Ein Stein stieß leise klirrend gegen
das kleine Fenster und prallte davon ab. Schlug auf der Erde auf.
Sie warteten. Gaya sah sich um, ob jemand
sie beobachtete, aber im Hinterhof war es ruhig; niemand war zu sehen.
Was sie ein wenig erstaunte, wenn man bedachte, dass es heller Nachmittag
war und das Haus von Kyie und Morgana eine ausgedehnte Rasenfläche
hatte. Normalerweise war es hier voll von Kindern der verschiedensten Altersgruppen,
die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang herumlungerten und Spiele spielten.
Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Kind - noch bevor sie gezeichnet
wurde und der Göttin geweiht - beim Geschirrwaschen neidisch aus dem
Fenster geguckt hatte. Sie lächelte.
"Warum lächelst du?", wollte Johannes
wissen, der sie genau beobachtete, aus einem Grund, den sie nicht benennen
konnte. Gaya zuckte mit den Schultern.
"Ich erinnere mich nur gerade daran, wie dumm
ich als kleines Kind gewesen war."
"Inwiefern?"
"Na ja", sie sah zu Boden, auf das niedergetretene
Gras, "ich habe immer die Jungs beneidet, die draußen spielen durften.
Ich dagegen musste drinnen bleiben und Hausarbeiten erledigen. Ich empfand
das als furchtbar ungerecht und verfluchte mein Schicksal als Mädchen
geboren zu sein. Immer, wenn ich daran denke, danke ich der Göttin,
dass sie mich aufgenommen hat. Was wäre sonst aus mir geworden..."
Behutsam strichen ihre Finger über den kühlen Smaragd, Blutstein
genannt, obwohl er so grün war wie das Gras. Johannes sah ihr zu und
dachte über etwas nach. Seine Stirn furchte sich.
"Na ja, ich glaube nicht...", setzte er an,
aber in dem Moment öffnete sich ruckartig das Fenster und er verstummte
abrupt. Ein zehnjähriger Junge mit einem schwarzen Strubbelkopf und
hellen, braunen Augen schaute hinaus. Gaya lächelte und winkte ihm
zu.
"He, Tomas!"
"Gaya!", rief er überrascht und ein breites
Lächeln teilte sein Gesicht. "Was machst du denn hier?" Sein Gesicht
wurde ernst, so plötzlich, als ob jemand eine Kerze ausgeblasen hätte.
"Ist dir klar, dass in der ganzen Stadt Wachen nach dir suchen?!"
"Ja, leider. Deshalb komme ich her, zu dir.
Wir brauchen deine Hilfe, um aus der Stadt rauszukommen." Er verzog nachdenklich
das Gesicht und musterte Johannes abschätzend.
"Eigentlich habe ich ja Hausarrest", erklärte
der Junge und schniefte. "Nur weil ich unbedingt Alay Sorèndyo fragen
wollte, ob sie mir was beibringt! Was ist so schlimm daran? Ha, und jetzt
wird sie vom König gesucht, als Verräterin. Lustig, nich’?"
"Für uns wohl kaum", erwiderte Gaya.
"Ah ja, stimmt. Seid ihr jetzt auch Verräter
an der Krone?"
"Nein!", antwortete sie ärgerlich. "Wir
haben nichts getan außer uns in ihrem Haus aufzuhalten! Woher sollten
wir wissen, dass das solche Schwierigkeiten mit sich bringt?"
"Das kenn ich", meinte er versonnen. "Einverstanden,
ich helfe euch. Aber seid jetzt ganz leise, Mutter wird euch sonst hören
– oder mich. Ich muss unbemerkt aus dem Haus schleichen. Wartet." Er verschwand
und das Fenster wurde zugezogen.
"Ich sagte doch, auf ihn kann man sich verlassen",
sagte Gaya stolz. "Er ist ein kluger Junge."
"Dein Bruder?", fragte Johannes.
"Nein, mein Cousin. Ich habe keine Geschwister
- habe ich das nicht schon erzählt?"
"Kann sein." Er strich dem Pferd über
die Flanke, das wieder schnaubte und unruhig auf der Stelle tänzelte.
"Gehen wir lieber ein wenig in Deckung, sonst
sieht uns Morgana wirklich noch." Sie verließen den Rasen und blieben
im Schatten eines Gebäudes stehen.
"Wird er lange brauchen?"
"Keine Ahnung. Ich hoffe nicht. Alay meinte,
wir sollen uns beeilen." Gaya sah sich besorgt um.
"Alay meinte vieles", gab er zurück.
"Dabei hat sie das Wichtigste nicht mal erwähnt." Sie sah ihn fragend
an. "Warum sucht Frederique sie?", erklärte er.
"Weil sie angeblich einige Rebellen unterstützt
hat?", schlug Gaya vor.
"Und warum? Hat sie es tatsächlich getan?
Vielleicht will er etwas ganz anderes von ihr."
"Was denn?" Er zuckte mit den Schultern.
"Frag mich was leichteres." Sie lächelte
schwach und beobachtete wieder das Haus.
"Warum kommst du eigentlich nicht mit seiner
Mutter zurecht?", fragte Johannes dann. Gaya drehte sich nun völlig
zu ihm rum und sah ihm ein wenig misstrauisch entgegen.
"Wieso interessiert dich das?", wollte sie
wissen.
"Ich weiß nicht. Nur so. Wenn es so
ein großes Geheimnis ist, brauchst du es mir ja nicht zu sagen."
"Nein, das ist es nicht... Aber es wundert
mich, dass du dich so für meine Familie interessierst."
"Ich bin nur neugierig, das ist alles. Ist
das ein Verbrechen in deinen Augen? - Du kannst mich auch fragen, was immer
du willst."
"Gut!" Sie war sofort einverstanden. Sie hatte
sich sowieso vorgenommen, mehr über ihre geheimnisliebenden Freunde
herauszufinden. Warum nicht jetzt und hier anfangen? "Erzähl du mir
etwas von deiner Familie!"
"Jetzt?", fragte er sie unsicher. "Wo wir
doch große Chancen haben, diese Stadt nicht wieder zu verlassen?
Denkst du nicht, dass das warten kann?" Gaya sah sich nach dem Haus um;
Tomas war immer noch nicht zusehen – was machte der Junge da schon wieder?
"Tomas braucht anscheinend länger", sagte
sie. "Wir haben also noch ein wenig Zeit. Ich bin auch neugierig." Er
ist in Raven geboren worden. Wie mag es da sein?
Johannes hatte immer noch diesen zweifelnden
Ausdruck in den Augen, aber nach einer weiteren Aufforderung ihrerseits
zuckte er wieder mit den Schultern.
"Wenn du willst. Was willst du denn über
meine Familie wissen?"
"Ich weiß nicht. Wie sind deine Eltern
so? Hast du Geschwister? Versteht ihr euch?" Wie ist es in Raven aufzuwachsen?
Aber diese Frage verkniff sie sich, weil sie sich noch gut daran erinnerte,
dass es ihm nicht gefiel, von der Stadt zu sprechen.
"Meine Eltern, na ja. Meine Mutter habe ich
nie gekannt, sie ist bei meiner Geburt gestorben. Ich habe eine Schwester,
sie heißt Kathalina..." Bei ihrem Namen wurden seine Gesichtszüge
weich. "Ich habe sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie sollte
inzwischen ihr Kind bekommen haben - schade, dass ich nicht dabei war.
Ihr Ehemann ist gestorben, deshalb haben wir zusammen gewohnt, in einem
großen Haus am Rande der Stadt. Sie ist Näherin, eine sehr geschickte
übrigens, und ziemlich beliebt. Aber es ist auch schwer sie nicht
zu lieben."
"Hat sie auch magische Fähigkeiten?"
"Ja, aber keine der elementaren Kräfte.
Nur eine der Abwandlungen der Luftmagie, die Fähigkeit Schutzschilde
in der Luft zu errichten. Sie ist auch damit ganz zufrieden."
Gaya wusste davon, es gab nicht nur die Elementarmagien,
Erde, Wasser, Feuer und Luft, und die Gottesmagien, Licht und Dunkel, sondern
auch einzelne Fähigkeiten, kleine Teile dieser großen Magien.
Sie waren öfter anzutreffen als die richtigen Magien, aber viel schwächer.
Manche sagten, das wäre der Beweis dafür, dass die Magie auf
Cinhyal ausstarb.
"Hast du irgendwelche Cousinen oder Cousins?",
fragte sie weiter.
"Kann sein, aber dann nur aus der Familie
von Leonard’o", antwortete er.
