Fluchend stolperte die junge Frau über
den herausstehenden Stein. Böse Schimpfwörter murmelnd blieb
sie stehen, strich sich die schweißnassen Haare aus der Stirn und
sah sich um.
Vor ihr öffnete sich die Landschaft wie
aus einem Schauerroman von Bram Stoker. Es war ihr erster Ausflug nach
Rumänien gewesen und so wie sich die Dinge entwickelten sicher auch
der Letzte für sie.
Dass sie der Kutscher der alten, verfallenen
Droschke einfach vor die Tür gesetzt hatte, konnte sie noch immer
nicht begreifen. Wie hätte sie aber auch ahnen sollen, dass die Bürger
von Transsilvanien es ihr übel nehmen würden, wenn sie ihre Gruselgeschichten
als lächerlich abtun würde. Und so hatte der zahnlose Alte einfach
gemeint, sie solle es den Hauptcharakteren ihrer "Märchen" einfach
selber klarmachen und sie mitten im Nichts hinaus geworfen.
Wütend raffte die Frau ihre Röcke
und stapfte weiter, durch den dunklen, grünen Wald. Wenn sie nicht
so zornig gewesen wäre, hätte sie in hysterisches Gelächter
ausbrechen können. Immerhin lebte der Rest der Welt im 21. Jahrhundert,
auch wenn die Menschen hier sich mit aller Macht dagegen zu wehren versuchten.
Die grauen, scharfkantigen Steine stachen durch ihre dünnen Schuhe
und ihr Kleid
blieb immer wieder an kratzigen Dornenranken hängen. Ein kalter Wind
zerrte an ihrer einfachen Frisur und löste die blonden Strähnen,
die ihr wie Schlangen um den Schädel schlugen. In der Ferne sah sie
schroffe Berge unter dichtem Nebel verschwinden und ein bedrohlicher Donner
grollte am Himmel zwischen den schwarzen Wolken.
Müde gönnte sich das Mädchen
eine kurze Rast. Auf einem Fels sitzend, die Schuhe ausgezogen, massierte
sie geistesabwesend die schmerzenden Füße.
Der zerklüftete Weg zog sich immer steiler
den Berggipfel hinauf, Gott allein wusste wie weit die nächste Siedlung
entfernt war. Und wenn sich die Frau auch nicht vor Werwölfen, Vampiren
und Geistern fürchtete, so waren Banditen und Halsabschneider doch
eine sehr realistische Bedrohung. Bei dem Gedanken, was sie einer hilflosen
Frau antun könnten, lief es ihr kalt den Rücken hinab.
Jäh schreckte die Dame auf und schaute
sich leicht panisch um. Der dicke, wabernde Nebel hatte sie beinahe ganz
eingehüllt. Besser machte sie sich gleich auf den Weg, wenn sie die
Straße nicht aus den Augen verlieren wollte.
Geschwind schlüpfte die junge Frau in
ihre Schuhe, verdrängte Schmerz und Gebrechen,
sprang auf und lief los, während Nebelschleier nach ihren wunden Füßen
griffen.
Nach einer Weile hatte sie die weiße
Front ganz eingeschlossen. Das Mädchen sah nicht einmal mehr die Hand
vor Augen, geschweige denn einen Weg. Beinahe blind tappte sie umher, bis
sich ihre Finger um rostiges Eisen legten. Eine leichte Brise schaffte
für kurze Zeit bessere Sichtverhältnisse und die Frau erkannte
ein großes, schmiedeeisernes Tor, das von der Hauptstraße abzweigte.
Erleichterung durchflutete sie wie eine Welle.
Wenn hier Menschen wohnten, wäre sie gerettet. Gleich darauf gestand
sie sich ein, wie töricht sie war.
Dunkler Efeu rankte sich die schwarzen Spitzen
entlang, einer der Torflügel lag verbogen, aus den Angeln gehoben
an der bröckelnden Mauer.
Verzweiflung drohte die Frau zu überrollen
und mit flehenden Augen starrte sie den überwucherten Trampelpfad
entlang, der vor ihr in einiger Entfernung im Dunst verschwand. Hier wohnten
schon lange keine Menschen mehr.
