Der Weg einer Druidin von Martha Wilhelm
Kapitel 5: Blitze im Westen (2)

Ein Stein stieß leise klirrend gegen das kleine Fenster und prallte davon ab. Schlug auf der Erde auf. 
Sie warteten. Gaya sah sich um, ob jemand sie beobachtete, aber im Hinterhof war es ruhig; niemand war zu sehen. Was sie ein wenig erstaunte, wenn man bedachte, dass es heller Nachmittag war und das Haus von Kyie und Morgana eine ausgedehnte Rasenfläche hatte. Normalerweise war es hier voll von Kindern der verschiedensten Altersgruppen, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang herumlungerten und Spiele spielten. Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Kind - noch bevor sie gezeichnet wurde und der Göttin geweiht - beim Geschirrwaschen neidisch aus dem Fenster geguckt hatte. Sie lächelte.
"Warum lächelst du?", wollte Johannes wissen, der sie genau beobachtete, aus einem Grund, den sie nicht benennen konnte. Gaya zuckte mit den Schultern.
"Ich erinnere mich nur gerade daran, wie dumm ich als kleines Kind gewesen war."
"Inwiefern?"
"Na ja", sie sah zu Boden, auf das niedergetretene Gras, "ich habe immer die Jungs beneidet, die draußen spielen durften. Ich dagegen musste drinnen bleiben und Hausarbeiten erledigen. Ich empfand das als furchtbar ungerecht und verfluchte mein Schicksal als Mädchen geboren zu sein. Immer, wenn ich daran denke, danke ich der Göttin, dass sie mich aufgenommen hat. Was wäre sonst aus mir geworden..." Behutsam strichen ihre Finger über den kühlen Smaragd, Blutstein genannt, obwohl er so grün war wie das Gras. Johannes sah ihr zu und dachte über etwas nach. Seine Stirn furchte sich.
"Na ja, ich glaube nicht...", setzte er an, aber in dem Moment öffnete sich ruckartig das Fenster und er verstummte abrupt. Ein zehnjähriger Junge mit einem schwarzen Strubbelkopf und hellen, braunen Augen schaute hinaus. Gaya lächelte und winkte ihm zu.
"He, Tomas!"
"Gaya!", rief er überrascht und ein breites Lächeln teilte sein Gesicht. "Was machst du denn hier?" Sein Gesicht wurde ernst, so plötzlich, als ob jemand eine Kerze ausgeblasen hätte. "Ist dir klar, dass in der ganzen Stadt Wachen nach dir suchen?!"
"Ja, leider. Deshalb komme ich her, zu dir. Wir brauchen deine Hilfe, um aus der Stadt rauszukommen." Er verzog nachdenklich das Gesicht und musterte Johannes abschätzend.
"Eigentlich habe ich ja Hausarrest", erklärte der Junge und schniefte. "Nur weil ich unbedingt Alay Sorèndyo fragen wollte, ob sie mir was beibringt! Was ist so schlimm daran? Ha, und jetzt wird sie vom König gesucht, als Verräterin. Lustig, nich’?"
"Für uns wohl kaum", erwiderte Gaya.
"Ah ja, stimmt. Seid ihr jetzt auch Verräter an der Krone?"
"Nein!", antwortete sie ärgerlich. "Wir haben nichts getan außer uns in ihrem Haus aufzuhalten! Woher sollten wir wissen, dass das solche Schwierigkeiten mit sich bringt?"
"Das kenn ich", meinte er versonnen. "Einverstanden, ich helfe euch. Aber seid jetzt ganz leise, Mutter wird euch sonst hören – oder mich. Ich muss unbemerkt aus dem Haus schleichen. Wartet." Er verschwand und das Fenster wurde zugezogen.
"Ich sagte doch, auf ihn kann man sich verlassen", sagte Gaya stolz. "Er ist ein kluger Junge."
"Dein Bruder?", fragte Johannes.
"Nein, mein Cousin. Ich habe keine Geschwister - habe ich das nicht schon erzählt?"
"Kann sein." Er strich dem Pferd über die Flanke, das wieder schnaubte und unruhig auf der Stelle tänzelte.
"Gehen wir lieber ein wenig in Deckung, sonst sieht uns Morgana wirklich noch." Sie verließen den Rasen und blieben im Schatten eines Gebäudes stehen.
"Wird er lange brauchen?"
"Keine Ahnung. Ich hoffe nicht. Alay meinte, wir sollen uns beeilen." Gaya sah sich besorgt um.
"Alay meinte vieles", gab er zurück. "Dabei hat sie das Wichtigste nicht mal erwähnt." Sie sah ihn fragend an. "Warum sucht Frederique sie?", erklärte er.
"Weil sie angeblich einige Rebellen unterstützt hat?", schlug Gaya vor.
"Und warum? Hat sie es tatsächlich getan? Vielleicht will er etwas ganz anderes von ihr."
"Was denn?" Er zuckte mit den Schultern.
"Frag mich was leichteres." Sie lächelte schwach und beobachtete wieder das Haus.
"Warum kommst du eigentlich nicht mit seiner Mutter zurecht?", fragte Johannes dann. Gaya drehte sich nun völlig zu ihm rum und sah ihm ein wenig misstrauisch entgegen.
"Wieso interessiert dich das?", wollte sie wissen.
"Ich weiß nicht. Nur so. Wenn es so ein großes Geheimnis ist, brauchst du es mir ja nicht zu sagen."
"Nein, das ist es nicht... Aber es wundert mich, dass du dich so für meine Familie interessierst."
"Ich bin nur neugierig, das ist alles. Ist das ein Verbrechen in deinen Augen? - Du kannst mich auch fragen, was immer du willst."
"Gut!" Sie war sofort einverstanden. Sie hatte sich sowieso vorgenommen, mehr über ihre geheimnisliebenden Freunde herauszufinden. Warum nicht jetzt und hier anfangen? "Erzähl du mir etwas von deiner Familie!"
"Jetzt?", fragte er sie unsicher. "Wo wir doch große Chancen haben, diese Stadt nicht wieder zu verlassen? Denkst du nicht, dass das warten kann?" Gaya sah sich nach dem Haus um; Tomas war immer noch nicht zusehen – was machte der Junge da schon wieder?
"Tomas braucht anscheinend länger", sagte sie. "Wir haben also noch ein wenig Zeit. Ich bin auch neugierig." Er ist in Raven geboren worden. Wie mag es da sein?
Johannes hatte immer noch diesen zweifelnden Ausdruck in den Augen, aber nach einer weiteren Aufforderung ihrerseits zuckte er wieder mit den Schultern.
"Wenn du willst. Was willst du denn über meine Familie wissen?"
"Ich weiß nicht. Wie sind deine Eltern so? Hast du Geschwister? Versteht ihr euch?" Wie ist es in Raven aufzuwachsen? Aber diese Frage verkniff sie sich, weil sie sich noch gut daran erinnerte, dass es ihm nicht gefiel, von der Stadt zu sprechen.
"Meine Eltern, na ja. Meine Mutter habe ich nie gekannt, sie ist bei meiner Geburt gestorben. Ich habe eine Schwester, sie heißt Kathalina..." Bei ihrem Namen wurden seine Gesichtszüge weich. "Ich habe sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie sollte inzwischen ihr Kind bekommen haben - schade, dass ich nicht dabei war. Ihr Ehemann ist gestorben, deshalb haben wir zusammen gewohnt, in einem großen Haus am Rande der Stadt. Sie ist Näherin, eine sehr geschickte übrigens, und ziemlich beliebt. Aber es ist auch schwer sie nicht zu lieben."
"Hat sie auch magische Fähigkeiten?"
"Ja, aber keine der elementaren Kräfte. Nur eine der Abwandlungen der Luftmagie, die Fähigkeit Schutzschilde in der Luft zu errichten. Sie ist auch damit ganz zufrieden."
Gaya wusste davon, es gab nicht nur die Elementarmagien, Erde, Wasser, Feuer und Luft, und die Gottesmagien, Licht und Dunkel, sondern auch einzelne Fähigkeiten, kleine Teile dieser großen Magien. Sie waren öfter anzutreffen als die richtigen Magien, aber viel schwächer. Manche sagten, das wäre der Beweis dafür, dass die Magie auf Cinhyal ausstarb.