"Wer ist das?"
"Mein Vater", erwiderte er. Sie runzelte die
Stirn.
"Ist das in Raven üblich, die Eltern
bei den Vornamen anzusprechen?"
"Nein, eigentlich nicht. Aber Kathalina und
ich hatten nie viel mit unserem Vater zu tun. Wir sind immer allein zurechtgekommen.
Deshalb haben wir uns angewohnt... ihn beim Namen anzusprechen."
"Wie kann das sein – ihr hattet nie mit eurem
Vater zu tun? Hat er euch verlassen?"
"Nicht in dem Sinne. Er hat sich... von
uns zurückgezogen - ja ich denke, das würde es treffen. Nach
dem Tod unserer Mutter überließ er uns sich selbst und nach
einer Weile lernten wir alleine zu leben. Kathalina hat den Haushalt erledigt,
ich habe uns versorgt. Leonard’o arbeitete und wir konnten mit seinem Geld
alles machen, was wir wollten, bis wir alt genug waren selbst zu arbeiten."
"Das ist doch furchtbar unmenschlich!", empörte
sich Gaya. "Wie konnte er so kaltherzig sein?"
"So würde ich es nicht ausdrücken",
widersprach Johannes. "Er hatte sehr an Angela - unserer Mutter - gehangen
und nach ihrem Tod wurde ihm alles so ziemlich egal, nehme ich an. Er kümmerte
sich darum, dass wir zu essen und ein Dach über dem Kopf hatten, und
das reichte ihm. Uns auch. Wir lebten uns auseinander." Gaya war es schleierhaft,
wie er so ruhig darüber sprechen konnte.
"Er hat euch im Stich gelassen, dafür
gibt es keine Entschuldigung! Und überhaupt, in euch hatte er doch
ein Stück seiner Frau wieder! Doch anstatt dieses Geschenk der Götter
voller Freude und Dankbarkeit anzunehmen, verschmäht er es und raubt
euch euren einzigen noch verbliebenen Elternteil! So etwas kann ich einfach
nicht verstehen!"
"Gaya, warum regst du dich so sehr darüber
auf? Es ist lange, lange her. Wenn es mir nichts ausmacht, warum sollte
es das dir tun?"
"Ich... ich weiß nicht! Aber ich finde
es einfach - furchtbar."
"Was denn?", fragte Tomas dazwischen, der
unbemerkt hinter ihnen aufgetaucht war und sie jetzt neugierig ansah. Gaya
wäre fast zusammengezuckt. Noch ein Beweis mehr, wie sehr ich meine
Druidenausbildung vernachlässige. Sie war dazu konditioniert worden,
nie jemanden an sich anschleichen zu lassen, die leisesten Geräusche
zu erhorchen, den unsichtbarsten Schatten zu sehen... Und jetzt hatte sie
sich so ablenken lassen, dass sogar ein Zehnjähriger ihr unbemerkt
von hinten auflauern konnte!
Dagegen muss ich etwas unternehmen,
sagte sie sich und warf Johannes einen erzürnten Blick zu, als ob
er Schuld an ihrer Achtlosigkeit wäre. Sie benahm sich kindisch und
wusste es. Aber sie kam einfach nicht damit zurecht. Kam nicht mit der
Welt außerhalb ihrer Insel zurecht.
Das ist es, was Leaf meinte, als er von
Isolationsfolgen sprach, begriff sie. Wenn man solange in einer
isoliert gehaltenen Gemeinschaft gelebt hat, dass eine andere Umgebung
fremd und schwierig erscheint. Dass man nicht mehr mit anderen Menschen
leben kann. Sie sah Johannes erneut an, diesmal nachdenklich.
"Hallo? Ich bin noch da!", rief Tomas ungeduldig,
dem es wie allen Kindern nicht gefiel, wenn er nicht im Mittelpunkt stand.
Gaya konnte nur schwer den Blick abwenden und ihre Gedanken abschütteln,
die sich damit beschäftigten, wie es kam, dass sie sich trotzdem so
gut mit manchen Menschen verstand. Trotz all der Isolationsfolgen. Aber
dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass Wachen in ganz Sunaj nach
ihnen suchten, dass sie wenig Erfolgsaussichten hatten, aus der Stadt zu
entkommen, und schaffte es schließlich, sich Tomas zuzuwenden. Selbsterkenntnis
später.
"Gut, Tomas, dass du es geschafft hast, rauszukommen..."
Sie unterbrach sich selbst. "Was hast du da dabei?" Sie spielte auf das
umfangreiche Bündel an, das er in den Armen hielt.
"Oh, das." Er grinste, mit sich selbst zufrieden.
"Ich habe mir schon überlegt, wie ich euch beide aus Sunaj schmuggeln
kann."
"Ach, wirklich?" Gaya sah ihn misstrauisch
an. Er mochte ja ihr Lieblingscousin sein, der einzige ihr ähnlich
gesinnte Verwandte, aber er war trotz allem noch ein Kind. Was hatte er
vor?
Langsam, um die Wirkung voll zu genießen,
rollte Tomas sein Bündel aus. Drinnen befand sich eine kleine Tasche
mit Schminkzeug, mehrere Tuben mit unbekanntem Inhalt, kleine Schmuckstücke
und zwei feingesponnene, silberne Umhänge mit einem eingewobenen,
blutroten Zeichen darauf.
"Bürger werden sie durchsuchen", sagte
Tomas und seine Augen glänzten vor Freude und Erregung. "Priester
des Kyazc-Ordens nicht."
Die Mauern hoben deutlich von den anderen Gebäuden
in Sunaj ab, denn sie bestanden aus einfachem, grob behaunem Stein. Hoch
waren sie, mit eisernen Spitzen oben drauf. Nur die vier Tore boten einen
Ein- oder Ausgang, die aber mit Leichtigkeit verriegelt werden konnten.
Normalerweise wurden durch die Tore die Menschen
ein- und rausgelassen, und die Wachen waren nur dazu da, um eventuelle
Streitereien zu schlichten oder Hindernisse zu beseitigen, die das Tor
blockierten. Aber an diesem Tag war den Bürgern außerhalb der
Mauern verboten, die Stadt zu betreten. Mit Gewalt wurden sie draußen
gehalten und die Wachen waren verfünffacht worden.
Aber immer noch durften Bürger die Stadt
verlassen.
Julian beobachtete das Ganze unzufrieden.
Es war eine ganz offensichtliche Falle. Warum sonst sollte Frederique die
Tore zum Verlassen weit offen halten?
"Dieser miese Schweinehund will uns hier abfangen",
knurrte er. Dajana, die leicht schwankend auf ihrem Pferd saß, sah
unsicher zu ihm runter.
"Was meinst du damit?"
"Verstehst du nicht? Er hat keine Lust, die
ganze Stadt durchsuchen zu lassen. Das würde zu viel Zeit kosten und
zu viel Aufwand. Deshalb lässt er die Stadt nach außen hin gesperrt,
so dass keine weiteren Bürger die Suche erschweren können. Und
gleichzeitig hindert er keinen daran, Sunaj zu verlassen, als ob er uns
direkt zum Gehen auffordern wollte. Was denkst du, warum?"
"Weil er uns loswerden will?"
"Weil er uns an den Toren abzufangen hofft!
Das würde ihm viel Zeit und Mühe ersparen. Er wusste, dass wir
sofort versuchen würden, die Stadt zu verlassen, und ihm kam das ganz
recht. So würden wir seinen Leuten direkt in die Arme laufen – sieh
nur, wie viele es sind! Gegen so eine Überzahl könnten wir niemals
siegen, auch wenn wir noch so viele Zauberer bei uns hätten. Bestimmt
halten sie alle nach uns Ausschau. Und wer sonst außer uns würde
die Stadt zu solch einem Zeitpunkt verlassen wollen?" Dajana zitterte vor
Angst und Wut, hielt sich mit aller Kraft am Pferd fest, und betete zu
allen Göttern, die sie kannte. Sie hatte keine Lust auf irgendwelche
dämlichen Diskussionen oder langen Erklärungen und das gab sie
ihm auch recht deutlich zu verstehen. Er lächelte nur und wies sie
an, den Mantel zuzuziehen, damit man ihre schäbige Kleidung darunter
nicht sah.
"Man wird mich nie im Leben für eine
Adlige halten", fauchte sie. "Es ist ein bescheuerter und hirnrissiger
Plan, der nur dir einfallen konnte!"
"Sieh es doch mal so: dieser Mantel ist sehr
kostbar und garantiert trägt so etwas kein gewöhnlicher Bürger.
