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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern
zur besten Projekt-Story 2005 im Drachental gewählt!


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Kleine Vorbemerkung:
Die Abschnitte sind zwar - anders als nach den Projekt-Regeln gewünscht - nicht ungefähr gleich lang,
da aber beide Autorinnen trotzdem insgesamt etwa gleich viel geschrieben haben, soll das hier kein Problem sein.
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Die Kraft der Blauen Flamme von Sorcha und Tabita

"Guten Abend, Norgar Sulogel, was suchst du?"
Der alte Mann in seinem langen blau-grauen Gewand sah sich kurz um.
"Oh, hallo Dargon."
Dargon ließ sich auf dem Felsvorsprung nieder und reckte seinen langen Hals durch den Wasserfall. Aah, welch erfrischende Dusche an diesem heißen Tag. Selbst jetzt in den späten Abendstunden war es noch viel zu warm um auch nur freiwillig einen Flügelschlag zu tun. Direkt über Dargon saß auf einem kleinen Felsvorsprung Norgars Krähe Assorab und krächzte empört. Dargon musste lächeln.
"Entschuldige, Assorab, wie konnte ich dich nur vergessen."
Assorab flog herunter und setzte sich auf Dargons Kopf, wo sie leidenschaftlich anfing zwischen den Schuppen nach Insekten und ähnlichem Getier zu suchen, das sich zwischen den riesigen Schuppen festgesetzt hatte. Zufrieden seufzend legte der Drache seinen Kopf auf den Boden.
"Danke, kleiner Freund." Dann beobachtete er weiterhin das hektische Treiben von Norgar, der schon wieder völlig vergessen zu haben schien, welch hohen Besuch er hatte. Trotzdem lächelte Dargon. Er mochte diesen zerstreuten Magier, der häufig in dem Wunsch anderen zu helfen ihre Probleme nur vergrößerte. Und er musste ihm jedes Mal mit Rat und Tat aus der Patsche helfen. Er betrachtete ihn genauer.

Ja, nach außen hin wirkte er alt. Aber seine Augen. Seine Augen waren jung. Jung und lebhaft und ... Mhmm. Sie bargen Wissen. Ein großes Wissen, wahrscheinlich mehr als Norgar es wünschte. Woher stammte es nur? Und war er schon immer so zerstreut? Ja, als Dragon ihn kennen lernte mit Sicherheit, aber damals, als er nach Menschenrechnung noch jung war. Damals, vor sagen wir mal dreihundert Jahren, war er da auch schon so zerstreut? Jetzt mit seinen 532 Jahren sprang er hektisch von einem Regal zum anderen. Die Menschen hatten Angst vor ihm, wusste Dargon, weil die Lebenserwartung eines Menschen wohl um die 80 Jahre sei. 80 Jahre, da durften kleine Drachen zum erstenmal unter dem strengen Blick der Drachin um den Horst fliegen. Erst da waren die Flügel kräftig genug um einen kleinen Drachen für kurze Zeit zu tragen und die Muskeln mussten erst mühsam aufgebaut werden. Und Menschen starben da schon? Nur nicht die Druiden. Und Norgar war ein besonderer Druide und viele nannten ihn einfach nur "der verrückte Magier". War er denn wirklich verrückt?
"Dargon, das musst du dir ansehen."
Dargon schreckte aus seinen Gedanken hoch. Es war bereits spät in der Nacht.
"Was muss ich mir anschauen."
"Weißt du, viele halten mich für verrückt und zerstreut."
"Woran das nur liegen mag" grinste Dragon.
"Ja ja, mach dich nur lustig über mich." schmollte Norgar.
Dargon kicherte leise und stupste Norgar freundschaftlich mit seinem mächtigen Flügel an.
"Sei nicht böse. Du musst zugeben, dass du dich schon häufiger in die Bredouille gebracht hast.
"Ja, du hast ja Recht. Das Problem ist, dass die Leute nicht auf mich hören und denken, es ist nur eine weitere Spinnerei von mir, wenn ich versuche sie zu warnen."
"Wovon redest du überhaupt?"
"Diese Hitzeperiode. Dauert schon viel zu lange."
"Ja, da hast du Recht. Aber was willst du dagegen tun."
"Was kann ich dagegen tun? Komm mal ein Stück näher."
"Wie stellst du dir das vor. Ach ich verstehe, du wolltest dein Wohnzimmer schon immer etwas vergrößern oder?"
"Sei nicht albern. Wie ich dich kenne, kannst du noch mindestens fünf Meter ran rutschen und das reicht völlig aus."
Seufzend erhob sich Dargon und rutschte mit seinem mächtigen Körper so weit ran, dass er direkt vor dem Eingang lag.
"Hoffentlich will dich heute keiner mehr besuchen, der hat keine Chance reinzukommen ... Au!"
"Das hast du von deinen ewigen Scherzen."
Dargon hatte eine unvorsichtige Bewegung gemacht und war mit seinem Kopf gegen die Decke gestoßen. Einige Steine lösten sich und fielen herab. Etwas säuerlich sah Norgar zu seinem großen Freund auf.
"Jetzt hör mit dem Blödsinn auf und schau."
In der Mitte schwebte eine Kugel. Es war faszinierend. Dargon wollte schon immer wissen wie Norgar das machte. Und zwar war da ein Tropfsteingebilde, das sich wie ein Ring geformt hatte. Und inmitten dieses Ringes schwebte die Kugel, auf die jetzt beide wie gebannt schauten. Dargon erkannte erst gar nichts, dann war es wie ein Meer, hellblau und mit vielen kleinen Wellen. Seine Augen begannen zu tränen je länger er darauf sah und alles verschwamm, und plötzlich sah er glasklar. Erst eine Gestalt, die auf einem Felsvorsprung stand inmitten eines tosendes Meeres, dann einen riesigen Vulkan und in der Lava eine weitere Gestalt, die aussah, als würde sie brennen, eine Gestalt inmitten von tiefen dunklen Wäldern, Dargon konnte förmlich den Wald riechen und Erinnerungen und Sehnsucht an längst vergangene Tage noch weit vor den Menschen brannten in ihm, und dann sah er ein mächtiges Wesen in der Luft, das einem Drachen ähnelte. Moment, das war ein Drache. Urgroßvater?
"Das sind die Hüter der vier Elemente." Erläuterte Norgar. "Normalerweise stehen sie im perfekten Einklang. Nur der Baldrok, der Hüter des Feuers, springt gern mal aus der Reihe und wird normalerweise von den anderen dreien in Schach gehalten."
"Und was hat das mit der Hitzeperiode zu tun?"
"Moment Moment, nicht so ungeduldig. Pass auf. Also, wo fang ich denn am besten an. Ja, durch den Leichtsinn der Menschen ist das Gleichgewicht aus den Fugen geraten. Du weisst selbst, wie gnadenlos die Wälder abgeholzt werden und wie Wale oder auch deine Artgenossen im Meer getötet werden. Nicht nur zu Nahrungszwecken sondern oft nur so zum Spaß. Damit werden Erde und Wasser geschwächt übrig bleiben Luft und Feuer. Doch während der Hüter der Luft versucht das Gleichgewicht der Natur wieder herzustellen..."
"Nutzt der Baldrok die Gelegenheit und springt aus der Reihe." schloss Dargon den Satz.
"Genau."
Noch während sie das besprachen hatte sich das Bild in der Kristallkugel geändert. Überall sah Dargon brennende Berge, und der Baldrok tanzte lachend dazwischen. Er sah Wälder verbrennen, ganze riesige Wiesen und auch die Felder und Häuser der Menschen.
"Was können wir dagegen tun?"
"Damit kommen wir dazu."
Wieder rannte Norgar hektisch an den riesigen Regalen seiner Bibliothek hin und her. Er war stolz auf seine Bibliothek, wusste Dargon. Die einzelnen Regale hatte Norgar mühsam in die Felswand gemeißelt. Angefangen mit nur einem einzigen Regal und fünf Büchern erstreckte sich die Bücherfront inzwischen über die ganze linke Wand des ersten Raumes seiner Höhle und ging bis zur Decke rauf. Er hatte hunderte von Büchern. Manche selbst geschrieben auf seinen häufigen Reisen, manche auf eben diesen geschenkt bekommen, einige vererbt oder gefunden, manche wurden auch von Generation zu Generation weiter gegeben und blieben dann an Norgar hängen, da er fast alle anderen Druiden und Magiere überlebt hatte, die langsam auszusterben begannen. Manche hatte er auch von Dargon bekommen. Die hütete Norgar ganz besonders, und mit dreien von ihnen stand er jetzt vor dem riesigen Drachen, zusammen mit dem Buch der Großen Weißheit der Großen Anoria. Die Mutter der vier Elemente.
"Norgar? Darf ich dich etwas fragen", begann Dargon, als ihm ein Licht aufging.
"Ja natürlich."
"Du bist gar nicht verrückt oder zerstreut oder?"
Norgar war plötzlich sehr ernst geworden "Nein."
"Warum lässt du das die Leute und mich dann glauben?"
"Weil sie mich dann in Ruhe lassen. Wenn ich vertieft in meine Arbeit bin, vergesse ich zeitweise tatsächlich, dass jemand bei mir ist, wie du selbst schon oft erlebt hast. Und durch mein emsiges hin und her rennen glauben sie, ich sei zerstreut. Nach einiger Zeit wurden die Besuche weniger, und nachdem ich die Gerüchte über mich hörte beschloss ich, die Menschen in ihrer Meinung zu bestätigen und stellte mehrere kleine Zwischenfälle her.
"Das war ungefähr die Zeit wo wir uns kennen lernten?" fragte Dragon nach.
"Ja, du hast mir mehrmals geholfen und so begannen sie, dich zu verehren. Noch ein Grund, warum ich das Spiel durchzog. Sie hätten dich sonst getötet. Auf jeden Fall legte keiner mehr Wert auf meine Hilfe, die Leute gingen mir aus dem Weg und somit hatte ich genügend Ruhe für meine Forschungen."
"Ganz schön raffiniert", stellte Dargon fest.
"Ja, nur dummerweise: jetzt wo es darauf ankommt, hört keiner mehr auf mich und dabei sind alle in Gefahr."
"Was steht denn nun in den Büchern?"
"In den drei Büchern von dir fand ich viel, was man über Baldroks im Allgemeinen und dem Hüter des Feuers im Besonderten wissen muss. Und in den Großen Weisheiten der Großen Anoria steht eine Prophezeiung über die Zukunft."
Dieses Buch schien sich selbst zu schreiben, hatte Dargon festgestellt. Jeden Tag stand mehr darin, doch es verschwand nicht und das Buch schien nicht dicker zu werden oder jemals zu Ende zu sein. Immer sah es so aus, als wäre es in der Mitte aufgeschlagen. Dargon war fasziniert von diesem Buch und schon lange hatte er sich gewünscht einmal, nur ein einziges mal in das Buch schauen zu dürfen, was bei Norgar auf einer Art Altar lag, und heute würde dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Es war so eine Art Rätsel.

Wenn das Wasser sinnlos seine Leben verliert
Und die Erde ihr Gerüst
Wenn kein Drache mehr den Himmel ziert
Dann kommt das Feuer
Ganz gewiss

"Was bedeutet das?"
"Diese Prophezeiung wurde vor zweihundert Jahren geschrieben und ich habe sie nie verstanden. Ich suchte verzweifelt nach einer Antwort wegen der Hitze und wälzte das gesamte Buch durch, und dabei fiel mein Blick auf diese Prophezeiung. Wenn das Wasser sinnlos sein Leben verliert. So ein Blödsinn, dachte ich damals, wie soll Wasser sein Leben verlieren. Damit ist aber nicht das Wasser selbst, sondern das Leben im Meer gemeint. Das sinnlose Abschlachten der Wale, der Riesenoktopusse oder auch das Leben der Meeresdrachen, das ist gemeint. Und das Gerüst der Erde? Die Bäume natürlich. Wenn sich kein Drache mehr am Himmel zeigt. Du sagtest es selbst, dein Urgroßvater ist der Hüter der Luft. Er versucht das Gleichgewicht wieder herzustellen. Es könnte aber auch bedeuten, dass es kaum noch Drachen gibt und sich fast alle vor den Menschen verstecken."
"Du meinst alle außer mir?"
Langsam verstand Dargon, was Norgar meinte. Er wurde von den Menschen verehrt weil er die vermeintlichen Schäden von Norgar ausbügelte, sonst hätten sie ihn genauso gejagt wie seine Verwandten oder getötet. Er hatte eigentlich einen Ort gesucht, an dem er friedlich mit seiner Drachin und seinem Jungen leben konnte und diese Insel gefunden. Doch als er sie holen wollte, waren sie schon die Jagdtrophäe eines Ritters für seine Holde. Er war voller Wut und Hass zurückgekehrt und wurde  strahlend von den Menschen hier empfangen. Erst später verstand er warum.
"Hörst du mir überhaupt zu?"
"Tut mir leid, Norgar."
"Du hast an sie gedacht oder?" fragte Norgar leise.
Dargon nickte. Wie gut ihn Norgar doch verstand. Sie waren richtige Freunde. Wie Brüder.
"Aber verstehst du. Baldrok kommt gewiss. Er ist schuld an der Hitze, und was noch schlimmer ist: ich glaube, er wurde gerufen, schau hier."
Noch einmal sahen beide in die Kristallkugel.