Ein lautes Krächzen ließ die Dame
entsetzt aufspringen. Ängstlich sah sie sich um und sah doch nichts
als weißen Dampf. Zitternd presste sie sich an das Gitter. Es musste
Einbildung gewesen sein, ihre überreizten Nerven spielten ihr einen
Streich. Endlich beruhigte sich ihr Herzschlag ein wenig.
Beim zweiten Krächzen war alles wieder
hinüber. Erschrocken sah sie empor und erblickte den Übeltäter.
Ein riesiger, schwarzer Rabe hockte auf dem
kaputten Torflügel und starrte sie aus dunklen Knopfaugen wachsam
an.
"Du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt",
entrüstete sich das Mädchen und funkelte den Vogel böse
an. Dieser riss seinen Schnabel auf und ließ abermals einen durchdringenden
Schrei hören.
Den aber ignorierte die junge Frau bereits,
denn sie sah ein schwaches Licht aufleuchten, jenseits des Tores. Mit neu
keimender Hoffnung rannte sie los, vorbei an dem aufflatternden Unglücksvogel,
vorbei an dem zerbrochenen Tor, vorbei an der altersschwachen Mauer und
verkümmerten Bäumen.
Plötzlich tauchte eine gigantische Burgruine
vor der Frau auf und sie blieb schlitternd und keuchend stehen. Eine frische
Windböe zerriss den Nebel und das alte Anwesen breitete sich in seiner
ganzen Schönheit vor ihren erschrockenen Augen aus. Der helle Vollmond
kletterte gerade über die Gipfel der Karpaten und tauchte die Szene
in sein weiches Licht. Plötzlich waren da Schatten, wo vorher keine
gewesen waren, und Licht, wo vorher nur Zwielicht geherrscht hatte. Viele
der spitze Türme waren zerbrochen, eingestürzt und klaffende
Löcher zeugten von dem rauen Land. Ein düsterer Gang führte
hinein, die Holztore waren längst verrottet. Glasscherben am Boden
glitzerten wie Eiskristalle.
Ein Flammenschein tanzte durch die Nacht im
Inneren des Hauses und die junge Frau fühlte sich wie magisch angezogen
davon. Ein Rabe flog flatternd über ihren Kopf hinweg.
In der alten Burg herrschte klamme Kälte,
Stille und eine Atmosphäre, die von tiefer Trauer und langer Einsamkeit
erzählte. Bewegt schlich die Frau durch die Gänge, dem Licht
der Kerze nach, über zerbrochenes Glas schreitend, das leise knirschte.
An den Wänden standen schwere, morsche Truhen und Stühle.
Als sich der Gang in einer langen Kurve neigte,
hörte sie Geräusche und sah den sanften Schein jetzt ganz nah.
Vorsichtig spähte sie um die Ecke und
hielt erschrocken die Luft an. Ein steinerner Gang, ohne Fenster, ganz
von Kerzen in Wandhalterungen erhellt. Eine graue Bank entsprang dem Fels,
doch die Gestalt hockte nicht auf ihr.
Der Mann saß im Schneidersitz auf dem
kalten Boden, den Kopf gesenkt, das lange schwarze Haar über die linke
Schulter gestrichen. Das Rüschenhemd und die dunkle Lederhose schienen
wie aus einem anderen Jahrhundert. Über die bleiche Haut seiner Wangen
liefen rote Spuren, in Händen hielt er eine schäbige, verblichen
aussehende, venezianische Maske. Auf seiner rechten Schulter saß
ein Tier.
Die Frau sog scharf die Luft ein. Es war der
vorlaute Rabe.
Ihr unbedachtes Gebaren hatte die Aufmerksamkeit
des Mannes erregt und nun starrten sie zwei strahlend blaue Augen an. Im
Gegensatz zu dem makellosen Gesicht, wirkte dieser Blick unendlich alt
und unheimlich.
Reflexartig wandte sich das Mädchen um
und rannte ein Stück des Weges zurück. Ängstlich sah sie
sich um und ihr Blick fiel auf eine der alten Truhen. Es konnte wohl nicht
schaden vorbereitet zu sein, nur für alle Fälle... beruhigte
sie sich. Sie ging zur Truhe und entnahm ihr
einen Dolch.
Als sie leise Schritte vernahm, wandte sie
sich um und ergriff panisch die Flucht, die Waffe fest umklammernd. Ihr
schwerer Atem hallte von den hohen Wänden wider. Einen Blick zurückwerfend,
bemerkte sie die gebrochene Steinplatte vor ihr zu spät.
