuchte solchen Situationen
immer auszuweichen oder so zu tun, als würde sie das ganze nichts
angehen. Aber beides war nun nicht möglich. Also tat sie das einzige
was ihr einfiel – sie versuchte die Stimmung durch etwas Schalk zu lockern.
"Das zahle ich dir heim, Cycil. Jetzt erzähle
ich dir nicht die Geschichte von meiner Heirat", sagte sie um einen möglichst
lässigen Ton bemüht. Er sah sie erstaunt an.
"Hast du eben Heirat gesagt?" Sie grinste
- das Manöver war gelungen.
"Ja!"
"Ich wusste nicht, dass du... verheiratet
bist?"
"Tja, du wirst es auch nie erfahren. Wenn
du Geheimnisse hast, habe ich auch welche!"
"Hmm, das klingt nur fair", bemerkte er. "Aber
trotzdem... - Heirat?!" Sein Tonfall gefiel ihr ungemein. Daran hast
du wohl noch eine ganze Weile zu kauen!
"Ist es noch weit bis zum Wirtshaus? Ich will
mein Bad!"
"Erzähl mir erst etwas über die
Heirat!"
"Vergiss es. Wo lang? Und hör auf mich
so anzusehen!"
"Was erwartest du denn von mir? Komm schon,
Dajana, was meinst du mit Heirat?"
"Das sage ich dir doch nicht! Es sei denn,
du erzählst mir die ganze Geschichte über deinen Aufenthalt in
Sunaj..."
"Ich kann nicht."
"Ich auch nicht!" Fröhlich ging sie geradeaus
und kümmerte sich nicht um Cycil, der ein wenig verloren mitten auf
der Straße stand.
"Dajana, das ist die falsche Richtung!", rief
er ihr verzweifelt hinterher.
Das Haus von Alay Sorèndyo war wirklich
mehr ein Palast. Zweistöckig, mit verzierten Türmchen, Glasfenstern
und massigen Kolonnen, die weiß in der Sonne leuchteten. Außerdem
besaß es einen kleinen Garten, der das Gebäude umgab und hinter
einem hohen Zaun lag. Das Tor war zwar offen, dennoch machte das Ganze
einen ziemlich wehrhaften Eindruck. Doch erst als Julian und Johannes näher
an das Haus traten, merkten sie, was es so besonders machte: das Alter.
Es war in der Tat ein außerordentlich altes Haus, vielleicht so alt
wie das Königsschloss selbst, aber auf keinen Fall so gut erhalten.
Putz bröckelte an den Hauswänden und Farbe blätterte an
manchen Stellen ab. Einige der schlanken Türmchen waren teilweise
zerstört und nicht wieder aufgebaut worden. Der Garten war verwildert
und ungepflegt. Und doch wirkte alles so, als ob es einfach dazu gehörte.
Es war verwirrend.
"Sollen wir einfach... hinein gehen?", fragte
Julian unsicher.
"Ich denke, es nützt nichts, wenn wir
hier draußen stehen bleiben. Je schneller wir es hinter uns bringen,
desto besser", meinte Johannes und klang genauso ruhig, wie er es beabsichtigt
hatte. Trotzdem war ihm etwas mulmig zumute, als sie das Grundstück
der Lichtzauberin betraten.
Die Magie des Lichts war anders als die Magie
der Elemente. Sie beinhaltete - genauso wie ihr Gegenstück, die Magie
des Dunkels - einen Teil von der Welt der Unsterblichen und war deswegen
gleichzeitig machtvoller und gefährlicher. Sie konnte nicht erlernt
werden, wie die Elementarmagie, man musste schon mit dieser Gabe geboren
werden. Und dann hatte man keine andere Wahl als damit umgehen zu lernen,
denn sonst zerstörte sie den Menschen von Grund auf. Lichtmagier waren
unglaublich verschlossen und lebten abgeschieden. Es gab nur eine Handvoll
von ihnen auf der ganzen Welt und sie hüteten ihre Geheimnisse eifersüchtig.
Niemand wusste viel über ihre Art der Macht und zum Teil deswegen
hatten die Menschen Angst vor ihnen. Es wurde erzählt, dass Kêmes,
das
Band, ihnen Anleitungen gab und sie so gut wie unsterblich machte.