"Hast du irgendwelche Cousinen oder Cousins?", fragte sie weiter.
"Kann sein, aber dann nur aus der Familie von Leonard’o", antwortete er.
"Wer ist das?"
"Mein Vater", erwiderte er. Sie runzelte die Stirn.
"Ist das in Raven üblich, die Eltern bei den Vornamen anzusprechen?"
"Nein, eigentlich nicht. Aber Kathalina und ich hatten nie viel mit unserem Vater zu tun. Wir sind immer allein zurechtgekommen. Deshalb haben wir uns angewohnt... ihn beim Namen anzusprechen." 
"Wie kann das sein – ihr hattet nie mit eurem Vater zu tun? Hat er euch verlassen?"
"Nicht in dem Sinne. Er hat sich... von uns zurückgezogen - ja ich denke, das würde es treffen. Nach dem Tod unserer Mutter überließ er uns sich selbst und nach einer Weile lernten wir alleine zu leben. Kathalina hat den Haushalt erledigt, ich habe uns versorgt. Leonard’o arbeitete und wir konnten mit seinem Geld alles machen, was wir wollten, bis wir alt genug waren selbst zu arbeiten."
"Das ist doch furchtbar unmenschlich!", empörte sich Gaya. "Wie konnte er so kaltherzig sein?"
"So würde ich es nicht ausdrücken", widersprach Johannes. "Er hatte sehr an Angela - unserer Mutter - gehangen und nach ihrem Tod wurde ihm alles so ziemlich egal, nehme ich an. Er kümmerte sich darum, dass wir zu essen und ein Dach über dem Kopf hatten, und das reichte ihm. Uns auch. Wir lebten uns auseinander." Gaya war es schleierhaft, wie er so ruhig darüber sprechen konnte.
"Er hat euch im Stich gelassen, dafür gibt es keine Entschuldigung! Und überhaupt, in euch hatte er doch ein Stück seiner Frau wieder! Doch anstatt dieses Geschenk der Götter voller Freude und Dankbarkeit anzunehmen, verschmäht er es und raubt euch euren einzigen noch verbliebenen Elternteil! So etwas kann ich einfach nicht verstehen!"
"Gaya, warum regst du dich so sehr darüber auf? Es ist lange, lange her. Wenn es mir nichts ausmacht, warum sollte es das dir tun?"
"Ich... ich weiß nicht! Aber ich finde es einfach - furchtbar."
"Was denn?", fragte Tomas dazwischen, der unbemerkt hinter ihnen aufgetaucht war und sie jetzt neugierig ansah. Gaya wäre fast zusammengezuckt. Noch ein Beweis mehr, wie sehr ich meine Druidenausbildung vernachlässige. Sie war dazu konditioniert worden, nie jemanden an sich anschleichen zu lassen, die leisesten Geräusche zu erhorchen, den unsichtbarsten Schatten zu sehen... Und jetzt hatte sie sich so ablenken lassen, dass sogar ein Zehnjähriger ihr unbemerkt von hinten auflauern konnte!
Dagegen muss ich etwas unternehmen, sagte sie sich und warf Johannes einen erzürnten Blick zu, als ob er Schuld an ihrer Achtlosigkeit wäre. Sie benahm sich kindisch und wusste es. Aber sie kam einfach nicht damit zurecht. Kam nicht mit der Welt außerhalb ihrer Insel zurecht.
Das ist es, was Leaf meinte, als er von Isolationsfolgen sprach, begriff sie. Wenn man solange in einer isoliert gehaltenen Gemeinschaft gelebt hat, dass eine andere Umgebung fremd und schwierig erscheint. Dass man nicht mehr mit anderen Menschen leben kann. Sie sah Johannes erneut an, diesmal nachdenklich.
"Hallo? Ich bin noch da!", rief Tomas ungeduldig, dem es wie allen Kindern nicht gefiel, wenn er nicht im Mittelpunkt stand. Gaya konnte nur schwer den Blick abwenden und ihre Gedanken abschütteln, die sich damit beschäftigten, wie es kam, dass sie sich trotzdem so gut mit manchen Menschen verstand. Trotz all der Isolationsfolgen. Aber dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass Wachen in ganz Sunaj nach ihnen suchten, dass sie wenig Erfolgsaussichten hatten, aus der Stadt zu entkommen, und schaffte es schließlich, sich Tomas zuzuwenden. Selbsterkenntnis später.
"Gut, Tomas, dass du es geschafft hast, rauszukommen..." Sie unterbrach sich selbst. "Was hast du da dabei?" Sie spielte auf das umfangreiche Bündel an, das er in den Armen hielt.
"Oh, das." Er grinste, mit sich selbst zufrieden. "Ich habe mir schon überlegt, wie ich euch beide aus Sunaj schmuggeln kann."
"Ach, wirklich?" Gaya sah ihn misstrauisch an. Er mochte ja ihr Lieblingscousin sein, der einzige ihr ähnlich gesinnte Verwandte, aber er war trotz allem noch ein Kind. Was hatte er vor?
Langsam, um die Wirkung voll zu genießen, rollte Tomas sein Bündel aus. Drinnen befand sich eine kleine Tasche mit Schminkzeug, mehrere Tuben mit unbekanntem Inhalt, kleine Schmuckstücke und zwei feingesponnene, silberne Umhänge mit einem eingewobenen, blutroten Zeichen darauf.
"Bürger werden sie durchsuchen", sagte Tomas und seine Augen glänzten vor Freude und Erregung. "Priester des Kyazc-Ordens nicht."

Die Mauern hoben deutlich von den anderen Gebäuden in Sunaj ab, denn sie bestanden aus einfachem, grob behaunem Stein. Hoch waren sie, mit eisernen Spitzen oben drauf. Nur die vier Tore boten einen Ein- oder Ausgang, die aber mit Leichtigkeit verriegelt werden konnten.
Normalerweise wurden durch die Tore die Menschen ein- und rausgelassen, und die Wachen waren nur dazu da, um eventuelle Streitereien zu schlichten oder Hindernisse zu beseitigen, die das Tor blockierten. Aber an diesem Tag war den Bürgern außerhalb der Mauern verboten, die Stadt zu betreten. Mit Gewalt wurden sie draußen gehalten und die Wachen waren verfünffacht worden. 
Aber immer noch durften Bürger die Stadt verlassen.
Julian beobachtete das Ganze unzufrieden. Es war eine ganz offensichtliche Falle. Warum sonst sollte Frederique die Tore zum Verlassen weit offen halten?
"Dieser miese Schweinehund will uns hier abfangen", knurrte er. Dajana, die leicht schwankend auf ihrem Pferd saß, sah unsicher zu ihm runter.
"Was meinst du damit?"
"Verstehst du nicht? Er hat keine Lust, die ganze Stadt durchsuchen zu lassen. Das würde zu viel Zeit kosten und zu viel Aufwand. Deshalb lässt er die Stadt nach außen hin gesperrt, so dass keine weiteren Bürger die Suche erschweren können. Und gleichzeitig hindert er keinen daran, Sunaj zu verlassen, als ob er uns direkt zum Gehen auffordern wollte. Was denkst du, warum?"
"Weil er uns loswerden will?"
"Weil er uns an den Toren abzufangen hofft! Das würde ihm viel Zeit und Mühe ersparen. Er wusste, dass wir sofort versuchen würden, die Stadt zu verlassen, und ihm kam das ganz recht. So würden wir seinen Leuten direkt in die Arme laufen – sieh nur, wie viele es sind! Gegen so eine Überzahl könnten wir niemals siegen, auch wenn wir noch so viele Zauberer bei uns hätten. Bestimmt halten sie alle nach uns Ausschau. Und wer sonst außer uns würde die Stadt zu solch einem Zeitpunkt verlassen wollen?" Dajana zitterte vor Angst und Wut, hielt sich mit aller Kraft am Pferd fest, und betete zu allen Göttern, die sie kannte. Sie hatte keine Lust auf irgendwelche dämlichen Diskussionen oder langen Erklärungen und das gab sie ihm auch recht deutlich zu verstehen. Er lächelte nur und wies sie an, den Mantel zuzuziehen, damit man ihre schäbige Kleidung darunter nicht sah.
"Man wird mich nie im Leben für eine Adlige halten", fauchte sie. "Es ist ein bescheuerter und hirnrissiger Plan, der nur dir einfallen konnte!"