...geschrieben von Sorcha
***

Jetzt erschien eine menschliche Gestalt darin, ein alter Mann, der Norgar zu ähneln schien. Er hatte einen langen weißen Bart und war mit einer rostroten Tunika bekleidet. Doch seine Augen waren unheimlich: Gelb wie die einer Raubkatze glitzerten sie kalt und hart in dem wettergegerbten Gesicht. "Wer ist das?" fragte Dargon.
"Ragnar Thorak" antwortete Norgar mit finster zusammengezogenen Brauen. "Ragnar der Alchimist. Er ist ein Druide, wie ich. Oder besser gesagt: Er war ein Druide - bis er die Bruderschaft der Druiden verraten hat. Er wollte Macht, wollte der Grösste unter uns sein. Aber wir Druiden müssen bei unserer Einweihnungszeremonie, wenn wir in den Druidenbund aufgenommen werden, einen heiligen Eid schwören. Einen Schwur, der es uns verbietet, nach Macht und weltlichem Besitz zu streben und uns verpflichtet, unser Wissen nur zum Guten einzusetzen. Aber Ragnar hat diesen Schwur gebrochen. Er wurde immer gieriger in seinem Streben nach Herrschaft. Begann, mit Giften zu experimentieren um vermeintliche Gegner aus dem Weg zu räumen. Schliesslich wurde er aus dem Druidenbund ausgestossen. Anscheinend lässt er sich davon aber nicht aufhalten. Es scheint, als ob er versucht, den Baldrok für seine Ziele einzuspannen."
"Aber kann er das denn überhaupt?" wunderte sich Dargon. "Ich meine: Ich dachte nicht, dass irgendjemand Macht über die Hüter der Elemente erlangen kann, ausser..."
"Ausser der grossen Anoria, der Mutter allen Lebens?"
"Genau."
"Nun, normalerweise wäre das sicher nicht möglich. Aber nun, wo die anderen Elemente geschwächt sind... Ragnar ist ein sehr mächtiger Druide, vielleicht der mächtigste, der je gelebt hat. Und wie alle Druiden hat er die Lehre von den vier Elementen genau studiert. Er scheint zu glauben, dass das Feuer stärker als die anderen Elemente ist und dass er mit dessen Hilfe die Weltherrschaft erlangen kann."
"Aber was will er denn mit der Herrschaft über eine Welt, in der alles verbrannt ist?"
"Nun, das ist natürlich eine berechtigte Frage. Und genau in diesem Punkt glaube ich, dass sich unser Freund Ragnar irrt. Er hält sich für mächtig genug, den Baldrok zu kontrollieren und sieht nicht ein, dass das Inferno, das er entfesselt hat, am Ende alles Leben auf der Welt auslöschen kann. Dargon, was weißt du über die Lehre von den vier Elementen?"
"Hmm... die grosse Anoria, die Mutter allen Lebens, formte die Welt, indem sie die vier Grundelemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zu gleichen Teilen vermischte und über jedes Element eines ihrer vier erstgeborenen Lebewesen als Hüter einsetzte."
"Genau. Und alle vier waren ebenbürtig und lebten im Einklang miteinander. Und das ist das Wichtigste, denn jedes Element kann sowohl Gutes als auch Böses hervorbringen: Das Feuer kann wärmen oder verbrennen. Es ist Symbol der Liebe und Geborgenheit, aber auch des Hasses. Liebe und Hass liegen nah beieinander, im Grunde sind sie zwei Seiten von ein und derselben Sache..."
Bei dem Wort Liebe waren Dargons Gedanken wieder in die Vergangenheit abgeschweift. Zu ihr, Haizlyn, der wunderschönen Drachin mit den glitzernden Silberschuppen und den bernsteinfarbenen Augen. Und wieder brannte der Hass in ihm, noch genauso stark wie in jenem schrecklichen Moment, als er ihren toten Körper fand, von dem der schlanke Kopf abgeschlagen worden war, und ihm klar wurde, was geschehen war. Auch das Junge war fort gewesen, es konnte nur wenige Tage alt gewesen sein, er hatte noch die zerbrochenen Eierschalen gefunden, aus denen es geschlüpft war. Liebe und Hass lagen nah beieinander, in der Tat...
"Sag mal, Dargon, du hörst doch schon wieder nicht zu!"
Norgars Worte schreckten Dargon aus seinen Gedanken auf.
"Oh, tut mir leid. Was sagtest Du? Liebe und Hass..."
"Beides gehört zum Feuer, genau. Das Wasser dagegen steht für Kühle, Erfrischung, Labsal. Aber es hat auch eine zerstörerische Kraft, die zerschlagen und ertränken kann. Und wenn es zu Eis erstarrt, lässt es uns erfrieren. Die Erde bringt immer neues Leben hervor, lässt Pflanzen sprießen und Tiere und Menschen sich vermehren. Aber weil kein Leben ewig währt, bedeutet Erde auch Vergänglichkeit und Tod. Die Luft schließlich brauchen wir zum Atmen, sie ist Windhauch und Veränderung. Aber wenn sie zum Sturm anwächst, reisst sie alles mit sich fort. Jedes Element wirkt, wenn es übermächtig wird, zerstörerisch. Deshalb kann es nur Leben auf der Welt geben, solange alle vier Elemente im Gleichgewicht sind."
"Aber das versteht Ragnar nicht?"
Traurig schüttelte Norgar den Kopf. "Nein, das versteht er nicht."
"Und an diesem ganzen Schlamassel sind wieder mal nur die Menschen schuld", maulte Dargon. "Hätten sie das Gleichgewicht nicht..."  Er verstummte, als Norgar ihn mit seinen klaren, eisblauen Augen streng ansah. Dieser Blick - wenn der alte Mann ihn so ansah, war es, als könnte er in Dargons Gedanken wie in einem offenen Buch lesen. Nein, Dargon mochte die Menschen wirklich nicht besonders.
"Mit 'hätten' und 'könnten' kommen wir jetzt auch nicht weiter" sagte Norgar bestimmt. "Wir müssen handeln, und zwar schnell. Also, wirst du mir helfen?"
"Diesem alten Giftmischer das Handwerk zu legen meinst du?" Dargon seufzte. Dabei stiegen versehentlich ein paar Funken aus seinen Nüstern auf. Eigentlich hatte er im Moment überhaupt keine Lust auf Abenteuer, er wollte nur in Frieden gelassen werden und in Ruhe seine Wunden lecken. Aber er wusste, dass er den alten Mann nicht im Stich lassen konnte. "Bleibt mir wohl kaum etwas anderes übrig, oder?"
Norgars Lippen kräuselten sich zu einem leichten Lächeln. "Nein", gab er zu.
"Also, was wollen wir tun?"
"Zunächst einmal muss ich eine Nachricht an alle Brüder des Druidenbundes schicken, die noch am Leben sind." Norgar öffnete die große, eisenbeschlagene Holztruhe, die in der hintersten Ecke der Höhle stand. Hier bewahrte er die wenigen Dinge auf, die er ausser seinen Büchern noch besaß. Er holte eine leere Pergamentrolle, eine lange Schreibfeder und ein Tintenfass heraus und begann, emsig auf das Pergament zu kritzeln. Dargon schaute mit zusammengekniffenen Augen kritisch auf die ineinander verschlungenen Buchstaben. Er konnte kein Wort entziffern. "Ähm, meinst du wirklich, dass das irgendjemand lesen kann?"
"Oh, du solltest erst mal die Handschrift von einigen anderen Druiden sehen. Dagegen ist das hier noch sehr ordentlich!"
"Naja, es sähe wahrscheinlich auch nicht besser aus, wenn ich es versuchen würde."
Ab und zu dachte Dargon sehnsüchtig daran, wie es wohl wäre, schreiben zu können. Aber das würde ihm mit seinen riesigen Pranken wohl für immer verwehrt bleiben.
Inzwischen hatte Norgar die Schreibarbeit beendet und das Pergament zusammengerollt. Er entzündete mit einer einzigen Handbewegung einen Kerzenstummel und ließ Wachs auf die Pergamentrolle tropfen. Dann holte er seinen langen, knorrigen Druidenstab aus einer Felsnische und drückte dessen Knauf, in den eine stilisierte Rabenfeder hineingeritzt war, als Siegel in das Wachs. Mit einem leisen Pfiff rief er die Krähe Assorab. Dargon zog vorsichtig seinen langen Hals aus dem Höhleneingang um die Krähe hereinzulassen, die verschlafen mit aufgeplustertem Gefieder auf dem Ast eines Baumes sass.
Der Morgen dämmerte bereits, sie hatten sich die ganze Nacht lang unterhalten. Als Assorab mit der Nachricht davongeflogen war, fragte Dargon: "Und nun, Norgar? Was hast du jetzt vor?"

...geschrieben von Tabita
***

"Ich weiß, großer Freund, dass es eine große Erniedrigung für euch Drachen ist, aber der Platz, an den sich die Druiden treffen ist einen Monatsmarsch von hier entfernt, und ich muss noch viel vorbereiten. Würdest du..."
"Verbieg dich nicht, Norgar", lächelte Dargon. "Du weißt, welchen Hass ich auf die Menschen habe. Und wie sehr ich sie lieber tot als lebendig sehen würde. Und doch, die Menschen in diesem Dorf, besonders die kleine Emeli, die mich immer so schön hinter den Flügel krault, und ihre Mutter ... Nach dem furchtbaren Unfall muss sie nun die Schmiede ihres Mannes weiterführen, und trotzdem hat sie immer ein gutes Wort für mich und tätschelt mir die Schnauze fast so schön wie es Haizlyn tat. Oder der alte arme Mann vom Ende der Straße, der mich so rührend mit seinem Essen, von dem er selbst nicht genug hat, versorgt.
Nein, die Menschen hier sind anders und diese haben den Tod nicht verdient. Allein für dieses Dorf werde ich dir helfen. Geh zur Schmiedin und lass dir für mich ein Geschirr anfertigen, damit kannst du dich dann besser festhalten als an meinen Schuppen, ich hoffe du hast keine Höhenangst. So, jetzt muss ich dann aber auch noch einiges vorbereiten, ich nehme an, das könnte ein etwas längerer Ausflug werden. Da muss ich mich erst noch mal unter den Flügeln kraulen lassen. Weißt du, ich bin grad auf dem Weg, ich bestell das Geschirr selbst", lächelte Dargon und zog schweren Herzens endgültig den langen Hals aus Höhle und somit auch aus dem Wasserfall, der ihn so herrlich gekühlt hat.

"Dakon, Dakon." Ein kleines Mädchen zeigte mit leuchtenden Augen auf den riesigen Drachen, der auf sie zukam und vorsichtig neben ihr landete. Dann schlossen sich liebevoll zwei kleine Hände um seine große Schnauze.
"Guten Morgen, Dargon, wie geht es dir?" begrüßte ihn die junge Frau und streichelte ihn liebevoll.
"Gut, danke. Und dir?"
"Wie immer. Man lebt so vor sich hin. Emeli, komm, wir müssen in die Schmiede."
"Will nich. Will Dakon spielen."
"Du darfst Dargon nicht immer stören, er hat bestimmt wichtigeres zu tun als sich um dich kleinen verzogenen Balg zu kümmern", zischte die junge Frau ärgerlich, aber auch liebevoll. Ihre Tochter war ihr ein und alles.
"Oh lass sie ruhig bei mir. Schmiedin, warum ich eigentlich gekommen bin ... ich ... wir brauchen deine Hilfe."
"Gerne, aber wie kann ich dir helfen?"
"Ich brauche ein Geschirr für mich, sodass ein Mensch gefahrlos auf mir mitfliegen kann."
"Ich, ich, ich Dakon fliegen. Emeli mit."
Die Junge Frau sah ihn entsetzt an.
"Nein. Nein, Drachenjunges. Diesmal nicht. Später vielleicht, wenn du älter bist." brummte Dargon, was ähnlich wie das satte zufriedene Schnurren einer Katze am heißen Kachelofen in einem kalten Winter klang; während er liebevoll seinen Kopf an ihr rieb.
"Kannst du das machen, Schmiedin?"
"Für den verrückten Magier?"
"Ja."
"Was hat er denn jetzt wieder ausgeheckt."
"So genau weiß ich das auch nicht. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich ihn im Auge behalte."
Ganz fair war das Norgar gegenüber ja nicht, aber gelogen auch nicht, überlegte Dargon.
"Da wirst du wohl Recht haben", erwiderte die junge Frau. "Bis wann würdest du es denn brauchen?"
Dargon überlegte kurz.
"Ich glaube bis vorgestern."
"Na ich schau mal was ich machen kann", seufzte sie. "Emeli, Mama hat zu tun."
"Emeli kann bei mir bleiben, wirklich. Bitte tu mir den Gefallen."
Die Frau sah ihn unsicher an.
"Wo ist etwas besser aufgehoben als bei einem Drachen. Wer würde sich an mich heran wagen? Emeli kann in meinem Schatten spielen und ich habe etwas Gesellschaft."
"Wenn du meinst, aber wenn sie dich stört schickst du sie zu mir."
Dargon nickte ergeben.
"Dann schicke ich sie zu dir."

Dargon beobachtete das kleine Wesen, das zwischen seinen Pranken saß und spielte. Es vertraute ihm und es hatte ihn lieb. Er sah in ihr so etwas wie ein Ersatz für sein Junges.  Er hätte es so gern wenigstens einmal gesehen. Er hatte sie einfach nicht retten können, er war nicht da gewesen als es passierte, er hatte sie im Stich gelassen, seine schöne süße Haizlyn und sein Kleines. Ja, an Drachinnen trauten sich Menschen heran und an Junge, aber an einen ausgewachsenen männlichen Drachen, davor hatte sie Angst. Aber ohne Frauen und Kinder konnte man eine Gattung auch auslöschen. Nein, auf Emeli würde er besser aufpassen. Auch wenn sie ein Menschenjunges war. Er hatte sie lieb.
Er hatte sie lieb! Er konnte noch lieben. Zärtlich legte er seine Flügel um sie und wiegte sie sanft hin und her wie er es gern bei seinem Jungen gemacht hätte.
"Danke, Drachenjunges", flüsterte er ihr ins Ohr und drückte sie leicht an seine große Brust.
Was mit einem vergnügten Quietschen von Emeli quittiert wurde, die nun versuchte auf seinem Rücken zu krabbeln und ihm unter den Flügeln kraulte.

Am späten Abend hatte die Schmiedin das Geschirr fertig und fand ihre Tochter sicher in den Schwanz von Dargon eingewickelt, der sein Gesicht an ihres gelegt hatte und ebenfalls schlief.
Stimmt, niemand kam an das Kind heran ohne Dargon zu wecken und somit seine Wut auf sich zu ziehen.
"Dargon, Dargon!"
"Wer wagt es mich zu stören" zischte dieser wütend.
"Oh, entschuldige, ich bin wohl eingeschlafen."
Vorsichtig löste er seinen Schwanz von Emeli und ließ sie sanft in seine Flügel, die sie bis dahin zugedeckt hatten, gleiten, dann übergab er das schlafende Mädchen den Armen seiner Mutter.
"Das Geschirr ist fertig. Ich bring Emeli ins Bett, dann kannst du es anprobieren."
"Oh, lass sie mich nur noch einmal ansehen", bat er.
Die junge Frau sah ihn besorgt an.
"Was habt ihr beiden vor, Dargon. Du wirst doch wieder kommen?"
"Wir werden versuchen, die Hitzeperiode zu beenden. Aber bitte behalt es für dich, ich hätte niemals mit dir darüber reden dürfen."
"Aber wie wollt ihr das tun?"
"Auch das darf ich dir nicht sagen. Nur so viel, der Magier ist nicht so verrückt wie ihr glaubt."
"Er hat versucht uns vor etwas zu warnen. Aber die Leute im Dorf lachen nur über ihn."
"Und du?"
"Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Er hat soviel Chaos hier angerichtet, aber er hat mir auch sehr geholfen, und dann machte er gar keinen verrückten Eindruck. Seid vorsichtig und kommt zurück", bat die Frau mit Tränen in den Augen und legte ihre Hand an die Schnauze des Drachen, der die Augen schloss und sein Gesicht an ihre Hand schmiegte.
"Ich habe doch Emeli versprochen, dass sie auf mir fliegen darf wenn sie älter ist."

Das Geschirr passte wie angegossen und als der Drache zur Höhle zurückflog, war Norgar bereits fertig mit packen. Somit wollten sie keine Zeit mehr verlieren und flogen noch in der Nacht los, zum geheimen Treffplatz der Druiden.
Die Sonne stand schon tiefrot am Horizont, bevor Dargon und Norgar sich eine Pause gönnten. Dargon wäre auch noch weiter geflogen, doch musste er befürchten, dass Norgar einschlief und aus dem Sattel fiel. Aus 500 Metern Höhe wäre das wohl recht ungesund gewesen. Auf einer Lichtung inmitten eines kleinen Tales landete Dargon. Direkt an einem See. Vor Müdigkeit und Hunger zitternd ließ sich Norgar mehr aus dem Sattel fallen als dass er abstieg. Dargon sah sich um. Er schob ein paar Holzstücke zusammen und blies sie mit seinem heißen Atem an. Nach nur kurzer Zeit prasselte ein munteres kleines Lagerfeuer, an dem sich Norgar niederließ und gleich eingeschlafen war. Zum ersten mal wieder, seit über 36 Stunden. Erst jetzt hatte Dargon die Zeit, die Schönheit um ihn herum wahrzunehmen. Er war noch nie hier gewesen. Er kannte den Wald, war aber noch nie weit genug darüber hinweg geflogen, um diese Stelle zu finden. Es war ungewöhnlich kühl. So kühl wie schon lange nicht mehr. Der Himmel war tief bewölkt und versprach einen Wolkenbruch, der das Land merklich abkühlen würde. Doch Dargon wusste, dass der Schein nur trog. Doch jetzt gab sich Dargon der Illusion hin und genoss den Anblick, wie sich ein einzelner Sonnenstrahl durch die Wolkendecke kämpfte und direkt auf einen Wasserfall schien, der den See mit frischem klarem Wasser aus einer vermutlich unterirdischen Quelle versorgte. Wie lange noch, überlegte Dargon. Wie lange würde es noch dauern bis auch die unterirdischen Seen ausgetrocknet waren. Er sah sich weiter um. Rings um ihn waren Wände aus Stein. Er war in einem Tal gelandet, das wohl noch nie ein Mensch betreten hatte. Und wahrscheinlich auch nach Norgar nie wieder betreten würde. Das Loch in den Wolken wurde größer, und Dargon sah, dass viele Tiere an den See kamen und tranken. Er merkte, dass er Hunger hatte. Feuriger Atem hatte einen entscheidenden Vorteil. Man brauchte kein Fleisch roh zu essen. Die Menschen glaubten, sie hätten das Braten und Grillen von Fleisch erfunden? Ha! Die Drachen hatten das schon viel eher raus. Dargon überlegte gerade, ob es Hasen- oder Rehbraten geben würde und brachte sich schon mal in Positur um die Beute erlegen zu können. Da hoben die Tiere kollektiv den Kopf und sahen ihn an. Sie spürten, dass etwas anders war. Aber sie machten keine Anstalten zu fliehen. Sie sahen ihn einfach nur an. Eine ganze Weile mussten sie so da gestanden haben. Keiner rührte sich. Dann wandte Dargon den Kopf ab. Nein! Er konnte diesen Tieren nichts tun. Langsam schob er sich an den See und trank ebenfalls. Das Wasser, das sein Kehle hinunter glitt, war kühl und erfrischend. Ein Drache friedlich zwischen Hasen, Rehen, Dachsen, Hirschen, Füchsen, Eichhörnchen, Luchsen - allen möglichen Waldtieren. Doch Dargon hatte noch immer großen Hunger und irgendetwas musste er jetzt zwischen seine Kauleisten bekommen. Er schaute noch einmal nach links und  nach rechts. Und dann schnappte er zu!