Er verdeckt deine restliche Kleidung und lässt nur deine neuen Stiefel
frei, die auch nicht sehr billig waren. Wer soll dich da nicht für
eine Adlige halten?"
"Leute mit Verstand!", gab sie zurück.
"Julian, ich sehe nicht wie eine Adlige aus!"
"Du siehst gut aus, wenn du die Haare so offen
trägst", sagte er. "Schönheit beeindruckt alle Männer und
bei denen da vorne wird deine das gleiche tun. Und sollten sie doch noch
bemerken, dass du keine adligen Züge trägst, werde ich doch sagen,
dass du aus Acippa bist - woher sollen sie schon wissen, wie adlige Frauen
in Acippa aussehen? Sie werden uns vorbei lassen und alles wird in Ordnung
sein." Er klang so überzeugt, dass Dajana selbst schon zu zweifeln
begann, ob der Plan wirklich so dämlich war.
"Findest du mich wirklich so schön?",
fragte sie ihn, bevor sie darüber nachdenken konnte.
"Natürlich", antwortete Julian. "Das
wird dir jeder sagen." Dajana wusste das ebenso gut wie er, aber aus irgendeinem
Grund fühlte es sich gut an, das noch mal aus seinem Mund zu hören.
Vielleicht, weil sie sich gerade so erbärmlich vorkam und ihr Selbstwertgefühl
dringend eine Aufpolierung brauchte.
"Bist du wirklich entschlossen, das durchzuziehen?",
fragte sie ihn schnell, um von ihrer Frage abzulenken. Irgendwie war es
ihr ihm gegenüber peinlich.
Julian nickte. "Auf jeden Fall. Oder fällt
dir was besseres ein?"
"Ich bin nicht gut im Schmieden von Plänen",
gab sie zu.
"Na also. Los geht’s, oder?"
"Wenn du es sagst." Ihr Herz schlug höher
als sie daran dachte, dass das Losgehen Bewegung vom Pferd erforderte.
Solange es stillstand, konnte sie sich halbwegs daran gewöhnen. Aber
Bewegung?...
Julian ließ ihr nicht lange Zeit zum
Überlegen. Er ergriff die Zügel und ging los. Das Pferd trottete
ihm hinterher.
Dajana wimmerte und ihre Hände verkrampften
sich beim Festhalten des Sattels.
Nie wieder steige ich auf ein Pferd...
Nie wieder... Und unerwartet für sich selbst begann sie zu beten,
das alte Kyazc-Gebet an die Allmächtigen Fünf.
Chelene, gütige Seele des Wassers,
Tochter, sei mir gnädig...
Gewähre meinem Körper Schutz,
biete meiner Seele Zuflucht...
Zoetan, Herr des Feuers,
Sohn, sei mir gnädig...
Hilf mir in meiner schweren Stunde,
gib mir Kraft und Stärke...
Anetor, tapferer Falke der Lüfte,
Vater, sei mir gnädig...
Lass mich den Tag überleben,
Lass mir meine Freiheit...
Ylandra, Jägerin der Erde,
Mutter, sei mir gnädig...
Stärke meine Seele,
Stärke meinen Körper...
Kêmes, Hüter des Sterns,
Band, sei mir gnädig...
Erhelle die Dunkelheit vor mir,
Dämme das Licht meiner Feinde...
Ein wenig überrascht von sich selbst und
von der Tatsache, dass sie das alte Gebet noch kannte, obwohl man es ihr
mit sechs Jahren beigebracht hatte, vergaß Dajana für eine Zeitlang,
wo sie sich befand und was sie erwartete. Das Gebet gab ihr eine seltsame
Art von Ruhe, so oft gehört, so oft verächtlich abgetan als nutzloses
Geschwätz frommer Narren, und doch ein fester Bestandteil ihrer Welt.
Sogar Mutter hat es jeden Tag runtergeleiert,
bevor sie auf die Straße ging um Geld zu verdienen, fiel ihr
ein. Der plötzliche Gedanke an ihre Mutter Danaille, die sich nie
so recht um ihr Kind gekümmert hatte, füllte sie einen Moment
lang mit Bitterkeit und wehte die Ruhe hinfort. Bei wem mochte sie jetzt
liegen? War sie vielleicht wieder schwanger? Und wenn schon. Es gibt
so viele Stromsyards in Cinhyal und vor allem in N’hoa, dass einer mehr
kaum auffallen würde...
Das Pferd stolperte und Dajana wurde jäh
aus ihren Gedanken gerissen. Instinktiv krallte sie sich am Sattel fest
und verhinderte so knapp, dass sie hinunterflog. Ihr Atem beschleunigte
sich, das Herz schlug sehr schnell. Mit weit aufgerissenen Augen starrte
sie das Tor an, das mit einem Mal so nahe war. Sie konnte sich gar nicht
daran erinnern, die Straße schon so lange entlang geritten zu sein.
Julian sah beunruhigt zu ihr auf. "Alles in
Ordnung?", fragte er leise, damit die Wachen, die ihr Näherkommen
aufmerksam beobachteten, nichts mitbekamen. Sie nickte leicht, kaum bemerkbar.
Er richtete den Blick wieder nach vorne und Dajana begutachtete sein gerades
Profil.
Er sieht wirklich aus wie ein Ritter. So
ernst und irgendwie feierlich. Man wird ihm ohne Zweifel glauben, was er
ist. Aber ich? Wer bin schon ich?
Ein Niemand. Eine arme Bürgerin, die
Tochter einer Straßendirne. Wie sollte sie die Wachen täuschen,
die an adlige Frauen gewohnt waren? Das konnte doch nie gut gehen, auch
wenn man alles Glück dieser Welt auf seiner Seite hatte...
"Passt auf euch auf. Viel Glück",
hatte Cycil gesagt und war dann stürmisch davon geritten. Dajana wusste
nicht, warum sie ausgerechnet jetzt daran denken musste - oder vielleicht
doch, denn sie hatte die ungute Ahnung, die sie befallen hatte, nicht vergessen.
Sie hatte selten irgendwelche Ahnungen, und sie nutzten ihr auch niemals
etwas, aber sie waren wie eine Warnung in letzter Sekunde. Zu spät
zum Umkehren.
Ich muss das Beste daraus zu machen versuchen.
Sie alle versuchen es, also warum nicht auch ich. Ich mag ja keine Adlige
sein, aber ich bin schön – vor ihrem inneren Auge sah sie einige
der Männer vorbeiziehen, die ihr diese Tatsache durch bewundernde
Blicke und Komplimente bestätigt hatten. Auch Cycil - vor allem
Cycil.
Ich bin kein Niemand, ich bin Dajana Stromsyard.
Und es gibt Menschen, denen ich etwas bedeute.
Sie straffte sich, versteifte ihren Rücken
und nahm eine gerade Haltung ein. Auf ihrem Gesicht blieb ein hochmütiger
Ausdruck haften, bewegungslos und doch voller - anscheinend - unbewusster
Arroganz. Die Hände lässig am Sattel verschränkt, den Blick
der grünen Augen ruhig auf den Horizont gerichtet, saß sie auf
dem Pferd, das Julian zum Nordtor führte.
In diesem Augenblick kam auch für Cycil,
der nichts von einer unguten Vorahnung verspürte, weil er sich zu
sehr in seine Erinnerungen hineingesteigert hatte, sein Ziel in Sicht.
Das Westtor.
Alle Wachleute erwarteten ihn mit gezückten
Schwertern und bildeten ein lebendes Hindernis vor dem ohnehin verriegelten
Tor. Aber Cycil hatte es nicht anders erwartet. Es war ja nicht so, dass
er versucht hatte, unauffällig zu sein, eher im Gegenteil.
Solange sie alle Leute zusammenzogen, um ihn
festzuhalten, würden die anderen Tore wenig bemannt und unachtsam
bleiben. Das war sein Plan - na ja, kein Plan in der Hinsicht, dass er
eine Lösung für sein Problem beinhaltete. Die Lösung musste
er selbst sein.
Cycil atmete tief durch und gab seinem Pferd
die Sporen. Er hoffte nur, dass keiner der Zauberer auf ihn wartete, sonst
würde es zu viel für ihn werden. Bilder von toten Menschen, bekleidet
nur mit ihrer abblätternden Haut und ihrem Blut, tanzten vor seinem
inneren Auge.
Nun, vielleicht hoffte er doch, dass einer
von ihnen da war.