Johannes glaubte nicht an alles, was erzählt wurde - es gab auch irrsinnige
Gerüchte über Feuermagier -, aber ihm war, wie jedem Magier,
sehr bewusst, wie sehr sich die Kraft eines Bindungsmagiers - so nannte
man die Menschen, die die Magie des Lichts und des Dunkels ausübten
- von seiner eigenen unterschied. Und er fand das irgendwie unheimlich.
Einen Hauch dieser Kräfte spürte
er nun, als er und Julian auf das Haus zugingen. Es gefiel ihm nicht, aber
er konnte sich beherrschen. Julian jedoch konnte froh sein von dieser Wahrnehmung
verschont zu bleiben! Die Tür war ein massives Bollwerk, das aussah,
als hätte es schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel und würde
noch ein paar davon aushalten. Ein Zeichen prangte auf ihr drauf, geschrieben
mit Tinte, die die Farbe von Blut hatte. Es war das überall geltende
Symbol für das Band und wurde nur von Bindungsmagiern und von
Priestern des Kyazc-Ordens gebraucht. Johannes, dessen Magie der Kraft
von Zoetan, dem Sohn, entsprang, war es sehr vertraut. Ein ähnliches
war auf der Tür seines Hauses eingeritzt gewesen - damals in Raven,
bevor alles so furchtbar schief gegangen war.
Johannes vertrieb die Erinnerung und klopfte
entschlossen an die Tür, direkt ans Zeichen von Kêmes. Julian
sah ihn erschrocken an und wollte etwas sagen, schloss dann aber doch noch
den Mund. Er war ziemlich blass und Johannes konnte es ihm wirklich nicht
verübeln.
Aber man ließ den beiden keine Zeit,
um sich gegenseitig zu versichern, dass keine wirkliche Gefahr bestand,
denn schon nach wenigen Augenblicken wurde die Tür geöffnet.
Von einer kleinen Frau mit braunen, strubbligen Haaren und schmalen, braunen
Augen. Johannes hatte eine ernste, ruhige Frau mit einer schimmernden Aura
erwartet und war jetzt wegen dieser... ungepflegten Erscheinung etwas verwirrt.
"Ja, bitte?", fragte die Frau. Ihren flinken
Augen schien nichts zu entgehen.
"Wir wollen zu Alay Sorèndyo", erklärte
Julian.
"Ja, das habe ich mir schon gedacht oder haltet
ihr mich für dumm? Wer wohnt denn hier schon, außer der ehrenwerten
Herrin und mir? Aber die Frage ist, was wollt ihr von Alay Sorèndyo?"
Wer hätte gedacht, dass sich die sagenumwobene Zauberin eine Dienerin
hält, dachte Johannes.
"Wir haben eine Botschaft für sie", antwortete
er. "Einen Brief von einem Mann namens Azur aus N’hoa." Sie sah ihn scharf
an.
"Wir kennen keinen Azur aus N’hoa."
"Tja, der scheint Alay aber ziemlich gut zu
kennen, denn er hat uns einen Haufen Goldstücke dafür gezahlt,
diesen Brief hierher zu bringen." Julian zeigte kurz den braunen Umschlag.
"Ach, es ist dieser Verrückte!
Das macht er schon eine ganze Zeitlang, weil er sich anscheinend eingeredet
hat, die Herrin zu kennen! Ihr seid nicht die ersten, die er damit beauftragt
hat, diesen Unsinn zu überbringen. Und alle haben das gleiche gesagt
- die Botschaft ist sehr..." Sie furchte die Stirn. "Wie war denn das...
bedeutend? Bedeutungsvoll? Irgend so etwas..."
"Wichtig und geheim?", schlug Julian vor.
"Tatsächlich!", rief sie aus und musterte
die beiden prüfend. Irgendetwas an ihr schien nicht zu ihrer übrigen
Erscheinung zu passen. Johannes war sich nicht sicher, woher dieser Eindruck
kam, aber... da war zweifellos etwas.
Ihr durchdringender Blick blieb an seinem
Gesicht hängen und ihn durchfuhr auf einmal ein sehr unangenehmes
Gefühl. Da war dieses Etwas, direkt in ihren Augen. Es glühte...
Sie schien ihn völlig zu durchleuchten, ohne sich sehr anstrengen
zu müssen. Und er konnte nichts dagegen tun. Nur abwarten, bis es
vorbei war.
