Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 4: Zeichen (1)

Sunaj war eine alte Stadt. Zwar nicht so alt wie N’hoa, aber trotzdem deutlich älter als die meisten Städte in Cinhyal. Deswegen hatte Sunaj viele Gebäude mit Spuren von seltsamer, vergangener Architektur. Auch die Straßen waren teilweise sehr merkwürdig. Obwohl sie alle erneuert wurden, als Òdrean an die Herrschaft kam, war das Grundgerüst das gleiche geblieben und die Ausrichtung von diesem war sehr... nun, rechtwinklig.
Es gab vier Hauptstraßen, die in die vier Himmelsrichtungen wiesen und von der Mitte der Stadt, von einem Punkt im Burghof, ausgingen. Diese Straßen teilten die Stadt in vier gleichgroße Teile und wurden Himmelsstraßen genannt. Aber das war noch nicht alles, denn seit uralten Zeiten gab es ein Ober- und ein Untersunaj. Das hatte nichts mit der Stadtlage zu tun, sondern mit den Bürgerschichten. Im oberen Sunaj lebten die Adligen und die reicheren Bürger und im unteren der Rest. Um beides so deutlich wie möglich voneinander abzugrenzen, umgab eine breite Straße das obere Sunaj, die die Himmelsstraßen in einem neunzig Grad Winkel kreuzte - natürlich befand sich das Obersunaj im Zentrum der Stadt und umgab das Königsschloss. Diese Straße zwischen den Schichten hieß Sternenstraße, weil sie angeblich früher mal mit Smaragden in Form von Sternen gepflastert gewesen war.
Das alles war Gaya von Geburt an bekannt. Doch dies war nur eine notdürftige Beschreibung von Sunaj. Denn natürlich gab es in der Hauptstadt nicht nur rechtwinklige Straßen.
Schon vom weiten waren die Obeliskentürme zu sehen. Das waren die acht Türme in den acht Teilen der Stadt, die aus Obsidian bestanden und höher als jedes Gebäude waren. Tiefschwarz erhoben sie sich über den zahlreichen Dächern und die Sonne schimmerte auf den glatten Oberflächen. Keiner hatte Zugang zu diesen Wächtern der Zeit. Es wurde gemunkelt, dass das Herrschergeschlecht von Sunaj die Schlüssel zu den Obeliskentürmen wie einen Augapfel hütete, denn eines Tages würden diese die Rettung von ganz Cinhyal bedeuten. Allerdings hatte noch kein König zugegeben, etwas davon zu wissen, und keiner wusste, wie die Türme Cinhyal denn retten sollten oder was für einen Nutzen sie überhaupt hatten. Jedoch waren sie ein Wahrzeichen Sunajs und sehr bekannt.
Das berühmteste Gebäude war natürlich das Königsschloss. Es war zur gleichen Zeit gebaut worden wie die Stadt selbst und seit dem so gut wie unverändert geblieben. Aus Marmor erbaut, hielt es der Zeit stand und hatte unzählige Generationen von Königen miterlebt, ohne sichtbar zu altern. Es hatte hohe Türme, mit Edelsteinen in verschiedenen Farben geschmückt, glänzende Fenster aus buntem Glas und wunderschöne Verzierungen. Die Königsburg war nicht zur Verteidigung gebaut worden und ähnelte mehr einem Märchenschloss, aber trotzdem hatte sie hohe, dicke Mauern und nur ein Tor, das jedoch immer offen stand. Die Flaggen zeigten einen der Obeliskentürme, überdeckt von sich kreuzenden Schwertern und gekrönt von einer goldenen Krone. Das war das Wappen der Könige von Sunaj und Cinhyal.
Die Gebäude in der Stadt waren zum Teil sehr einfach und oder gar armselig, aber es gab auch richtige Paläste, die abseits von allem standen und manchmal sogar ein kleines Grundstück hatten. Das waren fast ausschließlich Besitztümer von Adligen oder von sehr ruhmreichen Rittern. Es gab keine Anordnung, nur eine bunte Ansammlung von den verschiedensten Häusertypen. Hier und da waren auch Gärten zu sehen, die zur Verschönerung beitrugen.
Nicht weit von ihnen lag der kleine Hafen am Königlichen Fluss. Die Stadt war an der einen Seite fast völlig vom Fluss eingekreist und an der anderen vom Celine eingegrenzt. Außerdem umgab sie eine hohe Mauer, die nur vier Eingänge in die Stadt ließ - dort, wo die Himmelsstraßen endeten. Gaya dachte bei sich, dass das wahrscheinlich der Grund war, warum Sunaj zur Hauptstadt erkoren wurde - es würde schwer sein, sie anzugreifen.
Sie sah Dajana an, die gar nicht wusste, wohin sie zuerst hinsehen sollte, und lächelte.
"Mund zu, das sieht besser aus", riet sie ihr. Dajana bemerkte, dass sie die einzige war, die die Stadt anstarrte und wurde rot.
"Hmm, ganz hübsch", sagte sie so geringschätzig wie sie es vermochte. Als sie das Grinsen der anderen sah, verschränkte sie die Arme. "Was? Bin ich hier die einzige, die zum ersten Mal diese Stadt sieht?" Alle nickten und sie seufzte verzweifelt. "Na wunderbar. Würdet ihr bitte aufhören so zu grinsen? Ich kann kräftig zuschlagen!"
"Das sieht man", flüsterte Julian, aber nur Gaya hörte es, die neben ihm stand.
"Ich würde vorschlagen, dass wir uns in Bewegung setzen", sagte Johannes. Da keiner von ihnen Lust hatte, noch länger so nah beim Wald zu verweilen, befolgten sie diesen Vorschlag und näherten sich Sunaj.
"Was machen wir zuerst? Den Brief ausliefern?", erkundigte sich Gaya.
"Ich denke schon...", setzte Julian an, aber Dajana unterbrach ihn.
"Nein! Wir gehen erst mal ein Bad nehmen, danach essen und sich ausruhen, und dann liefern wir den Brief aus!"
"Hieß es nicht, wir sollten den Brief so schnell wie möglich überbringen?"
"Ach, Gaya, wir werden es auch so schnell wie möglich machen - nach Bad, Essen und Schlaf! Schneller geht es eben nicht!"
"Unsinn. Wir gehen gleich hin, übergeben Alay Sorèndyo den Brief und gehen dann in ein Gasthaus", stellte Johannes fest. "Sonst wird es schon Abend sein und das ist zu spät, um ihn abzuliefern. Ihr wollt sie doch nicht mitten im Schlaf stören?"
"Wir sind ja nicht wahnsinnig! Aber wir können uns ja aufteilen. Es ist doch egal, ob wir alle zusammen zu ihr gehen oder nur zu zweit", meinte Julian. Dajana nickte begeistert, aber Johannes hatte Bedenken.
"Wir wissen nicht, wie sie ungeladene Besucher empfängt. Vielleicht ist sie ja leicht reizbar und wird uns angreifen."
"Sie ist doch nicht verrückt, sondern eine Zauberin!", widersprach Gaya.
"Man erzählt sich seltsame Dinge über Lichtzauberer", erwiderte er. "Aber von mir aus können wir uns auch aufteilen. Ich gehe auf jeden Fall mit zu ihr. Vielleicht empfängt sie Magier freundlicher."
"Der einzige freundliche Empfang, den ich im Moment will, ist der von einer Wanne voll warmen Wasser", sagte Dajana entschieden.
"Ich begleite dich, Johannes. Du kommst auch mit, oder, Julian?", fragte Gaya. Er nickte.
"Klar doch. Ich habe ja auch den Brief."
"Ich gehe mit Dajana zum Wirtshaus. Ich glaube, es wäre das beste, wenn sich ein Heiler meinen Arm ansehen würde, bevor die Wunde sich entzündet", sagte Cycil. "Wir können auch gleich fünf Zimmer mieten. In welches Wirtshaus gehen wir überhaupt?"
"Ich würde die "Goldene Lilie" empfehlen. Es ist nicht zu teuer und das Essen ist ganz erträglich", entgegnete Gaya.