"Sieh es doch mal so: dieser Mantel ist sehr kostbar und garantiert trägt so etwas kein gewöhnlicher Bürger. Er verdeckt deine restliche Kleidung und lässt nur deine neuen Stiefel frei, die auch nicht sehr billig waren. Wer soll dich da nicht für eine Adlige halten?"
"Leute mit Verstand!", gab sie zurück. "Julian, ich sehe nicht wie eine Adlige aus!"
"Du siehst gut aus, wenn du die Haare so offen trägst", sagte er. "Schönheit beeindruckt alle Männer und bei denen da vorne wird deine das gleiche tun. Und sollten sie doch noch bemerken, dass du keine adligen Züge trägst, werde ich doch sagen, dass du aus Acippa bist - woher sollen sie schon wissen, wie adlige Frauen in Acippa aussehen? Sie werden uns vorbei lassen und alles wird in Ordnung sein." Er klang so überzeugt, dass Dajana selbst schon zu zweifeln begann, ob der Plan wirklich so dämlich war.
"Findest du mich wirklich so schön?", fragte sie ihn, bevor sie darüber nachdenken konnte.
"Natürlich", antwortete Julian. "Das wird dir jeder sagen." Dajana wusste das ebenso gut wie er, aber aus irgendeinem Grund fühlte es sich gut an, das noch mal aus seinem Mund zu hören. Vielleicht, weil sie sich gerade so erbärmlich vorkam und ihr Selbstwertgefühl dringend eine Aufpolierung brauchte. 
"Bist du wirklich entschlossen, das durchzuziehen?", fragte sie ihn schnell, um von ihrer Frage abzulenken. Irgendwie war es ihr ihm gegenüber peinlich.
Julian nickte. "Auf jeden Fall. Oder fällt dir was besseres ein?"
"Ich bin nicht gut im Schmieden von Plänen", gab sie zu.
"Na also. Los geht’s, oder?"
"Wenn du es sagst." Ihr Herz schlug höher als sie daran dachte, dass das Losgehen Bewegung vom Pferd erforderte. Solange es stillstand, konnte sie sich halbwegs daran gewöhnen. Aber Bewegung?...
Julian ließ ihr nicht lange Zeit zum Überlegen. Er ergriff die Zügel und ging los. Das Pferd trottete ihm hinterher.
Dajana wimmerte und ihre Hände verkrampften sich beim Festhalten des Sattels. 
Nie wieder steige ich auf ein Pferd... Nie wieder... Und unerwartet für sich selbst begann sie zu beten, das alte Kyazc-Gebet an die Allmächtigen Fünf.

Chelene, gütige Seele des Wassers,
Tochter, sei mir gnädig...
Gewähre meinem Körper Schutz,
biete meiner Seele Zuflucht...
Zoetan, Herr des Feuers,
Sohn, sei mir gnädig...
Hilf mir in meiner schweren Stunde,
gib mir Kraft und Stärke...
Anetor, tapferer Falke der Lüfte,
Vater, sei mir gnädig...
Lass mich den Tag überleben,
Lass mir meine Freiheit...
Ylandra, Jägerin der Erde,
Mutter, sei mir gnädig...
Stärke meine Seele,
Stärke meinen Körper...
Kêmes, Hüter des Sterns,
Band, sei mir gnädig...
Erhelle die Dunkelheit vor mir,
Dämme das Licht meiner Feinde...

Ein wenig überrascht von sich selbst und von der Tatsache, dass sie das alte Gebet noch kannte, obwohl man es ihr mit sechs Jahren beigebracht hatte, vergaß Dajana für eine Zeitlang, wo sie sich befand und was sie erwartete. Das Gebet gab ihr eine seltsame Art von Ruhe, so oft gehört, so oft verächtlich abgetan als nutzloses Geschwätz frommer Narren, und doch ein fester Bestandteil ihrer Welt.
Sogar Mutter hat es jeden Tag runtergeleiert, bevor sie auf die Straße ging um Geld zu verdienen, fiel ihr ein. Der plötzliche Gedanke an ihre Mutter Danaille, die sich nie so recht um ihr Kind gekümmert hatte, füllte sie einen Moment lang mit Bitterkeit und wehte die Ruhe hinfort. Bei wem mochte sie jetzt liegen? War sie vielleicht wieder schwanger? Und wenn schon. Es gibt so viele Stromsyards in Cinhyal und vor allem in N’hoa, dass einer mehr kaum auffallen würde...
Das Pferd stolperte und Dajana wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen. Instinktiv krallte sie sich am Sattel fest und verhinderte so knapp, dass sie hinunterflog. Ihr Atem beschleunigte sich, das Herz schlug sehr schnell. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie das Tor an, das mit einem Mal so nahe war. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, die Straße schon so lange entlang geritten zu sein.
Julian sah beunruhigt zu ihr auf. "Alles in Ordnung?", fragte er leise, damit die Wachen, die ihr Näherkommen aufmerksam beobachteten, nichts mitbekamen. Sie nickte leicht, kaum bemerkbar. Er richtete den Blick wieder nach vorne und Dajana begutachtete sein gerades Profil.
Er sieht wirklich aus wie ein Ritter. So ernst und irgendwie feierlich. Man wird ihm ohne Zweifel glauben, was er ist. Aber ich? Wer bin schon ich?
Ein Niemand. Eine arme Bürgerin, die Tochter einer Straßendirne. Wie sollte sie die Wachen täuschen, die an adlige Frauen gewohnt waren? Das konnte doch nie gut gehen, auch wenn man alles Glück dieser Welt auf seiner Seite hatte...
"Passt auf euch auf. Viel Glück", hatte Cycil gesagt und war dann stürmisch davon geritten. Dajana wusste nicht, warum sie ausgerechnet jetzt daran denken musste - oder vielleicht doch, denn sie hatte die ungute Ahnung, die sie befallen hatte, nicht vergessen. Sie hatte selten irgendwelche Ahnungen, und sie nutzten ihr auch niemals etwas, aber sie waren wie eine Warnung in letzter Sekunde. Zu spät zum Umkehren.
Ich muss das Beste daraus zu machen versuchen. Sie alle versuchen es, also warum nicht auch ich. Ich mag ja keine Adlige sein, aber ich bin schön – vor ihrem inneren Auge sah sie einige der Männer vorbeiziehen, die ihr diese Tatsache durch bewundernde Blicke und Komplimente bestätigt hatten. Auch Cycil - vor allem Cycil.
Ich bin kein Niemand, ich bin Dajana Stromsyard. Und es gibt Menschen, denen ich etwas bedeute.
Sie straffte sich, versteifte ihren Rücken und nahm eine gerade Haltung ein. Auf ihrem Gesicht blieb ein hochmütiger Ausdruck haften, bewegungslos und doch voller - anscheinend - unbewusster Arroganz. Die Hände lässig am Sattel verschränkt, den Blick der grünen Augen ruhig auf den Horizont gerichtet, saß sie auf dem Pferd, das Julian zum Nordtor führte.

In diesem Augenblick kam auch für Cycil, der nichts von einer unguten Vorahnung verspürte, weil er sich zu sehr in seine Erinnerungen hineingesteigert hatte, sein Ziel in Sicht. Das Westtor.
Alle Wachleute erwarteten ihn mit gezückten Schwertern und bildeten ein lebendes Hindernis vor dem ohnehin verriegelten Tor. Aber Cycil hatte es nicht anders erwartet. Es war ja nicht so, dass er versucht hatte, unauffällig zu sein, eher im Gegenteil.
Solange sie alle Leute zusammenzogen, um ihn festzuhalten, würden die anderen Tore wenig bemannt und unachtsam bleiben. Das war sein Plan - na ja, kein Plan in der Hinsicht, dass er eine Lösung für sein Problem beinhaltete. Die Lösung musste er selbst sein.
Cycil atmete tief durch und gab seinem Pferd die Sporen. Er hoffte nur, dass keiner der Zauberer auf ihn wartete, sonst würde es zu viel für ihn werden. Bilder von toten Menschen, bekleidet nur mit ihrer abblätternden Haut und ihrem Blut, tanzten vor seinem inneren Auge.
Nun, vielleicht hoffte er doch, dass einer von ihnen da war.