Es dauerte nur einen kurzen Moment, aber dieser
schien unendlich lang zu sein. Es fiel Johannes schwer, seine Bestürzung
zu verhehlen, als sie wegschaute. Es hatte sich so merkwürdig angefühlt,
so... So als hätte es dieser Dienerin keine Mühe
bereitet, die Vorhänge in den dunkelsten Ecken seines Bewusstseins
beiseite zu reißen und zu enthüllen, was sich dahinter verbarg.
Gedanken, Gefühle... nichts konnte sich vor ihr verbergen. Er kam
sich danach irgendwie leer vor.
Was Julian in diesem Augenblick erfahren hatte,
verriet er nie, aber er war noch blasser als sich der Blick der Frau endlich
von seinem löste und atmete schwer.
"Wer... wer seid ihr?", fragte er mühsam.
Sie lächelte dünn. Eine Veränderung ging mit ihr vor. Es
war nichts sichtbares, aber man konnte es deutlich wahrnehmen. Als Johannes
jetzt in ihre Augen schaute, erblickte er lila Funken darin.
"Für die Stadtbewohner heiße ich
Kalandra und bin die Dienerin der großen Zauberin des Lichts." Auch
ihre Stimme hatte sich verändert, klang nun tiefer und ruhiger. "Für
solche wie euch, die Wahrheit sprechen, heiße ich Alay Sorèndyo
und bin die Zauberin des Lichts."
Gaya ließ sich Tee eingießen und
versuchte die auf sie gerichteten Blicke zu ignorieren. Aber sie hatte
ihr halbes Leben auf der abgeschieden liegenden Druideninsel verbracht
und war so viele Menschen auf engstem Raum nicht gewohnt. Bereits der Markt
hatte ihr Unbehagen eingeflösst, aber jetzt, wo das Dutzend Menschen
im Raum ihre Aufmerksamkeit ganz auf sie richteten, hätte sie sich
am liebsten irgendwohin verkrochen.
"Ein Krieger wird an dem gemessen, was
er für seinen Glauben aushält", erinnerte sie sich und nippte
vorsichtig an dem heißen Tee, der nach Honig und Kräutern roch.
Er war wirklich heiß - sie hätte sich fast die Zunge verbrüht.
Doch wenn sie eine Lektion von ihrem Orden gut gelernt hatte, dann war
es die, Schmerz aushalten zu können. Und so gab sie keine Reaktion
von sich, trank noch ein wenig und stellte die Tasse dann ab. Mit einem
Lächeln sagte sie:
"Das ist sehr lecker, danke. Kann ich einen
Keks haben?" Die zehnjährige Margaret, die rechts von Gaya saß,
reichte ihr hastig die Schüssel mit den Keksen und kam damit ihrem
Bruder Joseph zuvor. Als Gaya die Schale in Empfang nahm und dem Mädchen
dankte, streckte diese ihrem Bruder triumphierend die Zunge heraus. Die
beiden Kinder hatten die ganze Zeit über kaum einmal die Augen von
Gaya gelassen. Das letzte Mal als sie bei ihrer Familie gewesen war, hatte
sie die Kleinen nicht richtig kennen gelernt. Jetzt wünschte sie sich
allmählich, es würde immer noch so sein.
Nicht von allen wurde sie so anhimmelnd angestarrt
wie von Ednas Kindern. Edna selbst hatte sie kaum eines Blicks gewürdigt
und war nicht mit zu Tisch gekommen, weil sie sich angeblich schlecht fühlte.
Gaya nahm eher an, dass sie keine Lust hatte, mit ihrer missratenen Cousine
am selben Tisch zu sitzen. Das war ihr nur recht – sie mochte Edna auch
nicht besonders gerne -, aber sie hätte es lieber gesehen, wenn Edna
ihren Ehemann mitgenommen hätte. Albert Tenaas war ein Mann um die
Dreißig und hatte Gaya schon bei ihrem letzten Treffen deutlich zu
verstehen gegeben, dass er nur das eine von ihr wollte. Das war mitunter
ein Grund gewesen, warum sie Sunaj so schnell wie möglich verlassen
hatte. Der andere waren natürlich ihre Eltern.