"Nein, der "Hammereisen" ist der beste!", widersprach Julian energisch. "Dort gibt es das beste Bier in der Stadt!"
"Dein Geschmack ist nicht immer der beste, Julian", bemerkte Gaya trocken.
"Es gibt auch einen ziemlich guten Rinderbraten", fügte er hinzu. Dajana mischte sich schnell ein – bei der Erwähnung des Wortes Rinderbraten wurde ihr bewusst, wie hungrig sie eigentlich war.
"Was liegt näher?" Gaya und Julian wechselten Blicke.
"Der Hammereisen!", verkündete er triumphierend.
"Dann gehen wir halt dahin! Hauptsache, ich bekomme bald..."
"Wir haben es verstanden!", unterbrach Gaya. "Dann treffen wir uns dort. Wir beeilen uns – natürlich wenn wir nicht zu Asche verbrannt werden oder so!"
"Keine Sorge, ich werde es zu verhindern wissen, dass wir zu Asche verbrannt werden", beruhigte Johannes sie. "Außerdem ist das gar nicht so leicht wie es klingt!" Also trennten sie sich, nachdem sie die Stadt durch das Nordtor betreten hatten.

"Cycil, ist es eigentlich weit bis zu diesem Wirtshaus?", fragte Dajana. Die beiden gingen einen schmalen Weg entlang, der zwischen zwei baufälligen, düsteren Häusern hindurchführte. Sie fand es ziemlich bedrückend, aber er hatte ihr versichert, dass das der kürzeste Weg war und sie protestierte nicht mehr.
"Nicht besonders. Im dritten Abschnitt, das sechste Haus von rechts." Lärm drang zu ihnen; es hörte sich an, als wäre irgendwo vor ihnen eine große Menschenmenge versammelt. Dajana beschleunigte ihre Schritte, um diese Gasse so schnell wie möglich zu verlassen.
"Ah ja. Ich habe die Ortsangabe zwar nicht verstanden, aber ich glaube dir mal so."
"Mach das", sagte er geistesabwesend. Sie warf ihm einen schiefen Blick zu.
"Worüber denkst du nach?"
"Ich? Über nichts besonderes."
"Wirklich? Du siehst aus, als würdest du dir Sorgen machen."
"Tatsächlich?"
"Ja, tatsächlich. Also?"
"Es ist nichts wichtiges."
"Im Klartext heißt das, du willst mit mir nicht darüber sprechen." Er hörte den verletzten Unteron in ihrer Stimme und sah auf.
"Es hat nichts mit dir zutun. Es sind eben meine Sorgen, sie betreffen dich nicht." Sie verzog den Mund, aber sie begriff, dass er wirklich nicht darüber sprechen wollte und verstummte. Sollte er seine Sorgen eben für sich behalten, das war wirklich nicht ihr Problem.
Der Weg mündete in eine ziemlich breite Straße. Als Dajana sich umsah, verstand sie den Lärm: es 
war Markttag. Überall waren Marktstände und es wurde lautstark gefeilscht. Sie machte große Augen, als sie die Menschenmassen sah, die sich hier aufhielten, und vergaß, dass Cycil sie gekränkt hatte.
"Bei den Göttern! Ich hätte nie gedacht, dass es irgendwo so viele Menschen gibt!"
"Der Markt ist sehr lang. Er zieht sich durch die ganze Stadt. Für viele Leute ist das wie ein Feiertag und deswegen versammeln sich alle draußen, auch wenn sie nichts kaufen können", erklärte Cycil.
"Das verstehe ich... Ich würde das auch tun. Guck mal, was für hübsche Stickereien sie verkaufen!", rief sie verzückt. "Und was für Krüge!" Ihre Blicke flogen hin und her und ihre Augen leuchteten. "Was würde ich nicht alles für so ein Tuch geben...", seufzte sie sehnsüchtig. Cycil, der sich normalerweise keine Gelegenheit entgehen ließ, Dajana eine Freude zu machen, hatte freilich anderes zu tun. Er wusste nur zu gut, dass die Wachen an Markttagen verdreifacht wurden und das machte ihm Sorgen. Er vergaß sogar die Schmerzen an der Wunde. Wachsam huschten seine Augen über die Menschenmenge. Er dachte, Dajana sei zu beschäftigt, um seine Unruhe zu bemerken, aber da täuschte er sich. Obwohl sie einfach hingerissen von dem Schmuck und den Kleidern war, die an den Marktständen feilgeboten wurden, vergaß sie ihren schweigsamen Gefährten keineswegs. Deswegen entging ihr seine Beunruhigung nicht und sie machte sich so ihre Gedanken.

"Wieso wohnt Alay Sorèndyo eigentlich im unteren Sunaj? Sie ist doch eine Adlige", wunderte sich Johannes, während sie sich ihren Weg zwischen den Menschen bahnten.
"Nicht unbedingt", antwortete Julian. "Über ihre Familie ist nicht viel bekannt, obwohl sie schon seit Generationen hier in Sunaj leben. Die Sorèndyos brauchen keine Adligen zu sein, sie können auch einfach nur unverschämtes Reichtum angesammelt haben."
"Trotzdem könnte Alay Sorèndyo im oberen Sunaj wohnen."
"Vielleicht hat sie einfach keine Lust dazu?", schlug Gaya vor. "Sie lebt doch sehr abgeschieden, am Rande der Stadt. Im Obersunaj hätte sie diese Absonderung nicht." Julian zuckte mit den Schultern.
"Es ist ja allgemein bekannt, dass die Magier des Lichts Spinner sind", verkündete er und atmete auf, als sie den vollen Platz verließen und sich in eine Nebenstraße vertieften. Gaya sah sich unruhig um. Es wäre ihr viel lieber gewesen, einen anderen Weg zu nehmen, aber die dichte Menschenmasse machte das unmöglich. Ich kann nur beten, dass sie ebenfalls am Markt sind. Sie hielt sich weiter hinten und hoffte, dass Johannes ihr genügend Deckung bot, für den Fall, dass ihre Eltern ihnen doch noch über den Weg liefen.
"Wie lange bleiben wir hier eigentlich?", fragte sie.
"Wir wollten Dajana noch einen Bogen kaufen und ich brauche auch noch einige Kleinigkeiten", antwortete Julian. "Vielleicht zwei Tage? Aber wohin wir dann gehen, müssen wir noch festlegen."
"Johannes, was hast du vor?"
"Das ist eine gute Frage. Vielleicht gehe ich nach Mendara, Nuab besuchen. In zwei Wochen ist Patreths Prüfung, ich sollte dabei sein." Nein! Er muss bei uns bleiben!
"Willst du nicht doch noch mit uns kommen?", fragte sie vorsichtig. Er sah sie über die Schulter hinweg an und ein nachdenklicher Ausdruck stand in seinen Augen.
"Wer weiß", murmelte er so leise, dass sie es kaum hörte. Hoffnung keimte in ihrem Herzen auf. "Ich werde auch für eine Weile in der Stadt bleiben. Wir werden ja sehen, was sich daraus entwickelt", sagte er laut. Gaya umklammerte ihren Stab fester und sprach ein Gebet. Er gehörte doch bereits zu ihnen, er konnte nicht einfach weggehen! Natürlich wusste sie, dass das lächerliche Gedanken waren, aber es lag ihr wirklich viel an Johannes. Ist es nicht merkwürdig, wie schnell wir uns alle näher gekommen sind? Ich betrachte sie sogar als Freunde, obwohl es kaum drei Tage her ist, dass ich ihnen misstraut habe. Aber wirklich verlassen kann ich mich nicht auf sie, dazu weiß ich zu wenig... Nach einem kurzen Blick auf den Feuermagier vor ihr, korrigierte sie sich. Ich kann mich nicht auf alle verlassen. Es waren die Geheimnisse, die sie hüteten, die ihr missfielen. Vor allem Cycil! Er war der merkwürdigste Mann, dem sie je begegnet war. Aber irgendwann werde ich ihm schon auf die Schliche kommen. Verlass dich darauf, Cycil...