In der langen, versilberten, nach Kirschen
duftenden Robe fühlte sich Gaya alles andere als wohl. Sie hatte vor
den Priestern der Kyazc die größte Hochachtung - die Druiden
und die Kyazc standen auf derselben Stufe der Verehrung der Allmächtigen
Fünf, nur, dass sich die Druiden speziell auf Ylandra, die Mutter,
konzentrierten, und die Kyazc auf die Fünfheit. Jetzt unter dem Deckmantel
dieser ehrwürdigen Priester aus Sunaj zu flüchten, erschien Gaya
verräterisch und schmutzig.
"Wahrheit ist eins der höchsten Güter
der Menschen und die einzige Gabe, die die Götter wirklich zu schätzen
wissen."
Und an diesem Tag verging sie sich strikt
an diesem Leitsatz der Druiden. Gaya hatte Angst.
Johannes schien es nichts auszumachen, dass
er in diesem Aufzug auch seinen Schirmherrn Zoetan beleidigte. Bin ich
denn nur von Ungläubigen umgeben?, fragte sich Gaya verzweifelt.
Andererseits schienen die Ungläubigen viel weniger Probleme im Leben
zu haben als die Gläubigen, was vielleicht nicht ganz die göttliche
Gerechtigkeit war, die Gaya gern gesehen hätte. Aber, wie sie es Julian
heute Morgen bereits gesagt hatte: Keiner kennt die Pläne der Götter,
es gibt kein Warum, das mich etwas angeht. Es ist einfach so und ich kann
es nicht ändern.
Tomas führte die beiden direkt zum Südtor.
Er hielt auch die Stute am Zügel, der weder das gefiel, noch das schwere
Gewicht der Waffen, die an ihr festgeschnallt worden waren. Eingewickelt
in einige Lumpen zwar, aber dadurch auch nicht leichter. Der Speer und
der Stab waren zu groß, als dass man sie unter den Priestergewändern
verstecken konnte, daher wollten sie sie für heiliges Holz ausgeben,
das sie im Wald von Celine geschlagen hatten. Weil alle Cinhyali zutiefst
religiös waren und die Kyazc achteten, würde es hoffentlich keiner
der Wachen wagen ihre Ware zu überprüfen.
Hoffentlich.
Tomas sprang über eine breite Pfütze
hinweg und das Pferd tat es ihm widerwillig nach. Seine aufschlagenden
Hufe ließen Wasser hoch spritzen und die Tropfen benetzten die weißen
Kyazc-Gewänder. Gaya seufzte. Na schön, dann waren sie jetzt
dreckige
Priester.
"Komm, Gaya." Johannes half ihr über
die Wasserlache - die das Ausmaß eines mittleren Teichs hatte - und
hielt sie fest, als sie wieder mal ausrutschte.
"Danke. Ich habe nie gemerkt, wie verdreckt
Sunaj eigentlich ist", murmelte Gaya.
"Das bemerkt man erst, wenn man tief genug
reingeht!", rief Tomas mit unverminderter Begeisterung, obwohl er gerade
mit der Stute kämpfte, die sich für zu gut hielt, um über
einen Hundehaufen zu steigen. Gaya dachte daran, dass - wenn sie hier raus
kamen - dieses hochnäsige Tier die ganze Zeit über bei ihnen
bleiben würde und fühlte, wie ihre Entschlossenheit in Niedergeschlagenheit
überging.
"Du hast mir immer noch nicht erzählt,
warum du dich mit seiner Mutter nicht verstehst", sagte Johannes dicht
neben ihr.
"Warum ist das so wichtig?", fragte sie und
hob den Saum der Robe hoch, damit er wenigstens frei von Kot blieb.
"Weil es mich interessiert", erwiderte er.
"Ein anderes mal, Johannes."
"Warum?" Er ließ nicht locker. "Brauchst
du etwa deine ganze Konzentration um die Straße entlang zu gehen
und Pfützen auszuweichen?"
"Ja." Sie wollte nicht reden, warum begriff
er das nicht?
"Ich werde dich nicht damit in Ruhe lassen."
Keine Antwort. "Gaya, Schweigen lässt deine depressive Stimmung auch
nicht verschwinden. Erzähl mir einfach etwas über dich und hör
auf, düstere Gedanken über die Zukunft zu hegen."
"Die Zukunft wird düster."
"Nein, wird sie nicht", widersprach er freundlich.
"Und jetzt hör auf, dich so niedergeschlagen zu fühlen. Sieh
doch nur, was für ein schöner Himmel sich heute über uns
erhebt!" Mehr um nicht widersprechen zu müssen, als aus eigenem Antrieb,
hob sie ihren Blick und betrachtete das Objekt seiner Begeisterung.
"Das ist der Himmel, nichts weiter", sagte
sie schließlich. "Und eine Sonne hängt daran." Er lachte leise.
"Da ist etwas wahres dran, Gaya. Aber du siehst
nur das, was dich deine Depression sehen lassen will. Soll ich dir sagen,
was ich da oben sehe? Ich sehe klare, blaue Schönheit, die sich meilenweit
über unseren Köpfen erstreckt, über der ganzen Welt. Licht
und Reinheit, Hoffnung. Denk daran, alle Menschen sehen den gleichen Himmel
über sich, die gleiche Sonne, egal, wo sie sich gerade auf der Welt
befinden. Mag sein, dass mancher Himmel verhangen und grau ist. Aber irgendwann
reißen alle Wolken auf und zum Vorschein kommt diese strahlende Sonne,
die uns alle mit ihren lebensspendenden Strahlen umarmt. Sie segnet uns,
schenkt uns Leben. Hörst du es nicht, Gaya? Sie sagt dir ganz deutlich,
eben in diesem Augenblick, dass du die Hoffnung nicht verlieren sollst.
Irgendwann reißen alle Wolken auf und
bringen Licht." Gaya sah ihn von der Seite her an: so voller Leben und
Hoffnung, erfüllt von einem Licht, das nur schlichter, reiner Optimismus
hervorbrachte.
Zuversicht. Lebensmut. Vertrauen in die Zukunft.
Was für Lügen.
Sie lächelte.
"Wie recht du hast." Für einen kurzen
Augenblick lehnte sie sich an ihn und legte den Kopf auf seine Schulter.
Zusammen sahen sie zum Himmel auf.
Der Wachmann versperrte ihnen den Weg und Julian
hielt an. Dajana saß ruhig auf ihrem Pferd, völlig regungslos
und scheinbar nachdenklich. Er war beeindruckt, wie gut sie ihre Rolle
spielte.
"Halt! Wer seid ihr und warum verlasst ihr
die Stadt?", fragte der uniformierte Mann. Julian sah hinter ihm weitere
Männer, die bereit standen, das Tor sofort zu schließen. Julian
überlegte, ob er lächeln sollte und entschied sich dagegen. Schließlich
war er ein Ritter.
"Das hier ist die hochwohlgeborene Lady Glenda
Jaonell-O’bara-Harenn di Trice", antwortete er und der Name ging ihm glatt
über die Lippen. "Gräfin von Pyess, von der Dracheninsel Acippa,
möge sie für immer gesegnet sein. Sie ist unterwegs zum Hafen,
wo ihr Schiff auf sie wartet." Die Wache maß Dajana mit einem prüfenden
Blick und dann Julian selbst. Dieser erwiderte den Blick ohne das Gesicht
zu verziehen und beließ die Hand dabei am Schwertknauf. Julian wusste,
dass man ihm sein adliges Blut im Gesicht ansah, und hoffte, dass er immer
noch wie ein königlicher Ritter aussah. Hoffte, dass das genügte.
"Was hat die Hochwohlgeborene in Sunaj getan?",
erkundigte sich der Posten und die Gräfin ließ sich dazu herab
ihn mit einem überheblichen Blick zu streifen, der mehr als ihre Haltung
ausdrückte, wie sehr sie es hasste, in die Nähe eines solchen
jämmerlichen Geschöpfs wie eines Wachpostens zu kommen. Der Mann
war jedoch gut ausgebildet und reagierte nicht darauf.
"Selbstverständlich verweilte sie beim
König in der Burg und besprach mit ihm wichtige Staatsangelegenheiten",
antwortete Julian.
"Warum verlässt sie heute die Stadt?"
"Vermutlich, weil die Staatsangelegenheiten
erledigt sind", erwiderte Julian betont, so, dass es sich anhörte
wie: Was geht dich denn das an?
Der Wachtposten ließ sich aber auch
davon nicht sonderlich beeindrucken, er nahm seine Aufgabe sehr ernst.