In der langen, versilberten, nach Kirschen duftenden Robe fühlte sich Gaya alles andere als wohl. Sie hatte vor den Priestern der Kyazc die größte Hochachtung - die Druiden und die Kyazc standen auf derselben Stufe der Verehrung der Allmächtigen Fünf, nur, dass sich die Druiden speziell auf Ylandra, die Mutter, konzentrierten, und die Kyazc auf die Fünfheit. Jetzt unter dem Deckmantel dieser ehrwürdigen Priester aus Sunaj zu flüchten, erschien Gaya verräterisch und schmutzig.
"Wahrheit ist eins der höchsten Güter der Menschen und die einzige Gabe, die die Götter wirklich zu schätzen wissen."
Und an diesem Tag verging sie sich strikt an diesem Leitsatz der Druiden. Gaya hatte Angst.
Johannes schien es nichts auszumachen, dass er in diesem Aufzug auch seinen Schirmherrn Zoetan beleidigte. Bin ich denn nur von Ungläubigen umgeben?, fragte sich Gaya verzweifelt. Andererseits schienen die Ungläubigen viel weniger Probleme im Leben zu haben als die Gläubigen, was vielleicht nicht ganz die göttliche Gerechtigkeit war, die Gaya gern gesehen hätte. Aber, wie sie es Julian heute Morgen bereits gesagt hatte: Keiner kennt die Pläne der Götter, es gibt kein Warum, das mich etwas angeht. Es ist einfach so und ich kann es nicht ändern.
Tomas führte die beiden direkt zum Südtor. Er hielt auch die Stute am Zügel, der weder das gefiel, noch das schwere Gewicht der Waffen, die an ihr festgeschnallt worden waren. Eingewickelt in einige Lumpen zwar, aber dadurch auch nicht leichter. Der Speer und der Stab waren zu groß, als dass man sie unter den Priestergewändern verstecken konnte, daher wollten sie sie für heiliges Holz ausgeben, das sie im Wald von Celine geschlagen hatten. Weil alle Cinhyali zutiefst religiös waren und die Kyazc achteten, würde es hoffentlich keiner der Wachen wagen ihre Ware zu überprüfen.
Hoffentlich.
Tomas sprang über eine breite Pfütze hinweg und das Pferd tat es ihm widerwillig nach. Seine aufschlagenden Hufe ließen Wasser hoch spritzen und die Tropfen benetzten die weißen Kyazc-Gewänder. Gaya seufzte. Na schön, dann waren sie jetzt dreckige Priester.
"Komm, Gaya." Johannes half ihr über die Wasserlache - die das Ausmaß eines mittleren Teichs hatte - und hielt sie fest, als sie wieder mal ausrutschte.
"Danke. Ich habe nie gemerkt, wie verdreckt Sunaj eigentlich ist", murmelte Gaya.
"Das bemerkt man erst, wenn man tief genug reingeht!", rief Tomas mit unverminderter Begeisterung, obwohl er gerade mit der Stute kämpfte, die sich für zu gut hielt, um über einen Hundehaufen zu steigen. Gaya dachte daran, dass - wenn sie hier raus kamen - dieses hochnäsige Tier die ganze Zeit über bei ihnen bleiben würde und fühlte, wie ihre Entschlossenheit in Niedergeschlagenheit überging. 
"Du hast mir immer noch nicht erzählt, warum du dich mit seiner Mutter nicht verstehst", sagte Johannes dicht neben ihr.
"Warum ist das so wichtig?", fragte sie und hob den Saum der Robe hoch, damit er wenigstens frei von Kot blieb.
"Weil es mich interessiert", erwiderte er.
"Ein anderes mal, Johannes."
"Warum?" Er ließ nicht locker. "Brauchst du etwa deine ganze Konzentration um die Straße entlang zu gehen und Pfützen auszuweichen?"
"Ja." Sie wollte nicht reden, warum begriff er das nicht?
"Ich werde dich nicht damit in Ruhe lassen." Keine Antwort. "Gaya, Schweigen lässt deine depressive Stimmung auch nicht verschwinden. Erzähl mir einfach etwas über dich und hör auf, düstere Gedanken über die Zukunft zu hegen."
"Die Zukunft wird düster."
"Nein, wird sie nicht", widersprach er freundlich. "Und jetzt hör auf, dich so niedergeschlagen zu fühlen. Sieh doch nur, was für ein schöner Himmel sich heute über uns erhebt!" Mehr um nicht widersprechen zu müssen, als aus eigenem Antrieb, hob sie ihren Blick und betrachtete das Objekt seiner Begeisterung.
"Das ist der Himmel, nichts weiter", sagte sie schließlich. "Und eine Sonne hängt daran." Er lachte leise.
"Da ist etwas wahres dran, Gaya. Aber du siehst nur das, was dich deine Depression sehen lassen will. Soll ich dir sagen, was ich da oben sehe? Ich sehe klare, blaue Schönheit, die sich meilenweit über unseren Köpfen erstreckt, über der ganzen Welt. Licht und Reinheit, Hoffnung. Denk daran, alle Menschen sehen den gleichen Himmel über sich, die gleiche Sonne, egal, wo sie sich gerade auf der Welt befinden. Mag sein, dass mancher Himmel verhangen und grau ist. Aber irgendwann reißen alle Wolken auf und zum Vorschein kommt diese strahlende Sonne, die uns alle mit ihren lebensspendenden Strahlen umarmt. Sie segnet uns, schenkt uns Leben. Hörst du es nicht, Gaya? Sie sagt dir ganz deutlich, eben in diesem Augenblick, dass du die Hoffnung nicht verlieren sollst. 
Irgendwann reißen alle Wolken auf und bringen Licht." Gaya sah ihn von der Seite her an: so voller Leben und Hoffnung, erfüllt von einem Licht, das nur schlichter, reiner Optimismus hervorbrachte. 
Zuversicht. Lebensmut. Vertrauen in die Zukunft.
Was für Lügen.
Sie lächelte.
"Wie recht du hast." Für einen kurzen Augenblick lehnte sie sich an ihn und legte den Kopf auf seine Schulter.
Zusammen sahen sie zum Himmel auf.

Der Wachmann versperrte ihnen den Weg und Julian hielt an. Dajana saß ruhig auf ihrem Pferd, völlig regungslos und scheinbar nachdenklich. Er war beeindruckt, wie gut sie ihre Rolle spielte.
"Halt! Wer seid ihr und warum verlasst ihr die Stadt?", fragte der uniformierte Mann. Julian sah hinter ihm weitere Männer, die bereit standen, das Tor sofort zu schließen. Julian überlegte, ob er lächeln sollte und entschied sich dagegen. Schließlich war er ein Ritter.
"Das hier ist die hochwohlgeborene Lady Glenda Jaonell-O’bara-Harenn di Trice", antwortete er und der Name ging ihm glatt über die Lippen. "Gräfin von Pyess, von der Dracheninsel Acippa, möge sie für immer gesegnet sein. Sie ist unterwegs zum Hafen, wo ihr Schiff auf sie wartet." Die Wache maß Dajana mit einem prüfenden Blick und dann Julian selbst. Dieser erwiderte den Blick ohne das Gesicht zu verziehen und beließ die Hand dabei am Schwertknauf. Julian wusste, dass man ihm sein adliges Blut im Gesicht ansah, und hoffte, dass er immer noch wie ein königlicher Ritter aussah. Hoffte, dass das genügte.
"Was hat die Hochwohlgeborene in Sunaj getan?", erkundigte sich der Posten und die Gräfin ließ sich dazu herab ihn mit einem überheblichen Blick zu streifen, der mehr als ihre Haltung ausdrückte, wie sehr sie es hasste, in die Nähe eines solchen jämmerlichen Geschöpfs wie eines Wachpostens zu kommen. Der Mann war jedoch gut ausgebildet und reagierte nicht darauf.
"Selbstverständlich verweilte sie beim König in der Burg und besprach mit ihm wichtige Staatsangelegenheiten", antwortete Julian.
"Warum verlässt sie heute die Stadt?"
"Vermutlich, weil die Staatsangelegenheiten erledigt sind", erwiderte Julian betont, so, dass es sich anhörte wie: Was geht dich denn das an?