Durch die Nebenstraße kamen sie auf einen kleinen Platz mit sechs Häusern, die sich im Kreis aneinander reihten. Zwei Wege führten weiter, einer direkt zu einem Obeliskenturm, der andere nach draußen.
Alays Haus stand am Rande der zweiten Straße, soweit Gaya wusste. Die Häuser waren in ziemlich gutem Zustand und zeigten deutlich, dass das eins der wohlhabenderen Viertel war. Eins der Gebäude war ein Waschgeschäft mit dem Namen "Die Seemuschel" und vielbesucht. Während die beiden Männer unbekümmert den Platz überquerten, um sich in die Straße zu vertiefen, schielte Gaya vorsichtig auf dieses Geschäft und versuchte unsichtbar zu werden.
Entweder hatte sie einfach einen schlechten Tag oder es war Schicksal, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür leise knarrend und eine junge Frau trat heraus. Nein, nein, bitte nicht... Gayas mentales Flehen hielt die Frau mit den rotbraunen Haaren und den Grübchen auf den Wangen nicht davon ab in ihre Richtung zu blicken und einen freudigen Ausruf auszustoßen. Julian und Johannes blieben stehen und sahen sich überrascht um, währenddessen Gaya ungeschickt eine stürmische Umarmung ihrer Cousine Elvira erwiderte und versuchte einen ruhigen Gesichtsausdruck beizubehalten.
"Gaya! Oh, ihr Götter, wie froh bin ich doch, dich zu sehen! Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe, Schwesterchen!", rief Elvira hell. Man kann sie in der ganzen Stadt hören, dachte Gaya düster. Obwohl ihr die Sicht von einer Kaskade ungewaschener Haare genommen wurde, konnte sie sich Julians fragend-spöttischen Blick bildlich vorstellen. Es dauerte eine Weile, bis Gaya es geschafft hatte Elvira von sich loszureißen, die entschlossen schien, sie zu erdrücken, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun. Die Druidin warf ihr Haar zurück und schob ihren Stab unauffällig zwischen sich und ihre Cousine. Nur für alle Fälle. Erst dann wandte sie sich den wartendenden Männern zu, zeigte ein dünnes Lächeln und sagte:
"Darf ich euch vorstellen – meine Cousine Elvira Kenuin." Julian deutete eine leichte Verbeugung an und stellte nun seinerseits sich und Johannes vor. Elvira strahlte, von soviel elegantem und höflichem Verhalten begeistert.
"Das finde ich toll! Gaya, warum hast du uns nicht erzählt, in was für einer netten Gesellschaft du dich rumtreibst?" Was für eine Formulierung.
"Ich habe die beiden erst vor kurzem kennen gelernt, Elvira."
"Umso besser!" Sie zwinkerte Julian unverhohlen zu und schien vergessen zu haben, dass sie seit zwei Monaten verlobt war. Gaya beschloss, sie, sobald wie möglich, über diesen Umstand in Kenntnis zu setzen.
"Elvira, meine Liebe, wo ist denn deine Schwester?", fragte Gaya äußerst liebenswürdig. Elviras Schwester sollte eigentlich auf das Mädchen aufpassen.
"Edna? Beim Markt, wo denn sonst." Sie nestelte an einer billigen Silberkette, die ihr um den Hals hing und warf weiterhin mit koketten Blicken um sich. Julian bewahrte zwar ein ernstes Gesicht, aber seine Augen glänzten belustigt. Elvira war sechzehn Jahre alt.
"Wieso bist du denn nicht dort?", erkundigte sich Gaya. Ein Schulterzucken.
"Keine Lust." Ah ja. Gaya wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Wie konnte sie Elvira an den Rand der Welt verbannen? Bestimmt gab es dafür einen Zauberspruch, aber im Moment wollte er ihr nicht einfallen. Vielleicht hatte Elviras eisenharter Griff die Blutzufuhr zum Gehirn unterbrochen.
"Ich will euch zwei ja nicht stören, aber wir haben noch etwas vor", mischte sich Johannes ein. Sie verspürte ein unendliches Gefühl der Dankbarkeit. Aber Elvira runzelte die Stirn.
"Aber Gaya, du willst doch nicht schon jetzt weggehen? Willst du denn gar nicht deine Eltern begrüßen? Und Edna? Und Albert?" Nein, hätte Gaya am liebsten gesagt. Aber auch die Angehörigkeit zum Druiden-Orden machte einen nicht immun gegen die Familie. Das wusste sie selbst nur zu gut. Und ihre Schwierigkeiten mit ihren Eltern mussten nicht noch größer werden.
"Tja, ich fürchte, Elvira hat recht", wandte sie sich an die beiden. "Ich kann hier nicht weggehen, bis ich meiner ganzen Verwandtschaft Hallo gesagt habe." Sie musste einen verzweifelten Ton in der Stimme gehabt haben, denn Julian grinste breit.
"Natürlich, wir verstehen das, Gaya. Die Familie hat schließlich Vorrang", sagte er gönnerhaft. "Wir treffen uns einfach nachher im "Hammereisen". Du brauchst dich nicht zu beeilen!" Sie sah ihn drohend an, aber er grinste unbeeindruckt weiter.
"Aber, Sir, wieso kommt ihr nicht auch noch mit? Gayas Freunde sind immer willkommen!", rief Elvira dazwischen. Jetzt war es an Gaya zu grinsen.
"Ja, Julian. Komm doch mit. Die Familie hat schließlich Vorrang!"
"Nein, nein, ich will dich ja nicht stören...", wehrte er hastig ab. "Du hast dir schließlich eine ungestörte Zusammenkunft mit deiner Familie verdient. Ich und Johannes führen den Auftrag aus und wir treffen uns dann im Wirtshaus. Also viel Spaß noch! War sehr nett, dich kennen zulernen, Elvira!" Er begann vorsichtig zurückzuweichen, um Elvira keine Gelegenheit zu geben, ihn erneut aufzuhalten. Gaya musste ein Auflachen zurückhalten. Er ist wirklich süß. Johannes zögerte noch.
"Wir können auch warten...", begann er und verstummte, als er Gayas beruhigenden Blick einfing. Geht ruhig. Ich komme schon zurecht, schien er zu sagen.
"Aber nein, tut mir leid, Elvira, wir haben es wirklich eilig", fiel Julian ein. Diesmal sagte der Feuermagier nichts. Er und Gaya wechselten ein rasches, warmes Lächeln, dann wandten sich die beiden um und verließen den Platz. Elvira sah ihnen unverhohlen enttäuscht hinterher und seufzte. Ihre betrübte Miene war fast schon komisch, aber Gaya gab ihrer Stimme einen mitfühlenden Ton.
"Sei nicht traurig, Elvira, wir bleiben noch einige Tage in der Stadt. Ich bin sicher, Julian wird dich mit Vergnügen wieder treffen." Das Mädchen strahlte hoffnungsvoll auf. Tja, Julian, so leicht kommst du mir nicht davon, dachte Gaya ihrerseits zufrieden. "Komm, meine Liebe, gehen wir rein. Erzähl mir, wie geht es Edna? Hatte sie bereits ihren schweren Tag?..."

"Cycil, denkst du, Julian würde es mir übel nehmen, wenn ich mein Geld für so ein Kleid ausgeben würde?", fragte Dajana.
"Ich weiß nicht."
"Würdest du es denn?", startete sie einen neuen Versuch. Sie wollte ihn unbedingt zum Reden bringen und dann vorsichtig herausfinden, warum er so nervös war. Leider schien Cycil sie nicht sehr zu beachten, was ihr ganz und gar nicht gefiel. Irgendwie hatte sie sich schon an seine Aufmerksamkeit gewöhnt.
"Ich würde es dir nicht übel nehmen, das ist schließlich deine Sache", antwortete er und bemerkte nicht, wie seine Begleiterin das Gesicht verzog. Das Kleid war ihr herzlich egal, sie kannte sowieso keinen Anlass, zu dem sie so etwas spitzenbesetztes tragen konnte. Aber sie wollte, dass er mal ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Zur Zeit hatte sie das unangenehme Gefühl, dass er mit demselben Enthusiasmus mit einem Baum geredet hätte.