Norgar wachte auf als ein verführerischer Duft seine Nase kitzelte. Neugierig setzte er sich auf und sah dann verwunderte zu Dargon.
"Ich dachte, du magst keinen Fisch."
"Bist du es nicht immer, der behauptet, Hunger sei der beste Koch?" knurrte Dargon schlecht gelaunt und schob Norgar etwas von dem gegrillten Fisch hinüber. "Und jetzt beeil dich, wir müssen weiter."
Frisch gestärkt und etwas erholt machte sich das ungleiche Paar auf zur letzten Etappe.
Die Sonne brannte erbarmungslos auf sie nieder. Jeder Flügelschlag wurde zur Qual. Dargon bekam Durst und sah sich nach einem Fluss oder See um. Ein einfacher Tümpel hätte ihm gereicht. Doch nichts. Gewaltige Flussbette waren zu Wüsten ausgetrocknet. Große Waldflächen waren hinuntergebrannt. Je weiter sie nach Süden flogen umso schlimmer wurde es. Als Dargon glaubte, er könnte keinen einzigen Flügelschlag mehr tun, zeigte Norgar auf ein großes Stück unangetasteten Wald. Er bestach durch sein sattes, saftiges Grün und versprach Wasser in seinem Inneren. In der Mitte sollte Dargon landen. Dort war eine kleine Lichtung, die von oben her gar nicht zu erkennen war. Vorsichtig setzte Dargon zur Landung an. Und erschrak, als urplötzlich ein Steinkreis vor ihm auftauchte. Dargon hatte schon von Steinkreisen gehört. Sie markierten ein Tor zu einem anderen, mystischen Land. Das Land der großen Anoria und ihrer Untertanen. Doch gesehen hatte er bisher noch keinen.
Zwischen dem Steinkreis und dem Wald war kaum genug Platz für einen ausgewachsenen Drachen, doch Dargon war schon auf kleineren Flächen gelandet. Er sah sich um. Von hier aus wirkten die Bäume viel größer und mächtiger und standen weiter auseinander als es von oben den Anschein hatte. Er konnte ohne größere Schwierigkeiten durch die Bäume durchgehen. Fast hatte er den Eindruck als würde der Wald für seinen mächtigen Körper Platz schaffen.
"Komm, alter Freund. Hierher kommen wir später zurück. Weiter im Inneren des Waldes ist eine Hütte an einem Bach. Dort kannst du was trinken und ich werde das Treffen vorbereiten",  holte ihn Norgar in die Wirklichkeit zurück.
"Der Wald ist etwas Besonderes", stellte Dargon fest.
"Ja", erwiderte Norgar. "Ja, das ist er. Hier sind wir sicher. Über den Wald hat Ragnar keine Macht. Dieser Wald gehört der Großen Anoria."
"Warum tut die große Anoria nichts gegen den Baldrok. Er ist ihr Geschöpf."
"Nein. Ihr Sohn."
"Wo ist da der Unterschied?"
Eine ganze Weile schritt Norgar neben Dargon her, und Dargon glaubte schon, Norgar hätte ihn mal wieder völlig vergessen. Doch dann räusperte sich Norgar.
"Die Legende erzählt: Als die große Anoria ihre vier Erstgeborenen über die vier Elemente setzte, lebte sie noch Jahrhunderte über mit ihnen zusammen und beobachtete sie. Von Zeit zu Zeit gab sie ihnen mehr Macht. Als sie sich sicher war ihnen vertrauen zu können, zog sie sich mit ihrem Mann in ihre Welt zurück. Ab und zu besuchte sie noch ihre Kinder und sah nach dem Rechten, doch die Besuche wurden seltener und sie übergab ihnen diese Welt ganz. Sie hatte Jahrmillionen diese Welt gelenkt und  war es leid.  Du weißt, wer ihr Mann ist? Der Vater der vier Elemente?
Überrascht schüttelte Dargon den Kopf. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Norgar lächelte. "Nein? Das hatte ich mir schon gedacht. Die wenigsten wissen das. Denk ein bisschen darüber nach. Eigentlich ist es ganz einfach. Vielleicht kommst du darauf."

Die zwei kamen an einer Hütte an. Irgendwie wirkte sie unwirklich und doch schien sie hier her zu gehören. Eine schlichte Hütte und doch versprach sie Behaglichkeit und hatte alles was man brauchte. Hinter dem Haus war ein Garten voller exotischer Pflanzen. Alles Heil- und Kräuterpflanzen, wie Norgar erläuterte. Umgeben war der Garten von Bäumen, die gleichzeitig in voller Blüte standen und reife Früchte trugen. Langsam dämmerte es Dargon. Hier stimmte etwas nicht. Dieses Haus schien alle Gegensätze zu verkörpern. Dieser Verdacht bestätigte sich, als Dargon die Hütte betrat. Von außen wirkte die Hütte sehr klein. Doch hatte sie genügend Platz, dass es sich Dargon darinnen bequem machen konnte. Und ausserdem konnte sie noch sämtlichen Druiden, die Norgar erwartete, Unterschlupf bieten. Genauso das Licht. Es war dunkel, wenn man die Hütte betrat, aber man konnte alles sehen und auch alles lesen. Wenigstens diese Kunst beherrschte Dargon dank Norgar.
Norgar steuerte sofort auf den Schreibtisch zu und setzte sich. Dann breitete er alle Utensilien aus, die er in einem Beutel mit sich geführt hatte. Diesmal hatte er Dargon tatsächlich wieder vergessen.
Dieser ging nach draußen und ließ sich am Bach nieder. Die Bäume spendeten kühlen Schatten, und das Wasser schmeckte herrlich kühl und frisch. Ähnlich wie das Wasser aus dem See, wo die beiden den Morgen verbracht hatten. Dieses kleine Tal. Ob es vielleicht auch zu Anorias Reich gehörte? Er dachte an sein Erlebnis mit den Waldtieren. Und er wünschte es sich von Herzen. Er überlegte, ob er es Norgar erzählen sollte, doch entschied sich dann dagegen. Dieses Erlebnis würde dadurch seinen Zauber verlieren. Vielleicht würde er es irgendwann Emeli erzählen. Sie würde es verstehen können. Emeli! Dargon hatte sich hier so wohl gefühlt, dass er den Grund ihrer Reise fast vergessen hatte. Emeli, sein Drachenjunges. Sein Drachenjunges. Haizlyn. Die Menschen glauben, dass man, wenn man sein Leben der Liebe und der Natur gewidmet hatte, in das Reich der Großen Anoria aufgenommen wurde. Ob das auch für Drachen galt? Er kannte niemanden, der so sanft und liebevoll und naturverbunden war, wie Haizlyn. Sogar die Menschen hatte sie geliebt, und das wurde ihr zum Verhängnis.
Ob .... Ob er jemals die Chance, .... Er war so nah ... wenn er versuchen würde in das Reich ... Vielleicht könnte er sie wieder sehen. Oder, oder sogar bei ihnen bleiben. Bei Haizlyn und dem Jungen. Die Verlockung war groß. Über diesen Gedanken schlief Dargon ein.

Dargon wachte mit klopfendem Herzen auf. Er sah sich um. Puh, alles nur ein Traum. Er lag in seiner Höhle. Was für ein Alptraum.
Eine kleine Zunge leckte über sein Gesicht.
"Mama, Mama, Papa ist wach."
"Natürlich, Tarjan", lachte Haizlyn, "du hast ja nachgeholfen. Guten Morgen, Schatz. Komm, wir wollen den schönen Tag genießen." Sie gab Dargon einen Kuss.
"Haizlyn. Oh meine liebe süße Haizlyn. Ich bin so glücklich dich zu sehen. Ich dachte, ... Ich habe geträumt..."
Haizlyn legte ihren Flügel über seine Lippe.
"Pst. Nicht jetzt, Gliebter. Lass uns den Tag genießen."
Haizlyn lockte ihn aus der Höhle. Verwundert sah sich Dargon um. Ihm war die Gegend so vertraut, und doch irgendwie anders. Die Sonne schien prächtig. Es war ein angenehm warmer Tag. Alles war grün. Drachen, Menschen und Tiere, alle Kinder spielten vergnügt miteinander. Die Erwachsenen gingen spazieren oder saßen im kühlenden Schatten und unterhielten sich.
Etwas Kleines flog vor Dargons Gesicht.
"Schau mal, Papa, wie schön ich fliegen kann."
"Tarjan, jetzt lass Papa erstmal zu sich kommen."
Doch der lachte nur und flog seinem Sohn hinterher. Nachdem sie ein paar Minuten Fangen gespielt hatten und nur wenige Zentimeter über dem Erdboden flogen, fing Dargon Tarjan und ließ sich mit ihm in das weiche frische Gras fallen. Dann kugelten die beiden quietschvergnügt den Hügel hinunter. Lachend blieb er auf dem Rücken liegen mit Tarjan auf dem Bauch und leckte ihn ab.
"Iii hör auf, Papa, das kitzelt", lachte Tarjan und versuchte sich zu befreien. Doch Dargon hielt ihn fest in seinen Flügeln.
Haizlyn kam kopfschüttelnd zu den beiden hinunter. Mit einem sanften Schubs beförderte sie Tarjan nach unten.
"So, jetzt ist erstmal Mama dran", gurrte sie und schmiegte ihren Kopf an Dargons. Sanft streichelte sie Dargons Gesicht mit ihren Flügen und kitzelte ihn zärtlich mit ihrem Schwanz. Behaglich räkelte er sich und langsam verschwanden die Erinnerungen an seinen furchtbaren Traum.

Die Sonne ging langsam unter, und Dargon sass zusammen mit seiner schönen Haizlyn auf einem kleinen Hügel an einem großen See. Tarjan schlief friedlich in seinen Pranken. Er betrachtete das wunderschöne Gesicht seines Weibchens und war davon überzeugt der glücklichste Drache auf der Welt zu sein. Doch auf einmal sah ihn Haizlyn traurig an.
"Du musst zurück, Dargon", flüsterte sie.
Dargon sah sie entsetzt an. "Zurück, wohin?"
"Das weißt du ganz genau. Dargon, du gehörst nicht hierher."
"Aber, aber Haizlyn, wie kannst du das sagen? Ich gehöre zu dir. Bitte! Bitte, schicke mich nicht fort. Haizlyn!"
"Du musst die Menschen retten."
"Die Menschen?" brauste Dargon auf. "Die Menschen, die mir dich und Tarjan weg genommen haben? Warum? Ich hasse sie! Ich will sie tot sehen."
"Nein, Dargon, sag das nicht. Ja, es gibt böse Menschen, die Drachen töten. Es gibt aber auch böse Drachen, die Jungfrauen und Kinder töten und ganze Dörfer in Angst und Schrecken versetzen. Ohne jeden Grund. Dargon, ohne dich geht die Erde mit allem was darin lebt 
zugrunde."
"Die Welt ist mir egal", antwortete er trotzig, " olang ich nur bei dir bleiben kann."
"Du sturer Dickkopf", schimpfte Haizlyn. "Schau, was passiert, wenn du nicht zurückgehst."
Über dem Wasser bildete sich eine Kugel, ähnlich wie Norgars Kugel in seiner Höhle, nur größer. Sie schien sich ineinander zu drehen. Dann gab es so etwas wie eine kleine Explosion und ein klares Bild erschien. Erst sah er Norgar in seiner Höhle. Wie die beiden sich unterhielten und scherzten. Dann einige ihrer langen Wanderungen. Lächelnd sah Dargon zu wie Norgar kleinere und größere Katastrophen verursachte, die Dargon dann wieder gerade biegen musste. Dann wechselte das Bild und er sah die kleine Emeli, die in seinem Schatten spielte, und den alten Mann, der im Hintergrund auf einer Bank saß und ihnen lächelnd zusah. Die Schmiedin, die Emeli drohte, welche dann erstmal mit ihrer Mutter verstecken hinter Dargon spielte, der ihr dabei half. Er sah die Schmiedin, wie sie ihre Tochter liebevoll in ihren Armen wiegte, die dort augenblicklich eingeschlafen war. Und wie die Schmiedin sein Gesicht streichelte und er es in ihre Hand schmiegte und es genoss. Schuldbewusst schielte Dargon zu Haizlyn rüber, die ihn lachend mit der Schnauze anstupste.
Unmerklich war ein Mann neben Dargon getreten. Erst auf den zweiten Blick erkannte Dargon in ihm den Schmied. Er verneigte sich zum Gruß und sah dann wieder auf. In der Zeit hatte sich das Bild wieder verändert. Wieder sah er das Bild von brennenden Bergen, Wäldern und Wiesen, wie er es schon in Norgars Kugel sah. Die Bilder wechselten. Er sah Norgar erst im Kampf mit seinen Freunden gegen Ragnar. Sie schienen zu siegen, doch dann kam der Baldrok hinzu. Dann sah er Norgar inmitten von Staub und Geschmolzenem Stein. Das Bild wechselte über zum Dorf. Viele Hütten waren abgebrannt. Dargon sah die Schmiede. Es brannte lichterloh. Die Tür öffnete sich. Auch die Treppe brannte. Das Bild zeigte quälend langsam den Weg hinauf zu Emelis Zimmer. Dargons Herz fing an zu klopfen. Kalter Angstschweiß rann ihm die Stirn hinunter. Auch diese Tür öffnete sich. Dann sah er sie inmitten der Flammen in ihrem Bett liegen, einen kleinen Stoffdrachen, den ihre Mutter für sie genäht hatte, fest an sich gedrückt.
Dargon zerriss es das Herz. Heiße Drachentränen flossen über sein Gesicht. Er brüllte laut auf vor Schmerz, so dass Tarjan aufwachte und erschreckt in Dargons Pranke biss. Das holte Dargon zurück, und die Kugel verschwand. Zittern leckte er abwechselnd die Wunde und Tarjan.
"Das passiert wenn du nicht zurückkehrst", flüsterte Haizlyn traurig. Und der Schmied fasste mit beiden Händen Dargons Gesicht. "Bitte lass sie nicht so sterben."
Dargon schloss die Augen und schüttelte den Kopf heftig. Er wollte diese Bilder vergessen.

Als er sie wieder öffnete, lag er neben der Hütte in Anorias Wald. Eine dicke Träne rollte über seine Wange und tropfte ins Wasser. An dieser Stelle erschien auf einmal eine wunderschöne Frau in einem wehenden weißen Gewand und berührte ihn sanft.
"Dargon, warum verurteilst du mich?"
"Warum, Anoria, warum quälst du mich so?"
"Du hast dir gewünscht sie zu sehen, diesen Wunsch wollte ich dir erfüllen und dir noch einen Tag mit ihnen schenken, als Dank dafür, dass du Norgar hierher gebracht hat. Ich wusste nicht, dass ich dich damit verletzen würde."
"Werde ich sie irgendwann wieder sehen?"
"Das liegt in deiner Hand."
"Was muss ich dafür tun?"
"Norgar braucht deine Hilfe."
"Baldrok ist dein Sohn. Warum gebietest du ihm nicht Einhalt?"
"Du sagst es selbst. Ich bin Baldroks Mutter, nicht sein Schöpfer. Der Mensch hat die Natur aus dem Gleichgewicht gebracht. Nur der Mensch kann das Gleichgewicht wieder herstellen."
"Und was soll ich tun?"
"Feuer kann man nur mit Feuer bekämpfen."
"Ich versteh das nicht."
"Höre auf dein Herz."
Neben ihr erschien der Schmied. "Ich vertraue dir ihr  Leben an." Auch Haizlyn erschien neben Anoria und gab ihm einen Kuss. "Ich werde immer bei dir sein Geliebter." Mit ihren Flügeln streichelte sie sein Gesicht. Tarjan flatterte vor und setzte sich auf Dargons Schnauze, hielt sich mit beiden Flügeln fest und leckte ihm über die Schnauze. "Ich hab dich lieb, Papa." Dann schmiegte er sich noch einmal ganz fest an ihn und flog in die schützenden Flügel seiner Mutter. Die große Anoria schloss Dargons Augen. Als er sie abermals öffnete, war der ganze Spuk verschwunden. Es war bereits tiefste Nacht. Dargon schaute sich um. Norgar saß noch immer am Schreibtisch oder wuselte von Zeit zu Zeit im Raum herum. Dargon beschloss sich zu ihm zu gesellen. Er wollte jetzt nicht allein sein. Ein Krächzen ließ ihn aufhorchen.
"Assorab! Na, kleiner Freund? Auftrag ausgeführt?"
Assorab krächzte erneut und flog auf Dargons Schulter. Dieser erhob sich langsam. Ein Brennen an seiner Pranke veranlasste ihn dazu, sie zu heben und zu lecken. Erst da fiel ihm die Wunde auf, die aussah wie der Biss eines kleinen Drachen. Seines kleinen Drachen. Es war also kein Traum!

In den frühen Morgenstunden erschienen die ersten Druiden. Manche, die aus der Nähe, kamen zu Fuß, einige mit Pferden. Die einen kamen allein, die anderen hatten ihre Novizen mit. Das Getümmel wurde immer größer. Dargon und Assorab saßen in einiger Entfernung und beobachteten das ganze Geschehen. Immer wieder leckte Dargon liebevoll über seine Wunde. Hin und wieder schaute er neugierig zu den Druiden hinüber. Doch als er sah, dass Norgar ein völlig zerknittertes Stück Pergament aus der Tasche holte, legte er seufzend seinen Kopf auf seine Pranken. Das konnte dauern. Auch Assorab ließ sich auf ihm nieder und putzte sein Gefieder, bevor er sich aufplusterte und den Kopf unter die Flügel steckte. "Recht so" murmelte Dargon. Er selbst hörte  den Vögeln zu, die munter zwitscherten und dachte nach. Noch immer wusste er nicht, wer denn nun eigentlich der Mann der großen Anoria war. Sie verkörperte den Anfang, die Geburt. Ihre Kinder die vier Elemente. Im Gleichgewicht verkörperten auch sie das Leben, jeder für sich allein die Zerstörung, den ... und auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

...geschrieben von Sorcha
***

"Natürlich!" Assorab flog mit einem empörten Krächzen auf, als Dargon ruckartig den Kopf hob. Warum war ihm das nicht schon früher eingefallen? Er musste unbedingt mit Norgar darüber reden, wenn die Druiden ihren Disput beendet hatten.
"Ja, ganz recht", sagte Norgar, als er und Dargon im Schein der untergehenden Sonne vor der Hütte saßen. "Der Mann der grossen Anoria verkörpert den Tod. Er ist der Herrscher der Nächsten Welt, in der die Grosse Anoria jetzt mit ihm lebt. Als er noch allein war, war seine Welt kalt und leer, aber die grosse Anoria brachte Liebe und Schönheit hinein, und als Dank dafür teilte er seine Herrschaft mit ihr und ihren Kindern. Doch er ist streng: Nur wer sein Leben im Einklang mit der Natur lebt und dem Ewigen Kreis des Lebens nicht mehr nimmt als er ihm zurückgibt, kann nach seinem Tod in die Nächste Welt gelangen. Leider wissen das die meisten nicht, und so fürchten sie den Tod, machen ihn zu einem Schreckgespenst und verstehen nicht, dass er als Freund kommt zu denen, die den Ewigen Kreis der Natur respektieren. Und Ragnar versucht sogar, sich die grosse Anoria und den Tod selbst untertan zu machen."
Dargon nickte nachdenklich. Noch immer konnte er das, was ihm in den letzten Tagen widerfahren war, kaum begreifen. Er hatte so viele Fragen, wusste kaum, wo er anfangen sollte. "Man muss also sterben, um in das Reich der grossen Anoria und ihres Mannes zu gelangen?"
"Normalerweise schon." Norgar fixierte Dargon mit einem seiner unergründlichen, scharfen Blicke, und Dargon fragte sich wieder einmal, ob der Alte etwas von dem ahnte, was in Dargons Kopf vorging.
"Aber manchen, denen sie besondere Gunst erweist, schenkt die grosse Anoria Visionen. Kurze Einblicke, in das, was sein wird. Wir Druiden versuchen, durch Meditation an heiligen Orten wie diesem hier solche Visionen zu erlangen. Doch den Wenigsten wird diese Gnade zuteil. Warum fragst du, grosser Freund?"
Dargon zögerte. War das, was er erlebt hatte, eine Vision, wie Norgar sie eben beschrieben hatte? Sollte er ihm davon erzählen?
"Ach, nur so", murmelte er dann. Nein, er würde nichts sagen, noch nicht.
Norgar gähnte und streckte die Glieder. "Au, mein Fuss ist eingeschlafen!" er seufzte. "Bin eben auch nicht mehr der Jüngste. Ich werde mich schlafen legen, es war ein anstrengender Tag. Morgen früh, im Morgengrauen, wollen wir am Steinkreis die Grosse Anoria rufen, um ihren Rat zu erbitten.