Der Wachtposten ließ sich aber auch davon nicht sonderlich beeindrucken, er nahm seine Aufgabe sehr ernst. "Es tut mir leid, aber ich habe den Befehl, alles genauestens zu überprüfen. Also dürfte ich bitte eure Stammpapiere ersehen?" Stammpapiere? Julian starrte den Mann bestürzt an.
"Seit wann muss man an den Toren von Sunaj die Stammpapiere vorzeigen?", wollte er wissen, äußerlich barsch, im Innern fast gelähmt vor plötzlicher Panik.
"Seine Majestät, König Frederique, lässt Verbrecher in der Stadt suchen und es ist wahrscheinlich, dass sie zu entkommen versuchen. Daher muss ich euch darum bitten, mir die Papiere zu zeigen." Er sah Julian erwartungsvoll an. Dieser wusste nicht weiter. Er hätte dem Mann seine eigenen Stammpapiere zeigen können, was allerdings nichts genützt hätte, da hier Dajana die Adlige war und er nur ein unbedeutender Ritter.
Aber was sollte er jetzt tun? Dajana, die wahrscheinlich nicht einmal wusste, was Stammpapiere überhaupt waren, wurde ein wenig unruhig und sah ihn an. Was ist los?, fragten ihre Augen.
Wir stecken in Schwierigkeiten, dachte Julian niedergeschlagen.
Er zog an seinem Schwert und machte sich zum Kampf bereit. Wenn möglich, würde er sich einen Weg zum Tor frei kämpfen. Dajana musste nur ihr Pferd anspornen und würde dann nicht einzuholen sein. Aber wenn sie das Tor...
Der Wachposten schaute nicht mehr in seine Richtung, sondern hatte sich in eine andere gewandt. Jetzt hörte auch Julian das Geräusch von näherkommenden Reitern. Zwei oder vielleicht drei, dachte er und fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
Die Reiter kamen in Sicht, ihre Pferde gnadenlos antreibend, hastig atmend mit roten Gesichtern von dem schnellen Ritt. Hart brachten sie ihre Reittiere zum Stehen und fielen mehr aus den Sätteln, als dass sie abstiegen.
"Entschuldigt, Lady, ich muss kurz fort", sagte der Wachtposten schnell und ging zu den eben Angekommenen. Julian sah ihm stirnrunzelnd nach. Was war denn los? Ein kalter Schauder durchlief ihn plötzlich - war jemand von ihnen gefangen genommen worden?
"Julian", hörte er Dajana flüstern und schaute auf. Sie hatte ihre arrogante Haltung aufgegeben und beugte sich zu ihm runter. Der Umhang klaffte auf und zeigte ihr beigefarbenes Hemd und ein Teil ihrer verschmutzten Hose. Er sah sich schnell um und schirmte sie dann ab, damit keiner der Wachleute zufällig etwas bemerkte, was er nicht bemerken sollte.
"Was ist hier los?", fragte sie leise. "Schwierigkeiten?"
"Keine Ahnung", gab er zurück. "Irgendetwas muss passiert sein, etwas wichtiges. Vielleicht..." Er wagte es nicht auszusprechen, aber Dajana verstand ihn auch so, denn ihre grünen Augen weiteten sich erschrocken.
"Nein, das kann nicht sein!", wisperte sie schnell. "Die anderen sind alle sehr vorsichtig, man wird sie nicht erwischen..."
"Aber es gibt da noch dieses Problem mit den Stammpapieren... Keiner von ihnen hat sie - und wir übrigens auch nicht. Na ja, du jedenfalls nicht." Er überlegte. "Wir sollten jetzt verschwinden, solange sie noch abgelenkt sind."
"Nein! Wir müssen erfahren, was mit den anderen ist!"
"Dajana, wenn sie sich wieder uns zuwenden, sind wir verloren. Ohne Stammpapiere werden sie uns verhaften und das war’s dann!", widersprach er heftig.
"Wie sollen wir es denn jetzt machen?", fragte sie ebenso heftig. "Guck dir das doch mal an, sie stehen schon auf halben Fuße das Tor zuzuziehen! Denkst du, wir sind schnell genug um..."
"Du bestimmt."
"Julian! Ich kann dieses Höllentier nicht reiten, ich würde nur runterfallen!", protestierte sie.
"Du musst dich nur festhalten..."
"Verzeiht die Störung", sagte da der Wachmann hinter ihnen. Dajana richtete sich sofort wieder im Sattel auf und Julian drehte sich kampfbereit um.
"Meine Lady fragt sich, was los ist", sagte Julian möglichst ruhig und deutete auf eine Gruppe der Wachleute, die Pferde bestieg und davon ritt, in die Richtung, aus der die anderen Reiter gekommen waren. Es war ungefähr die Hälfte, was Julian mit ein wenig Hoffnung erfüllte. Vielleicht hatten sie im Kampf doch noch eine Chance.
"Wir wurden um Verstärkung gebeten", erklärte der Wachmann. "Anscheinend ist einer der Verbrecher auf dem Weg zum Westtor. Aber er wird nicht weit kommen", sagte er mit einem zufriedenen Lächeln. Westtor, dachte Julian, dorthin war Cycil unterwegs. Ich wusste, dass er Schwierigkeiten machen würde!
Dajana sah ihn erschrocken an - sie dachte genau das gleiche wie er.

Cycil erreichte die vorderste Front der Wachleute und wandte scharf sein Pferd, so dass es nicht auf die Schwerter der Männer aufgespießt wurde. Es stieg auf die Hinterbeine, empört von der groben Behandlung, und trat erschrocken nach den Wachen, die seine Zügel zu ergreifen versuchten. Cycil ließ dem Hengst alle Freiheit und konzentrierte sich nur darauf, im Sattel zu bleiben.
Das Klirren der aufeinanderprallenden Schwerter erfüllte die Luft, ein wohlbekannter Klang, der ihm einen Schauder über den Rücken schickte. Seine Klinge verwandelte sich in eine sirrende Sichel, die blitzschnell niedersauste und ohne Mühe oder Vorbehalte tötete. Cycil war sehr gewandt im Schwertkampf, aber er wandte sein Können selten an, weil er den Tod nicht liebte. Doch an diesem Tag, in diesem Moment, war ihm das völlig egal. Er schlug um sich und überlegte nicht. Sein Blut kochte.
Jeder von ihnen kann dabei gewesen sein. Ein entlegener Winkel seines Verstandes weigerte sich zu verstummen und gab nicht unter dem Fluss der Erinnerungen und dem Blutrausch nach. Stattdessen betrachtete er das Geschehen wie ein distanzierter Beobachteter und versuchte Gründe dafür zu finden, warum er das tat, was er tat.
Ist das simple Rache? Nein, sonst wäre alles viel einfacher, es muss mehr dahinter stecken. Rache erfordert Schmerzen, keinen einfachen Tod, und außerdem ist sie impulsiv. Ich wurde dazu erzogen, niemals impulsiv zu handeln, immer zu überlegen, immer einen kühlen Verstand zu bewahren. Was ist es dann?
Beschützerinstinkt?
Der Hengst wurde eingekreist und Cycil reckten sich zwei Dutzend scharfer Spitzen entgegen.
"Ergebt euch und euch wird nichts passieren!", rief einer der Wachmänner. Von wegen, dachte Cycil und ließ seine Klinge wild im Kreis umherwirbeln, als Warnung für die Männer, nicht näher zu kommen. Das Tor war auch weiterhin verschlossen, aber er sah es nicht als Problem. Er befürchtete bloß, zu langsam zu sein. Vielleicht waren die anderen schon festgenommen worden? Er biss die Zähne zusammen. Ich kann nur hoffen, dass es nicht so ist, und weiterhin so viel Krach machen, dass sie Wachen von den anderen Toren abziehen müssen...
Cycil rief die Magie. In einem weißen Aufwallen kam sie hoch, sprühend und geladen, völlig außer Kontrolle. Derart angewendet, von der Kraft solcher Gefühle wie Hass, Wut und Schmerz gespeist, war sie am gefährlichsten und tödlich. Vielleicht auch für ihn selbst.
Er ließ sich von diesem Gedanken nicht abhalten und brachte das nervöse Pferd zum Stehen. Es tänzelte zwar noch ein wenig auf der Stelle und warf den Kopf zurück, aber es schlug nicht mehr mit den Hufen aus. Die Wachleute dachten, er wäre bereit sich zu ergeben.