Marius und Solana Asearien hatten bisher noch
keine Zeit gehabt, ihr die übliche Litanei entgegen zu werfen, aber
sie zweifelte nicht daran, dass es bald dazu kommen würde. Wenn sie
nur daran dachte, wurde ihr übel. Wenigstens schien sie den Bruder
ihrer Mutter, Kyie, nicht mehr zu interessieren, denn er beschäftigte
sich ausschließlich mit dem Essen auf seinem Teller. Gaya hatte sogar
Mitgefühl mit ihm. Wer so eine furchtbare Frau wie Morgana hatte,
war wirklich nicht zu beneiden. Sie hatte nie verstanden, wie die drei
Kinder von Kyie und Morgana Kenuin ihre Kindheit ausgehalten hatten. Sie
wäre wahrscheinlich schon mit sechs Jahren davongelaufen. Andererseits
war nicht zu übersehen, dass ihr Charakter unter solchem schädlichen
Einfluss gelitten hatte - wenn man nur Elviras Kindlichkeit und Ednas Fanatismus
als Beispiel nahm. Jedoch war der Bruder der beiden ein Lichtblick an Gayas
Horizont.
Er hieß Tomas, war zehn Jahre alt und
völlig anders als seine Familie. Vielleicht konnte man ihn für
viel zu still und zu ernst halten, aber hinter seiner Schweigsamkeit steckte
ein messerscharfer Intellekt, zusammen mit einem unbeugsamen Willen und
einem Freiheitsdrang, der den aller Kinder, die sie kannte, weit übertraf.
Sie wusste das, weil er die mehreren Male, die sie in Sunaj gewesen war,
dazu genutzt hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Er hatte ihr von seinen
Zukunftsvorstellungen erzählt - er wollte nach Acippa reisen und die
Drachen erforschen. Dabei kümmerte es ihn herzlich wenig, dass die
Dracheninseln als der gefährlichste Ort auf den gesamten Träneninseln
galt. Er hatte dies vor und wollte es ausführen. Gaya war der Meinung,
dass ihn nichts davon abhalten konnte und war sehr froh darüber endlich
mal einen Verwandten zu entdecken, der ihr selbst ähnlich war. Es
war fast so als wären sie seelenverwandt.
Der einzige Mensch in dieser Runde, den Gaya
bisher nicht gekannt hatte, war Shekyr hal Senn, Elviras Verlobter. Er
war ein junger Mann von ungefähr neunzehn Jahren und entstammte einer
wohlhabenden Familie. Elvira schien ihn gar nicht so richtig wahrzunehmen,
während die anderen ihn wie einen Schosshund behandelten. Ihm schien
das zwar gar nichts auszumachen, aber Gaya war trotzdem entsetzt von ihrer
Familie. Warum nur war sie mit diesen Leuten verwandt? Warum?
"Äh, wie bitte?", fragte sie aufblickend,
da sie gemerkt hatte, dass ihr Morgana eine Frage gestellt hatte. Gayas...
Tante
sah sie kalt an und wiederholte dann noch einmal.
"Ich habe gefragt, was du hier tust, Gaya.
In Sunaj."
"Ich bin auf der Durchreise", antwortete sie
knapp.
"Oh, heißt das, du gehst bald weg?",
fragte Joseph enttäuscht.
"Ich fürchte, ja. Vielleicht schon morgen."
Hoffentlich.
Kyie sah auf und furchte die gebräunte Stirn, die von Falten schon
völlig besetzt war.
"Was soll’n das heißen?", wandte er
sich an seine Schwester. "Ich dacht’, das Mädel bleibt länger
hier?"
Solana schürzte die Lippen.
"Wie kommst du denn darauf? Unsere Gaya ist
sich doch zu fein dafür, bei ihrer Familie zu verweilen. Sie will
nicht einmal bis Ednas Niederkunft warten!" Das, dachte Gaya, hatte
sie nicht gesagt. Aber ihre Mutter hatte natürlich recht.
"Wirklich nicht? Das ist aber schade. Ich
bin sicher es würde Edna sehr freuen, wenn du bis zur Geburt dableiben
würdest, Gaya", sagte Albert. Gaya bezwang nur mit Mühe den Ekel.
Du
perverses, ekelhaftes Schwein! Als ob dir Edna auch nur irgendetwas bedeuten
würde! Sie brachte ein eingefrorenes Lächeln zustande.