Am nächsten Morgen, es war noch dämmrig, trafen sich alle Druiden am Steinkreis. Fasziniert beobachtete Dargon, wie die Druiden einer nach dem anderen in das Innere des Steinkreises traten und dort einen Kreis bildeten. Sie fassten sich an den Händen und standen so einige Minuten lang schweigend da. Dann, genau in dem Moment, als der erste Strahl der Sonne durch die Baumwipfel fiel, erhob Norgar seine Stimme.
"Oh, Grosse Anoria, Mutter allen Lebens, wir rufen Dich!"
Er trat in die Mitte des Kreises, sammelte dort ein paar trockene Zweige zusammen und wies mit seinem Druidenstab auf das kleine Häufchen. Sofort erfassten kleine Flammen das trockene Holz. "Feuer, das du uns Wärme spendest, weise uns den Weg!" rief Norgar.
Ein anderer Druide trat zu ihm und holte aus den Falten seines weiten Gewandes eine kleine Holzflasche, aus der er etwas Wasser auf das Feuer träufelte, wo es zischend verdampfte. 
"Wasser, das du uns labst und erfrischt, weise uns den Weg!"
"Luft, die du uns atmen lässt, weise uns den Weg!" Diesmal warf ein Druide getrocknete Kräuter auf das kleine Feuer, wo sie verbrannten und einen würzigen Duft verbreiteten.
Ein vierter Druide warf eine Handvoll dunkler, fruchtbarer Erde auf das Feuer.
"Erde, die du uns nährst, weise uns den Weg!"
Die vier Druiden traten zurück in den Kreis. Einige Augenblicke war es völlig still. Dann erschien in der Mitte des Kreises eine Gestalt, zuerst durchsichtig, kaum mehr als ein Lufthauch, doch dann nahm sie mehr und mehr Form an. Es war die weißgekleidete Frau, die Dargon schon einmal gesehen hatte. Und doch war etwas anders: Dargon war sie als junges Mädchen erschienen, doch nun schien sie älter zu sein. Ihr Gesicht war von kleinen Fältchen durchzogen, und in ihrem Haar zeigten sich die ersten grauen Strähnen.
Die Druiden verneigten sich respektvoll.
"Grosse Anoria, wir grüssen Dich!"
"Warum habt ihr mich gerufen, Druiden?"
Ihre Stimme klang weich und melodisch, doch es lag ein Hauch von Müdigkeit darin.
"Wir erbitten Deinen Rat, Anoria, wie wir dem Baldrok Einhalt gebieten", erklärte Norgar.
"Fragt den Drachen. Ich habe ihm bereits alles gesagt." Die Gestalt schien zu verblassen, doch dann wurden ihre Umrisse noch einmal scharf. "Seid einig. Nur gemeinsam könnt ihr es schaffen." Nach diesen Worten verschwand sie.

"Du hast sie gesehen?"
"Was hat sie gesagt?"
"Verrate es uns!" Die Druiden redeten aufgeregt durcheinander.
"Warum hast Du mir nichts davon erzählt?" Norgars Stimme klang fast vorwurfsvoll.
"Tut mir leid. Es ... es war so verwirrend. Ich wollte erst noch darüber nachdenken."
Dargon fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut, als er plötzlich zum Mittelpunkt des allgemeinen Interesses geworden war. Er schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren.
"Sie sagte ... Sie sagte: Der Mensch hat die Natur aus dem Gleichgewicht gebracht. Nur der Mensch kann das Gleichgewicht wieder herstellen. Und: Feuer kann man nur mit Feuer bekämpfen. Und dann sagte sie noch, ich soll auf mein Herz hören. Was bedeutet das?"
"Mhm..." Norgar runzelte die Stirn. "Darauf kann ich Dir auch noch keine genaue Antwort geben. Aber ich denke, wir werden es bald herausfinden. Kommt mit."
Dargon und die Druiden folgten ihm in die Hütte, wo er unter einem Stapel Pergamentrollen auf dem Schreibpult ein aufgeschlagenes Buch hervorzog, was so winzig war, dass es in Norgars Handteller passte. Doch nachdem er es vorsichtig mit seinem Druidenstab angetippt hatte, wurde es plötzlich so gross, dass es fast das ganze Schreibpult bedeckte. Es war das Buch der Goßen Weisheit der Großen Anoria.
"Du hast es mitgenommen!" staunte Dargon.
"Ja. Allerdings musste ich es ein bisschen verändern. Es wäre sonst zu unhandlich gewesen für die Reise."
Neugierig beugten sich alle über das Buch. Und tatsächlich: Auf der aufgegschlagenen Seite standen einige Zeilen, die Dargon vorher noch nicht gesehen hatte:

Läutert das Erz und schmiedet die Waffe des Sieges
In der Flamme, die reinigt, doch nicht verbrennt
Geschaffen wenn im Geiste sich vereinen
Der Mut des Drachen und die Weisheit des Druiden
Des Alters Besonnenheit und der Jugend Kraft.

"Also, das verstehe wer will" knurrte Dargon. "Was soll das denn für eine Flamme sein, die reinigt und nicht verbrennt? Und was soll das heissen, sich im Geiste vereinen?"
"Die blaue Flamme!" murmelte Norgar. "Natürlich!"
Aus den Reihen der Druiden erklang zustimmendes Gemurmel.
"Ich verstehe immer noch kein Wort", beschwerte sich Dargon.
"Die grosse Anoria hat dir gesagt, Feuer könnte man nur mit Feuer bekämpfen, nicht wahr?" fragte Norgar. Dargon nickte.
"Ich glaube, damit meinte sie die blaue Flamme. Das ist die Flamme, die reinigt und nicht verbrennt. Sie ist heisser als jedes andere Feuer, dringt bis ins Innerste dessen vor, was sie berührt, und macht es rein. Es ist ein uralter, sehr mächtiger Zauber. Aber er verlangt grosse Willenskraft und äusserste Konzentration. Mehr als ein Einzelner aufbringen könnte. Das heisst, wir müssen mehrere sein, die ihre Kräfte miteinander vereinen. Wie Anoria gesagt hat: nur gemeinsam können wir es schaffen. Mhm... Der Mut des Drachen - ich würde sagen, damit bist Du gemeint, Dargon."
Diesem ging plötzlich ein Licht auf.
"Die Weisheit des Druiden, und des Alters Besonnenheit - das bist Du, nicht wahr Norgar."
"Sieht so aus." Norgar seufzte. "Jetzt fehlt uns noch die Kraft der Jugend."
Norgar schaute in die Runde und ließ den Blick prüfend über die Gesichter der jungen Novizen gleiten. An einem Gesicht blieb sein Blick hängen.
"Belgar, wie lange lebst du nun schon unter den Druiden?"
Der Angesprochene war ein hochgewachsener junger Mann mit einem schmalen, ernsten Gesicht, das lange, lockige braune Haar hatte er lose im Nacken zusammengebunden. Das Auffälligste an ihm war jedoch die schneeweisse Eule, die ruhig auf seiner Schulter saß und das Geschehen beobachtete.
"Meine Lehrzeit ist beinahe um, Ehrwürdiger", antwortete der junge Mann, nicht ohne Stolz. "Zur Wintersonnenwende soll ich in die Gemeinschaft der Druiden aufgenommen werden."
Dargon staunte. Soweit er sich mit Menschen auskannte, konnte dieser junge Mann kaum Mitte zwanzig sein, und die Ausbildung der Druiden dauerte zwanzig Jahre. Belgar musste noch ein kleiner Junge gewesen sein, als die Druiden ihn in die Lehre nahmen.
"Baldur, meinst Du nicht, wir könnten die Weihezeremonie ein wenig vorverlegen?" wandte sich Norgar nun an den Druiden, der neben Belgar stand und der offenbar sein Lehrmeister war. "Morgen ist Sommersonnenwende."
Dieser nickte zögernd. "Es gibt kaum noch etwas, das ich dem Jungen beibringen könnte. Du willst ihn mitnehmen?"
"Ja. Er ist der Richtige. Vorausgesetzt natürlich, er stimmt zu."
"Selbstverständlich stimme ich zu!" rief Belgar eifrig. "Was muss ich tun, Ehrwürdiger?"
Norgar musste lächeln. "Nicht so hastig, junger Mann. Eine solche Entscheidung will wohl überlegt sein." Er wurde ernst, schaute dem jungen Novizen prüfend in die Augen. "Der Weg, den wir gehen müssen, ist mühsam und voller Gefahren. Überlege gut, ob du ihn gehen willst. Du hast bis morgen früh Zeit, Dich zu entscheiden."

Am nächsten Morgen trafen sich die Druiden wieder am Steinkreis. Belgar war unter ihnen. Er war blass, aber entschlossen, und bereit, die Weihe zu empfangen. Wieder wurden die vier Elemente angerufen, dann sprachen die Druiden gemeinsam den Schwur, in dem sie einander Treue gelobten und versprachen, die grosse Anoria, ihre Natur und all ihre Lebewesen zu ehren. Mit grossem Ernst sprach Belgar die Worte nach. Dann richtete Norgar das Wort an ihn:
"Gestern habe ich dich gefragt, ob Du bereit bist, die Aufgabe anzunehmen, für die ich dich auserwählt habe. Ich frage dich erneut: Bist du bereit?"
Der junge Mann nickte. "Ja, Ehrwürdiger. Ich nehme die Aufgabe an."
"Gut. So lege ich denn die Last auf deine Schultern. Wie ich sehe hast du dir unter den Heiligen Tieren schon eine Gefährtin gewählt."
Die Schneeule auf Belgars Schulter, die die ganze Zeit über so still dagesessen hatte, als wäre sie aus Stein gemeisselt, legte nun den Kopf schief und schaute Norgar neugierig an.
Ein flüchtiges Lächeln erschien auf Belgars Gesicht.
"Ich glaube eher, sie hat mich gewählt", erklärte er. "Ich habe sie aus dem Käfig eines Händlers befreit, aber sie wollte einfach nicht davonfliegen. Sie heisst Una."
"Sie folgt dir also aus freiem Willen?" fragte Norgar. "Das ist gut. Behandle sie stets wie einen wahren Freund. Sie ist dir als Gefährtin gegeben, nicht als Dienerin. Vergiss das nie."
Belgar nickte.
"Dann heissen wir dich willkommen, Bruder Belgar. Empfange deinen Stab."
Der Stab, den Belgar aus Norgars Hand erhielt, war lang und knochig wie Norgars eigener. Doch anstelle der eingeritzten Rabenfeder trug er einen geschnitzten Eulenkopf mit buschigen Federn, grossen, runden Augen und einem kleinen, spitzen Schnabel.
Nachdem die Weihezeremonie vorbei war, wollte Norgar sofort aufbrechen. Er und Belgar packten ihre Habseligkeiten zusammen und verabschiedeten sich von den anderen Druiden.
"Bring den Jungen heil zurück, Norgar." Der Lehrmeister des jungen Druiden sah besorgt aus. "Versprich mir, dass du gut auf ihn aufpasst!" Belgar spürte zu seinem Ärger, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Wann würde sein Meister endlich begreifen, dass er kein kleines Kind mehr war? Norgar sah ihn lächelnd an.
"Ich werde mein Bestes tun, Baldur. Aber ich bin sicher, der junge Mann kann ziemlich gut allein auf sich aufpassen."
"Also dann, auf geht’s, Dargon!" Dargon wollte sich gerade ein Mittagschläfchen gönnen, als Norgar ihn ansprach. Mürrisch öffnete er die Augen.
"Auf geht’s wohin?" fragte er und ignorierte Norgars erstaunten Blick. Das war ja wieder mal typisch. "Ich kann leider keine Gedanken lesen, auch wenn du das des öfteren zu vergessen scheinst."
"Oh, tut mir leid, grosser Freund. Wir fliegen nach Hause."
"Nach Hause?" fragte Dargon ungläubig. "Aber ich dachte, wir wollen..."
"Zunächst einmal brauchen wir eine Waffe. Und dafür brauchen wir einen Schmied."
Langsam ging Dargon ein Licht auf.
"Oder eine Schmiedin?" 
"Genau. Ausserdem muss Belgar auch lernen, mit der Waffe umzugehen."
Dargon nickte. Dabei konnte ihnen die Schmiedin sicher auch helfen, er hatte gehört, dass sie von ihrem Mann nicht nur das Schmiedehandwerk sondern auch das Kämpfen gelernt hatte.
"Dazu brauchen wir ausserdem die Hilfe des alten Bettlers."
Wieder sah Dargon seinen Freund verständnislos an. Der zerlumpte alte Mann aus dem Dorf? Wie sollte der ihnen helfen?
"Es ist vielleicht schwer zu glauben, wenn man ihn jetzt sieht, aber dieser Mann war einmal ein stolzer Krieger. Sie nannten ihn Asgar Tausendstark." Norgar seufzte. Dargon spürte die Traurigkeit in seiner Stimme und verstand, wie schwer es manchmal für ihn sein musste, weiterzuleben, während alle anderen Menschen um ihn herum alt wurden und starben. War das der Grund dafür, dass manche Druiden ihres langen Lebens müde wurden und den Tod herbeisehnten? Sie gaben einfach auf und legten sich zum Sterben hin. Doch Norgar war stark, er würde sie in den Kampf führen. Blieb nur zu hoffen, dass der junge Belgar seiner Aufgabe gewachsen war.