"Es tut mir leid, aber ich habe den Befehl, alles genauestens zu überprüfen.
Also dürfte ich bitte eure Stammpapiere ersehen?" Stammpapiere?
Julian starrte den Mann bestürzt an.
"Seit wann muss man an den Toren von Sunaj
die Stammpapiere vorzeigen?", wollte er wissen, äußerlich barsch,
im Innern fast gelähmt vor plötzlicher Panik.
"Seine Majestät, König Frederique,
lässt Verbrecher in der Stadt suchen und es ist wahrscheinlich, dass
sie zu entkommen versuchen. Daher muss ich euch darum bitten, mir die Papiere
zu zeigen." Er sah Julian erwartungsvoll an. Dieser wusste nicht weiter.
Er hätte dem Mann seine eigenen Stammpapiere zeigen können, was
allerdings nichts genützt hätte, da hier Dajana die Adlige war
und er nur ein unbedeutender Ritter.
Aber was sollte er jetzt tun? Dajana, die
wahrscheinlich nicht einmal wusste, was Stammpapiere überhaupt waren,
wurde ein wenig unruhig und sah ihn an. Was ist los?, fragten ihre Augen.
Wir stecken in Schwierigkeiten, dachte Julian
niedergeschlagen.
Er zog an seinem Schwert und machte sich zum
Kampf bereit. Wenn möglich, würde er sich einen Weg zum Tor frei
kämpfen. Dajana musste nur ihr Pferd anspornen und würde dann
nicht einzuholen sein. Aber wenn sie das Tor...
Der Wachposten schaute nicht mehr in seine
Richtung, sondern hatte sich in eine andere gewandt. Jetzt hörte auch
Julian das Geräusch von näherkommenden Reitern. Zwei oder vielleicht
drei, dachte er und fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
Die Reiter kamen in Sicht, ihre Pferde gnadenlos
antreibend, hastig atmend mit roten Gesichtern von dem schnellen Ritt.
Hart brachten sie ihre Reittiere zum Stehen und fielen mehr aus den Sätteln,
als dass sie abstiegen.
"Entschuldigt, Lady, ich muss kurz fort",
sagte der Wachtposten schnell und ging zu den eben Angekommenen. Julian
sah ihm stirnrunzelnd nach. Was war denn los? Ein kalter Schauder durchlief
ihn plötzlich - war jemand von ihnen gefangen genommen worden?
"Julian", hörte er Dajana flüstern
und schaute auf. Sie hatte ihre arrogante Haltung aufgegeben und beugte
sich zu ihm runter. Der Umhang klaffte auf und zeigte ihr beigefarbenes
Hemd und ein Teil ihrer verschmutzten Hose. Er sah sich schnell um und
schirmte sie dann ab, damit keiner der Wachleute zufällig etwas bemerkte,
was er nicht bemerken sollte.
"Was ist hier los?", fragte sie leise. "Schwierigkeiten?"
"Keine Ahnung", gab er zurück. "Irgendetwas
muss passiert sein, etwas wichtiges. Vielleicht..." Er wagte es nicht auszusprechen,
aber Dajana verstand ihn auch so, denn ihre grünen Augen weiteten
sich erschrocken.
"Nein, das kann nicht sein!", wisperte sie
schnell. "Die anderen sind alle sehr vorsichtig, man wird sie nicht erwischen..."
"Aber es gibt da noch dieses Problem mit den
Stammpapieren... Keiner von ihnen hat sie - und wir übrigens auch
nicht. Na ja, du jedenfalls nicht." Er überlegte. "Wir sollten jetzt
verschwinden, solange sie noch abgelenkt sind."
"Nein! Wir müssen erfahren, was mit den
anderen ist!"
"Dajana, wenn sie sich wieder uns zuwenden,
sind wir verloren. Ohne Stammpapiere werden sie uns verhaften und das war’s
dann!", widersprach er heftig.
"Wie sollen wir es denn jetzt machen?", fragte
sie ebenso heftig. "Guck dir das doch mal an, sie stehen schon auf halben
Fuße das Tor zuzuziehen! Denkst du, wir sind schnell genug um..."
"Du bestimmt."
"Julian! Ich kann dieses Höllentier nicht
reiten, ich würde nur runterfallen!", protestierte sie.
"Du musst dich nur festhalten..."
"Verzeiht die Störung", sagte da der
Wachmann hinter ihnen. Dajana richtete sich sofort wieder im Sattel auf
und Julian drehte sich kampfbereit um.
"Meine Lady fragt sich, was los ist", sagte
Julian möglichst ruhig und deutete auf eine Gruppe der Wachleute,
die Pferde bestieg und davon ritt, in die Richtung, aus der die anderen
Reiter gekommen waren. Es war ungefähr die Hälfte, was Julian
mit ein wenig Hoffnung erfüllte. Vielleicht hatten sie im Kampf doch
noch eine Chance.
"Wir wurden um Verstärkung gebeten",
erklärte der Wachmann. "Anscheinend ist einer der Verbrecher auf dem
Weg zum Westtor. Aber er wird nicht weit kommen", sagte er mit einem zufriedenen
Lächeln. Westtor, dachte Julian, dorthin war Cycil unterwegs. Ich
wusste, dass er Schwierigkeiten machen würde!
Dajana sah ihn erschrocken an - sie dachte
genau das gleiche wie er.
Cycil erreichte die vorderste Front der Wachleute
und wandte scharf sein Pferd, so dass es nicht auf die Schwerter der Männer
aufgespießt wurde. Es stieg auf die Hinterbeine, empört von
der groben Behandlung, und trat erschrocken nach den Wachen, die seine
Zügel zu ergreifen versuchten. Cycil ließ dem Hengst alle Freiheit
und konzentrierte sich nur darauf, im Sattel zu bleiben.
Das Klirren der aufeinanderprallenden Schwerter
erfüllte die Luft, ein wohlbekannter Klang, der ihm einen Schauder
über den Rücken schickte. Seine Klinge verwandelte sich in eine
sirrende Sichel, die blitzschnell niedersauste und ohne Mühe oder
Vorbehalte tötete. Cycil war sehr gewandt im Schwertkampf, aber er
wandte sein Können selten an, weil er den Tod nicht liebte. Doch an
diesem Tag, in diesem Moment, war ihm das völlig egal. Er schlug um
sich und überlegte nicht. Sein Blut kochte.
Jeder von ihnen kann dabei gewesen sein.
Ein entlegener Winkel seines Verstandes weigerte sich zu verstummen und
gab nicht unter dem Fluss der Erinnerungen und dem Blutrausch nach. Stattdessen
betrachtete er das Geschehen wie ein distanzierter Beobachteter und versuchte
Gründe dafür zu finden, warum er das tat, was er tat.
Ist das simple Rache? Nein, sonst wäre
alles viel einfacher, es muss mehr dahinter stecken. Rache erfordert Schmerzen,
keinen einfachen Tod, und außerdem ist sie impulsiv. Ich wurde dazu
erzogen, niemals impulsiv zu handeln, immer zu überlegen, immer einen
kühlen Verstand zu bewahren. Was ist es dann?
Beschützerinstinkt?
Der Hengst wurde eingekreist und Cycil reckten
sich zwei Dutzend scharfer Spitzen entgegen.
"Ergebt euch und euch wird nichts passieren!",
rief einer der Wachmänner. Von wegen, dachte Cycil und ließ
seine Klinge wild im Kreis umherwirbeln, als Warnung für die Männer,
nicht näher zu kommen. Das Tor war auch weiterhin verschlossen, aber
er sah es nicht als Problem. Er befürchtete bloß, zu langsam
zu sein. Vielleicht waren die anderen schon festgenommen worden? Er biss
die Zähne zusammen. Ich kann nur hoffen, dass es nicht so ist,
und weiterhin so viel Krach machen, dass sie Wachen von den anderen Toren
abziehen müssen...
Cycil rief die Magie. In einem weißen
Aufwallen kam sie hoch, sprühend und geladen, völlig außer
Kontrolle. Derart angewendet, von der Kraft solcher Gefühle wie Hass,
Wut und Schmerz gespeist, war sie am gefährlichsten und tödlich.
Vielleicht auch für ihn selbst.
Er ließ sich von diesem Gedanken nicht
abhalten und brachte das nervöse Pferd zum Stehen. Es tänzelte
zwar noch ein wenig auf der Stelle und warf den Kopf zurück, aber
es schlug nicht mehr mit den Hufen aus. Die Wachleute dachten, er wäre
bereit sich zu ergeben.