"Ich denke nicht, dass es ihr viel ausmachen
würde, wenn ich weiterziehe. Sie hat... Verständnis für
meine Aufgabe." Ihr Lächeln taute auf, als sie Tomas verstohlenes
Grinsen bemerkte. Verständnis! Da würden wohl eher Fische fliegen
lernen!
"Heißt das, ihr reist alle zusammen
morgen ab?", fragte Elvira fassungslos. "Du hast mir doch gesagt ihr würdet
noch ein paar Tage lang bleiben..."
"Ich bin nicht sicher, ob wir das können..."
"Was heißt hier alle zusammen?", unterbrach
Marius. Gaya verwünschte Elvira aufs heftigste und wünschte ihr
alle Drachen dieser Welt auf den Hals.
"Hmm, das heißt ich und ein paar Freunde..."
"Freunde? Von Freunden hast du aber gar nichts
gesagt! Sind das solche Schlappschwänze von deinem Orden?", fragte
ihr Vater. Das war eine Beleidigung des Druiden-Ordens, aber Gaya hatte
keine Lust, Marius darauf aufmerksam zu machen. Außerdem hatte er
ihr einen ausgezeichneten Ausweg geboten.
"Ja, das..."
"Nein, nein, es sind keine Druiden!", mischte
sich Elvira ein. Eine Drachenplage schien sie nicht sehr zu stören.
"Ich habe zwei von ihnen getroffen. Einer von ihnen ist ein Ritter!" Verdammt.
Gaya hielt tapfer dem Gewicht aller versammelten Blicke stand und biss
beherrscht in einen Keks.
"Ein Ritter?", fragte Morgana und hob eine
fein nachgezeichnete Augenbraue in gespieltem Erstaunen. "Wie kommt denn
das, Nichte?"
"Wir haben uns zufällig getroffen. In
N’hoa."
"Zufällig also. Du hast doch ein Talent
für den Zufall, nicht wahr, Gaya?"
"Aber nein, Tante. Man kann kein Talent für
so etwas entwickeln. Sonst wäre es ja nicht mehr der Zufall", erwiderte
Gaya in einem süßen Tonfall, der keinen der Anwesenden - vielleicht
mit Ausnahme der Kinder und Shekyr - wirklich täuschte. Alle hier
wussten, wer sie war. Wer sie geworden war. Solana schnaubte leise
und nahm einen Schluck Wein, aber Morgana ließ sich durch die Zurechtweisung
nicht vom Weg abbringen.
"Nett ausgedrückt. Hast du diese Ausdrucksfähigkeit
bei deinen Druiden gelernt?"
"Nein, Tante. Der Druiden-Orden lehrt andere
Dinge als die Sprachgewandtheit."
"Zu kämpfen, zum Beispiel?", fragte Morgana
mit einem Blitzen in den blauen Augen. Gaya unterdrückte sorgfältig
jegliche Reaktion - sie wollte dieser Frau nicht diese Genugtuung gönnen.
Aber es war ihr klar, dass Morgana geschickt einen Streit herbeiführte.
Den Streit, der jedes Mal unweigerlich ausbrach, wenn die Rede auf Gayas
'unziemliches' Verhalten kam. Sie überlegte, wie sie das Thema vermeiden
konnte, ohne ihre Eltern zu provozieren, doch es war nicht mehr nötig.
Jemand anderes ergriff das Wort.
"Ich habe gehört, dass Druiden auch die
Alte Sprache lernen. Stimmt das, Cousine?", fragte Tomas in seiner ruhigen
Art. Morgana richtete einen erzürnten Blick auf ihn, der ihr unerschütterlich
entgegensah. Geschickt nutzte er ihre Meinung aus, er sei noch ein Kind
und habe keinen Verstand. Gaya lächelte im Stillen. Da irrte Morgana
sich gewaltig! Und sie wusste es. Aber weil sie jedem an diesem Tisch mehrmals
diese Meinung kundgetan hatte, waren ihr die Hände gebunden. Sie musste
ihre Wut zügeln, und als sie wieder Gaya ansah, war der Hass in ihren
Augen unverkennbar. Oh Tante, ich weiß genau, warum du mich hasst.
Aber du wirst es nie schaffen, mich am Boden zerstört zu sehen. Nie.