"Aber was würdest du davon halten?", gab sie nicht auf. Endlich sah er sie an.
"Warum interessiert dich das?"
"Keine Ahnung. Nur so eine Frage."
"Also wenn du eine ehrliche Antwort haben willst: ich weiß nicht, wozu du so ein Kleid gebrauchen könntest. Und es ist ohnehin viel zu teuer, ein paar Straßen weiter könntest du das gleiche für weniger Geld erstehen." Er wandte sich wieder ab. "Übrigens würde ich es bevorzugen, wenn wir auf direktem Weg zu dieser Gaststätte gehen und den Markt beiseite lassen."
"Warum?" Dajana ließ ihn nicht aus den Augen.
"Weil ich müde bin und Hunger habe. Und weil mein Arm ziemlich schmerzt", erwiderte er.
"Ja, klar", brummte sie, unzufrieden mit der Antwort.
"Hast du etwas gesagt?"
"Nein." Missgelaunt beschloss sie ihn vorerst in Ruhe zu lassen und auf eine bessere Gelegenheit zu warten. Schließlich war es nicht so, dass er ihr weglaufen würde. "Ist es noch weit?"
"Nein." In unangenehmes Schweigen gehüllt bewegten die beiden sich durch die lärmende, lachende Menge und schenkten den Marktbuden nicht mehr als einen flüchtigen Blick.
"Hey, hübsches Mädchen, bleib doch mal stehen! Wie wär’s mit feinem Tuch? Nur ein Goldstück und vierzig Silber!" Dajana hatte sich an solche Ausrufe schon halbwegs gewöhnt und ignorierte sie geflissentlich. Aber es schmeichelte ihr, dass sie hübsch genannt wurde. Nach mehreren Tagen in diesem vermaledeiten Wald fühlte sie sich nicht besonders attraktiv. Aber vielleicht sah sie mit Schlamm in den Haaren einfach besser aus? Der Gedanke an Schlamm erinnerte sie wieder an das warme Bad, das auf sie wartete, und sie beschleunigte ihre Schritte. 
Vor ihnen lag eine Kreuzung. Die große Straße führte weiter geradeaus, aber sie wurde von einer anderen, dünneren gekreuzt. Sunaj muss ein Labyrinth von Straßen sein, dachte Dajana. Sie sah Cycil fragend an, aber er schien sie wieder mal vergessen zu haben. Seine Aufmerksamkeit galt zwei Männern in gold-grünen Uniformen, die mit Lanzen gerüstet durch die Menschen gingen. Sein Schritt stockte für einen kurzen Moment, dann beherrschte er sich wieder. Doch Dajana war es nicht entgangen, auch nicht der Ausdruck in seinen Augen, der genauso schnell verschwand wie er aufgetaucht war. Wieso hat er Angst vor ihnen? Nun, gleich werde ich es ja wissen. Die Männer kamen direkt auf sie zu.
"Dajana, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir jetzt in die linke Straße einbiegen?", fragte Cycil gezwungen ruhig.
"Ist der Weg dann kürzer?"
"Eigentlich nicht."
"Nun... Einverstanden." Jetzt wirst du mir nicht ohne Erklärung davonkommen, mein Freund! Ohne auffällig zu wirken, wechselte Cycil die Richtung und steuerte auf die Nebenstraße zu. Sie bewunderte seine Ruhe: Er behielt seinen gemächlichen Gang bei und schaute nicht einmal in Richtung der uniformierten Männer. Dajana folgte ihm und passte sich seinen Schritten an. Sie wurden nicht aufgehalten und verschwanden unerkannt in der Seitenstraße. Hier war die Menschenmasse nicht mehr so dicht, denn der Markt folgte hauptsächlich der Hauptstraße. Dajana atmete auf. So viele Menschen auf einmal zu sehen, hatte ihr Unbehagen eingeflößt. Cycil sah sich kurz um.
"Gehen wir noch ein bisschen weiter", sagte er dann. Langsam schlenderten sie den Weg entlang. Dajana forschte in seinem Gesicht nach einer Antwort auf ihre Fragen, aber sie konnte nichts darin lesen - der Augenblick der Schwäche war vorbei. Er war verschlossen wie immer. Aber diesmal werde ich alles erfahren!  Mit einer für sie seltenen Geduld wartete sie noch einige Zeit, bis sie ihn endlich fragte.
"Also, was ist los? Und wenn du mir nicht ehrlich antwortest, werde ich sofort zu diesen Kerlen laufen und sagen, wo du bist!"
"Das würdest du doch nicht wirklich tun, oder?", wollte er wissen und sah ihr prüfend ins Gesicht. Sie verschränkte die Arme ineinander und erwiderte trotzig seinen Blick.
"Vielleicht doch. Wenn du weiter so ausweichst!"
"Weißt du, das glaube ich dir sogar", sagte er mit einem schelmischen Lächeln. "Aber es ist so wie ich es vorhin gesagt habe: es sind meine Probleme, ich habe selbst genug mit ihnen zu tun. Du brauchst sie nicht auch noch mit dir zu tragen." Obwohl er wirklich ehrlich wirkte und sie überhaupt noch nie angelogen hatte, war sie mit so einer Antwort nicht zufrieden.
"Nein, Cycil! Das reicht mir nicht! Was ist los?"
"Du gibst wirklich nie auf." Es war keine Frage, aber Dajana sah sich dazu genötigt ihre Unnachgiebigkeit unter Nachdruck zu stellen.
"Ja, nie. Nun?" Er zögerte kurz und sah dann weg.
"Ich habe doch schon erzählt, dass ich nicht das erste Mal hier bin, oder? Na ja, man könnte es so ausdrücken, dass ich ein paar Schwierigkeiten mit den Wachleuten hatte, als ich das letzte Mal hier war. Und diese Schwierigkeiten haben, fürchte ich, auch meinen weiteren Aufenthalt in dieser Stadt nicht sehr erwünscht gemacht. Knapp zusammengefasst, heißt das ungefähr so viel, dass seit ich einen Fuß auf Sunajs Boden gesetzt habe, mein Leben nicht mehr als ein gebrochenes Silberstück wert ist. Wohl eher weniger."
"Du denkst, dass ich dir das glaube? Wofür hältst du mich? Cycil, da wäre sogar mir etwas besseres eingefallen! Soll ich die Wachen holen?"
"Ich halte dich für äußerst intelligent, das versichere ich dir. Meinst du nicht, dass wenn ich dir eine Lüge erzählen wollen würde, ich mir dann etwas glaubwürdigeres ausgedacht hätte?" Machte er sich lustig über sie? Misstrauisch forschte sie nach Anzeichen dafür, aber sie fand nichts.
"Ich weiß nicht... Aber es ist wirklich nicht sehr viel, was du mir sagst! Gibt es keine Einzelheiten?"
"Nein. Tut mir leid, Dajana, aber mehr kann ich dir nicht sagen", sagte er fest. "Doch es ist die Wahrheit. Ich schwöre es bei den Allmächtigen Fünf." Dajana glaubte nicht an die Götter. Nicht sehr jedenfalls. Aber trotzdem war dieser Schwur auch für sie etwas heiliges.
"Muss ich mich wohl damit zufrieden geben", seufzte sie. Ihr war ein bisschen unbehaglich zumute. Er machte so einen ernsten Eindruck, daran war sie gar nicht gewohnt. Und auch noch dieser Schwur... Dajana war zwar nicht mehr so jung, wie Julian sie immer darstellte, aber trotzdem jung genug, dass es ihr unangenehm war, ganz ernste Gespräche über wichtige Themen zu führen. Sie versuchte solchen Situationen immer auszuweichen oder so zu tun, als würde sie das ganze nichts angehen. Aber beides war nun nicht möglich. Also tat sie das einzige was ihr einfiel – sie versuchte die Stimmung durch etwas Schalk zu lockern.
"Das zahle ich dir heim, Cycil. Jetzt erzähle ich dir nicht die Geschichte von meiner Heirat", sagte sie um einen möglichst lässigen Ton bemüht. Er sah sie erstaunt an.
"Hast du eben Heirat gesagt?" Sie grinste - das Manöver war gelungen.