Belgar hatte sich nie träumen lassen, dass er einmal auf einem Drachen reiten würde, und er war sich immer noch nicht sicher, ob er sich an den Gedanken gewöhnen konnte. Sie flogen zu hoch für seinen Geschmack, entschieden zu hoch, und er musste sich zwingen, nicht nach unten zu schauen. Ausserdem war es trotz des Geschirrs gar nicht so einfach, sich auf Dargons glattem Rücken zu halten, der bei jedem kräftigen Flügelschlag auf und nieder wippte. Und diese Hitze war unerträglich. Belgar hielt sich krampfhaft an den Zügeln fest, während der Schweiss ihm aus allen Poren strömte. Norgar hinter ihm saß still wie eine Statue. Wie hielt er das nur aus? Unter ihnen im Schatten des Drachen flogen Assorab und Una, die, nachdem sie einander eine Weile misstrauisch gemustert hatten, die Gegenwart des anderen stillschweigend akzeptierten.
Als Dargon am Abend endlich landete um zu rasten, hatte Belgar Mühe, seine verkrampften Hände von den Zügeln zu lösen. Halb bewusstlos glitt er vom Rücken des Drachen, ließ sich in dessen Schatten ins Gras plumpsen und war sofort eingeschlafen. Für die Schönheit des Tales, das saftige Grün und das glitzernde Wasser des Sees hatte er keinen Blick. Dargon sah den schlafenden jungen Mann bedenklich an. Würde er tatsächlich stark genug sein für den Kampf, der ihn erwartete?
"Ja, er wird noch viel lernen müssen", sagte Norgar, der den Blick seines Freundes bemerkt hatte. Dann begaben auch sie sich zur Ruhe.
Am nächsten Morgen versuchte Norgar, den jungen Druiden wach zu rütteln. Belgar stöhnte. Ihm schmerzten alle Knochen, und schon der Gedanke daran, sich überhaupt zu bewegen - geschweige denn, wieder auf den Rücken des Drachen zu steigen -, war ihm unerträglich. Er rollte sich zusammen und machte Anstalten, weiterzuschlafen, doch plötzlich fühlte er, wie er hochgehoben wurde, und wenige Augenblicke später landete er mit einem Platschen im flachen Uferwasser des Sees.
"Guten Morgen, junger Mann", grüsste Norgar übertrieben höflich und senkte seinen Druidenstab, den er auf Belgar gerichtet hatte. "Wünsche wohl geruht zu haben."
Belgar wollte schon zu einer beleidigten Erwiderung ansetzen, doch er musste zugeben, dass das kühle Wasser seinen schmerzenden Gliedern und seiner brennenden Kehle guttat.
Seufzend stieg er aus dem Wasser und wrang seine nasse Kutte aus. Na dann, auf ein Neues - es blieb ihm ja wohl nichts anderes übrig.
Erst als sie wieder auf Dargons Rücken saßen und der Drache sich in die Luft erhoben hatte, begann Belgar, sich über das Tal zu wundern, in dem sie übernachtet hatten: grüne Bäume, saftiges Gras und ein See, dabei war die Landschaft, über die sie jetzt hinwegflogen, fast vollständig öde und verdorrt - merkwürdig.
Es war schon Abend, und Belgar war kurz davor, vor Erschöpfung aus dem Sattel zu kippen, als sie endlich das Dorf erreichten. Dargon landete auf dem Dorfplatz, und Belgar kam unsicher auf die Beine und sah sich um. Es war ein armseeliger kleiner Flecken, ein paar ärmliche Hütten rings um den Platz gruppiert, das war alles. In der Mitte des Platzes war ein Brunnen, und daneben stand eine knorrige Eiche, die mehrere hundert Jahre alt sein musste. Normalerweise wäre sie ein majestätischer Anblick gewesen, doch jetzt waren alle ihre Blätter bereits braun und verdorrt, obwohl erst Frühsommer war. Norgar betrachtete den Baum mit gerunzelten Brauen. Es blieb ihnen nicht viel Zeit. Im spärlichen Schatten des Baumes saß ein alter Mann. Als er die Neuankömmlinge bemerkte, erhob er sich umständlich und kam auf sie zu.
"Da bist du ja wieder, Drache." Trotz seines knurrenden Tonfalls war es deutlich zu merken, dass er froh war, Dargon zu sehen.
"Und der Magier. Und wen haben wir denn da? Ein junger Druide?"
"Belgar. Mein Name ist Belgar", murmelte dieser verlegen.
"Asgar Tausendstark, du kommst wie gerufen", begrüsste Dargon seinen alten Freund.
Dieser zuckte überrascht zusammen. "Woher weißt du..."
Dann fiel sein Blick auf Norgar, und sein Mund verbreiterte sich zu einem zahnlosen Grinsen.
"Schön zu wissen, dass sich noch jemand an meinen Namen erinnern kann."
"Asgar, wir brauchen deine Hilfe", sagte Norgar. "Komm mit zum Haus der Schmiedin, dann werden wir dir alles erklären."
Die Schmiedin. Belgar fragte sich, wie die Frau wohl aussehen mochte, die dieses schwierige Handwerk beherrschte. Überrascht sah er die schlanke, dunkelhaarige junge Frau an, die ihnen die Tür öffnete. Das konnte doch nicht...
"Dargon! Ihr seid wieder da! Und ihr habt Besuch mitgebracht." Die Freude und Erleichterung in der Stimme der Frau war nicht zu überhören. Doch dann runzelte sie verwirrt die Stirn. "Aber wieso ... Na, kommt erst mal rein. Dargon, du kannst einfach den Kopf zum Fenster reinstecken, ja?"
Norgar musterte die Schmiedin eindringlich und fragte sich, wieviel Dargon ihr wohl verraten hatte. Aber da sie ihre Hilfe brauchten, würden sie ihr sowieso alles erklären müssen. Ihr, und dem alten Asgar.
Als sie zusammen in der kleinen Stube saßen, wurde Belgar dem alten Krieger und der Schmiedin vorgestellt. Jetzt erst fiel Dargon auf, dass er nie nach ihrem Namen gefragt hatte. Alle im Dorf nannten sie einfach nur Schmiedin.
"Jorun heisse ich", erklärte sie.
Plötzlich wurde das Gespräch von lautem Gepolter unterbrochen, als ein kleines Mädchen wie ein geölter Blitz die Treppe hinuntergesaust kam.
"Dakon, Dakon!" Sie schlang ihre Arme um den Hals des Drachen.
"Und das ist meine Tochter Emeli." Ein Lächeln glitt über das bisher so ernste Gesicht der Schmiedin, und Belgar stellte verwundert fest, wie hübsch sie auf einmal aussah.
Während Norgar den anderen seine Pläne erklärte, schlief die Kleine eng an Dargon gekuschelt ein.

Am nächsten Morgen sollte Belgar seine erste Lektion im Schwertkampf erhalten. Die Schmiedin hatte das Breitschwert ihres Mannes ausgepackt, dessen Klinge im Sonnenlicht funkelte, obwohl es Jahre her sein musste, dass es zum letzten Mal benutzt wurde. Asgar nickte anerkennend.
"Erste Regel im Kampf: Halte deine Waffen stets scharf, du weisst nie, wann du sie vielleicht brauchst."
Jorun reichte Belgar das Schwert. Er hatte damit gerechnet, dass es schwer war - aber nicht so schwer. Er versuchte, es mit ausgestrecktem Arm zu schwingen, doch sein Arm gehorchte ihm nicht und beschrieb nur ein paar hilflose Drehbewegungen, bevor das Schwert mit einem Plumps zu Boden fiel. Asgar grinste.
"Ja, junger Mann, ein bisschen mehr Kraft braucht’s dafür schon. Zweite Regel im Kampf: Kenne deine eigene Stärke - und Schwäche."
"Ach lass nur, war gar nicht so schlecht für den Anfang", meinte Jorun und deutete auf ihr eigenes, ein wenig kürzeres Schwert. "Als mein Mann mir das hier gab, konnte ich zuerst noch nicht einmal die Spitze vom Boden heben. Das kommt schon mit der Zeit. Vielleicht sollten wir erst mal damit anfangen." Sie warf ihm einen langen Holzstab zu und nahm selbst einen zweiten in die Hand.
Belgar fühlte sich gleich sicherer. Schliesslich beherrschte er seinen Druidenstab wie kaum ein anderer. Doch das hier war etwas ganz anderes. Er musste bald einsehen, dass er Jorun hoffnungslos unterlegen war. Sie schwang ihren Stab so schnell, dass er ihren Bewegungen kaum mit den Augen folgen konnte und alle Mühe hatte, ihren Hieben auszuweichen - ganz zu schweigen von dem Versuch, selbst anzugreifen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er das erste Mal der Länge nach im Sand lag.
"Dritte Regel im Kampf: Unterschätze nie deinen Gegner", ließs sich Asgars Stimme im Hintergrund vernehmen.
"Der hat gut reden", dachte Belgar zähneknirschend und spuckte Sandkörner. Doch Joruns anerkennendes Nicken verbesserte seine Stimmung sofort wieder.
"Gar nicht übel. Du reagierst schnell. Versuchen wir’s noch mal."
Belgar landete an diesem Tag noch oft im Sand. Bald fühlte sich sein ganzer Körper wie ein einziger blauer Fleck an, die Zunge klebte ihm am Gaumen und der Schweiss rann ihm in Strömen über das Gesicht. Diese Hitze war unerträglich. Ausserdem hatte er Hunger. Zum Frühstück hatte jeder nur ein Schälchen Haferbrei bekommen, das einzige Nahrungsmittel, das Jorun noch besass, und einen Becher Wasser, der für den ganzen Tag reichen musste, denn der Brunnen im Dorf war fast ausgetrocknet.
"Kieselstein", riet Asgar. "Nimm einen Kieselstein in den Mund. Dann spürst du den Durst nicht so."
Eine gute Idee, fand Belgar - doch nur, bis er das nächste Mal kopfüber in den Sand flog und fast an dem Stein erstickt wäre. Er war erledigt, vollkommen erledigt.
"Für heute reicht’s, oder?" fragte Jorun und reichte ihm die Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. Auch sie war mittlerweile ausser Atem. Ein paar dunkle Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Nackenknoten gelöst, und ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet. Verlegen griff Belgar nach ihrer Hand und zog sich hoch. Sie musste ihn doch für einen kompletten Schwächling halten, so wie er sich heute blamiert hatte. Doch ihr Gesicht verriet nichts über ihre Gedanken.
Belgar hätte auf der Stelle einschlafen können, doch für ihn und Jorun war der Arbeitstag noch lange nicht vorbei. Während sie sich in die Schmiede begab, um ein Schwert für Belgar anzufertigen, hatte Norgar mit dem jungen Druiden und mit Dargon etwas ganz besonderes vor.
"In der Prophezeiung steht, dass wir uns im Geiste vereinen müssen", erklärte er. "Wisst ihr, was das bedeutet?" Belgar nickte beklommen. Er hatte es einmal mit seinem Lehrmeister geübt, und es war weder eine leichte noch eine angeheme Aufgabe gewesen. Wie sollte das erst mit einem Drachen funktionieren?
Dargon schnaubte ungeduldig. "Könntest du dich freundlicherweise etwas klarer ausdrücken, Norgar?"
"Ich werde es versuchen, aber es ist nicht ganz einfach: Also ... wir müssen uns ganz aufeinander konzentrieren, sodass unsere Gedanken ineinander fliessen wie Farben auf einer Leinwand, sodass wir denken was der andere denkt und fühlen was der andere fühlt."
"Klingt ... nicht besonders angenehm." Dargon hatte den Verdacht, dass Norgar manchmal seine Gedanken lesen konnte, aber er hatte keine besondere Lust, sie mit diesem Jungen zu teilen, den er kaum kannte.
"Das ist es auch nicht", gab Norgar zu. "Es kann sogar gefährlich sein, wenn es uns nicht gelingt, unsere Gefühle zu beherrschen. Aber wir müssen es tun."
Also versuchten sie es. Belgar setzte sich vor Dargon auf den Boden und sah in die Augen des Drachen - aber nichts geschah. Seine Augen begannen schon zu tränen - da endlich: Plötzlich schwirrte sein Kopf von fremden, erschreckenden Gedanken.
Dargon spürte eine Angst, wie er sie noch nie zuvor gefühlt hatte, doch das Gefühl war nicht sein eigenes, sondern das des Jungen, des Fremden. Er sollte verschwinden, er sollte ...
Belgar spürte den Widerwillen des Drachen so aprupt, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen. Er zuckte zurück.
"Ruhig. Konzentriert euch." Norgar hatte kein Wort gesprochen, und doch spürten beide sofort seine beruhigende Gegenwart. Nach einer Weile begannen sie, sich zu entspannen und empfanden die Gegenwart des anderen nicht mehr als störend.
"Sehr gut." Diesmal hatte Norgar laut gesprochen. "Nun werden wir es mit einer kleinen Übung versuchen. Dargon, Belgar wird jetzt auf dir fliegen. Allein. Und er wird die Richtung bestimmen, nicht mit Worten, sondern mit seinen Gedanken."
Hinterher konnte keiner so genau sagen, was eigentlich schief gegangen war. Fest stand, dass sie frontal gegen die alte Eiche auf dem Dorfplatz gekracht waren.
"Rechts!" fauchte Belgar. Ich hatte doch gesagt, du sollst rechts..."
"Bin ich doch auch!" verteidigte sich Dargon.
"Nein, bist du nicht. Du bist ..."
"Jetzt hört auf euch zu streiten", beschwichtigte Norgar. "Beim nächsten Mal wird es besser gehen."
"Wenn das so weiter geht, wird es kein nächstes Mal geben." grollte Belgar. "Höchstwahrscheinlich werde ich mir beim nächsten Kampftraining den Hals brechen. Wenn ich nicht schon vorher verhungert oder verdurstet bin."
"Hör auf zu meckern", regte sich Dargon auf. "Haferbrei ist auch nicht gerade mein Leibgericht, weisst du. Aber ich mache deswegen nicht so einen Aufstand."
"Du musst ja auch nicht den ganzen Tag..."
"Seid still!" Die beiden zuckten zusammen. So hatten sie Norgar noch nie sprechen gehört. "Was glaubt ihr eigentlich, was wir vorhaben? Einen Sonntagsspaziergang? Es geht um Leben oder Tod, begreift das doch! Und jetzt reisst euch gefälligst zusammen!"
Beschämt schlichen die beiden davon.
Belgar hatte immer noch schlechte Laune, als er zum Haus der Schmiedin kam. Asgar saß im Hof und war eingeschlafen. Dabei sollte er doch auf Emeli... Um Himmels Willen, wo war das Kind? Belgar fand sie in der Schlafkammer, die er mit Norgar teilte. Sie war damit beschäftigt, seine Pergamentrollen mit einem Stückchen Holzkohle zu bekritzeln, das sie aus der Schmiede stibizt haben musste. Das kostbare Pergament!
"Emeli!" Die Schärfe in Belgars Stimme ließ sie zusammenzucken. Unsicher sah sie ihn an. Hatte sie etwas falsch gemacht?
"Oh nein, das darf ja wohl nicht wahr sein!" ertönte da ein empörter Aufschrei aus der Küche. Jorun. Was war denn da los? Hatte Una etwa schon wieder...
Una und Jorun konnten einander nicht ausstehen, das stand spätestens dann fest, als die Eule am gestrigen Abend ihre abgenagten Mäuseknochen wieder hervorgewürgt und in Joruns frisch gefegter Küche hinterlassen hatte. Joruns Bitte, ihren Dreck doch bitte draussen zu lassen, hatte Una ignoriert und die Schmiedin seit dem keines Blickes mehr gewürdigt.
Man könnte glatt denken, der Vogel wäre eifersüchtig, hatte Asgar kichernd gemeint.
Und nun näherten sich Joruns Schritte rasch der Zimmertür. Schon stand sie im Türrahmen, die Hände in die Seiten gestemmt.
"Also, Belgar, jetzt will ich dir mal was sagen. Bring deinem Vogel gefälligst Manieren bei, sonst landet er im Kochtopf! Wenn ich noch einmal Eulendreck unter meinem Küchentisch finde, gibt es Frikasse zum Abendbrot, ist das klar?!"
Belgar hatte sich wirklich nicht mit ihr streiten wollen, aber jetzt platzte ihm doch der Kragen:
"Dann bring du deiner Tochter erst mal Manieren bei. Wenn ich sie noch einmal dabei erwische, wie sie sich an meinem Pergament vergreift, versohle ich ihr den Hintern!"
"Einen Dreck wirst du tun", fauchte Jorum empört. "Niemand schlägt meine Tochter, schon gar nicht wegen so einem bisschen Papier!"
"Bisschen Papier? Sag mal, weisst du überhaupt, wovon du redest? Dieses Pergament ist kostbarer als Gold, aber davon hast du natürlich keine Ahnung. Du bist ja..."
"Ich bin ja nur eine dumme Gans vom Dorf. Ist es das, was du sagen wolltest?" Jorun wandte sich von ihm ab. "Komm, Emeli, wir gehen." Das Mädchen hatte sich ängstlich in den Rockschössen ihrer Mutter verborgen. Jetzt warf sie Belgar aus ihrem tränen- und kohlenstaubverschmierten Gesicht einen vorwurfsvollen Blick zu. Belgar stöhnte. Ging denn heute alles schief?
"Es ... es tut mir leid. Ich ... ich wollte dich nicht beleidigen. Und ... und das mit Emeli, das ist mir einfach nur so rausgerutscht. Natürlich würde ich sie nie schlagen. Ich war einfach wütend und ... und ... Meine Güte, Jorun, du bist die stärkste Frau, die mir je begegnet ist. Wie kannst du nur glauben, dass ich dich dumm finde?" Jorun biss sich auf die Lippen und sah ihn schüchtern an.
"Na, weil ich doch nicht lesen und schreiben kann", gab sie kleinlaut zu.
"Wenn du willst, kann ich’s dir beibringen."
"Das würdest du wirklich tun?" staunte sie. Belgar nickte. Er würde sich gut dabei fühlen, ihr etwas beizubringen. Dann würde er sich neben ihr vielleicht nicht mehr wie ein Schlappschwanz vorkommen.
"Meinst du wirklich, ich könnte das lernen?" Jorun sah zweifelnd auf ihre schwieligen Hände, die trotz der dicken Handschuhe, die sie bei der Arbeit trug, von Brandnarben bedeckt waren.
"Na klar. Du wirst schon sehen."
Jorun lächelte zaghaft und streckte ihm die Hand entgegen, und er schlug ein. "Also abgemacht. Ich bringe dir das kämpfen bei, und du bringst mir lesen und schreiben bei .... Ach und Belgar: Tut mir leid, was ich über Una gesagt habe."