Das lag in Gayas Augen, als sie antwortete:
"Ich kenne dieses Gerücht. In Wahrheit
lernen wir nur die Buchstaben der Alten Sprache und einige allgemeine Worte.
Mehr ist in Cinhyal auch nicht bekannt." Danke, Tomas.
"Das Geschlecht der Könige von Sunaj
kennt noch die Alte Sprache", warf Kyie unvermittelt ein und überraschte
sie alle damit. Vielleicht will auch er seiner Frau nicht freie Hand lassen,
dachte Gaya.
"Das ist nur Gerede", sagte Marius verächtlich.
"Woher willst du das wissen? Die Piraten waren
auch nur Gerede, bis sie anfingen unsere Schiffe zu überfallen!",
rief Kyie heftig. Er war leicht aufzuregen, erinnerte sie sich.
"Pah. Wen kümmern schon die alten Könige
von Sunaj?", meinte Albert. "Òdrean ist sowieso in den Verliesen
von diesem Frederique eingekerkert und wird dort verschimmeln. Und mit
ihm eure Alte Sprache!"
"Was ist mit seinem Sohn?", mischte sich Elvira
ein und erntete einen tadelnden Blick von Solana. Es gehörte sich
nicht, in eine Unterhaltung von Männern hereinzuplatzen. Nicht wenn
man eine Frau war.
"Was soll mit ihm sein? Er ist schon längst
über alle Berge, der Prinz. In Acippa vielleicht oder sonst
wo. War nur vernünftig von ihm abzuhauen",
sagte Marius und schnitt sich ein Stück des saftigen
Bratens ab. Gaya tat es ihm gleich und hörte
den streitenden Männern zu. Sie war äußerst froh, aus
dem Schneider zu sein.
"Ein Feigling ist er und nichts weiter!",
entgegnete Albert. "Was ist das für ein Prinz, der seinen eigenen
Vater und das Königreich in Stich lässt?"
"Frederique hat Meuchelmörder auf seinen
Hals gesetzt. Hätte der Junge sich umbringen lassen sollen?", widersprach
Kyie. "Nein, ich bin Marius’ Meinung. Es war richtig, von der Bildfläche
zu verschwinden. Aber er sollte nicht untätig herumsitzen und Steinchen
zählen! Einen Aufstand..."
"Aufstand? Noch so einen, wie den in Bergana?
Ist da nicht schon genug Blut geflossen?", rief Marius aufgebracht. "Das
hat doch keinen Sinn! Frederique würde doch nur wieder alle erschlagen
lassen. Mächtig genug ist der Mistkerl ja." Kyie sah mit einem mal
sehr bekümmert aus.
"Vielleicht ist der Prinz ja schon längst
tot", äußerte er sich leise.
"Nein, dann hätte Frederique damit geprahlt
und es dem ganzen Land verkündet", sagte Marius mit vollem Mund. "Ich
sage euch, der Kerl ist bestimmt aus Cinhyal verschwunden..."
"Kerl? Der Prinz ist höchstens zwanzig!",
unterbrach Albert. "Ein Kind noch!" Gaya warf ihm einen scharfen Blick
zu. Ein Kind! Sie schüttelte entrüstet den Kopf und nahm noch
einen Keks. Hatte ja eh keinen Sinn die Meinung zu sagen. Sie wünschte
sich sehnsüchtig mit Julian und Johannes gegangen zu sein.
Oh, wie sehr wünschte sie sich das!
Aber ihr blieb nichts anderes übrig,
als still am Tisch zu sitzen und am Glas zu nippen.
Johannes’ Blick wanderte vom zerlumpten Kleid
der Frau zu dem ungewaschenen Haar und er verspürte einen Hauch von
Zweifel. Die Lichtzauberin von Sunaj? Gekleidet wie eine Bettlerin? Aber
diese Macht in ihren Augen bildete er sich nicht nur ein. Deswegen senkte
er kurz den Kopf als Zeichen des Respekts und sagte:
"Ich grüße euch, Lady Sorèndyo.
Ich bitte um Verzeihung, dass wir euch nicht erkannt haben, aber wir ahnten
nicht, dass ihr eure Besucher auf die Probe stellt." Sie verzog die schmalen
Lippen zu einem spöttischen Lächeln.
"Das habe ich auch nicht erwartet. Kommt herein."
Sie trat beiseite und wartete ab.