"Lasst das Schwert fallen und steigt langsam...",
fing der eine an und brach dann abrupt ab, als er die knisternde, blaue
Aura um Cycil bemerkte. Mit einem Schrei, der vielleicht gar nicht von
seinen Lippen kam, ließ er die Macht frei.
Eine gewaltige Explosion.
Alle rissen die Köpfe hoch, als sie den
lauten Knall hörten. Im Westen der Stadt stieg ein blauer Blitz zum
Himmel auf, gefolgt von weiteren, funkensprühenden Wellen. Vögel
wurden aufgeschreckt und flogen kreischend hoch. Die Nachwirkungen der
Explosion erreichten sie einige Augenblicke später. Dajanas Haar flatterte
in der starken Windbrise, das Pferd wieherte geängstigt und in der
Luft verbreitete sich ein metallischer Geruch, ozongeladen wie nach einem
Gewitter.
Atemlose Stille legte sich über den Wachtrupp,
Julian und Dajana. Gespannt verfolgten sie weitere, kleinere Ausbrüche,
die einen bläulichen Schein über der Stadt verhängten. Dann
setzten die ersten Schreie an.
"Los, nichts wie hin!", befahl ein Wachmann,
der sich von der Starre gelöst hatte, und ein Großteil der übriggebliebenen
Wachmannschaft setzte sich in Bewegung. Weitere Reiter verließen
das Tor und ließen vielleicht mal fünf Leute zurück. Julian
wechselte einen langen Blick mit Dajana. Es war offensichtlich, dass Cycil
in großen Schwierigkeiten steckte und dass wahrscheinlich drei Viertel
der gesamten Wachleute in Sunaj zum Westtor unterwegs waren.
"Wie können wir ihm helfen?", fragte
Dajana flüsternd.
"Gar nicht", erwiderte Julian mit schwerem
Herzen und umklammerte den Schwertgriff so fest, dass seine Knöchel
weiß hervortraten. "Ich habe geahnt, dass er so etwas versuchen könnte
und hab ihm den weitesten Weg zugeordnet. Er hat es doch tatsächlich
geschafft, so schnell anzukommen!" Er schüttelte den Kopf und verfluchte
Cycil innerlich.
"Aber... irgendwie müssen wir doch...",
stammelte Dajana und wandte den Blick nicht vom knisternden Himmelteil
ab, der irgendwo links von ihnen lag. Die Blitze nicht mehr zu sehen, stattdessen
war da ein blauer, fast weißer Schein, der an Intensität zunahm.
"Nein", schnitt er ihr das Wort ab. "Er tut
es, um von uns abzulenken, damit an unseren Toren weniger Wachen stehen.
Das einzige, was wir tun können, ist diese Möglichkeit zu nutzen
und das Beste daraus zu machen." Mit zusammengebissenen Zähnen schnappte
er sich die Pferdezügel und ging zum weit offenen Tor.
Zwei Männer versuchten ihn aufzuhalten
und baten um die Papiere, aber Julian wies sie barsch zurück.
"Seht ihr es denn nicht, ihr Schwachköpfe?",
fuhr er sie an. "Da habt ihr doch eure Verbrecher! Meine Lady ist hier
in Gefahr, diese Magie wird uns noch alle umbringen! Wie wollt ihr das
Frederique erklären?" Er zog das Schwert aus der Scheide. "Wenn nötig,
bringe ich sie mit Gewalt in Sicherheit!" Immer noch erschüttert wagten
sie es nicht, sich ihm in den Weg zu stellen und gaben das Tor frei. Julian
schnaubte und beschleunigte seine Schritte. Dajana protestierte nicht,
sie schien es nicht einmal zu bemerken.
Selbst als sie die Mauern hinter sich ließen,
starrte sie noch zurück zur Stadt, zum magisch geladenen Himmel. Das
Blau war auf einmal durchsetzt mit einem dunklen Lila.
"Das ist Cycil. Ohne jeglichen Zweifel", sagte
Johannes.
"Denkst du, sie haben ihn geschnappt?", fragte
Gaya, die neben ihm stand und ebenfalls hoch starrte.
"Noch wehrt er sich. Aber wie lange? Diese
Magie sieht jeder in der Stadt. Sie werden alle Wachen dorthin schicken
und wie kann er sich gegen sie alle verteidigen?"
"Wieso macht er das nur? Das wird ihn umbringen!",
rief Gaya verzweifelt.
"Und wenn nicht das, dann dieser Andere",
bemerkte Johannes.
"Was für ein Anderer?", fragte Gaya beunruhigt.
"Siehst du diese lila Funken? Das ist nicht
die Elementarmacht des Wassers. Das ist die Magie des Dunkels." Gaya schaute
genauer hin und sah sie tatsächlich. Lila Blitze, die sich mit den
blauen vermischten und ein schönes Muster vor dem Hintergrund des
klaren Himmels bildeten. Obwohl sie weit weg davon waren, spürte sie
einen Hauch der gewaltigen Kräfte, die dort vorherrschten.
"Es ist tatsächlich die Magie des Dunkels",
sagte sie bekümmert. "Er kann nicht dagegen ankämpfen."
"Anscheinend doch." Johannes zog die Augenbrauen
zusammen und beobachtete eine weitere Welle von lilafarbener Energie gen
Himmel steigen. "Vielleicht schafft er es."
"Ach bitte! So optimistisch kannst nicht einmal
du sein!"
"Ich weiß nur..."
"Hey, ihr beiden!" Tomas sah verärgert
zurück. "Was steht ihr so rum? Wenn dieser Freund von euch so ein
Theater veranstalten möchte, ist es seine Sache und es ist zu spät,
um ihn zu retten. Aber wir können das ausnutzen, die Wachen werden
jetzt wohl kaum so wachsam sein! Also los!" Gaya wusste, dass er recht
hatte, sie wusste es genau. Aber sie konnten Cycil nicht in Stich lassen!
"Wenn wir schnell sind, können wir vielleicht...",
fing sie an, aber Johannes unterbrach sie.
"Jetzt bist du zu optimistisch. Bis wir da
sind, ist er längst tot. Du weißt doch, Magie tötet schnell.
Und Schwerter ebenso. Wenn er uns dadurch eine Chance verschaffen wollte,
sollten wir sie nutzen."
"Ich weiß. Aber es ist so eine Dummheit!"
Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden auf, drehte sich um und ging
mit schnellen, festen Schritten Tomas nach, der mit dem Pferd nicht auf
sie wartete. Johannes zögerte trotz seiner eigener Worte. Er war es
nicht gewohnt zu fliehen.
Aber was sollen wir sonst tun? Das ist
die Chance, auf die wir gewartet haben. Cycil... nun, vielleicht wird er
es trotzdem schaffen. Irgendwie.
Er beeilte sich Gaya nachzukommen.
Vielleicht zehn Minuten später erreichten
sie schließlich das Südtor, das fast verlassen vor ihnen lag.
Gaya hatte zwar erwartet, wenige Menschen vorzufinden, aber es überraschte
sie doch noch, wie wenige es waren. Auf den ersten Blick handelte es sich
um zwei Wachtposten und drei Bürger außerhalb des Tores, die
mit ihnen stritten.
"...euch nicht reinlassen, das haben wir doch
schon gesagt!", sagte einer der Wachen geduldig.
"Aber ihr seht doch, was los ist!", der Sprecher
gestikulierte in Richtung des Westtores. "Da ist ein Zauberkampf! Dort
sind eure Verbrecher, nicht hier! Was wird es dem König schaden, wenn
ihr uns drei reinlasst?!"
"Es ist ein strikter Befehl..."
"Zur Hölle damit!", unterbrach ihn scharf
ein anderer Mann. "Ich hab meine Frau seit vier Tagen nicht mehr gesehen,
bestimmt hat sie schon vergessen, wie ich aussehe! Ihr seid doch auch Menschen
oder? Warum könnt..."
"Wenn das da hinten tatsächlich die gesuchten
Verräter sind, wird man sie bald gefasst haben und dann die Sperren
aufheben. Dann werde ich euch reinlassen, keinen Augenblick früher!
Und jetzt verzieht euch, ihr Schweinebande, wir haben noch eine Aufgabe
zu erledigen!" Der zweite Wachmann sprach wesentlich härter als der
erste und zückte warnend sein Schwert. Die drei Bürger - Hafenarbeiter,
der Kleidung nach - verfluchten ihn und einer spuckte sogar auf seine Schuhe,
doch schließlich zogen sie sich zurück.