"Lasst das Schwert fallen und steigt langsam...", fing der eine an und brach dann abrupt ab, als er die knisternde, blaue Aura um Cycil bemerkte. Mit einem Schrei, der vielleicht gar nicht von seinen Lippen kam, ließ er die Macht frei.
Eine gewaltige Explosion.

Alle rissen die Köpfe hoch, als sie den lauten Knall hörten. Im Westen der Stadt stieg ein blauer Blitz zum Himmel auf, gefolgt von weiteren, funkensprühenden Wellen. Vögel wurden aufgeschreckt und flogen kreischend hoch. Die Nachwirkungen der Explosion erreichten sie einige Augenblicke später. Dajanas Haar flatterte in der starken Windbrise, das Pferd wieherte geängstigt und in der Luft verbreitete sich ein metallischer Geruch, ozongeladen wie nach einem Gewitter.
Atemlose Stille legte sich über den Wachtrupp, Julian und Dajana. Gespannt verfolgten sie weitere, kleinere Ausbrüche, die einen bläulichen Schein über der Stadt verhängten. Dann setzten die ersten Schreie an.
"Los, nichts wie hin!", befahl ein Wachmann, der sich von der Starre gelöst hatte, und ein Großteil der übriggebliebenen Wachmannschaft setzte sich in Bewegung. Weitere Reiter verließen das Tor und ließen vielleicht mal fünf Leute zurück. Julian wechselte einen langen Blick mit Dajana. Es war offensichtlich, dass Cycil in großen Schwierigkeiten steckte und dass wahrscheinlich drei Viertel der gesamten Wachleute in Sunaj zum Westtor unterwegs waren.
"Wie können wir ihm helfen?", fragte Dajana flüsternd.
"Gar nicht", erwiderte Julian mit schwerem Herzen und umklammerte den Schwertgriff so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. "Ich habe geahnt, dass er so etwas versuchen könnte und hab ihm den weitesten Weg zugeordnet. Er hat es doch tatsächlich geschafft, so schnell anzukommen!" Er schüttelte den Kopf und verfluchte Cycil innerlich.
"Aber... irgendwie müssen wir doch...", stammelte Dajana und wandte den Blick nicht vom knisternden Himmelteil ab, der irgendwo links von ihnen lag. Die Blitze nicht mehr zu sehen, stattdessen war da ein blauer, fast weißer Schein, der an Intensität zunahm.
"Nein", schnitt er ihr das Wort ab. "Er tut es, um von uns abzulenken, damit an unseren Toren weniger Wachen stehen. Das einzige, was wir tun können, ist diese Möglichkeit zu nutzen und das Beste daraus zu machen." Mit zusammengebissenen Zähnen schnappte er sich die Pferdezügel und ging zum weit offenen Tor.
Zwei Männer versuchten ihn aufzuhalten und baten um die Papiere, aber Julian wies sie barsch zurück.
"Seht ihr es denn nicht, ihr Schwachköpfe?", fuhr er sie an. "Da habt ihr doch eure Verbrecher! Meine Lady ist hier in Gefahr, diese Magie wird uns noch alle umbringen! Wie wollt ihr das Frederique erklären?" Er zog das Schwert aus der Scheide. "Wenn nötig, bringe ich sie mit Gewalt in Sicherheit!" Immer noch erschüttert wagten sie es nicht, sich ihm in den Weg zu stellen und gaben das Tor frei. Julian schnaubte und beschleunigte seine Schritte. Dajana protestierte nicht, sie schien es nicht einmal zu bemerken.
Selbst als sie die Mauern hinter sich ließen, starrte sie noch zurück zur Stadt, zum magisch geladenen Himmel. Das Blau war auf einmal durchsetzt mit einem dunklen Lila.

"Das ist Cycil. Ohne jeglichen Zweifel", sagte Johannes.
"Denkst du, sie haben ihn geschnappt?", fragte Gaya, die neben ihm stand und ebenfalls hoch starrte. 
"Noch wehrt er sich. Aber wie lange? Diese Magie sieht jeder in der Stadt. Sie werden alle Wachen dorthin schicken und wie kann er sich gegen sie alle verteidigen?"
"Wieso macht er das nur? Das wird ihn umbringen!", rief Gaya verzweifelt.
"Und wenn nicht das, dann dieser Andere", bemerkte Johannes.
"Was für ein Anderer?", fragte Gaya beunruhigt.
"Siehst du diese lila Funken? Das ist nicht die Elementarmacht des Wassers. Das ist die Magie des Dunkels." Gaya schaute genauer hin und sah sie tatsächlich. Lila Blitze, die sich mit den blauen vermischten und ein schönes Muster vor dem Hintergrund des klaren Himmels bildeten. Obwohl sie weit weg davon waren, spürte sie einen Hauch der gewaltigen Kräfte, die dort vorherrschten.
"Es ist tatsächlich die Magie des Dunkels", sagte sie bekümmert. "Er kann nicht dagegen ankämpfen."
"Anscheinend doch." Johannes zog die Augenbrauen zusammen und beobachtete eine weitere Welle von lilafarbener Energie gen Himmel steigen. "Vielleicht schafft er es."
"Ach bitte! So optimistisch kannst nicht einmal du sein!"
"Ich weiß nur..."
"Hey, ihr beiden!" Tomas sah verärgert zurück. "Was steht ihr so rum? Wenn dieser Freund von euch so ein Theater veranstalten möchte, ist es seine Sache und es ist zu spät, um ihn zu retten. Aber wir können das ausnutzen, die Wachen werden jetzt wohl kaum so wachsam sein! Also los!" Gaya wusste, dass er recht hatte, sie wusste es genau. Aber sie konnten Cycil nicht in Stich lassen!
"Wenn wir schnell sind, können wir vielleicht...", fing sie an, aber Johannes unterbrach sie.
"Jetzt bist du zu optimistisch. Bis wir da sind, ist er längst tot. Du weißt doch, Magie tötet schnell. Und Schwerter ebenso. Wenn er uns dadurch eine Chance verschaffen wollte, sollten wir sie nutzen."
"Ich weiß. Aber es ist so eine Dummheit!" Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden auf, drehte sich um und ging mit schnellen, festen Schritten Tomas nach, der mit dem Pferd nicht auf sie wartete. Johannes zögerte trotz seiner eigener Worte. Er war es nicht gewohnt zu fliehen.
Aber was sollen wir sonst tun? Das ist die Chance, auf die wir gewartet haben. Cycil... nun, vielleicht wird er es trotzdem schaffen. Irgendwie.
Er beeilte sich Gaya nachzukommen.
Vielleicht zehn Minuten später erreichten sie schließlich das Südtor, das fast verlassen vor ihnen lag. Gaya hatte zwar erwartet, wenige Menschen vorzufinden, aber es überraschte sie doch noch, wie wenige es waren. Auf den ersten Blick handelte es sich um zwei Wachtposten und drei Bürger außerhalb des Tores, die mit ihnen stritten.
"...euch nicht reinlassen, das haben wir doch schon gesagt!", sagte einer der Wachen geduldig.
"Aber ihr seht doch, was los ist!", der Sprecher gestikulierte in Richtung des Westtores. "Da ist ein Zauberkampf! Dort sind eure Verbrecher, nicht hier! Was wird es dem König schaden, wenn ihr uns drei reinlasst?!"
"Es ist ein strikter Befehl..."
"Zur Hölle damit!", unterbrach ihn scharf ein anderer Mann. "Ich hab meine Frau seit vier Tagen nicht mehr gesehen, bestimmt hat sie schon vergessen, wie ich aussehe! Ihr seid doch auch Menschen oder? Warum könnt..."
"Wenn das da hinten tatsächlich die gesuchten Verräter sind, wird man sie bald gefasst haben und dann die Sperren aufheben. Dann werde ich euch reinlassen, keinen Augenblick früher! Und jetzt verzieht euch, ihr Schweinebande, wir haben noch eine Aufgabe zu erledigen!" Der zweite Wachmann sprach wesentlich härter als der erste und zückte warnend sein Schwert. Die drei Bürger - Hafenarbeiter, der Kleidung nach - verfluchten ihn und einer spuckte sogar auf seine Schuhe, doch schließlich zogen sie sich zurück.