Julians Augen huschten hin und her, er war
sichtbar nervös. Nervös war nicht das richtige Wort - Johannes
hatte ihn noch nie so verstört gesehen. Um seinem Freund Mut zu geben,
ging er als erster ins Haus hinein. Als er die Schwelle übertrat,
hatte er kurz den Eindruck von einem goldenen Strahlen, so hell, dass es
in den Augen weh tat. Dann befand er sich in einem leeren Korridor. Leer
war er wirklich, völlig bar jeder Einrichtung, und doch nicht verlassen.
Denn die Wände, der Boden und die Decke waren mit Schlingen und Zeichen
bedeckt, so dicht, dass man kaum einen Zentimeter der Wand erkennen konnte.
Alles schien zu leben. Johannes sah die Muster schillern, leuchten und
sich winden, aber nie lange genug an einer Stelle, um das Phänomen
zu begreifen. Er schluckte schwer, blieb aber nicht am Türrahmen stehen,
sondern betrat den Flur - einen Tunnel, der ins Ungewisse führte.
Johannes war sich sicher, nicht länger als eine Sekunde gezögert
zu haben und doch bedachte ihn Alay mit einem wissenden Blick. Wer war
diese Frau, dass sie so mühelos seine Gedanken durchschaute? Was für
eine gewaltige Macht musste sie haben, um so etwas tun zu können!
Aber Johannes war selbst Zauberer und ließ
sich nicht so leicht von Magie beeindrucken. Auch wenn sie noch so unheimlich
war - Alay Sorèndyo war auch nur ein Mensch. Und ihre Fähigkeiten
hatten auch ihre Grenzen.
Mit diesen Gedanken sah er dieser erstaunlichen,
geheimnisvollen Frau fest in die Augen und ging weiter. Sie lächelte
in sich hinein und war zufrieden. Ein starker Wille, Stolz und Kraft, ihren
eigenen so sehr ähnlich und doch völlig anders. Es gefiel ihr.
Julian beobachtete die Strudel auf den Wänden
und die Frau mit den purpurnen Flammen in den Augen mit wachsendem Unbehagen.
Wer hätte gedacht, dass er je in so eine Situation kommen würde?
Zwischen Magie und Stolz gefangen. Einerseits konnte er sich einfach nicht
überwinden und dieses... Haus betreten, andererseits konnte er nicht
einfach weglaufen, schließlich war er ein Ritter! Er durfte keine
Angst zeigen - außerdem war Johannes so selbstverständlich in
den Korridor getreten, dass es eine Schande wäre, länger an der
Schwelle stehen zu bleiben. Also holte Julian tief Luft und tat einen Schritt
ins Innere des Hauses, in Erwartung von dem Boden verschlungen zu werden.
Als nichts dergleichen geschah, war er ein wenig beruhigt. Der unverhüllte
Spott im Lächeln von Alay Sorèndyo trieb ihm die Farbe zurück
ins Gesicht. Vor dieser Frau so eine Blöße zu zeigen... Er schämte
und ärgerte sich gleichzeitig. Ein eisiger Blick in ihre Richtung
gab seinen Ärger kund, hatte aber keinerlei Wirkung. Unbeeindruckt
und im Innern sehr zufrieden schloss Alay die Tür. Mit einem dumpfen
Geräusch fiel diese ins Schloss. Julian musste kurz gegen die Vorstellung
ankämpfen, in diesem Haus, dieser Gruft, gefangen, der Magie hilflos
ausgeliefert zu sein.
"Folgt mir", sagte Alay und ging voraus. Johannes
schloss sich ihr an, nach einem vorsichtigen Blick zu Julian. Der Ritter
betrachtete unbehaglich die Zeichen an den Wänden, aber er riss sich
schnell zusammen und folgte den anderen beiden. Zu seiner Erleichterung
war es nur der Korridor, der mit den Zeichen bedeckt war. Als sie den Wohnraum
betraten, sahen sie ein ganz normales Zimmer, ziemlich groß zwar,
aber dafür auch ziemlich leer. Nein, leer war nicht das richtige Wort.
Eher... unbenutzt.
"Setzt euch. Wollt ihr etwas zu trinken?"