"Solche Ratten sollte man ausräuchern,
bevor sie sich in der Stadt festsetzen und ihre Löcher..." Plötzlich
bemerkte der Mann die nahenden "Priester" und verstummte abrupt. Gaya konnte
sein mentales "Ups" fast schon hören. Die Kyazc waren sehr streng
und hatten ein hohes Ansehen. Schon möglich, dass die echten Priester
den Mann aufgeknüpft hätten. Weil ihm anscheinend der gleiche
Gedanke kam, wurde der Wachtposten blass und wich ein wenig zurück.
Johannes maß ihn mit einem unheilverkündenden Blick.
"Eines Tages wirst auch du den Allmächtigen
Göttern der Fünfheit entgegen treten und dich für deine
Sünden rechtfertigen müssen", sagte er leise. "Und dann wirst
du schon noch herausfinden, wer hier eine Ratte ist und wer nicht." Der
Wachtposten hörte ihn und malte schnell das Zeichen der Fünf
in die Luft, die grobe Form des Zeichens, das Gaya und Johannes auf ihren
Umhängen trugen: ein X mit einem waagerechten Strich in der Mitte.
Gaya fühlte wieder einen Stich ihres Gewissens.
"Ihr wollt die Stadt verlassen, Ehrwürdige
des Ordens?", fragte der erste Wachmann überaus höflich. Gaya
und Johannes nickten bloß. Tomas übernahm die Rolle des Vermittlers.
"Die Ehrwürdigen Priester des Ordens
hatten Angelegenheiten in Sunaj zu erledigen, die uns gewöhnliche
Bürger nichts angehen", sagte er in respektvollem Ton. "Doch um rechtzeitig
in ihrem Tempel anzukommen, müssen sie heute die Stadt verlassen und
sich auf den Weg machen. Deshalb würde ich euch höflich darum
bitten uns durchzulassen." Der Wache maß Tomas mit einem prüfenden
Blick.
"Wer bist du eigentlich, Junge? Wie ein Priester
siehst du nicht aus." Tomas lachte sein unschuldigstes Kinderlachen.
"Natürlich bin ich kein Priester. Aber
diese beiden kennen sich in Sunaj nicht aus und haben mich sozusagen als...
Reiseführer engagiert, damit sie schneller vorankommen. Ich bringe
sie nur zu ihrem Schiff."
"Du wohnst hier also?"
"Ja, ganz in der Nähe", antwortete Tomas
lässig. Gaya bewunderte seine Ruhe. "Ich verdiene mir auf diese Art
Zusatzgeld, um meine Schwestern und mich durchzubringen." Gaya merkte,
wie der Posten sich alle Angaben und Tomas Aussehen ganz genau einprägte,
um sie später weiter geben zu können, falls irgendwelche Probleme
auftauchten. Zum Glück hatte ihr Cousin auch daran gedacht und sein
Aussehen mit der Schminktasche seiner Mutter dementsprechend verändert.
Durch die Schatten, veränderte Gesichtszüge und viel Schmutz
hätte Gaya ihn nie im Leben erkannt. Sie konnten die Stadt noch so
sehr nach diesem Jungen durchsuchen, sie würden ihn nie finden.
"Wie ist dein Name, Junge?"
"Albert. Albert Na’hem", antwortete Tomas
ohne zu zögern. Wo hat er nur seine Intelligenz her? Ganz sicher nicht
von seinem Vater. Also von Morganas Seite... na ja, gerissen ist sie wahrscheinlich
wirklich...
"Gut, Albert, ihr könnt durch. Aber seid
vorsichtig wegen der Menschenmenge am Hafen. Sie sind ziemlich aufgebracht",
riet ihm die Wache. Tomas nickte und bedankte sich. Ohne besondere Hast
begaben sich die Drei zum Ausgang, während Gaya am liebsten zurückgelaufen
wäre. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, um keine Aufmerksamkeit
zu erregen, aber sie hatte das Gefühl, dass die Magieblitze verstummt
waren. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Der zweite Wachtposten näherte sich Johannes
und fragte ihn etwas so leise, dass Gaya es nicht mitbekam. Der Feuerzauberer
erwiderte etwas kurzes und dann waren sie endgültig draußen.
Gaya atmete auf. In Sicherheit, wenigstens vorübergehend.
"Was hat er dich gefragt?", wollte sie von
Johannes wissen, als sie einigen Abstand zwischen sich und dem Tor gebracht
hatten.
"Er hat mich gefragt, ob er noch auf Absolution
hoffen könnte."
"Was hast du geantwortet?"
"Dass in solchen Zeiten schon der Tod eine
Absolution bedeutet."
Viele der Männer waren verletzt. Cycil
sah überall Blut, regungslose Leiber und abgetrennte Körperteile.
Er selbst atmete schwer, teils vor Erschöpfung, denn solche magischen
Ausladungen kosteten immer viel Energie, teils auch von der Wucht der Erinnerungen,
die in seinem Kopf dröhnten. Es kam ihm alles so furchtbar bekannt
vor. Soviel Blut, soviel Schmerz. Die Magie wütete in ihm und schuf
eine helle Aura um seinen Körper, die alle davon abhielt ihm näher
zu kommen.
Nur noch wenige kampffähige Männer
waren übrig, aber er hörte schon die Rufe der anderen, die auf
dem Weg zu ihm waren. Sehr viele. Seine Gedanken flogen.
Noch so eine Explosion? Nein, die könnte
ich nicht kontrollieren, schon die erste war furchtbar. Ich muss das Tor
aufsprengen, bevor die anderen ankommen, sonst kann ich mich gleich geschlagen
geben. Ich sitze hier in der Falle, umzingelt, sie werden über mich
herfallen und ich werde nicht lange standhalten... Das Tor ist die einzige
Chance...
Er wendete den Hengst, der inzwischen ebenso
von Blut bedeckt war wie er selbst, zum Tor und bündelte seine Macht.
In diesem Moment rief eine Stimme seinen Namen. Cycil hatte das Gefühl
zu Eis zu erstarren. Die Todesschreie kreischten in seinen Ohren und er
konnte nicht unterscheiden, ob sie Klänge der Vergangenheit oder der
Gegenwart waren. Aber diese Stimme - war sie auch nur eine Erinnerung?
Langsam, immer noch wie gelähmt, wandte
er sich um.
Keine Erinnerung.
Ein Mann auf einem schneeweißen Ross
war auf der Straße erschienen. Er brachte sein Pferd in einiger Entfernung
von Cycil zum Stehen und begegnete seinem Blick. Cycil bemerkte geistesabwesend,
dass er immer noch so gut aussah, wie das letzte mal als sie sich getroffen
hatten. Die gleichen hell-braunen, langen Haare, das gleiche wagemutige
Funkeln in den grünen Augen. Ob er inzwischen verheiratet war? Er
war gut gekleidet und die geschmackvoll ausgewählte, reiche Kleidung
stand ihm hervorragend. Andererseits fiel Cycil nichts ein, in dem er jemals
schlecht ausgesehen hatte. Manches ändert sich nie.
"Hallo, Peter", sagte Cycil tonlos. Peter
lächelte breit und seine weißen Zähne blitzten, als ob
er sich wirklich über diese Begegnung freuen würde. Wahrscheinlich
hätte jeder das gedacht, der ihn nicht kannte.
"Was für eine freudige Überraschung!",
rief er. "Ich habe nicht einmal daran gedacht, dass du diesen ganzen
Aufruhr verursacht haben könntest. Wenn ich das gewusst hätte,
hätte ich Milena mitgenommen. Sie wäre sicherlich genauso froh
dich wiederzusehen." Cycils Herz setzte einen Schlag lang aus, als er ihren
Namen hörte. Die Erinnerungen waren da, klopften beharrlich in seinem
Schädel, als ob sie ihn aufbrechen wollten. Mit letzter Kraft hielt
er sie zurück.
"Willst du mich aufhalten, Peter?", fragte
Cycil möglichst ruhig. Er würde nicht durchdrehen. Er würde
Peter nicht angreifen und ihm das Herz rausreißen. Er würde
ihn nicht in Asche verwandeln...
"Wie scharfsinnig von dir, mein lieber Freund!
Ich fürchte, das will ich tatsächlich. Weißt du, Frederique
ist ganz verrückt danach, diese Lichtzauberin in die Finger zu kriegen,
die ihn verraten hat. Und wenn ich ihm jetzt auch noch dich servieren kann,
wird es seine Laune bestimmt steigern."
"Soll er dir etwa noch einen Grafentitel
verleihen?"