"Solche Ratten sollte man ausräuchern, bevor sie sich in der Stadt festsetzen und ihre Löcher..." Plötzlich bemerkte der Mann die nahenden "Priester" und verstummte abrupt. Gaya konnte sein mentales "Ups" fast schon hören. Die Kyazc waren sehr streng und hatten ein hohes Ansehen. Schon möglich, dass die echten Priester den Mann aufgeknüpft hätten. Weil ihm anscheinend der gleiche Gedanke kam, wurde der Wachtposten blass und wich ein wenig zurück. Johannes maß ihn mit einem unheilverkündenden Blick.
"Eines Tages wirst auch du den Allmächtigen Göttern der Fünfheit entgegen treten und dich für deine Sünden rechtfertigen müssen", sagte er leise. "Und dann wirst du schon noch herausfinden, wer hier eine Ratte ist und wer nicht." Der Wachtposten hörte ihn und malte schnell das Zeichen der Fünf in die Luft, die grobe Form des Zeichens, das Gaya und Johannes auf ihren Umhängen trugen: ein X mit einem waagerechten Strich in der Mitte. Gaya fühlte wieder einen Stich ihres Gewissens. 
"Ihr wollt die Stadt verlassen, Ehrwürdige des Ordens?", fragte der erste Wachmann überaus höflich. Gaya und Johannes nickten bloß. Tomas übernahm die Rolle des Vermittlers.
"Die Ehrwürdigen Priester des Ordens hatten Angelegenheiten in Sunaj zu erledigen, die uns gewöhnliche Bürger nichts angehen", sagte er in respektvollem Ton. "Doch um rechtzeitig in ihrem Tempel anzukommen, müssen sie heute die Stadt verlassen und sich auf den Weg machen. Deshalb würde ich euch höflich darum bitten uns durchzulassen." Der Wache maß Tomas mit einem prüfenden Blick.
"Wer bist du eigentlich, Junge? Wie ein Priester siehst du nicht aus." Tomas lachte sein unschuldigstes Kinderlachen.
"Natürlich bin ich kein Priester. Aber diese beiden kennen sich in Sunaj nicht aus und haben mich sozusagen als... Reiseführer engagiert, damit sie schneller vorankommen. Ich bringe sie nur zu ihrem Schiff."
"Du wohnst hier also?"
"Ja, ganz in der Nähe", antwortete Tomas lässig. Gaya bewunderte seine Ruhe. "Ich verdiene mir auf diese Art Zusatzgeld, um meine Schwestern und mich durchzubringen." Gaya merkte, wie der Posten sich alle Angaben und Tomas Aussehen ganz genau einprägte, um sie später weiter geben zu können, falls irgendwelche Probleme auftauchten. Zum Glück hatte ihr Cousin auch daran gedacht und sein Aussehen mit der Schminktasche seiner Mutter dementsprechend verändert. Durch die Schatten, veränderte Gesichtszüge und viel Schmutz hätte Gaya ihn nie im Leben erkannt. Sie konnten die Stadt noch so sehr nach diesem Jungen durchsuchen, sie würden ihn nie finden.
"Wie ist dein Name, Junge?"
"Albert. Albert Na’hem", antwortete Tomas ohne zu zögern. Wo hat er nur seine Intelligenz her? Ganz sicher nicht von seinem Vater. Also von Morganas Seite... na ja, gerissen ist sie wahrscheinlich wirklich...
"Gut, Albert, ihr könnt durch. Aber seid vorsichtig wegen der Menschenmenge am Hafen. Sie sind ziemlich aufgebracht", riet ihm die Wache. Tomas nickte und bedankte sich. Ohne besondere Hast begaben sich die Drei zum Ausgang, während Gaya am liebsten zurückgelaufen wäre. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie hatte das Gefühl, dass die Magieblitze verstummt waren. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Der zweite Wachtposten näherte sich Johannes und fragte ihn etwas so leise, dass Gaya es nicht mitbekam. Der Feuerzauberer erwiderte etwas kurzes und dann waren sie endgültig draußen. Gaya atmete auf. In Sicherheit, wenigstens vorübergehend.
"Was hat er dich gefragt?", wollte sie von Johannes wissen, als sie einigen Abstand zwischen sich und dem Tor gebracht hatten.
"Er hat mich gefragt, ob er noch auf Absolution hoffen könnte."
"Was hast du geantwortet?"
"Dass in solchen Zeiten schon der Tod eine Absolution bedeutet."

Viele der Männer waren verletzt. Cycil sah überall Blut, regungslose Leiber und abgetrennte Körperteile. Er selbst atmete schwer, teils vor Erschöpfung, denn solche magischen Ausladungen kosteten immer viel Energie, teils auch von der Wucht der Erinnerungen, die in seinem Kopf dröhnten. Es kam ihm alles so furchtbar bekannt vor. Soviel Blut, soviel Schmerz. Die Magie wütete in ihm und schuf eine helle Aura um seinen Körper, die alle davon abhielt ihm näher zu kommen.
Nur noch wenige kampffähige Männer waren übrig, aber er hörte schon die Rufe der anderen, die auf dem Weg zu ihm waren. Sehr viele. Seine Gedanken flogen.
Noch so eine Explosion? Nein, die könnte ich nicht kontrollieren, schon die erste war furchtbar. Ich muss das Tor aufsprengen, bevor die anderen ankommen, sonst kann ich mich gleich geschlagen geben. Ich sitze hier in der Falle, umzingelt, sie werden über mich herfallen und ich werde nicht lange standhalten... Das Tor ist die einzige Chance...
Er wendete den Hengst, der inzwischen ebenso von Blut bedeckt war wie er selbst, zum Tor und bündelte seine Macht. In diesem Moment rief eine Stimme seinen Namen. Cycil hatte das Gefühl zu Eis zu erstarren. Die Todesschreie kreischten in seinen Ohren und er konnte nicht unterscheiden, ob sie Klänge der Vergangenheit oder der Gegenwart waren. Aber diese Stimme - war sie auch nur eine Erinnerung?
Langsam, immer noch wie gelähmt, wandte er sich um.
Keine Erinnerung.
Ein Mann auf einem schneeweißen Ross war auf der Straße erschienen. Er brachte sein Pferd in einiger Entfernung von Cycil zum Stehen und begegnete seinem Blick. Cycil bemerkte geistesabwesend, dass er immer noch so gut aussah, wie das letzte mal als sie sich getroffen hatten. Die gleichen hell-braunen, langen Haare, das gleiche wagemutige Funkeln in den grünen Augen. Ob er inzwischen verheiratet war? Er war gut gekleidet und die geschmackvoll ausgewählte, reiche Kleidung stand ihm hervorragend. Andererseits fiel Cycil nichts ein, in dem er jemals schlecht ausgesehen hatte. Manches ändert sich nie.
"Hallo, Peter", sagte Cycil tonlos. Peter lächelte breit und seine weißen Zähne blitzten, als ob er sich wirklich über diese Begegnung freuen würde. Wahrscheinlich hätte jeder das gedacht, der ihn nicht kannte.
"Was für eine freudige Überraschung!", rief er. "Ich habe nicht einmal daran gedacht, dass du diesen ganzen Aufruhr verursacht haben könntest. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Milena mitgenommen. Sie wäre sicherlich genauso froh dich wiederzusehen." Cycils Herz setzte einen Schlag lang aus, als er ihren Namen hörte. Die Erinnerungen waren da, klopften beharrlich in seinem Schädel, als ob sie ihn aufbrechen wollten. Mit letzter Kraft hielt er sie zurück.
"Willst du mich aufhalten, Peter?", fragte Cycil möglichst ruhig. Er würde nicht durchdrehen. Er würde Peter nicht angreifen und ihm das Herz rausreißen. Er würde ihn nicht in Asche verwandeln...
"Wie scharfsinnig von dir, mein lieber Freund! Ich fürchte, das will ich tatsächlich. Weißt du, Frederique ist ganz verrückt danach, diese Lichtzauberin in die Finger zu kriegen, die ihn verraten hat. Und wenn ich ihm jetzt auch noch dich servieren kann, wird es seine Laune bestimmt steigern." 
"Soll er dir etwa noch einen Grafentitel verleihen?"