Belgar hatte aus Schieferplatten kleine Tafeln angefertigt, auf die sie mit Kalksteinstückchen schreiben konnten. Jorun lerne schnell, und auch Emeli kritzelte begeistert auf ihrer Tafel herum.
Auch Belgar machte grosse Fortschritte. Bald konnte er sich mit Dargon und Norgar ohne Worte verständigen, und auch beim Zweikampf ging es von Tag zu Tag besser. Eines Tages war er derjenige, der Jorun in die Knie zwang. Er ließ den Stab sinken, doch ehe er sich’s versah, fand er sich auf dem Rücken liegend auf dem Boden wieder, Joruns grinsendes Gesicht über sich und die Spitze ihres kleinen Dolches auf seine Brust gerichtet. Wo hatte sie den nur versteckt?
"Vierte Regel im Kampf: Sei stets auf Überraschungen gefasst", kommentierte Asgar. 
Belgar seufzte. Nun ja, dann gab es wenigstens noch etwas, was sie ihm beibringen konnten. Es graute ihm schon vor dem Tag, an dem er das Dorf verlassen musste. Der Gedanke, Jorun vielleicht nie mehr wiederzusehen, schien ihm unerträglich. Doch Norgar drängte bereits zum Aufbruch. Dem alten Druiden waren die Blicke nicht entgangen, die Belgar und die Schmiedin einander aus den Augenwinkeln zuwarfen, wenn jeder von ihnen glaubte, der andere merke es nicht. "Umso besser", dachte Norgar. Auch als Asgar seinem Schüler mit einem freunschaftlichen Schulterklopfen und den Worten: "Du wirst ihn brauchen können, Junge" seinen alten Dolch überreichte, lächelte Norgar zufrieden. Liebe und Freundschaft würden Belgar auf seinem Weg begleiten, sie würden ihm Kraft geben für die schwere Prüfung, die ihm bevorstand.
Am nächsten Tag war es heisser als je zuvor. Sie mussten bald aufbrechen ...
Belgar und Jorun kämpften verbissen, keuchend vor Anstrengung ... Da, plötzlich sank sie bewusstlos zu Boden. "Wir brauchen Wasser," dacht Belgar. "Schnell!" Aber es war kein Wasser im Haus. Belgar schnappte sich die erstbeste Schüssel, die er zu fassen bekam, und rannte zum Brunnen. Doch als er gerade dabei war, einen Eimer mit Wasser heraufzuziehen, kam einer der Dorfbewohner drohend auf ihn zu.
"He, so geht das aber nicht", schimpfte der Mann und riss ihm den Wassereimer aus der Hand. "Ihr habt heute schon was bekommen, also warte gefälligst bis morgen!"
"Das ist aber ein Notfall. Wir haben eine Kranke im Haus."
"Ja und? Glaubst du vielleicht, uns geht es besser? Wenn es nicht bald regnet, werden bald die ersten hier verhungern und verdursten."
"Ja eben! Deshalb müssen wir ja..." Belgar raufte sich die Haare. Wie sollte er diesem Mann erklären, was sie vorhatten?
"Lass mich durch, bitte, es ist wichtig!"
Der Mann schnaubte verächtlich. "Da könnte ja jeder kommen!"
Da verlor Belgar die Geduld. Ohne Nachzudenken riss er den Dolch, den Asgar ihm gegeben hatte, aus dem Gürtel und setzte ihn dem Mann an die Kehle.
"Du lässt mich jetzt in Ruhe, verstanden?" zischte er.
"Schon gut, schon gut..." murmelte der Mann und entfernte sich eilig.
Belgar ließ den Dolch sinken. Was machte er hier eigentlich?
"Fünfte Regel im Kampf", hörte er in Gedanken Asgars Stimme, "Lerne, deinen Zorn zu beherrschen." Und stattdessen war er mit dem Dolch auf den erstbesten Mann losgegangen, der ihm in die Quere kam. Er schämte sich.
"Wir holen dafür morgen kein Wasser", rief er dem Mann hinterher, doch er wusste nicht, ob der ihn gehört hatte.
Als sich Jorun einigermassen wieder erholt hatte, sah Norgar sie streng an. "Wieviel hast du heute morgen getrunken?" fragte er.
"Einen Schluck", gab sie kleinlaut zu. "Den Rest habe ich für Emeli übriggelassen."
"Wie lange schon?"
"Ein paar Tage. Aber ich dachte ... Norgar, du trinkst deine Ration ja auch nie aus."
"Das ist etwas anderes. Ich bin ein Druide und ans Fasten gewöhnt."
Belgar wäre am liebsten im Erdboden versunken. Nicht genug damit, dass er seine Wasserration jeden Tag ausgetrunken und dann auch noch über seinen Durst gejammert hatte, er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass Norgar sein Wasser mit den anderen geteilt hatte.
Zögernd erzählte er von seinem Zusammentreffen mit dem Dorfbewohner und was der ihm über die Lage im Dorf erzählt hatte. Und Jorun berichtete mit Tränen in den Augen, wie sehr sie sich um Emeli Sorgen machte, die immer dünner wurde und jetzt fast immer müde war.
Stirnrunzelnd hörte Norgar zu.
"Kannst Du das Schwert heute fertigmachen?" fragte er Jorun. Sie nickte.
"Gut. Wir treffen uns alle heute Abend in der Schmiede. Und morgen früh brechen wir auf."

Bei Sonnenuntergang standen sie alle in der Schmiede. Dargon hatte seinen langen Hals durchs Fenster hereingesteckt. Vorsichtig strich Belgar mit der Fingerspitze über die glänzende Klinge des Schwertes, das Jorun ihm überreicht hatte.
"Gut", sagte Norgar. "Dann ist es soweit. Bitte tretet zurück."
Jorun und Asgar traten zurück, Norgar und Belgar blieben neben Dargon am Amboss stehen, auf den Belgar das Schwert wieder gelegt hatte. Nun würde sich zeigen, ob ihre Anstrengungen Früchte trugen. Belgar konzentrierte sich auf die Gedanken des Drachen. Auch Norgar war da, sie konnten die Ruhe spüren, die von seinem Geist ausging. Dann blies der Drache feurigen Atem aus seinen Nüstern. Doch die Flamme, die dabei entstand, war nicht orange wie sonst, sondern leuchtend blau. Sie umhüllte das Schwert mit ihrem Schein ohne das Metall zu schmelzen. Auch nachdem die Flamme erstorben war, behielt das Schwert einen bläulichen Schimmer. Belgar berührte seinen Griff, er fühlte sich kühl und leicht in seiner Hand an. Der erste Teil der Aufgabe war geschafft.
Belgars Kopf fühlte sich bleischwer an von der Anstrengung, die er hinter sich hatte. Er wollte nur noch schlafen. Doch als die anderen die Schmiede verließen, hielt Jorun ihn zurück.
"Ich hab noch was für dich." Sie gab ihm ein in Stoff gewickeltes Päckchen. Neugierig schlug er den Stoff zurück und sah ein glänzendes Geflecht aus winzigen Metallgliedern - ein Kettenhemd. Es fühlte sich leicht an, und dennoch würde keine Schwertspitze es durchdringen können. Wieviel Arbeit mochte das gekostet haben?

"Jorun, das ... wie hast du das gemacht? Das ist wunderschön!"
"Danke. Schön, dass es Dir gefällt." Sie lächelte ihr seltenes, wunderschönes Lächeln. Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst.
"Versprich mir, dass du es tragen wirst. Ich weiß, du kannst mir nicht versprechen, dass Du gesund zurückkommst. Aber bitte pass auf dich auf."
"Das werde ich. Ich verspreche es."
Sie beugte sich zu ihm vor und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann drehte sie sich um und rannte davon. Belgar sah ihr verwirrt nach. Er hätte nie geglaubt, dass er bei ihr eine Chance hatte. Er wusste doch, wie sehr sie ihren verstorbenen Mann geliebt hatte. Und jetzt? Sein Blick fiel auf das Kettenhemd. Nun, falls er diesen Kampf tatsächlich überleben sollte, vielleicht würde es danach in seinem Leben noch etwas anderes ausser Büchern geben.
Jorun schlief unruhig in dieser Nacht. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Als ihr Mann starb, hatte sie geglaubt, nie mehr lieben zu können. Was würde ihr Mann von ihr denken, wenn er wüsste, was sie für Belgar empfand? Und Belgar war ein Druide. Mussten Druiden nicht allein leben? Sie wusste es nicht. Doch sie wusste, dass von nun an keine Stunde mehr vergehen würde, in der sie nicht an ihn dachte.

Am nächsten Morgen war wenig Zeit zum Abschied nehmen. Noch bevor die Sonne aufging, brachen Norgar, Belgar und Dargon auf. Dargon hatte schlecht geschlafen. Er hatte Alpträume gehabt, das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Schweissgebadet war er aufgewacht, nachdem er in Gedanken wieder und wieder den schrecklichen Moment durchlebt hatte, in dem er Haizlin tot und den Horst verlassen fand.
Und während er mit Norgar und Belgar auf seinem Rücken über die von Dürre gezeichnete Landschaft hinwegflog, wurde in seinem Inneren ein Gedanke immer stärker: 
"Menschen! Du kannst ihnen nicht trauen! Wie tief bist du eigentlich schon gesunken, lässt dich wie ein Maulesel reiten. Du musst dich von ihnen befreien, Dargon!"
Auch Belgars Kopf war voll von verworrenen Gedanken, Erinnerungen, von denen er nicht gewusst hatte, dass er sie besass. Die Beerdigung seiner Eltern, das Getuschel der Leute: 'Erst der alte Graf, und jetzt der junge, seine Frau und das Baby ... das ist der Fluch des Drachen ... Er hat sie verflucht, die ganze Familie, weil der Alte die Drachin getötet hat. Seht euch den Jungen an, wie blass und dürr der ist, der macht’s bestimmt auch nicht lange...' Es war der Drache, der Drache ist schuld. Drachen sind böse...
Norgar spürte das Misstrauen, das in der Luft lag. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er musste mit den beiden reden.
In diesem Moment erschien ein Bild vor Dargons innerem Auge. Er wusste nicht, woher es kam, doch er zweifelte nicht daran, dass es die Wahrheit war: Er sah einen Ritter, das bluttriefende Schwert im Siegestaumel erhoben, daneben der abgeschlagene Kopf eines Drachen, Haizlyns Kopf. Der Ritter nahm seinen Helm ab, und Dargon sah sein Gesicht. Ein schmales, kantiges Gesicht umrahmt von braunen Locken. Belgars Gesicht. Belgars Vorfahre hatte Haizlyn getötet! Brennender Hass durchzuckte Dargon wie ein Blitzschlag. Wild bäumte er sich auf und schleuderte Belgar aus dem Sattel. Wie ein Stein fiel der junge Druide zur Erde. Doch Norgar war es gelungen, sich an den Zügeln festzuklammern.
"Nein!" Der Schrei seines Freundes brachte Dargon jäh zur Besinnung. Was hatte er getan?
Im Sturzflug sauste er in Richtung Erde. Kurz bevor er auf dem Boden aufsetzte, sah er Belgar unter sich in einem Sumpfloch verschwinden. Einen Sturz aus dieser Höhe konnte sicher niemand überleben ... Doch da tauchte Belgar hustend, über und über mit Schlamm beschmiert, wieder aus dem Sumpfloch auf. 
"Sag mal, was zum Teufel hast du eigentlich vor?" schrie er Dargon an. "Ich wäre tot gewesen, wenn Norgar den Fall nicht mit seinem Druidenstab gebremst hätte. Aber vielleicht ist es ja genau das, was du willst! Sind dir vier Opfer noch nicht genug, musst du unbedingt die ganze Familie auslöschen?"
Vor wenigen Augenblicken noch hatte es Dargon leidgetan, was passiert war, doch jetzt übermannte ihn der Zorn aufs Neue.
"Ich habe keine Ahnung, wovon du redest", fauchte er. "Aber wieso fackelst du eigentlich so lange? Nimm doch einfach dein Schwert und schlag mir den Kopf ab, na los! Dein Grossvater wäre stolz auf dich!"
"Ach ja? Leider werde ich nie eine Chance haben, das herauszufinden, weil du..."
"Ruhe!" fuhr Norgar dazwischen. "Ihr setzt euch jetzt hier hin und hört mir zu!"
Wiederstrebend ließen sich Dargon und Belgar auf dem staubigen Boden nieder.
"Wie oft muss ich euch eigentlich noch daran erinnern, dass wir hier sind um die Welt zu retten?" fragte der alte Druide. "Und das schaffen wir nur, wenn wir zusammenhalten."
Belgar war immer noch wütend. Zusammenhalten, ha! Sollte der Alte doch seinen Dreck alleine machen! Er hatte jedenfalls keine Lust mehr, hier weiter den Prügelknaben zu spielen.
"Der Drache hat meine ganze Familie verflucht!" brauste er auf.
"Unsinn!" widersprach Norgar. "Abergläubisches Geschwätz, weiter nichts. Deine Eltern sind einer Typhus-Epidemie zum Opfer gefallen, viele sind damals daran gestorben. Dargon hatte nichts damit zu tun. Ihr dürft nicht auf diese Gedanken hören, versteht ihr?" Norgars Stimme wurde eindringlich. "Das ist Ragnar. Er muss die Kraft gespürt haben, die wir gestern Abend in der Schmiede erzeugt haben. Jetzt versucht er, uns gegeneinander aufzubringen. Ihr habt doch gelernt, wie man sich in die Gedanken eines anderen einleben kann. Und Ragnar ist ein Meister darin. Wenn wir nicht auf der Hut sind, kann er unsere Gedanken vergiften, ohne dass wir es merken.
"Dann ist es also auch nicht wahr, dass Belgars Grossvater Haizlyn getötet hat?" fragte Dargon. Norgar sah ihn an und seufzte schwer.
"Doch, ich fürchte es ist wahr. Belgar selbst hat damit nichts zu tun, er war noch gar nicht geboren, als es passierte. Aber ja, er ist der Nachfahre des Drachentöters. Deshalb habe ich ihn für diese Aufgabe ausgewählt."
"Was?!" Dargon starrte Norgar ungläubig an. "Du hast es gewusst?! Du hast es die ganze Zeit gewusst?!" Wie konnte Norgar, den er seinen Freund genannt hatte, ihm das antun?
"Ja, ich habe es gewusst." Norgars Stimme war ruhig. "Ich habe ihn ausgewählt, weil endlich Frieden herrschen muss zwischen den Menschen und den Drachen. Wir müssen lernen, unseren Hass zu überwinden, wenn wir Ragnar besiegen wollen. Solange wir hassen, hat er Macht über uns."
"Unseren Hass überwinden, das sagt sich so leicht", knurrte Dargon wütend. "Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, die Einzigen, die man liebt, auf diese Weise zu verlieren."
"Ach nein?" Norgars Stimme war immer noch vollkommen ruhig. Doch er sah Dargon fest in die Augen und gewährte ihm Einblick in seine Gedanken.
Dargon sah einen Jungen über eine Wiese rennen, auf ein Dorf zu, aus dem von Ferne Kampfeslärm erscholl. Er sah die rauchenden Trümmer, hörte die furchtbaren Schreie aus der brennenden Scheune, in der die Dorfbewohner eingesperrt worden waren.
"Ausser mir hat keiner den Überfall überlebt", erzählte Norgar leise. "Ich war danach krank vor Hass, ich dachte nur daran, einen Ritter zu finden, der mich zum Soldaten ausbilden würde, damit ich gegen die Unmenschen kämpfen konnte, die das getan hatten. Doch es war ein Druide, der mich halb verhungert im Wald fand. Er nahm mich als seinen Schüler auf und lehrte mich, den Hass zu überwinden. Es ist möglich, Dargon und Belgar, wenn die Liebe euer Leben beherrscht. Denkt immer daran: Die Liebe, die ihr verschenkt und empfangen habt,  macht euch stark."
Dargon sah plötzlich Emeli vor sich, wie sie strahlend auf ihn zu gerannt kam und die Arme um seinen Hals schlang, und eine wohlige Ruhe durchströmte ihn. Auf einmal verstand er, was die Grosse Anoria gemeint hatte, als sie sagte, er solle seinem Herzen folgen. Er sah zu Belgar hinüber und wusste, dass der junge Mann an die Schmiedin dachte. Ein Schauer überlief ihn. Beinahe hätte er den Mann getötet, den seine Freunde so liebgewonnen hatten!
"Tut mir leid, Belgar", murmelte er.
"Mir auch." Der junge Druide erwiderte seinen Blick. Dann sah er sich um. "Beim letzten Mal sah’s hier aber noch anders aus."
"Was meinst du?" fragte Dargon verwirrt. Er folgte Belgars Blick: Das Sumpfloch, die abgestorbenen Bäume, die kahlen Felsen ... ja, etwas an den Felsformationen kam ihm bekannt vor ...  Plötzlich dämmerte ihm die grausame Wahrheit. Aber das war unmöglich! Konnte das tatsächlich das Tal sein, das grüne, fruchtbare Tal, in dem noch vor kurzem ein solcher Frieden geherrscht hatte?
Norgar nickte traurig. "Ja, Ragnar streckt bereits seine Hand nach den heiligen Orten der großen Anoria aus. Uns bleibt nicht viel Zeit."