"Ja!"
"Ich wusste nicht, dass du... verheiratet bist?"
"Tja, du wirst es auch nie erfahren. Wenn du Geheimnisse hast, habe ich auch welche!"
"Hmm, das klingt nur fair", bemerkte er. "Aber trotzdem... - Heirat?!" Sein Tonfall gefiel ihr ungemein. Daran hast du wohl noch eine ganze Weile zu kauen!
"Ist es noch weit bis zum Wirtshaus? Ich will mein Bad!"
"Erzähl mir erst etwas über die Heirat!"
"Vergiss es. Wo lang? Und hör auf mich so anzusehen!"
"Was erwartest du denn von mir? Komm schon, Dajana, was meinst du mit Heirat?"
"Das sage ich dir doch nicht! Es sei denn, du erzählst mir die ganze Geschichte über deinen Aufenthalt in Sunaj..."
"Ich kann nicht."
"Ich auch nicht!" Fröhlich ging sie geradeaus und kümmerte sich nicht um Cycil, der ein wenig verloren mitten auf der Straße stand.
"Dajana, das ist die falsche Richtung!", rief er ihr verzweifelt hinterher.

Das Haus von Alay Sorèndyo war wirklich mehr ein Palast. Zweistöckig, mit verzierten Türmchen, Glasfenstern und massigen Kolonnen, die weiß in der Sonne leuchteten. Außerdem besaß es einen kleinen Garten, der das Gebäude umgab und hinter einem hohen Zaun lag. Das Tor war zwar offen, dennoch machte das Ganze einen ziemlich wehrhaften Eindruck. Doch erst als Julian und Johannes näher an das Haus traten, merkten sie, was es so besonders machte: das Alter. Es war in der Tat ein außerordentlich altes Haus, vielleicht so alt wie das Königsschloss selbst, aber auf keinen Fall so gut erhalten. Putz bröckelte an den Hauswänden und Farbe blätterte an manchen Stellen ab. Einige der schlanken Türmchen waren teilweise zerstört und nicht wieder aufgebaut worden. Der Garten war verwildert und ungepflegt. Und doch wirkte alles so, als ob es einfach dazu gehörte. Es war verwirrend.
"Sollen wir einfach... hinein gehen?", fragte Julian unsicher.
"Ich denke, es nützt nichts, wenn wir hier draußen stehen bleiben. Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser", meinte Johannes und klang genauso ruhig, wie er es beabsichtigt hatte. Trotzdem war ihm etwas mulmig zumute, als sie das Grundstück der Lichtzauberin betraten. 
Die Magie des Lichts war anders als die Magie der Elemente. Sie beinhaltete - genauso wie ihr Gegenstück, die Magie des Dunkels - einen Teil von der Welt der Unsterblichen und war deswegen gleichzeitig machtvoller und gefährlicher. Sie konnte nicht erlernt werden, wie die Elementarmagie, man musste schon mit dieser Gabe geboren werden. Und dann hatte man keine andere Wahl als damit umgehen zu lernen, denn sonst zerstörte sie den Menschen von Grund auf. Lichtmagier waren unglaublich verschlossen und lebten abgeschieden. Es gab nur eine Handvoll von ihnen auf der ganzen Welt und sie hüteten ihre Geheimnisse eifersüchtig. Niemand wusste viel über ihre Art der Macht und zum Teil deswegen hatten die Menschen Angst vor ihnen. Es wurde erzählt, dass Kêmes, das Band, ihnen Anleitungen gab und sie so gut wie unsterblich machte. Johannes glaubte nicht an alles, was erzählt wurde - es gab auch irrsinnige Gerüchte über Feuermagier -, aber ihm war, wie jedem Magier, sehr bewusst, wie sehr sich die Kraft eines Bindungsmagiers - so nannte man die Menschen, die die Magie des Lichts und des Dunkels ausübten - von seiner eigenen unterschied. Und er fand das irgendwie unheimlich.
Einen Hauch dieser Kräfte spürte er nun, als er und Julian auf das Haus zugingen. Es gefiel ihm nicht, aber er konnte sich beherrschen. Julian jedoch konnte froh sein von dieser Wahrnehmung verschont zu bleiben! Die Tür war ein massives Bollwerk, das aussah, als hätte es schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel und würde noch ein paar davon aushalten. Ein Zeichen prangte auf ihr drauf, geschrieben mit Tinte, die die Farbe von Blut hatte. Es war das überall geltende Symbol für das Band und wurde nur von Bindungsmagiern und von Priestern des Kyazc-Ordens gebraucht. Johannes, dessen Magie der Kraft von Zoetan, dem Sohn, entsprang, war es sehr vertraut. Ein ähnliches war auf der Tür seines Hauses eingeritzt gewesen - damals in Raven, bevor alles so furchtbar schief gegangen war.
Johannes vertrieb die Erinnerung und klopfte entschlossen an die Tür, direkt ans Zeichen von Kêmes. Julian sah ihn erschrocken an und wollte etwas sagen, schloss dann aber doch noch den Mund. Er war ziemlich blass und Johannes konnte es ihm wirklich nicht verübeln.
Aber man ließ den beiden keine Zeit, um sich gegenseitig zu versichern, dass keine wirkliche Gefahr bestand, denn schon nach wenigen Augenblicken wurde die Tür geöffnet. Von einer kleinen Frau mit braunen, strubbligen Haaren und schmalen, braunen Augen. Johannes hatte eine ernste, ruhige Frau mit einer schimmernden Aura erwartet und war jetzt wegen dieser... ungepflegten Erscheinung etwas verwirrt.
"Ja, bitte?", fragte die Frau. Ihren flinken Augen schien nichts zu entgehen.
"Wir wollen zu Alay Sorèndyo", erklärte Julian.
"Ja, das habe ich mir schon gedacht oder haltet ihr mich für dumm? Wer wohnt denn hier schon, außer der ehrenwerten Herrin und mir? Aber die Frage ist, was wollt ihr von Alay Sorèndyo?" Wer hätte gedacht, dass sich die sagenumwobene Zauberin eine Dienerin hält, dachte Johannes.
"Wir haben eine Botschaft für sie", antwortete er. "Einen Brief von einem Mann namens Azur aus N’hoa." Sie sah ihn scharf an.
"Wir kennen keinen Azur aus N’hoa."
"Tja, der scheint Alay aber ziemlich gut zu kennen, denn er hat uns einen Haufen Goldstücke dafür gezahlt, diesen Brief hierher zu bringen." Julian zeigte kurz den braunen Umschlag.
"Ach, es ist dieser Verrückte! Das macht er schon eine ganze Zeitlang, weil er sich anscheinend eingeredet hat, die Herrin zu kennen! Ihr seid nicht die ersten, die er damit beauftragt hat, diesen Unsinn zu überbringen. Und alle haben das gleiche gesagt - die Botschaft ist sehr..." Sie furchte die Stirn. "Wie war denn das... bedeutend? Bedeutungsvoll? Irgend so etwas..."
"Wichtig und geheim?", schlug Julian vor.
"Tatsächlich!", rief sie aus und musterte die beiden prüfend. Irgendetwas an ihr schien nicht zu ihrer übrigen Erscheinung zu passen. Johannes war sich nicht sicher, woher dieser Eindruck kam, aber... da war zweifellos etwas.
Ihr durchdringender Blick blieb an seinem Gesicht hängen und ihn durchfuhr auf einmal ein sehr unangenehmes Gefühl. Da war dieses Etwas, direkt in ihren Augen. Es glühte... Sie schien ihn völlig zu durchleuchten, ohne sich sehr anstrengen zu müssen. Und er konnte nichts dagegen tun. Nur abwarten, bis es vorbei war.
Es dauerte nur einen kurzen Moment, aber dieser schien unendlich lang zu sein. Es fiel Johannes schwer, seine Bestürzung zu verhehlen, als sie wegschaute. Es hatte sich so merkwürdig angefühlt, so...  So als hätte es dieser Dienerin keine Mühe bereitet, die Vorhänge in den dunkelsten Ecken seines Bewusstseins beiseite zu reißen und zu enthüllen, was sich dahinter verbarg. Gedanken, Gefühle... nichts konnte sich vor ihr verbergen. Er kam sich danach irgendwie leer vor.