"Aber nein, mein lieber Freund", erwiderte Peter gut gelaunt. "Man kann nur einmal zum Grafen ernannt werden. Aber man kann auch nur einmal die Prinzessin heiraten." Er lachte, während Cycil die Zügel so fest umklammerte, dass sich seine Fingernägel in seine Hände bohrten und Blut floss.
"Du willst... Davin heiraten?", fragte er mit vor Hass heiserer Stimme.
"Aber auf jeden Fall! Was hast du denn gedacht, dass ich mich mit einem lumpigen Grafentitel zufrieden gebe? Pah, von wegen. Ich werde die süße, kleine Davin heiraten und somit der Erbe von Cinhyal werden. Wäre das nicht wunderbar?"
"Dir ist doch klar, dass Davin gerade mal acht Jahre alt ist." Peter zuckte mit den Schultern.
"Ich kann warten. Wenn wir erst mal verlobt sind, ist mein Status gesichert und ich hab mein Ziel erreicht. Geht es dir nicht gut, mein Freund? Du siehst so... blass aus."
Cycils Aura nahm einen grellen, fast weißen Blauton an und die Luft war mit einmal so geladen, dass sich Peters sorgsam frisierte Haare aufrichteten. "Du scheinst wütend zu sein", bemerkte er mit der gleichen Lässigkeit, die er immer an den Tag legte. Aber Cycil entging die leichte nervöse Anspannung in seinem Gesicht nicht.
"Ich werde dich töten", flüsterte er und sein Blut rauschte laut in seinen Ohren.
"Das wollen wir erst mal sehen, mein werter Freund." Jetzt stieg Peter seelenruhig ab. "Du musst wissen, Ira hat mich in den letzten Monaten unterrichtet. Ich bin besser als du. Egal, ob mit Magie oder mit einem Schwert, ich bin dir überlegen." Die wenigen Wachleute, die sich bewegen konnten, nahmen schleunigst die Beine in die Hände. Cycil nahm das nur am Rande zur Kenntnis.
"Das wollen wir mal sehen", knurrte er, sprang ebenfalls vom Pferd und zog sein Schwert. Peter tat es ihm gleich und das Licht brach sich auf seiner langen Klinge. Von Gefühlen getrieben, die er sonst fest unter Verschluss hielt, griff Cycil an.
Peter wich mühelos seinem Hieb aus und schlug seinerseits mit dem Schwert nach Cycils ungeschützter rechter Seite. Er aber parierte schnell, wich zur Seite aus und stach nach Peters Arm. Der Kampf verwandelte sich rasch in einen Tanz zweier Klingen, von beiden Seiten mit äußerster Schnelligkeit, Präzision und Härte geführt. Sie kannten beide die Technik des Gegenübers in und auswendig, hatten sie doch jahrelang beim selben Meister Unterricht gehabt. Aber Cycil war nun mal schwach von der extremen Benutzung seiner Magie, außerdem war seine Wunde am Arm wieder aufgerissen und blutete heftig. Peter begann an Boden zu gewinnen. Sein Lächeln war triumphierend.
Cycil sah keine andere Möglichkeit als das Kampfgebiet zu verlagern.
Schnell wich er zurück, steckte das Schwert in die Scheide zurück und rief wieder die Magie an. Peter, von sich selbst überzeugt, tat es ihm gleich. Sie ließen einigen Abstand zwischen sich, um sich gegenseitig Platz für die magischen Auras zu lassen.
Cycil wusste, dass Peter die Magie des Dunkels erlernt hatte und seinen Worte zufolge hatte er sie auch weitergebildet. Ira war ein talentierter Zauberer und hatte ihm bestimmt viel beigebracht. Aber Cycil vertraute auf das Gesetz der Magie: Starke Magie erzeugt nur der, der starke Gefühle kennt.
Woher sollte Peter auf dem Gebiet der Gefühle mehr nehmen als er?
Cycil attackierte seinen Widersacher als erster. Ein blauer Blitz löste sich von seinen Händen und traf Peters Schutzschild, der in einem dunklen Lila schimmerte. Die Zauber lösten sich gegenseitig auf und ihre Funken stiegen nach oben auf, wo sie langsam verblassten.
"Nicht schlecht, aber doch nicht gut genug für mich", bemerkte Peter und Cycil war plötzlich umgeben von dem Gegenstück des lilafarbenen Schilds, nur dass dieser sich um ihn zusammenzog. Cycil fand das lächerlich. Eine kurze Anstrengung und der Schild zersplitterte in tausend Stücke.
"Du weißt nicht, wozu ich fähig bin", knurrte er und die Umgebung verschwamm. Es gab nur Peter und die Erinnerung an viel Blut und Schreie.
"Was zum..." Es war kein Wasser, das Peter ergriff, aber es sah wie welches aus. Doch riechen und schmecken tat es wie Blut. Es stieg aus dem Boden auf und kletterte seine Beine hoch, immer schneller werdend auf seinem Weg nach oben. Cycil sah, wie er verzweifelt versuchte, den Zauber zu brechen, aber das Gesetz war gegen ihn. Er konnte nichts gegen den Schmerz ausrichten, der in Cycil kreiste, und der die Quelle für dessen Macht war. Eisige Wellen schlugen über ihn zusammen und schnitten ihm den Atem ab.
"Na, Peter, wie geht’s dir jetzt?", fragte Cycil und kam näher. "Fühlst du die Schmerzen? Ja, sie sind furchtbar. Dank dir und den anderen muss ich mein restliches Leben damit verbringen! Schönes Gefühl, nicht wahr? Soll ich dir die Toten auf den Hals hetzen, Peter? Weißt du, das kann ich nämlich sehr gut, die Toten herbeirufen. Sie verfolgen mich." Ein Lächeln verzerrte sein blutverschmiertes Gesicht, als er Peters entsetztes Gesicht bemerkte. "Jetzt verstehst du es, wie? Erinnerst du dich noch – die Wachen haben dir gesagt, der Rächer der Toten habe sie angegriffen. Weißt du, wie sie auf den Gedanken kamen? Nein? Ich zeig’s dir!" Die Magie war unerbittlich; sie hüllte Peter in einen Kokon aus Schmerzen und unmenschlichen Schreien, verzerrte Erinnerungsbilder. Er versuchte zu schreien, doch er konnte nicht. Cycil spürte seine Angst, sein Entsetzen, seine Panik und seine Qualen hautnah. Er atmete schwer. Ihm wurde schwindlig, der Blutverlust machte sich bemerkbar. Aber er ließ Peter nicht los. Rache war bisher kein Begriff gewesen, nach dem er sein gesamtes Leben ausgerichtet hatte, aber dieses süße Gefühl war einfach unbeschreiblich. Wie eine Droge.
Ein Pfeil bohrte sich in seine Schulter. Cycil schrie auf und das Magiegespinst zerbrach. Der Rückstoß schleuderte ihn zurück. Peter sank langsam zu Boden und röchelte. Dann kroch er zur Seite und übergab sich. Schwärze ergriff Cycil und schickte sich an, ihn in die Bewusstlosigkeit zu werfen. Aber die Magie war noch da und hielt ihn aufrecht, auch wenn er wankte. Der Schleier vor seinen Augen hob sich etwas und er sah die Reihe von Männern, die ihm gegenüber standen, bewaffnet mit langen Speeren und Bögen, die sie alle auf ihn richteten.
"Tötet... ihn...", keuchte Peter kaum hörbar. Die Bögen wurden gespannt und die Pfeile abgefeuert.
Sie prallten an Cycils Schutzschild ab.
"Tötet ihn!", schrie Peter nun rau und seine Beine knickten ein, als er versuchte aufzustehen. Cycil sah ihn mit einem glühenden, hasserfüllten Blick an. Wie gerne hätte er ihn jetzt getötet! Aber sein Verstand sagte ihm klar und deutlich: entweder Peters Tod oder die Freiheit!
Cycil entschied sich für die Freiheit.
Eine letzte magische Salve sprengte das Tor. Die Wachen wurden zurückgeschleudert und sahen gerade noch, wie Cycil auf sein Pferd stieg und davon ritt. Mit Mühe hielt er sich oben und lenkte den Hengst in die einzige Richtung, die ihm Schutz gewähren konnte - in den Celine.
Das Pferd und sein Reiter verschwanden in der Dunkelheit zwischen den Bäumen.
 

© Martha Wilhelm
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Und schon geht's weiter zum 6. Kapitel :-)

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