Beide verneinten. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr
Gesicht, dann wurde sie ernst. "Der Brief. Gebt ihn mir." Wer hätte
gedacht, dass dieser Azur Alay Sorèndyo tatsächlich etwas bedeutet,
dachte Julian und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn mit einer schlanken, weißen
Hand entgegen und riss den Umschlag auf. Ihre Augen huschten schnell über
die Zeilen und das lila Feuer in ihnen wurde für einen Moment gedämpft,
bevor es wieder hochloderte. Sie hob den Blick und schürzte die Lippen.
"Das hätte ich mir denken können. Wenn etwas gut erledigt werden
soll, muss man es selbst machen."
"Schlechte Kunde?", fragte Johannes.
"Man könnte es so ausdrücken, in
der Tat. Hat Azur euch bezahlt?" Einen Moment lang erwog Julian Nein zu
sagen und noch mehr Geld zu verlangen, aber als er sich an den Augenblick
an der Tür erinnerte, verflog dieser Gedanke augenblicklich.
"Ja, hat er." Sie nickte; ihr Blick wanderte
über die weißen Wände als würde er etwas suchen. Julian
fühlte sich immer unbehaglicher und wünschte sich sehnlichst,
von hier zu verschwinden. Johannes hingegen interessierte sich für
die Zauberin.
"Wir haben uns mit der Zustellung beeilt",
sagte er.
"Ja, das habe ich auch angenommen." Sie hatte
ihnen nicht gedankt. Überhaupt wirkte sie ein wenig geistesabwesend,
obwohl er das schlecht beurteilen konnte. Nur zu gerne hätte er erfahren,
was so wichtiges in diesem Brief stand, dass es Alay Sorèndyo beunruhigte.
"Mm, dann sollten wir mal gehen...", fing
Julian an. Alay sah auf, ihre schmalen Augen nahmen ihn in die Zange.
"Nein." Sie sprach schärfer, als es angemessen
wäre. Als ob sie es bemerkt hätte, waren ihre nächsten Worte
vergleichsweise freundlich. "Bleibt noch ein wenig. Ich werde euch schon
nichts tun." Sanfter Spott, von dem Julian fast wieder rot geworden wäre.
Er war mit einmal froh, dass weder Dajana noch Gaya da waren, um sich an
seinem Anblick zu amüsieren.
"Unsere Freunde warten auf uns", fiel ihm
an dieser Stelle ein. Johannes hätte ihm sagen können, dass das
ein Fehler war, aber es war eh zu spät. Alay lächelte ihr liebenswertes
Lächeln und sagte:
"Das ist doch kein Problem. Ich kann sie ebenfalls
herkommen lassen. Eine nette Zusammenkunft, das wäre doch schön."
"Ähm, ich fürchte das ist nicht
möglich, Lady Sorèndyo... Wir haben bereits Zimmer in einem
Gasthaus genommen..."
"Die Unterkünfte in Sunaj verdienen den
Namen Gasthaus nicht", widersprach sie. "Es wäre viel besser, wenn
ihr alle gemeinsam heute bei mir übernachten würdet. In meinem
Haus ist Platz genug für fünf weitere Leute und ich habe auch
viel besseres Essen als es in diesen Wirtshäusern angeboten wird.
Ihr müsst euch doch von den Strapazen im Celine erholen." Johannes
war sich sicher, dass sie das extra erwähnt hatte, um zu zeigen, dass
sie viel über sie wusste. Und er hegte den Verdacht, dass sie es erst
vor kurzem herausgefunden hatte. Vor kurzem, als sie die beiden mit ihren
unergründlichen Augen gemustert hatte...
"Das ist wirklich nur zu freundlich, Lady
Sorèndyo. Wir nehmen diese großzügige Einladung mit Freude
an", antwortete er mit einem galanten Lächeln, das das, was er wirklich
meinte, keinesfalls verbarg.
Ich werde dich im Auge behalten.
"Wunderbar. Und bitte, nennt mich nicht Lady
Sorèndyo. Alay genügt." Ein ebenso freundliches Lächeln
lag auf ihrem Gesicht und ebenso deutlich verstand er ihre Antwort. Wir
werden sehen, wer hier wen im Auge behält.
Julian, der von dem stummen Wortaustausch
der beiden nichts mitbekam, dachte verzweifelt an das gute Bier im "Hammereisen"
und an die hübschen Mägde dort. Er hatte sich die heutige Nacht
etwas anders vorgestellt...
© Martha
Wilhelm
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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