"Aber nein, mein lieber Freund", erwiderte
Peter gut gelaunt. "Man kann nur einmal zum Grafen ernannt werden. Aber
man kann auch nur einmal die Prinzessin heiraten." Er lachte, während
Cycil die Zügel so fest umklammerte, dass sich seine Fingernägel
in seine Hände bohrten und Blut floss.
"Du willst... Davin heiraten?", fragte er
mit vor Hass heiserer Stimme.
"Aber auf jeden Fall! Was hast du denn gedacht,
dass ich mich mit einem lumpigen Grafentitel zufrieden gebe? Pah, von wegen.
Ich werde die süße, kleine Davin heiraten und somit der Erbe
von Cinhyal werden. Wäre das nicht wunderbar?"
"Dir ist doch klar, dass Davin gerade mal
acht Jahre alt ist." Peter zuckte mit den Schultern.
"Ich kann warten. Wenn wir erst mal verlobt
sind, ist mein Status gesichert und ich hab mein Ziel erreicht. Geht es
dir nicht gut, mein Freund? Du siehst so... blass aus."
Cycils Aura nahm einen grellen, fast weißen
Blauton an und die Luft war mit einmal so geladen, dass sich Peters sorgsam
frisierte Haare aufrichteten. "Du scheinst wütend zu sein", bemerkte
er mit der gleichen Lässigkeit, die er immer an den Tag legte. Aber
Cycil entging die leichte nervöse Anspannung in seinem Gesicht nicht.
"Ich werde dich töten", flüsterte
er und sein Blut rauschte laut in seinen Ohren.
"Das wollen wir erst mal sehen, mein werter
Freund." Jetzt stieg Peter seelenruhig ab. "Du musst wissen, Ira hat mich
in den letzten Monaten unterrichtet. Ich bin besser als du. Egal, ob mit
Magie oder mit einem Schwert, ich bin dir überlegen." Die wenigen
Wachleute, die sich bewegen konnten, nahmen schleunigst die Beine in die
Hände. Cycil nahm das nur am Rande zur Kenntnis.
"Das wollen wir mal sehen", knurrte er, sprang
ebenfalls vom Pferd und zog sein Schwert. Peter tat es ihm gleich und das
Licht brach sich auf seiner langen Klinge. Von Gefühlen getrieben,
die er sonst fest unter Verschluss hielt, griff Cycil an.
Peter wich mühelos seinem Hieb aus und
schlug seinerseits mit dem Schwert nach Cycils ungeschützter rechter
Seite. Er aber parierte schnell, wich zur Seite aus und stach nach Peters
Arm. Der Kampf verwandelte sich rasch in einen Tanz zweier Klingen, von
beiden Seiten mit äußerster Schnelligkeit, Präzision und
Härte geführt. Sie kannten beide die Technik des Gegenübers
in und auswendig, hatten sie doch jahrelang beim selben Meister Unterricht
gehabt. Aber Cycil war nun mal schwach von der extremen Benutzung seiner
Magie, außerdem war seine Wunde am Arm wieder aufgerissen und blutete
heftig. Peter begann an Boden zu gewinnen. Sein Lächeln war triumphierend.
Cycil sah keine andere Möglichkeit als
das Kampfgebiet zu verlagern.
Schnell wich er zurück, steckte das Schwert
in die Scheide zurück und rief wieder die Magie an. Peter, von sich
selbst überzeugt, tat es ihm gleich. Sie ließen einigen Abstand
zwischen sich, um sich gegenseitig Platz für die magischen Auras zu
lassen.
Cycil wusste, dass Peter die Magie des Dunkels
erlernt hatte und seinen Worte zufolge hatte er sie auch weitergebildet.
Ira war ein talentierter Zauberer und hatte ihm bestimmt viel beigebracht.
Aber Cycil vertraute auf das Gesetz der Magie: Starke Magie erzeugt nur
der, der starke Gefühle kennt.
Woher sollte Peter auf dem Gebiet der Gefühle
mehr nehmen als er?
Cycil attackierte seinen Widersacher als erster.
Ein blauer Blitz löste sich von seinen Händen und traf Peters
Schutzschild, der in einem dunklen Lila schimmerte. Die Zauber lösten
sich gegenseitig auf und ihre Funken stiegen nach oben auf, wo sie langsam
verblassten.
"Nicht schlecht, aber doch nicht gut genug
für mich", bemerkte Peter und Cycil war plötzlich umgeben von
dem Gegenstück des lilafarbenen Schilds, nur dass dieser sich um ihn
zusammenzog. Cycil fand das lächerlich. Eine kurze Anstrengung und
der Schild zersplitterte in tausend Stücke.
"Du weißt nicht, wozu ich fähig
bin", knurrte er und die Umgebung verschwamm. Es gab nur Peter und die
Erinnerung an viel Blut und Schreie.
"Was zum..." Es war kein Wasser, das Peter
ergriff, aber es sah wie welches aus. Doch riechen und schmecken tat es
wie Blut. Es stieg aus dem Boden auf und kletterte seine Beine hoch, immer
schneller werdend auf seinem Weg nach oben. Cycil sah, wie er verzweifelt
versuchte, den Zauber zu brechen, aber das Gesetz war gegen ihn. Er konnte
nichts gegen den Schmerz ausrichten, der in Cycil kreiste, und der die
Quelle für dessen Macht war. Eisige Wellen schlugen über ihn
zusammen und schnitten ihm den Atem ab.
"Na, Peter, wie geht’s dir jetzt?", fragte
Cycil und kam näher. "Fühlst du die Schmerzen? Ja, sie sind furchtbar.
Dank dir und den anderen muss ich mein restliches Leben damit verbringen!
Schönes Gefühl, nicht wahr? Soll ich dir die Toten auf den Hals
hetzen, Peter? Weißt du, das kann ich nämlich sehr gut, die
Toten herbeirufen. Sie verfolgen mich." Ein Lächeln verzerrte sein
blutverschmiertes Gesicht, als er Peters entsetztes Gesicht bemerkte. "Jetzt
verstehst du es, wie? Erinnerst du dich noch – die Wachen haben dir gesagt,
der Rächer der Toten habe sie angegriffen. Weißt du, wie sie
auf den Gedanken kamen? Nein? Ich zeig’s dir!" Die Magie war unerbittlich;
sie hüllte Peter in einen Kokon aus Schmerzen und unmenschlichen Schreien,
verzerrte Erinnerungsbilder. Er versuchte zu schreien, doch er konnte nicht.
Cycil spürte seine Angst, sein Entsetzen, seine Panik und seine Qualen
hautnah. Er atmete schwer. Ihm wurde schwindlig, der Blutverlust machte
sich bemerkbar. Aber er ließ Peter nicht los. Rache war bisher kein
Begriff gewesen, nach dem er sein gesamtes Leben ausgerichtet hatte, aber
dieses süße Gefühl war einfach unbeschreiblich. Wie eine
Droge.
Ein Pfeil bohrte sich in seine Schulter. Cycil
schrie auf und das Magiegespinst zerbrach. Der Rückstoß schleuderte
ihn zurück. Peter sank langsam zu Boden und röchelte. Dann kroch
er zur Seite und übergab sich. Schwärze ergriff Cycil und schickte
sich an, ihn in die Bewusstlosigkeit zu werfen. Aber die Magie war noch
da und hielt ihn aufrecht, auch wenn er wankte. Der Schleier vor seinen
Augen hob sich etwas und er sah die Reihe von Männern, die ihm gegenüber
standen, bewaffnet mit langen Speeren und Bögen, die sie alle auf
ihn richteten.
"Tötet... ihn...", keuchte Peter kaum
hörbar. Die Bögen wurden gespannt und die Pfeile abgefeuert.
Sie prallten an Cycils Schutzschild ab.
"Tötet ihn!", schrie Peter nun rau und
seine Beine knickten ein, als er versuchte aufzustehen. Cycil sah ihn mit
einem glühenden, hasserfüllten Blick an. Wie gerne hätte
er ihn jetzt getötet! Aber sein Verstand sagte ihm klar und deutlich:
entweder Peters Tod oder die Freiheit!
Cycil entschied sich für die Freiheit.
Eine letzte magische Salve sprengte das Tor.
Die Wachen wurden zurückgeschleudert und sahen gerade noch, wie Cycil
auf sein Pferd stieg und davon ritt. Mit Mühe hielt er sich oben und
lenkte den Hengst in die einzige Richtung, die ihm Schutz gewähren
konnte - in den Celine.
Das Pferd und sein Reiter verschwanden in
der Dunkelheit zwischen den Bäumen.
© Martha
Wilhelm
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