Was Julian in diesem Augenblick erfahren hatte, verriet er nie, aber er war noch blasser als sich der Blick der Frau endlich von seinem löste und atmete schwer.
"Wer... wer seid ihr?", fragte er mühsam. Sie lächelte dünn. Eine Veränderung ging mit ihr vor. Es war nichts sichtbares, aber man konnte es deutlich wahrnehmen. Als Johannes jetzt in ihre Augen schaute, erblickte er lila Funken darin.
"Für die Stadtbewohner heiße ich Kalandra und bin die Dienerin der großen Zauberin des Lichts." Auch ihre Stimme hatte sich verändert, klang nun tiefer und ruhiger. "Für solche wie euch, die Wahrheit sprechen, heiße ich Alay Sorèndyo und bin die Zauberin des Lichts."

Gaya ließ sich Tee eingießen und versuchte die auf sie gerichteten Blicke zu ignorieren. Aber sie hatte ihr halbes Leben auf der abgeschieden liegenden Druideninsel verbracht und war so viele Menschen auf engstem Raum nicht gewohnt. Bereits der Markt hatte ihr Unbehagen eingeflösst, aber jetzt, wo das Dutzend Menschen im Raum ihre Aufmerksamkeit ganz auf sie richteten, hätte sie sich am liebsten irgendwohin verkrochen.
"Ein Krieger wird an dem gemessen, was er für seinen Glauben aushält", erinnerte sie sich und nippte vorsichtig an dem heißen Tee, der nach Honig und Kräutern roch. Er war wirklich heiß - sie hätte sich fast die Zunge verbrüht. Doch wenn sie eine Lektion von ihrem Orden gut gelernt hatte, dann war es die, Schmerz aushalten zu können. Und so gab sie keine Reaktion von sich, trank noch ein wenig und stellte die Tasse dann ab. Mit einem Lächeln sagte sie:
"Das ist sehr lecker, danke. Kann ich einen Keks haben?" Die zehnjährige Margaret, die rechts von Gaya saß, reichte ihr hastig die Schüssel mit den Keksen und kam damit ihrem Bruder Joseph zuvor. Als Gaya die Schale in Empfang nahm und dem Mädchen dankte, streckte diese ihrem Bruder triumphierend die Zunge heraus. Die beiden Kinder hatten die ganze Zeit über kaum einmal die Augen von Gaya gelassen. Das letzte Mal als sie bei ihrer Familie gewesen war, hatte sie die Kleinen nicht richtig kennen gelernt. Jetzt wünschte sie sich allmählich, es würde immer noch so sein.
Nicht von allen wurde sie so anhimmelnd angestarrt wie von Ednas Kindern. Edna selbst hatte sie kaum eines Blicks gewürdigt und war nicht mit zu Tisch gekommen, weil sie sich angeblich schlecht fühlte. Gaya nahm eher an, dass sie keine Lust hatte, mit ihrer missratenen Cousine am selben Tisch zu sitzen. Das war ihr nur recht – sie mochte Edna auch nicht besonders gerne -, aber sie hätte es lieber gesehen, wenn Edna ihren Ehemann mitgenommen hätte. Albert Tenaas war ein Mann um die Dreißig und hatte Gaya schon bei ihrem letzten Treffen deutlich zu verstehen gegeben, dass er nur das eine von ihr wollte. Das war mitunter ein Grund gewesen, warum sie Sunaj so schnell wie möglich verlassen hatte. Der andere waren natürlich ihre Eltern.
Marius und Solana Asearien hatten bisher noch keine Zeit gehabt, ihr die übliche Litanei entgegen zu werfen, aber sie zweifelte nicht daran, dass es bald dazu kommen würde. Wenn sie nur daran dachte, wurde ihr übel. Wenigstens schien sie den Bruder ihrer Mutter, Kyie, nicht mehr zu interessieren, denn er beschäftigte sich ausschließlich mit dem Essen auf seinem Teller. Gaya hatte sogar Mitgefühl mit ihm. Wer so eine furchtbare Frau wie Morgana hatte, war wirklich nicht zu beneiden. Sie hatte nie verstanden, wie die drei Kinder von Kyie und Morgana Kenuin ihre Kindheit ausgehalten hatten. Sie wäre wahrscheinlich schon mit sechs Jahren davongelaufen. Andererseits war nicht zu übersehen, dass ihr Charakter unter solchem schädlichen Einfluss gelitten hatte - wenn man nur Elviras Kindlichkeit und Ednas Fanatismus als Beispiel nahm. Jedoch war der Bruder der beiden ein Lichtblick an Gayas Horizont.
Er hieß Tomas, war zehn Jahre alt und völlig anders als seine Familie. Vielleicht konnte man ihn für viel zu still und zu ernst halten, aber hinter seiner Schweigsamkeit steckte ein messerscharfer Intellekt, zusammen mit einem unbeugsamen Willen und einem Freiheitsdrang, der den aller Kinder, die sie kannte, weit übertraf. Sie wusste das, weil er die mehreren Male, die sie in Sunaj gewesen war, dazu genutzt hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Er hatte ihr von seinen Zukunftsvorstellungen erzählt - er wollte nach Acippa reisen und die Drachen erforschen. Dabei kümmerte es ihn herzlich wenig, dass die Dracheninseln als der gefährlichste Ort auf den gesamten Träneninseln galt. Er hatte dies vor und wollte es ausführen. Gaya war der Meinung, dass ihn nichts davon abhalten konnte und war sehr froh darüber endlich mal einen Verwandten zu entdecken, der ihr selbst ähnlich war. Es war fast so als wären sie seelenverwandt.
Der einzige Mensch in dieser Runde, den Gaya bisher nicht gekannt hatte, war Shekyr hal Senn, Elviras Verlobter. Er war ein junger Mann von ungefähr neunzehn Jahren und entstammte einer wohlhabenden Familie. Elvira schien ihn gar nicht so richtig wahrzunehmen, während die anderen ihn wie einen Schosshund behandelten. Ihm schien das zwar gar nichts auszumachen, aber Gaya war trotzdem entsetzt von ihrer Familie. Warum nur war sie mit diesen Leuten verwandt? Warum?
"Äh, wie bitte?", fragte sie aufblickend, da sie gemerkt hatte, dass ihr Morgana eine Frage gestellt hatte. Gayas... Tante sah sie kalt an und wiederholte dann noch einmal.
"Ich habe gefragt, was du hier tust, Gaya. In Sunaj."
"Ich bin auf der Durchreise", antwortete sie knapp.
"Oh, heißt das, du gehst bald weg?", fragte Joseph enttäuscht.
"Ich fürchte, ja. Vielleicht schon morgen." Hoffentlich. Kyie sah auf und furchte die gebräunte Stirn, die von Falten schon völlig besetzt war.
"Was soll’n das heißen?", wandte er sich an seine Schwester. "Ich dacht’, das Mädel bleibt länger hier?"
Solana schürzte die Lippen.
"Wie kommst du denn darauf? Unsere Gaya ist sich doch zu fein dafür, bei ihrer Familie zu verweilen. Sie will nicht einmal bis Ednas Niederkunft warten!" Das, dachte Gaya, hatte sie nicht gesagt. Aber ihre Mutter hatte natürlich recht.
"Wirklich nicht? Das ist aber schade. Ich bin sicher es würde Edna sehr freuen, wenn du bis zur Geburt dableiben würdest, Gaya", sagte Albert. Gaya bezwang nur mit Mühe den Ekel. Du perverses, ekelhaftes Schwein! Als ob dir Edna auch nur irgendetwas bedeuten würde! Sie brachte ein eingefrorenes Lächeln zustande.
"Ich denke nicht, dass es ihr viel ausmachen würde, wenn ich weiterziehe. Sie hat... Verständnis für meine Aufgabe." Ihr Lächeln taute auf, als sie Tomas verstohlenes Grinsen bemerkte. Verständnis! Da würden wohl eher Fische fliegen lernen!