...geschrieben von Tabita
***

"Doch nun  legt euch zur Ruhe. Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns."
Und das taten sie auch.
Dargon war sofort eingeschlafen. Doch er schlief unruhig. Immer wieder sah er die Bilder vor sich. Das brennende Haus der Schmiedin, Emeli tot. Bis er merkte, dass er gar nicht mehr schlief. Er war wach, und doch sah er es. Belgar berührte ihn an der Pranke. Er sah besorgt aus.
"Du hast es gesehen", flüsterte er.
Benommen nickte Dargon. Beide sahen zu Norgar.
"Meinst du, wir schaffen es bis zum Morgengrauen?"
"Worauf wartest du noch? Steig auf!"
Dargon flog so schnell es seine Kraft zuließ. Sie sprachen kein Wort. Doch unmerklich verbanden sich ihre Gedanken.
"Es ist doch bloß eine Vision, oder?"
"Ich hoffe es. Ich habe sie schon einmal gesehen."
"Bei der großen Anoria."
"Woher weißt du das?"
"Ich sehe deine Gedanken. Du denkst oft an den Tag."
"Dann weiß es Norgar auch."
"Schon viel länger als du glaubst."
"Er konnte immer meine Gedanken lesen."
"Nicht immer. Sonst hätten wir die Große Anoria nicht rufen brauchen."
"Machst du mir einen Vorwurf?"
"Nein, ich versteh dich. Sie war sehr schön. Ich habe einen solchen Drachen noch nie gesehen. Ich dachte, alle sind grün."
"Sehe ich grün aus?"
"Nein. Deine Schuppen leuchten blau und grün und manchmal auch ein bisschen grau."
"Das will ich wohl meinen."
"Aber Haizlyns Schuppen schimmern silbern und dann wieder Perlmut. Sie ist wunderschön."
"Und lieb. Sie wollte immer Frieden mit den Menschen. Und wie wurde es ihr gedankt?"
"Dargon, pass auf. Ragnar versucht wieder in unsere Gedanken einzudringen."
"Was macht dich so sicher, dass es nicht meine Gedanken sind?"
"Fühl dich in meine rein. Ich sehe schon wieder Visionen von meinen Eltern und dem Fluch des Drachen. Schläft der Kerl denn nie?! Dargon, wir dürfen das nicht zulassen. Denk an Emeli und Jorun!"
"Können wir den Spieß nicht umdrehen?"
"Nein, nicht ohne Norgar. Kämpf einfach dagegen an. Verschließe deine Gedanken und bitte, bitte schmeiß mich nicht wieder ab."
Dargon begann zu kichern. Dann fing er an zu lachen. Er warf seinen Kopf in den Nacken.
"Es tut mir leid", brustete er. "Es tut mir so leid, aber du hast ein herrliches Bild abgegeben."
"Ja, danke" erwiderte Belgar säuerlich "ich wollte schon immer mal wissen wie es ist in den Tod zu stürzen." Doch dann fing auch er an zu lachen. Ragnar war aus ihren Gedanken verbannt.
"Es tut mir so leid", flüsterte Belgar nachdem sie sich wieder beruhigt hatten. Und Dargon spürte, dass es ehrlich gemeint war.
"Ich verstehe es nicht. Wie konnte Großvater so etwas tun?"
"Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist nicht wie er."
"Ich habe nicht gesagt, dass ich Angst habe."
"Nein das hast du nicht. Aber gefühlt."
"Es ist schwierig wenn jemand ständig Einblick in dein Inneres hat."
"Ja, du hast Recht. Es ist schwierig. Aber ich sehe auch die Zuneigung zu Haizlyn und Tarjan, obwohl du sie nicht gekannt hast. Deinem Großvater ging es nur um eine Trophäe und Haizlyn war ein leichtes Opfer. Sie hätte nie einem Menschen wehtun können, geschweige denn töten. Es war leicht. Aber du? Du bist Druide durch und durch. Du liebst die Natur, bist eins mit ihr. Nun ja, manchmal ein bisschen aufbrausend. Aber alles in allem ein netter Kerl. Und, Belgar, ich weiß nicht warum, aber ich mag dich. Doch wenn ich dein Inneres nicht gesehen hätte und deine Verbundenheit mit der Natur und die ehrliche Reue, die du für die Tat deines Großvaters empfindest, ich würde dich hassen."
Belgar fühlte sich seltsam berührt. Er strich über Dargons Schuppen.
"Sie fühlen sich schön an", murmelte er. "Ich dachte, sie wären glitschig oder so, aber sie fühlen sich schön an."
Wieder fing Dargon an zu lachen. Zum einen über Belgars verwirrten Gefühle, die hinter den Worten standen. Zum anderen über Belgar selbst und das, was er bis jetzt über Drachen geglaubt hatte.
"Du musst noch sehr viel über Drachen lernen, Junge", lachte er spöttisch. Doch dann fiel ihnen wieder ein, warum sie unterwegs waren. Beide wurden unruhiger, je näher sie dem Dorf kamen. Dargon flog noch eine Spur schneller.
Beide ahnten, dass es diesmal ein Zu-spät geben könnte, als sie das Dorf erreichten. Belgar erstarrte. Er saß regungslos im Sattel und starrte auf die meterhohen Flammen, die aus Joruns Haus kamen. Dargon hatte alle Mühe in Belgars Gedanken einzudringen und seinen Blick auf die Menschenmenge auf dem Dorfplatz zu richten. Das ganze Dorf war versammelt. Und dann kam eine Menschentraube von kräftigen Männern, die die sich verzweifelt wehrende Jorun halb mit sich trugen und halb mit sich zerrten. Weg von ihrem Haus.
"Emeli!" schrie sie verzweifelt "Lasst mich los. Emeli!"
Auf einmal riss sie sich los und rannte wieder zum Haus zurück. Doch da waren Dargon und Belgar schon dicht über ihr. Belgar ließ sich aus dem Sattel auf Jorun fallen. Und drückte sie auf den Boden, während er mit weit aufgerissenen Augen zum Haus starrte.
"Lass mich los, du Mistkerl. Ich will zu meiner Tochter."
Sie drehte und wendete sich. Sie biss und kratzte, trat um sich, bis Belgar sie anschrie:
"Verdammt noch mal, halt still. Du kannst ihr nicht helfen. Dargon kümmert sich um Emeli."
Erst da erkannte sie Belgar. Sie hielt sich an ihm fest und weinte. Belgar hoffte inständig, dass Dargon es schaffen würde. Doch gleichzeitig sah er immer wieder das Bild vor sich. Emeli in ihrem Bettchen von Flammen umgeben, mit einem kleinen Stoffdrachen im Arm.

Dargon landete etwas ungeschickt vor dem Haus. Wie sollte er zu Emeli kommen?
"Wo ist sie? Verdammt noch mal, frag sie, wo Emeli ist!" dachte er angestrengt.
"Jorun sagt in ihrem Zimmer", kam die Antwort. Und dann sah Dragon das Innere des Hauses. Belgar musste es geschafft haben in Joruns Gedanken einzudringen. Demnach musste Emelis Zimmer direkt hinter diesem Fenster sein und ihr Bett auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Dargon schloss die Augen und stieß seinen Kopf mit aller Kraft durch. Da lag sie. Genau wie in seiner Vision in Anorias Reich. Er war zu spät. Er war zu spät! Er hatte sie nicht retten können. Er war wieder zu spät:
"Dargon! Dargon, das ist Ragnar. Bring sie raus. Sie lebt noch, ich sehe es ganz deutlich. Hör nicht auf Ragnar. Hol sie raus. JETZT!!!"
Dargon schnappte zu und zog seinen Kopf raus. In dem Moment stützte das Haus ein.

Die Dorfbewohner hielten den Atem an. Alles was sie noch sahen waren Trümmer und Staub. Jorun war wie gelähmt und Belgar wusste nicht was er tun sollte. Nicht nur, dass sie zu spät kamen. Er war weit weg von Norgar. Wie sollten sie es jetzt noch schaffen Ragnar aufzuhalten. Ohne Dargon. Sie hatten versagt. Er hatte versagt. Ragnar hatte gesiegt noch bevor der Kampf angefangen hatte.
"Wer lässt jetzt grad Ragnars Gedanken zu. Er will Krieg? Den kriegt er", hörte er in seinen Gedanken. Erleichtert ließ sich Belgar auf den Rücken sinken.
"Er hat es geschafft", flüsterte er.
Der Staub verschwand, und die Trümmer schwelten nur noch leicht vor sich hin. Langsam zog Dargon seinen Kopf unter seinen Flügeln vor. Emeli lag in seinem Maul, und er legte sie vorsichtig in Joruns Arme. Sie hustete und fing dann an zu weinen. Emeli lebte.

Ratlos sahen Belgar und Dargon sich an. Was sollten sie tun? Hier waren Jorun und Emeli nicht sicher. Ragnar wusste, dass sie die beiden niemals opfern würden. Also würde er sie benutzen um sie von ihrer eigentlichen Mission abzuhalten. Die beiden mussten mit. Bloß was würde Norgar sagen. Und überhaupt. Es war kurz vor der Dämmerung. Norgar würde wahrscheinlich sehr böse auf sie sein. Sie mussten los.
Der Mann, der Belgar am Brunnen aufgehalten hatte, kam mit vier großen Bechern Wasser auf sie zu. "Hier, das werdet ihr brauchen." Jorun musste von ihrem Vorhaben erzählt haben, oder vielleicht Asgar. Belgar schaute verlegen zu Boden und wollte das Wasser nicht annehmen. Doch der Mann klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. "Schon gut. Ich hätte für meine Frau dasselbe getan."
Jetzt wurde Belgar rot und wusste vor lauter Verlegenheit gar nicht mehr wohin er schauen sollte. Doch Jorun schmiegte sich eng an ihn. Dargon grinste, doch dann wurde er wieder ernst.
"Aufsteigen!" befahl er. Belgar setzte sich in den Sattel und zog Jorun zu sich rauf. Dargon nahm Emeli und reichte sie ihrer Mutter. Es konnte losgehen. Doch auf einmal kam Asgar auf sie zu gerannt. Er war unbemerkt zwischen den Trümmern gewesen und hatte das Schwert von Joruns Mann geborgen. Er reichte es ihr.
"Hier, Mädchen, das wirst du brauchen. Und kommt zurück, ja."

Als sie über das Tal kamen, stand Norgar schon wartend da und schaute angestrengt nach oben. Dargon flog gerade tief genug, um Norgar mit seiner Pranke zu greifen und weiter zu fliegen.
"Da seid ihr ja endlich. Ihr habt euch ganz schön Zeit gelassen."
"Du wusstest es?" fragte Dargon.
"Ja, natürlich."
"Wir hätten vielleicht deine Hilfe gebrauchen können", erwiderte Belgar vorwurfsvoll.
"Die hättet ihr gehabt. Meine Gedanken waren die ganze Zeit über bei euch. Aber ihr habt sie nicht gebraucht. Und darauf kommt es an. Ihr habt die Situation bestens gemeistert und das ganz ohne Magie. Ihr habt zusammen gehalten und eure Kräfte vereint, und sie zur richtigen Zeit benutzt. Ich bin stolz auf euch. Ragnar hat gleich zwei Niederlagen erlitten. Zum einen habt ihr ihm widerstanden, und statt dass ihr euch entzweit habt, habt ihr Freundschaft geschlossen. Zum anderen habt ihr die zwei Mädchen gerettet. Er unterschätzt die Kraft der Liebe. Brauchst gar nicht rot werden, Jorun. Auch die Drachenliebe hat er unterschätzt. Jetzt weiß er, mit was für einen Gegner er es zu tun kriegt. Noch einmal wird ihm so ein Fehler nicht unterlaufen. Aber er hat gemerkt, dass er in euren Gedanken keine Chance mehr hat. Und das ist gut so. Und Dargon, bitte. Setz mich auf deinen Rücken. In deiner Pranke ist es doch etwas unbequem."
"Ich möchte mal wissen, wo es auf diesem Drachen eine Stelle gibt, die nicht unbequem ist", stöhnte Belgar. Doch Dargon war nicht beleidigt. Er konnte Belgars Grinsen förmlich vor sich sehen. Er maulte nur noch aus Prinzip. Deswegen fing Dargon auch wieder an zu lachen. Und einer nach dem anderen setzte mit ein. Es war ein befreiendes Lachen. Die Anspannungen der Nacht fielen von ihnen ab. Norgar hatte recht. Zwischen Belgar und Dargon hatte sich heute Nacht eine tiefe Freundschaft entwickelt. Und gegen Liebe war Ragnar machtlos.

Sie kamen am Steinkreis an. Auch dort war inzwischen alles verdorrt, und das Gras um den Steinkreis war regelrecht verbrannt. Die Hütte stand nicht mehr, und aus der Quelle war ein kleines Rinnsal geworden. Sie waren ratlos, was sollten sie nur tun? Nun, eins war jedenfalls sicher. Wo es einmal gebrannt hatte, kam das Feuer nicht wieder. Also beschlossen sie, im Inneren des Steinkreises auszuruhen und ein bisschen zu schlafen. Um Kräfte zu sammeln und um zu überlegen, was als nächstes zu tun wäre. Sie hofften im Steinkreis sicher zu sein. Bald waren alle eingeschlafen. Als sie aufwachten, hatte sich die Umgebung geändert. Alle sahen sich verwundert um. Nur Dargon nicht. Er wusste, wo er war. Mit klopfendem Herzen sah er sich nach Haizlyn und Tarjan um. So sehr er hoffte sie wieder zu sehen, so sehr hatte er auch Angst, Ragnar könnte ihnen etwas angetan haben. Auf einmal schrie Jorun auf.
"Wo ist Emeli."
"Bei mir, Liebes", antwortete ein tiefe Stimme. Jorun drehte sich um, dann fiel sie vor Freude weinend in die Arme von ihrem Mann.
"Aber, aber wie ist das möglich?" stammelte sie.
"Du bist im Reich der Großen Anoria."
Belgar fühlte sich furchtbar. Er freute sich so für Jorun, doch gleichzeitig fraß sich in ihm die Eifersucht fest. Norgar schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.
"Sie liebt auch dich und wir werden nicht ewig hier bleiben. Gib ihnen noch ein bisschen Zeit."
"Du hast leicht reden. Du hast ja keine Frau."
"Aber ich hatte mal eine. Schau mich nicht so entsetzt an. Ewiges Leben ist ein Fluch, kein Segen."
"Wo ist sie?"
"Wir sind nicht da, um die Toten zu sehen. Wir haben einen Auftrag. Aber ich fürchte, erstmal müssen wir Dargon von seiner Haizlyn wegbekommen."
"Keine Sorge, Norgar. Ich habe ihn bereits hergeschleift. Schön dich endlich kennen zu lernen."
"Haizlyn, nehme ich an."
"Und du musst Belgar sein."
Belgar wich ihrem Blick aus.
"Du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe deine Eltern kennen gelernt. Sehr nette Leute und dein kleiner Bruder, er spielt so gerne mit Tarjan. Du schaust deinem Vater sehr ähnlich."
"Du, du kennst meine Eltern?"
"Möchtest du sie sehen?"
"Kann ich das denn?"
"Komm mit mir."
Norgar sah sie streng an. Doch Dargon gab Belgar einen Schubs.
"Komm schon, Norgar. Die paar Minuten haben wir auch noch." Dann sah er sich nach Tarjan um, doch der hatte bereits eine neue Spielgefährtin gefunden. Auch gut. Bei Haizlyn und Tarjan war sie ziemlich sicher. Und die Schmiedin wäre bei ihrem Mann. Somit war für die beiden gesorgt und sie konnten sich ruhig auf ihre Aufgabe konzentrieren. Nur wo würde der Kampf stattfinden?

"Hier", wurden seine Gedanken unterbrochen. "Und ihr werdet verlieren. Schaut euch noch einmal gut um. So werdet ihr dieses Land nie wieder sehen. Und ich werde der Herrscher der Welt."
"Na dann los", knurrte Dargon. "Könnte mal jemand den Stift einsammeln?"
"Falls du Belgar meinst, mein Freund, den hast du gerade weggeschickt", antwortete Norgar.
"Dann werde ich ihn auch wiederholen."
"Brauchst du nicht, bin schon da. Also auf geht’s."
Langsam bildeten sie einen Kreis um Ragnar. Mist, wie konnten sie  nur ihre Gedanken verbinden ohne dass Ragnar mitspielte.
"Gar nicht, Dargon", grinste Ragnar.
"Liebe, Dargon. Benutz deine Gefühle." Das musste Norgar gewesen sein. Hoffte er.
Liebe. Gefühle. Dargon schaute in die Runde. Alle waren sie da und beobachteten sie. Jorun und ihr Mann. Haizlyn, Belgars Eltern und dahinten eine alte Frau, die Emeli, Tarjan und einen kleinen Jungen - Belgars Bruder? - bei sich hatte. Ob das Norgars Frau war? Sowohl Norgar als auch Belgar nickten kaum merklich. Dargons Augen weiteten sich.
"Denk nicht daran!" befahl Norgar. "Konzentriere dich auf den Kampf! Denk an die Prophezeiung."
"An die Prophezeiung?" höhnte Ragnar. "Da glaubt ihr noch dran? Anoria hat es ja nicht mal geschafft, mich von ihrem Reich fern zu halten. Sie ist schwach. Sie hat keine Macht über mich. Die Welt gehört mir!"
Noch immer belauerten sich die drei und Ragnar gegenseitig. Keiner wagte den ersten Schritt. Sie konnten sich nicht verständigen ohne dass Ragnar gewarnt war.
"Liebe. Dargon. Gefühle", äffte Ragnar Norgar nach. "Lass schauen. Was mache ich zuerst, wenn ich mit euch dreien fertig bin. Wo sich all eure Lieben so schön um euch versammelt haben. Oh nein. Töten werde ich euch drei später. Erst schaut ihr zu wie ich die, die euch lieb sind, quäle. Anfangen werde ich... mmm... ja mit dem süßen kleinen Drachen. Kutschiku süßer kleiner Tarjan." Der kleine Drache versteckte sich ängstlich hinter der Frau und schielte zu Haizlyn rüber. Doch der Kampf fand zwischen den beiden statt. Dargon fing an mit knurren, doch hielt er sich auf einen Blick von Norgar hin zurück. "Und dann, wie wäre es mit Irene, ihr hattet geheiratet, nicht wahr, Norgar, sie hätte mir gehören sollen." Norgars Gesicht verlor jede Farbe. Doch auch er griff nicht an. "Und dann mmm. Nehme ich Emeli oder doch lieber deinen kleinen Bruder?"
"Du elender Mistkerl!"
"Belgar nein!" schrieen Norgar und Dargon gleichzeitig. Doch es war schon zu spät. Belgar hatte angegriffen.
Norgar richtete seinen Druidenstab auf Belgar und hielt ihn in der Luft.
"Da warn es nur noch zwei" lachte Ragnar.

