Nepumuk und Argon von Birgit Sommerkamp
Endlich ein Erbe?

Hoch in den Bergen, dort wo sie am unzugänglichsten sind, nicht weit von den ewigen, blauschimmernden Gletschern entfernt, lebte vor langer, sehr langer Zeit ein besonders mächtiges und stolzes Drachenvolk. Ihr Anführer war Dragon, ein ausgesprochen starker und weiser Drache, der von Allen wegen seiner Gerechtigkeit und Weisheit geachtet und verehrt wurde. Das Einzige, was ihm und seiner Gemahlin Faflar noch fehlte, war ein Erbe. Dragon befand sich zwar erst im besten Drachenalter, aber die Erziehung eines Jungdrachen, noch dazu des zukünftigen Anführers, würde eine geraume Zeit in Anspruch nehmen.

Eines Tages hatte sich Dragon an seinen Lieblingsplatz zurückgezogen, um nachzudenken. Er lag auf einem Plateau, nicht weit von dem weitverzweigten Höhlensystem, das sein Volk bewohnte, entfernt, und betrachtete versonnen das Spiel der Wolken, die immer neue Schattenreflexe auf den im Sonnenlicht glitzernden Eisflächen der riesigen Gletscher hervorriefen. Er genoss die warmen Sonnenstrahlen auf seiner mit rotgoldenen Schuppen bedeckten Haut. Verträumt ließ er ab und zu kleine Rauchringe aus seinen Nüstern aufsteigen und schaute ihnen nach, wie sie langsam aufstiegen und dann durch eine frische Brise zerfasert wurden. Doch seine Ruhe wurde unvermittelt gestört. Ein halbwüchsiger Drache tauchte in der schmalen, von spitzen Felsnadeln gesäumten Passage auf, die den oberen Höhleneingang mit dem Plateau verband. Er verbeugte sich tief vor seinem Herrn und begann vor lauter Nervosität zu stottern: "Ooooh gggggroßer Ddddddragon, ddddddddeine Gggggemahlin schickt mich zu dddddddir." Erstaunt hob Dragon seinen mächtigen Kopf. Welchen Grund mochte Faflar haben, ihm einen Boten zu schicken. Warum kam sie nicht selbst? Als der Bote merkte, dass Dragon ihm nicht den Kopf abriss, wurde er ruhiger. "Sie bittet dich, zu ihr zu kommen, leider sei sie unabkömmlich." Dragon runzelte seine mächtige Stirn. "Sie hat dir etwas von größter Wichtigkeit mitzuteilen." Fügte der Bote hastig hinzu. Wie elektrisiert sprang Dragon auf. Sollte etwa.....? Vor lauter Aufregung stieß er fast den jungen Boten vom Plateau. Dieser konnte sich gerade noch rechtzeitig mit einem kühnen Sprung nach links in Sicherheit bringen, bevor Dragons langer, mit einer pfeilartigen Hornspitze versehener Schwanz ihn traf. Sofort machte er sich auf den Weg zu Faflars Höhle.

Diese lag, wie auch seine eigene, im oberen Bereich des Höhlenlabyrinths. Die Wände ihrer Höhle waren mit blauen und grünen Kristallen bedeckt, die im schwachen Tageslicht, das durch einen schmalen Spalt in der Höhlendecke fiel, matt zu glühen schienen. Direkt neben ihrem Lager aus Bergkristallen war ein weiteres, viel kleineres Lager aus dem gleichen Material errichtet worden, das sehr viel Ähnlichkeit mit einem Nest hatte.

Faflar beugte sich gerade über dieses Lager, als Dragon in die Höhle stürmte. "Wo ist es?", keuchte er. "Ist alles in Ordnung mit dir und ihm?" Vor lauter Aufregung stoben kleine Flammen aus seinen Nüstern.

Faflar drehte sich zu Dragon um. "So beruhige dich doch erst einmal. Natürlich ist alles mit mir in Ordnung, was sollte denn nicht stimmen?" fragte sie unschuldig lächelnd. Dragon hörte nur mit halbem Ohr zu. Ohne zu antworten versuchte er, an Faflar vorbei, einen Blick auf das kleine Lager zu werfen, aber Faflar hatte sich so geschickt davor gestellt, dass es ihm nicht gelang.

Endlich hatte Faflar Erbarmen mit ihm und trat zur Seite. Dort lag es, seine Zukunft, seine Hoffnung. Dragon war vor Freude komplett aus dem Häuschen und begann sofort Zukunftspläne zu schmieden. Lächelnd erklärte ihm Faflar, dass er doch erst in fünf Jahren Vater würde und er sich ruhig Zeit lassen könnte. Es verging kein Tag, an dem er nicht mindestens zweimal das rotgolden schillernde Ei begutachtete, die Temperatur maß, es sorgfältig polierte und die glatte Oberfläche auf winzige Beschädigungen absuchte, die für die Entwicklung seines Kindes eine Bedrohung darstellen könnten. So vergingen die Jahre. Das Ei hatte inzwischen seine Farbe gewechselt, es schillerte nun in allen Farben des Regenbogens und wenn man ganz nah heranging, so konnte man in seinem Inneren einen Schemen erkennen, der sich bewegte. Jetzt kam Dragon sogar noch öfter, um nach seinem, daran gab es für ihn keinen Zweifel mehr, Sohn und Erben zu sehen. Sorgfältig hielt er nach noch so geringen Anzeichen Ausschau, die darauf hinwiesen, dass sich Dragon Junior anschickte, seine schützende Hülle zu verlassen. Endlich, Dragon hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, war es soweit. Der Tag des großen Schlüpfens war gekommen. Drachenherolde hatten alle einflussreichen Drachen zusammengerufen, damit sie bei diesem Ereignis, der Geburt des neuen Drachens und späteren Anführers, zugegen sein konnten.