Die junge Frau schlug der Länge nach
auf den harten Boden auf, der Dolch schlitterte davon.
Mühsam rappelte sich das Mädchen
auf und lauschte
angestrengt, doch kein Ton zeugte von Leben in diesem kalten Gemäuer.
Sicherheitshalber öffnete sie die nächste Tür, die vom Gang
abzweigte, schlich hinein und ließ sie einen Spalt breit offen, an
dem sie horchen konnte.
Zischend entflammte sich der sanfte Schein
der Kerze, die auf dem Tisch stand, und enthüllte Farben. Gebannt
vergaß die Frau wo sie sich befand und trat näher heran an das
wunderschöne Panorama. Die Wände des Raumes waren mit liebevoll
gezeichneten Gemälden geschmückt. Sie waren todsicher
ein Vermögen wert.
Die Farben waren verblichen und bröckelten
bereits von dem feuchten Untergrund, doch vor langer Zeit musste dieser
Raum ein Juwel der Kunst gewesen sein.
An der gegenüberliegenden Wand hing ein
einziges, großes Bild im Schatten. Neugierig nahm sich das Mädchen
die Kerze und ging näher heran. Das Gemälde zeigte eine wunderschöne,
fremde Frau, die dem Maler ihr bezauberndstes Lächeln schenkte. Sie
hatte eine vage Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das nun ihr Abbild
bewunderte.
Die anderen Bilder schienen eine Geschichte
zu erzählen. Das Mädchen erblickte rauschende Bälle, auf
denen die Frauen venezianische Masken trugen.
Auf einem anderen Kunstwerk hatte der Maler
dieses Anwesen festgehalten. Zwei junge Männer mit schwarzem Haar
standen würdevoll vor dem riesigen Haus. Die junge Frau sah genauer
hin. Der ältere von ihnen war ohne Zweifel der Fremde mit dem Raben.
Ein Geräusch an der Tür ließ
das Mädchen herumschnellen, doch sie konnte niemanden erkennen.
Mit einem leisen Zischen erlosch die Kerze
und die junge Frau verließ fluchtartig, aber unbehelligt das Haus.
Als die letzten Sterne verblassten, stand
eine dunkle Gestalt stumm auf einem der verfallenen Balkone des Anwesens.
Die nachtschwarzen Haare flatterten im Wind. Ein bittersüßes
Lächeln umspielte die spitzen Zähne. In Händen hielt der
Schlossherr die alte Maske kraftlos, flüsterte leise in den Wind:
"Bring sie meiner unsterblichen Liebe, Bruder... Für die Ewigkeit."
Im Sturzflug mit einem lauten Krächzen
packte der Rabe die Maske mit seinen scharfen Krallen und flog mit ihr
davon, hinein in den Sonnenaufgang.
Der Fremde ließ kraftlos die Hände
sinken, weinte ihr blutige Tränen nach und erwartete, nach so langer
Zeit in dieser Welt, die Sonne.
Unten auf dem Weg floh das Mädchen keuchend
durch das zerbrochene Tor, während weißer Nebel das Gemäuer
in der Ferne verschwinden ließ.
Stolpernd fiel die junge Frau auf die Straße
und blieb schnaufend liegen. Das Klappern von Rädern auf Stein weckte
sie schließlich aus ihrer Erstarrung.
Eine Droschke hielt vor ihr und der alte Kutscher
beugte sich zahnlos grinsend herunter.
"Brauchen Sie ne Mitfahrgelegenheit, Miss?"
Die Dame nickte nur erleichtert. Während
sie geschwind die morsche Tür aufriss und einstieg, lachte der Kutscher
in sich hinein.
"Wohl ne schlimme Nacht gehabt, was? Tja,
wie ein altes Volkssprichwort schon sagt: In Rumänien messen die Uhren
nicht die Zeit, sie messen die Ewigkeit..."
Kichernd knallte der Alte mit den Zügeln
und fuhr an. In der Kutsche ließ sich die junge Frau erschöpft
in die Kissen fallen. Sie war zu erschöpft um sich über den Fahrer
zu ärgern. Was hatte er gesagt?
In Rumänien messen die Uhren nicht die Zeit, sie messen die Ewigkeit...
Müde blickte sie zur Seite. Eine venezianische
Maske lag neben ihr auf dem Sitz.
© Déces
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