Auf einmal befand sich Belgar umgeben von Feuer. Er sah sich um. Nirgendwo waren Norgar und Dargon. Aber auch Ragnar war nicht da. Vor ihm stand der Baldrok Er grinste ihn hässlich an.
"Willkommen in meinem Reich. Ich hoffe, es ist angenehm warm."
"Doch ja. Recht nett hier. Vielleicht ein bisschen zu warm. Jetzt lass mich zurück."
Der Baldrok entblösste seine schrecklichen Zähne.
"Netter Versuch. Du bist mein! Balthasar, sieh mal, du hast Besuch. Schau wie hübsch dein Enkel geworden ist. Er ist wie du."
Verwundert drehte Belgar sich um.
"Großvater?"
"Belgar."
Eine Weile starrten sie sich an. Das Wesen vor ihm hatte kaum Ähnlichkeit mit den Bildern, die er von seinem Großvater gesehen hatte. Er sah halb verwest aus, oder vielmehr verbrannt, in seinen Augen war Hass zu sehen. Hass auf Haizlyn.
"Großvater, wie konntest du das tun. Wie konntest du die Drachin und ihr Junges töten. Sie haben dir nichts getan."
"Es war der Drache, der deine Familie getötet hat. Ich musste euch doch schützen."
"Du lügst. Du warst es, der Haizlyn und Tarjan ... hörst du die zwei hatten einen Namen! Haizlyn! Und Tarjan! Du hast sie getötet ohne Grund!"
"Sie waren eine Bedrohung."
"Du warst die Bedrohung."
"Sie haben Dörfer niedergebrannt."
"Das waren deine Truppen, und danach haben sie die Dörfer geplündert und du hast den Leuten weisgemacht, es wären die Drachen gewesen, aber Haizlyn hätte nie einem Menschen was tun können."
"Der Fluch des Drachen hat mich und deine Eltern getötet."
"Nein, sie starben an einer Typhusepidemie. Und auch die hatten wir indirekt dir zu verdanken. Durch den ganzen Dreck in den Straßen, und den Leichen, die sich nach deinen Raubzügen vor den Stadttoren sammelten. Und durch das verseuchte Wasser. Du wolltest ja keine neue Brunnen graben lassen. Hörst du, Baldrok, ich bin nicht wie er!"
"Nein, du bist nicht wie ich. Du hast versagt. Du hättest Macht haben können. Aber du bist zu weich."
Jetzt erst dachte Belgar an sein Schwert. Er zog es. Die Klinge schimmerte blau. Er dachte daran, wie sie alle zusammen waren um das Schwert einzuweihen. Norgar, Dargon, Asgar, Jorun, Emeli. Sie waren bei ihm, wann immer er dieses Schwert führen musste.
"Norgar, Dargon, steht mir bei", flüsterte Belgar.
"Versager!" spuckte Balthasar aus.
"Versager? Weil ich liebe?"
"Für wen tust du das schon. Für einen Drachen?"
"Für einen Freund. "
Belgar zeigte mit dem Schwert auf Balthasar. Er schwang es einmal.
"Ich tu das für Dargon, meinen einzigen Freund."
Er schwang es ein zweites Mal.
"Ich tu das für Baldur, meinen Lehrmeister."
Er schwang es immer schneller.
"Für Norgar, für Mama, für Papa, für Chester."
Dann stach er zu, einmal "Für Haizlyn" ein zweites Mal "Für Tarjan" dann brach Balthasar zusammen.
"Du Narr. Hättest du auf Ragnars Seite gestanden, könnte dir ein Teil der Welt gehören", röchelte er. "Doch so wirst du verlieren."
"Auf Ragnars Seite hätte ich verloren. Du hast versagt, Großvater."
Dann rannte er auf den Baldrok zu, der zur Oberfläche wollte. "Für Emeli und für Jorun." Doch der Baldrok wich geschickt aus. Und dann war er weg.
"Für Jorun."

"Ich bin hier, Belgar", flüsterte eine sanfte Stimme. Belgar öffneten die Augen. Sein Kopf lag in Joruns Schoß, die mit einem Rockzipfel den Schweiß von seiner Stirn tupfte.
"Was ist passiert", krächzte er.
"Ich, ich weiss nicht. Ihr seid eine ganze Weile um Ragnar drum rum geschlichen, dann bist du auf Ragnar los und lagst auf einmal am Boden und..."
"Dargon. Was ist mit Dargon und Norgar?"
Der Schmied trat auf ihn zu. Belgar sah ihn mit gemischten Gefühlen an. Immerhin hatte er im Schoß seiner Frau gelegen. Wie würde er darauf reagieren? Der Schmied hielt Belgar die Hand hin. Zögern griff Belgar danach und wurde mit einem kräftigen Ruck hochgezogen Er reichte Belgar einen Becher mit Wasser und begann dann die Lage zu erklären.
"Als Ragnar durch deinen Angriff kurzzeitig abgelenkt war, gelang es Norgar und Dargon, Ragnar in ihre Gewalt zu bekommen. Es sah so aus, als würde sich der Kampf zu ihren Gunsten entscheiden. Doch dann kam der Baldrok. Die zwei wurden getrennt, und nun kämpft Norgar gegen Ragnar und Dargon gegen den Baldrok."
Belgar überlegte fieberhaft was es zu tun galt. Ragnar und Norgar schienen gleich stark zu  sein. Auch wenn beide schon sehr stark geschwächt waren. Trotz allem schien Norgar erstmal nicht in Gefahr zu sein. Er wollte zu Dargon.
"Nein, geh zu Norgar. Er braucht dich nötiger" hörte er in seinem Kopf. Doch das war ein Fehler. Die kurze Ablenkung und Konzentration von Dargon auf Belgar genügte dem Baldrok, um den Drachen in die Enge zu treiben. Trotz allem tat Belgar, was Dargon ihm gesagt hatte, und ging so schwer es ihm fiel zu Norgar. Und er war sich nicht sicher, ob es wirklich richtig war.

Dargon wurde vom Baldrok immer mehr in die Enge getrieben. Inzwischen wurde er zu einer Felswand gedrängt. Dargon konnte weder vor noch zurück. Er hatte kaum noch Kraft. Grinsend kam der Baldrok quälend langsam auf Dargon zu. Dabei schwang er spielerisch mit seiner Feuerpeitsche. Er war sich seiner Beute sicher. Gerade holte er aus um Dargon damit zu töten, als etwas seine Peitsche ergriff und so kräftig zog, dass der Baldrok herumgerissen wurde. Der Baldrok sah geradewegs in das offene Maul eines wütenden Drachenweibchens. Und noch bevor er den Kopf, wegdrehen konnte, erfasste ihn die Flamme aus ihrem Rachen.
"Haizlyn, nein", flüsterte Dargon.
"Wer sich mit dir anlegt, kriegt es auch mit mir zu tun.
"Haizlyn, geh", schnappte Dargon. "Geh zu Tarjan. Ich muss das ohne dich durchstehen."
"Warum?" brauste sie auf.
"Weil, ... weil. Ich würde es nicht ertragen, dich noch einmal sterben zu sehen. Diesmal für immer."
"Warum verlangst du dann von mir mit anzusehen wie der Baldrok dich tötet? Zusammen können wir es schaffen."
"Also gut."
Inzwischen hatte sich der Baldrok wieder erholt. Doch nun sah er sich zwei Drachen gegenüber.
"Nun gut", grollte er, "mit zweien werde ich auch noch fertig."
"Und wie schaut es  mit dreien aus?"
Dargon erschrak.
"Großvater!"
Hinter dem Hüter der Luft kamen auch noch der Hüter des Wassers, eine große Meeresschlange, und der Hüter der Erde, ein prachtvoller Hirschs und stellten sich um den Baldrok.
"Bruders hör auf. Es wird Zeit, die Welt wieder aufzubauen und in ihr Gleichgewicht zu bringen. Komm mit uns", wandten sich die drei Elemente an das vierte.
"Damit ihr wieder auf mir rumhacken könnt? Tu dies nicht, tu das nicht. Niemals! Ich werde die Welt ohne euch beherrschen."
"Nun gut, wie du willst", erwiderte der Hüter der Luft, "Dargon, die Blaue Flamme."
Dargon gab sich alle Mühe, doch kam nur seine ganz normale rote Flamme wie sie auch den Baldrok umgab.
"Ich schaffe es nicht ohne Norgar und Belgar. Ich brauche sie."
"Sind schon da." Norgar und Belgar hatten Ragnar zum Baldrok getrieben "Es kann losgehen." Doch so sehr sie sich konzentrierten, es wollte einfach keine blaue Flamme entstehen. Da kam Haizlyn zwischen Dargon und der Schlange und fasste Dargon an seinem Flügel.
"Ich glaube fest an euch." Jorun kam und fasste Belgars Hand.
"Ich glaube auch an euch." Und Dor, ihr Mann. Er fasste auf einer Seite ihre Hand, und auf der anderen Seite berührte er den Hals der Schlange. Belgars Eltern kamen. Seine Mutter fasste seine Hand und sein Vater die seiner Mutter und die Flanke des Hirsches.  Irene stellte sich zwischen Norgar und den Hüter der Luft, der wiederum Dargons anderen Flügel hielt. Alle berührten sie sich und bildeten einen Kreis um Ragnar und den Baldrok. Sie schlossen die Augen und konzentrierten sich. Auf einmal öffnete sich Dargons Maul, und eine grell blaue Flamme ergoss sich auf Ragnar und Baldrok. Haizlyn tat es ihm gleich und dann der Hüter der Luft. Nun richteten auch noch Norgar und Belgar ihre Druidenstäbe auf sie, aus denen nun auch die blaue Flamme kam. Ragnar und Baldrok waren von allen Seiten umgeben damit. Ragnar schrie vor Schmerzen auf und wollte in ihre Gedanken eindringen um sie auseinander zu treiben. Doch es gelang ihm nicht. Gegen so viel Liebe war er machtlos. Der Baldrok schien immer mehr zu schrumpfen. Dann wurde es hell. Und noch zwei weitere Personen standen im Kreis.
Anoria und Morbus. Sie geboten der Versammlung Einhalt. Dann sah Anoria Ragnar streng an.
"Du hast gegen das Gebot der Druiden verstoßen und wolltest die Herrschaft über meine Welt erlangen. Du verdienst nicht länger meinen Schutz. Du sollst Morbus gehören. Mein Mann soll über dein Schicksal entscheiden."
Kreidebleich sah Ragnar Anoria an.
"Herrin. Bitte, Nein. Nicht Morbus."
Dargon musste daran denken, was Norgar sagte über die Angst, die die Menschen vorm Tod, vor Morbus, hatten. Nun in Ragnars Fall war sie wohl berechtigt.
Dann sah Anoria den Baldrok an.
"Du hast mich sehr enttäuscht. Geh an deinen Platz, ich will dich nicht mehr sehen."
Der Baldrok zog den Schwanz ein.
"Ja, Mutter." Dann war er verschwunden.
"Nun, Morbus, wie hast du entschieden?"
"Er wollte eine Welt aus Feuer. Er soll in eine Welt aus Feuer verbannt werden. Ich werde ihn Baldrok hinterher schicken."
"So soll es denn sein."
Morbus entriss Ragnar seinen Druidenstab und seine Amulette, die ihn bisher vor der Hitze geschützt hatten. Dann war auch Ragnar nicht mehr zu sehen.
Alle im Kreis verneigten sich tief vor der großen Anoria.
Doch diese schüttelte den Kopf.
"Nein. Erhebt euch. Norgar, Belgar, Dargon, tretet vor." Eingeschüchtert kamen die Drei der Aufforderung nach. Anoria lächelte: "Ihr braucht keine Angst zu haben. Ihr habt euch ausgezeichnet durch Mut, Weisheit, Besonnenheit und Kraft. Damit habt ihr Ragnar aufgehalten. Und dafür gilt euch mein Dank und der der ganzen Welt. Wir wollen ein Fest feiern für euch und eure Freunde." Damit zeigte sie in die Runde. "Singt und Tanzt mit mir und seid fröhlich. Ihr habt es euch verdient."

Das Fest dauerte mehrere Tage. Doch Belgar, Norgar, Dargon, Emeli und Jorun mussten wieder zurück in ihre Welt. Denn ihre Zeit war noch nicht gekommen. Der Abschied stand bevor. Belgar umarmte seine Eltern und Chester, als Dor mit Jorun auf sie zukam. Er nahm Joruns Hand und legte sie in Belgars. Sie sah Dor entsetzt an.
"Jorun. Belgar ist ein guter Mann. Du gehörst jetzt an seine Seite. Er wird gut für dich und Emeli sorgen." Und zu Belgar gewandt: "ich vertraue dir meine beiden größten Schätze an. Gib gut auf sie Acht. Ich werde hier auf euch warten. Doch erlaubst du mir, dass ich meine Frau zum Abschied noch einmal küsse."
Belgar konnte durch den Kloß im Hals kaum reden. Somit nickte er nur.
Nun umarmten auch Belgars Eltern Jorun und hießen sie in ihrer Familie willkommen. Doch dann mussten auch sie sich verabschieden.
Dargon schmuste noch einmal ausgiebig mit Haizlyn und Tarjan. Er sah sie immer wieder an. Wollte sich jede einzelne Schuppe einprägen.
Anoria kam auf sie zu.
"Dargon, ist es dein Wunsch, hier bei ihnen zu bleiben?" Dargon wollte schon nicken. Doch dann sah er zu Norgar und Belgar und zu Jorun. Emeli kam zu ihm und wollte unter seinen Flügel krabbeln. "Dakon nicht weg. Dakon bei Emeli bleiben." Dann sah er wieder zu Haizlyn und Tarjan. Mit Tränen in den Augen schüttelte er den Kopf.
"Nein. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich muss doch auf die zwei aufpassen, und ich habe Emeli versprochen, dass sie auf mir reiten darf wenn sie groß ist."
Wieder sah er zu Haizlyn die ihn genauso mit tränenverschleierten Augen ansah. Dann gab sie Dargon einen Kuss.
"Es ist die richtige Entscheidung, Geliebter."
Auch Norgar und Irene hatten sich ihnen hinzugesellt. Auch für sie war der Zeitpunkt des Abschiedes gekommen.
"Norgar. Hast du noch einen Wunsch?"
"Mein größter Wunsch ist es nicht mehr mit ansehen zu müssen wie Freunde sterben. Das ist mein einziger Wunsch. Ich möchte nicht mehr allein sein."
"Möchtest du hier bleiben? Bei Irene."
"Wenn es an der Zeit ist, ja. Wenn es noch nicht an meiner Zeit ist, würde ich gern Belgar noch das eine oder andere beibringen."
"Belgar, hast du einen Wunsch?"
Belgar sah Jorun an.
"Den halte ich bereits in meinen Armen." Jorun lächelte ihn an und dann Dor, der liebevoll ihre Hand drückte.
"Nun so sei es denn." Mit einem Wink verschwand das Reich, und sie befanden sich wieder im Inneren des Steinkreises. Das Gras war saftig grün. Doch so richtig wollte keine Freude aufkommen. Dann huschte ein leichtes Lächeln über Norgars Gesicht, und er sah einen nach dem anderen an, und einer nach dem anderen lächelte mit ihm. Sie fassten sich alle an den Händen und schlossen einen Augenblick die Augen. Als sie sie wieder öffneten, waren noch drei Weitere mit im Kreis.
"Irene", rief Norgar aus.
"Haizlyn, Tarjan."
Im Inneren des Kreises erschien Anoria mit Morbus.
"Die beiden waren der Meinung, dass Jorun mit drei Männern eventuell etwas überfordert wäre und sie ihr dringend beistehen müssten", lächelte sie. "So will ich euch noch ein paar Jahre gemeinsam schenken. Lebt denn wohl."
Dann waren sie wieder verschwunden. Norgar und Dargon konnten ihr Glück kaum fassen und führten einen Freudentanz mit sich, allein, mit Irene, Haizlyn und Tarjan auf. Auch der Schmied erschien noch einmal, küsste Jorun und nahm noch einmal Emeli auf den Arm. Er legte ein Amulett um ihren Hals. "Das wird dich schützen, Kleines. Und mach es dem armen Belgar nicht so schwer. Kein Malen mehr auf Papyrus." Dann hielt er den Rest zu Eile an. Immerhin müsse ja eine Hochzeit geplant werden. Dann zwinkerte er Belgar zu und verschwand ebenfalls.
Diesmal konnte das Gewicht unter zwei Drachen aufgeteilt werden. Belgar und Jorun saßen mit Emeli auf Haizlyn, die entschieden bequemer war als Dargon, wie Belgar meinte. Und Norgar und Irene auf Dargon. So traten sie dann die Heimreise an. Unterwegs gesellten sich dann auch Assorab und Una zu ihnen. Im Tal der Tiere machten sie eine Pause und genossen die alte Schönheit, in der das Tal wieder erstrahlte.

Innerhalb eines Jahres hatte sich das Leben wieder normalisiert, und die Natur hatte sich fast wieder erholt. Die Dorfbewohner waren stolz auf ihr Drachenpaar und verehrten es. Irene hatte sich an das Leben in Norgars Höhle gewöhnt und fühlte sich wohl. Sie war eine gute Heilerin, und viele Leute kamen zu ihr um sich Rat zu holen. Haizlyn kümmerte sich um die Dorfkinder, wenn die Eltern ihrer Arbeit nachgingen. Jorun weigerte sich nach ihrer Hochzeit mit Belgar ebenfalls in eine Höhle zu ziehen. Doch ihr Haus war mit tatkräftiger Unterstützung der Dorfbewohner und Dargon schnell wieder aufgebaut. Das erste, was sie herstellte, nachdem sie ihre Schmiede wieder eröffnet hatte, waren zwei Hufeisen. Eines für die Höhle von Dargon und eines für die Höhle von Norgar. Das Leben ging wieder seinen Gang. Doch von Generation zu Generation wurde die Geschichte von Norgar, Belgar und Dargon weitererzählt. Und von der Gefahr, die lauerte, wenn die Natur aus ihrem Gleichgewicht gebracht werden würde.

...geschrieben von Sorcha
© Sorcha und Tabita
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