"Heißt das, ihr reist alle zusammen morgen ab?", fragte Elvira fassungslos. "Du hast mir doch gesagt ihr würdet noch ein paar Tage lang bleiben..."
"Ich bin nicht sicher, ob wir das können..."
"Was heißt hier alle zusammen?", unterbrach Marius. Gaya verwünschte Elvira aufs heftigste und wünschte ihr alle Drachen dieser Welt auf den Hals.
"Hmm, das heißt ich und ein paar Freunde..."
"Freunde? Von Freunden hast du aber gar nichts gesagt! Sind das solche Schlappschwänze von deinem Orden?", fragte ihr Vater. Das war eine Beleidigung des Druiden-Ordens, aber Gaya hatte keine Lust, Marius darauf aufmerksam zu machen. Außerdem hatte er ihr einen ausgezeichneten Ausweg geboten.
"Ja, das..."
"Nein, nein, es sind keine Druiden!", mischte sich Elvira ein. Eine Drachenplage schien sie nicht sehr zu stören. "Ich habe zwei von ihnen getroffen. Einer von ihnen ist ein Ritter!" Verdammt. Gaya hielt tapfer dem Gewicht aller versammelten Blicke stand und biss beherrscht in einen Keks.
"Ein Ritter?", fragte Morgana und hob eine fein nachgezeichnete Augenbraue in gespieltem Erstaunen. "Wie kommt denn das, Nichte?"
"Wir haben uns zufällig getroffen. In N’hoa."
"Zufällig also. Du hast doch ein Talent für den Zufall, nicht wahr, Gaya?"
"Aber nein, Tante. Man kann kein Talent für so etwas entwickeln. Sonst wäre es ja nicht mehr der Zufall", erwiderte Gaya in einem süßen Tonfall, der keinen der Anwesenden - vielleicht mit Ausnahme der Kinder und Shekyr - wirklich täuschte. Alle hier wussten, wer sie war. Wer sie geworden war. Solana schnaubte leise und nahm einen Schluck Wein, aber Morgana ließ sich durch die Zurechtweisung nicht vom Weg abbringen.
"Nett ausgedrückt. Hast du diese Ausdrucksfähigkeit bei deinen Druiden gelernt?"
"Nein, Tante. Der Druiden-Orden lehrt andere Dinge als die Sprachgewandtheit."
"Zu kämpfen, zum Beispiel?", fragte Morgana mit einem Blitzen in den blauen Augen. Gaya unterdrückte sorgfältig jegliche Reaktion - sie wollte dieser Frau nicht diese Genugtuung gönnen. Aber es war ihr klar, dass Morgana geschickt einen Streit herbeiführte. Den Streit, der jedes Mal unweigerlich ausbrach, wenn die Rede auf Gayas 'unziemliches' Verhalten kam. Sie überlegte, wie sie das Thema vermeiden konnte, ohne ihre Eltern zu provozieren, doch es war nicht mehr nötig. Jemand anderes ergriff das Wort.
"Ich habe gehört, dass Druiden auch die Alte Sprache lernen. Stimmt das, Cousine?", fragte Tomas in seiner ruhigen Art. Morgana richtete einen erzürnten Blick auf ihn, der ihr unerschütterlich entgegensah. Geschickt nutzte er ihre Meinung aus, er sei noch ein Kind und habe keinen Verstand. Gaya lächelte im Stillen. Da irrte Morgana sich gewaltig! Und sie wusste es. Aber weil sie jedem an diesem Tisch mehrmals diese Meinung kundgetan hatte, waren ihr die Hände gebunden. Sie musste ihre Wut zügeln, und als sie wieder Gaya ansah, war der Hass in ihren Augen unverkennbar. Oh Tante, ich weiß genau, warum du mich hasst. Aber du wirst es nie schaffen, mich am Boden zerstört zu sehen. Nie. Das lag in Gayas Augen, als sie antwortete:
"Ich kenne dieses Gerücht. In Wahrheit lernen wir nur die Buchstaben der Alten Sprache und einige allgemeine Worte. Mehr ist in Cinhyal auch nicht bekannt." Danke, Tomas.
"Das Geschlecht der Könige von Sunaj kennt noch die Alte Sprache", warf Kyie unvermittelt ein und überraschte sie alle damit. Vielleicht will auch er seiner Frau nicht freie Hand lassen, dachte Gaya. 
"Das ist nur Gerede", sagte Marius verächtlich.
"Woher willst du das wissen? Die Piraten waren auch nur Gerede, bis sie anfingen unsere Schiffe zu überfallen!", rief Kyie heftig. Er war leicht aufzuregen, erinnerte sie sich.
"Pah. Wen kümmern schon die alten Könige von Sunaj?", meinte Albert. "Òdrean ist sowieso in den Verliesen von diesem Frederique eingekerkert und wird dort verschimmeln. Und mit ihm eure Alte Sprache!"
"Was ist mit seinem Sohn?", mischte sich Elvira ein und erntete einen tadelnden Blick von Solana. Es gehörte sich nicht, in eine Unterhaltung von Männern hereinzuplatzen. Nicht wenn man eine Frau war. 
"Was soll mit ihm sein? Er ist schon längst über alle Berge, der Prinz. In Acippa vielleicht oder sonst 
wo. War nur vernünftig von ihm abzuhauen", sagte Marius und schnitt sich ein Stück des saftigen 
Bratens ab. Gaya tat es ihm gleich und hörte den streitenden Männern zu. Sie war äußerst froh, aus 
dem Schneider zu sein.
"Ein Feigling ist er und nichts weiter!", entgegnete Albert. "Was ist das für ein Prinz, der seinen eigenen Vater und das Königreich in Stich lässt?"
"Frederique hat Meuchelmörder auf seinen Hals gesetzt. Hätte der Junge sich umbringen lassen sollen?", widersprach Kyie. "Nein, ich bin Marius’ Meinung. Es war richtig, von der Bildfläche zu verschwinden. Aber er sollte nicht untätig herumsitzen und Steinchen zählen! Einen Aufstand..."
"Aufstand? Noch so einen, wie den in Bergana? Ist da nicht schon genug Blut geflossen?", rief Marius aufgebracht. "Das hat doch keinen Sinn! Frederique würde doch nur wieder alle erschlagen lassen. Mächtig genug ist der Mistkerl ja." Kyie sah mit einem mal sehr bekümmert aus.
"Vielleicht ist der Prinz ja schon längst tot", äußerte er sich leise.
"Nein, dann hätte Frederique damit geprahlt und es dem ganzen Land verkündet", sagte Marius mit vollem Mund. "Ich sage euch, der Kerl ist bestimmt aus Cinhyal verschwunden..."
"Kerl? Der Prinz ist höchstens zwanzig!", unterbrach Albert. "Ein Kind noch!" Gaya warf ihm einen scharfen Blick zu. Ein Kind! Sie schüttelte entrüstet den Kopf und nahm noch einen Keks. Hatte ja eh keinen Sinn die Meinung zu sagen. Sie wünschte sich sehnsüchtig mit Julian und Johannes gegangen zu sein.
Oh, wie sehr wünschte sie sich das!
Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als still am Tisch zu sitzen und am Glas zu nippen.

Johannes’ Blick wanderte vom zerlumpten Kleid der Frau zu dem ungewaschenen Haar und er verspürte einen Hauch von Zweifel. Die Lichtzauberin von Sunaj? Gekleidet wie eine Bettlerin? Aber diese Macht in ihren Augen bildete er sich nicht nur ein. Deswegen senkte er kurz den Kopf als Zeichen des Respekts und sagte:
"Ich grüße euch, Lady Sorèndyo. Ich bitte um Verzeihung, dass wir euch nicht erkannt haben, aber wir ahnten nicht, dass ihr eure Besucher auf die Probe stellt." Sie verzog die schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln.
"Das habe ich auch nicht erwartet. Kommt herein." Sie trat beiseite und wartete ab.