Den Mittelpunkt von Dragons Reich bildete eine riesige Kristallgrotte, die als Versammlungsraum diente, da sie dem gesamten Drachenvolk Platz bot. Hier sollte Dragons Sohn zur Welt kommen. Der Boden der großen Versammlungshöhle war mit goldglänzendem Sand bestreut worden, so dass die allen Drachen heiligen, alten Runen des großen Schlüpfens, die in den Boden eingeritzt waren, sichtbar wurden. Die roten Kristallwände waren besonders blank poliert worden und die bläulich schimmernden Kristallzapfen, die von der kuppelartigen Höhlendecke herunterhingen, verbreiteten ein angenehmes Licht. In der Mitte der großen Versammlungshöhle thronte das Ei in einem funkelnden Nest. Tagelang hatten die halbwüchsigen Drachen dafür besonders schöne Kristalle sammeln und aufschichten müssen.

Aber zunächst tat sich gar nichts. Dragon Junior hatte es anscheinend überhaupt nicht eilig, seine schützende Hülle zu verlassen. Da, plötzlich ging ein Raunen durch die versammelte Drachenschar. Hatte sich das Ei nicht gerade bewegt? Da, schon wieder wackelte es ein wenig. Dragon beugte sich tiefer über das Ei. Ein feiner, kaum sichtbarer Riss hatte sich gebildet. Dann kam ein weiterer dazu und noch einer. Jetzt zitterte das Ei, es neigte sich zur Seite, kippte um und rollte aus dem Nest. Quer durch die Höhle kullerte es, ab und zu hüpfte es auf und ab und endlich stieß es gegen die Höhlenmauer und zerbrach. Sofort war Dragon zur Stelle. Zwischen den Schalen lag... ja was lag dort eigentlich? Dieses kleine Wesen hatte kaum Ähnlichkeit mit einem stolzen Drachen. Auf dem birnenförmigen Körper saß ein viel zu großer Kopf mit spitzer Schnauze, einem Krokodilkopf nicht unähnlich. Die Gliedmaßen bestanden aus vier kurzen Stummelfüßen und der Schwanz war gedreht wie ein Korkenzieher. Auf dem Rücken waren zwei kleine Höcker zu erkennen. Sollten das etwa die Flügel sein? Das Schlimmste aber war die Farbe des kleinen Kerls. ER WAR ROSA!!! Das sollte sein Sohn sein? Er, der mächtige Dragon, sollte diesen Winzling zu seinem Nachfolger machen? Dragon wollte sich gerade enttäuscht umdrehen, aber genau in diesem Moment fing es im Bäuchlein des Jungdrachen an zu kollern und zu blubbern. Wie der erste Schrei eines neugeborenen Babys ist auch der erste Feuerstoß eines Drachen etwas ungemein Wichtiges. Gebannt hielten alle Anwesenden die Luft an; in der mittlerweile eingetretenen Stille klangen die blubbernden Geräusche besonders laut. Der kleine Drache öffnete schließlich seine Schnauze, alles beugte sich erwartungsvoll nach vorn. Den Geräuschen nach zu urteilen, musste der Kleine eine recht ansehnliche Flamme spucken. Doch was dann geschah, war - darüber waren sich alle Anwesenden einig -, absolut die Höhe. Ein lautes Rülpsen war zu hören und ein dünnes Rauchwölkchen stieg kräuselnd aus den Nüstern empor, sonst nichts, nicht einmal das kleinste Flämmchen war zu sehen. Das war das absolut Letzte. Kleine Drachen wachsen und auch die Farbe kann sich durchaus ändern, aber ein Drache ohne Feuer. Nein, was zuviel ist, ist zuviel. Die geladenen Gäste verließen enttäuscht die Höhle. Wie konnte es Dragon wagen, sie für das Schlüpfen einer solchen Missgeburt herbei zu holen. Dragon zog sich in seine eigene Schwefelhöhle zurück, er wollte allein sein. Nur Faflar, die Mutter des Winzlings blieb zurück. Seufzend blickte sie auf ihren Sohn. Es war weiß Gott kein Staat mit ihm zu machen, aber er war doch ihr Kind. Sie hatte sein Ei all die letzten Jahre gehegt und gepflegt und nur weil er im Augenblick nicht den Erwartungen der Anderen entsprach sollte er weniger liebevoll aufwachsen? Sie hoffte, dass Dragon sich doch noch seines Sohnes annehmen würde. Dann verließ auch sie mit ihrem Kind die große Versammlungshöhle.
 

.
Und gleich weiter zum 2. Kapitel...: Das Namensfest

.