Julians Augen huschten hin und her, er war sichtbar nervös. Nervös war nicht das richtige Wort - Johannes hatte ihn noch nie so verstört gesehen. Um seinem Freund Mut zu geben, ging er als erster ins Haus hinein. Als er die Schwelle übertrat, hatte er kurz den Eindruck von einem goldenen Strahlen, so hell, dass es in den Augen weh tat. Dann befand er sich in einem leeren Korridor. Leer war er wirklich, völlig bar jeder Einrichtung, und doch nicht verlassen. Denn die Wände, der Boden und die Decke waren mit Schlingen und Zeichen bedeckt, so dicht, dass man kaum einen Zentimeter der Wand erkennen konnte. Alles schien zu leben. Johannes sah die Muster schillern, leuchten und sich winden, aber nie lange genug an einer Stelle, um das Phänomen zu begreifen. Er schluckte schwer, blieb aber nicht am Türrahmen stehen, sondern betrat den Flur - einen Tunnel, der ins Ungewisse führte. Johannes war sich sicher, nicht länger als eine Sekunde gezögert zu haben und doch bedachte ihn Alay mit einem wissenden Blick. Wer war diese Frau, dass sie so mühelos seine Gedanken durchschaute? Was für eine gewaltige Macht musste sie haben, um so etwas tun zu können!
Aber Johannes war selbst Zauberer und ließ sich nicht so leicht von Magie beeindrucken. Auch wenn sie noch so unheimlich war - Alay Sorèndyo war auch nur ein Mensch. Und ihre Fähigkeiten hatten auch ihre Grenzen.
Mit diesen Gedanken sah er dieser erstaunlichen, geheimnisvollen Frau fest in die Augen und ging weiter. Sie lächelte in sich hinein und war zufrieden. Ein starker Wille, Stolz und Kraft, ihren eigenen so sehr ähnlich und doch völlig anders. Es gefiel ihr.
Julian beobachtete die Strudel auf den Wänden und die Frau mit den purpurnen Flammen in den Augen mit wachsendem Unbehagen. Wer hätte gedacht, dass er je in so eine Situation kommen würde? Zwischen Magie und Stolz gefangen. Einerseits konnte er sich einfach nicht überwinden und dieses... Haus betreten, andererseits konnte er nicht einfach weglaufen, schließlich war er ein Ritter! Er durfte keine Angst zeigen - außerdem war Johannes so selbstverständlich in den Korridor getreten, dass es eine Schande wäre, länger an der Schwelle stehen zu bleiben. Also holte Julian tief Luft und tat einen Schritt ins Innere des Hauses, in Erwartung von dem Boden verschlungen zu werden. Als nichts dergleichen geschah, war er ein wenig beruhigt. Der unverhüllte Spott im Lächeln von Alay Sorèndyo trieb ihm die Farbe zurück ins Gesicht. Vor dieser Frau so eine Blöße zu zeigen... Er schämte und ärgerte sich gleichzeitig. Ein eisiger Blick in ihre Richtung gab seinen Ärger kund, hatte aber keinerlei Wirkung. Unbeeindruckt und im Innern sehr zufrieden schloss Alay die Tür. Mit einem dumpfen Geräusch fiel diese ins Schloss. Julian musste kurz gegen die Vorstellung ankämpfen, in diesem Haus, dieser Gruft, gefangen, der Magie hilflos ausgeliefert zu sein.
"Folgt mir", sagte Alay und ging voraus. Johannes schloss sich ihr an, nach einem vorsichtigen Blick zu Julian. Der Ritter betrachtete unbehaglich die Zeichen an den Wänden, aber er riss sich schnell zusammen und folgte den anderen beiden. Zu seiner Erleichterung war es nur der Korridor, der mit den Zeichen bedeckt war. Als sie den Wohnraum betraten, sahen sie ein ganz normales Zimmer, ziemlich groß zwar, aber dafür auch ziemlich leer. Nein, leer war nicht das richtige Wort. Eher... unbenutzt.
"Setzt euch. Wollt ihr etwas zu trinken?" Beide verneinten. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann wurde sie ernst. "Der Brief. Gebt ihn mir." Wer hätte gedacht, dass dieser Azur Alay Sorèndyo tatsächlich etwas bedeutet, dachte Julian und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn mit einer schlanken, weißen Hand entgegen und riss den Umschlag auf. Ihre Augen huschten schnell über die Zeilen und das lila Feuer in ihnen wurde für einen Moment gedämpft, bevor es wieder hochloderte. Sie hob den Blick und schürzte die Lippen. "Das hätte ich mir denken können. Wenn etwas gut erledigt werden soll, muss man es selbst machen."
"Schlechte Kunde?", fragte Johannes.
"Man könnte es so ausdrücken, in der Tat. Hat Azur euch bezahlt?" Einen Moment lang erwog Julian Nein zu sagen und noch mehr Geld zu verlangen, aber als er sich an den Augenblick an der Tür erinnerte, verflog dieser Gedanke augenblicklich.
"Ja, hat er." Sie nickte; ihr Blick wanderte über die weißen Wände als würde er etwas suchen. Julian fühlte sich immer unbehaglicher und wünschte sich sehnlichst, von hier zu verschwinden. Johannes hingegen interessierte sich für die Zauberin.
"Wir haben uns mit der Zustellung beeilt", sagte er.
"Ja, das habe ich auch angenommen." Sie hatte ihnen nicht gedankt. Überhaupt wirkte sie ein wenig geistesabwesend, obwohl er das schlecht beurteilen konnte. Nur zu gerne hätte er erfahren, was so wichtiges in diesem Brief stand, dass es Alay Sorèndyo beunruhigte.
"Mm, dann sollten wir mal gehen...", fing Julian an. Alay sah auf, ihre schmalen Augen nahmen ihn in die Zange.
"Nein." Sie sprach schärfer, als es angemessen wäre. Als ob sie es bemerkt hätte, waren ihre nächsten Worte vergleichsweise freundlich. "Bleibt noch ein wenig. Ich werde euch schon nichts tun." Sanfter Spott, von dem Julian fast wieder rot geworden wäre. Er war mit einmal froh, dass weder Dajana noch Gaya da waren, um sich an seinem Anblick zu amüsieren.
"Unsere Freunde warten auf uns", fiel ihm an dieser Stelle ein. Johannes hätte ihm sagen können, dass das ein Fehler war, aber es war eh zu spät. Alay lächelte ihr liebenswertes Lächeln und sagte:
"Das ist doch kein Problem. Ich kann sie ebenfalls herkommen lassen. Eine nette Zusammenkunft, das wäre doch schön."
"Ähm, ich fürchte das ist nicht möglich, Lady Sorèndyo... Wir haben bereits Zimmer in einem Gasthaus genommen..."
"Die Unterkünfte in Sunaj verdienen den Namen Gasthaus nicht", widersprach sie. "Es wäre viel besser, wenn ihr alle gemeinsam heute bei mir übernachten würdet. In meinem Haus ist Platz genug für fünf weitere Leute und ich habe auch viel besseres Essen als es in diesen Wirtshäusern angeboten wird. Ihr müsst euch doch von den Strapazen im Celine erholen." Johannes war sich sicher, dass sie das extra erwähnt hatte, um zu zeigen, dass sie viel über sie wusste. Und er hegte den Verdacht, dass sie es erst vor kurzem herausgefunden hatte. Vor kurzem, als sie die beiden mit ihren unergründlichen Augen gemustert hatte...
"Das ist wirklich nur zu freundlich, Lady Sorèndyo. Wir nehmen diese großzügige Einladung mit Freude an", antwortete er mit einem galanten Lächeln, das das, was er wirklich meinte, keinesfalls verbarg.
Ich werde dich im Auge behalten.
"Wunderbar. Und bitte, nennt mich nicht Lady Sorèndyo. Alay genügt." Ein ebenso freundliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht und ebenso deutlich verstand er ihre Antwort. Wir werden sehen, wer hier wen im Auge behält.
Julian, der von dem stummen Wortaustausch der beiden nichts mitbekam, dachte verzweifelt an das gute Bier im "Hammereisen" und an die hübschen Mägde dort. Er hatte sich die heutige Nacht etwas anders vorgestellt...
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 2. Teil des 4. Kapitels :-)

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