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Diese Geschichte wurde von den Drachental-Besuchern zur
besten Fantasy-Story 2007 im Drachental gewählt!

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Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Inanuk

Vor langer, langer Zeit, als die Macht der Magie in vielen Gebieten der Welt zu schwinden begann, als die Magie keine alltägliche Realität mehr war, sondern nur noch ein Wort, dessen Bedeutung kaum mehr als verschwommen wahrgenommen wurde, gab es im Land der aufgehenden Sonne ein kleines Dorf, das auf einem Hochplateau am Fuße des Heiligen Berges erbaut worden war. Es bestand aus 40 schmucklosen Gebäuden, die sich unter dem mächtigen Kegel des Berges duckten und ringförmig zwei große Baracken umschlossen, die als Gemeinschaftsgebäude dienten.
In einem der kleinen Gebäude lebte Inanuk mit seiner Familie.

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Die Gilde ist deine Familie. Sie gibt dir Liebe und Sicherheit. Sie versorgt dich mit Nahrung und Wärme. Sie gibt dir ein Auskommen. Die Gilde ist das Wichtigste und Wertvollste, das du besitzt. Darum ist es deine vornehmste Aufgabe und Pflicht, sie zu schützen. Wenn es sein muss mit deinem Leben.
Erstes Gebot des Lebensbuchs der Grauen Gilde

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Als Inanuk erwachte, hatte er sogleich das unbestimmte Gefühl, dass dieser Tag ein ganz besonderer werden würde. Er wandte den Kopf zur Tür. Dort stand Inawete, seine Frau, die schwarzen Augen ihres herben Gesichts kühl auf ihn gerichtet.
"Steh’ auf," forderte sie ihn auf. "Der Gildemeister hat nach dir geschickt. Du sollst ihn sobald wie möglich aufsuchen."
Inanuk gähnte herzhaft. Er reckte sich. Mühsam rappelte er sich aus den Federn. Er war kein junger Mann mehr und hatte im Laufe der Jahre immer mehr Muskeln, Knochen und Sehnen an seinem Körper entdeckt, die ihm in seiner Jugend nie aufgefallen waren. Erst jetzt, da ihn der Alterungsprozess mehr und mehr in Griff hatte, wurde ihm bewusst, dass auch er einen Körper besaß, an dem die Zeit nicht spurlos vorüberging. Er dachte an Nanawok, seinen und Inawetes Sohn. Ihm wurde warm ums Herz. Der Junge war ihm eine große Freude, die ihn für vieles in seiner unbefriedigenden Beziehung zu Inawete entschädigte. Fragend blickte er seine Frau an. 
"Der Gildemeister? Mich?"
Inawete zuckte gleichgültig mit den Schultern.
"Meinst du, ich mache Witze?"
Fast hätte Inanuk gelacht. Inawete und scherzen? Eher würde der Heilige Berg im Meer versinken!
"Nein!" gab er zurück. "Dass du einen Witz machst, hätte ich bestimmt nicht gedacht."
Er stand auf. Inanuk besaß einen für sein Leben perfekt angepassten Körper: Das lebenslange Training hatte ihn groß und kräftig gemacht. Dabei war er aber beweglich und schlank geblieben. Wer ihn nicht kannte, sah ihm seine Kraft auf den ersten Blick gar nicht an. Nach einigen gymnastischen Übungen funktionierte sein Körper wieder perfekt. Die Geschmeidigkeit der Muskel und Gelenke war wieder hergestellt. Er schmunzelte zufrieden. So alt war er nun auch wieder nicht.

***

Die Konstruktion der Hütte Inanuks war von großer Bescheidenheit: Sie bestand aus einem großen Wohnraum, in dem sich das Familienleben der Familie abspielte und zwei angegliederten kleineren Zimmern: Das Schlafzimmer der Eltern und das Zimmer für den Nachwuchs. 
Im großen Wohnraum hatte Inawete bereits ein Frühstück zubereitet. Inanuk strich seinem Sohn, der schon ungeduldig wartete, zur Begrüßung über das Haar. Sie wechselten einige belanglose Worte. Dann nahm er Platz. Während der Mahlzeiten hatte nach den Regeln der Gilde Schweigen zu herrschen. Inanuk und seine Familie hielten sich daran. Erst nachdem der letzte Bissen zerkaut und hinuntergeschluckt worden war, brach Inanuk das Schweigen.
"Hat der Gildemeister gesagt, warum er mich sehen möchte?" fragte er.
Inawete schüttelte verneinend den Kopf.
"Das hat er nicht. Es wird sich also um einen offiziellen Besuchstermin handeln. Vielleicht bekommst du sogar einen Auftrag. Du hast schon lange nichts mehr für die Gilde getan."
Inanuk schwieg verletzt. Dies war wieder eine der typischen Antworten Inawetes. Sie wusste genau, dass der Gildemeister plante, ihn zu seinem Nachfolger zu machen, denn der Gildemeister war schon sehr alt und musste sich um die Regelung seiner Nachfolge kümmern. Inanuk war der Favorit in der Schar möglicher Nachfolger. Inawete aber gönnte ihm diese Stellung nicht. Ihrer Meinung nach wäre sie selbst die bessere Wahl gewesen. Bei der Grauen Gilde hatte es aber noch nie eine Gildemeisterin gegeben. Und selbst wenn es einmal eine weibliche Nachfolgerin geben sollte, würde sie gewiss nicht Ianwete heißen, denn sie besaß aufgrund ihres herrischen und kalten Umgangstons nicht die charakterliche Eignung für dieses Amt. Von einem Gildemeister wurde ein ausgleichendes und vermittelndes Wesen erwartet. Er war die Vaterfigur der Grauen Gilde. Inawete würde diese Rolle nie ausfüllen können. Sie war bis zu ihrer Heirat mit Inanuk eine ausgezeichnete Kämpferin der Gilde gewesen, hatte aber danach traditionsgemäß keine Aufträge mehr zugeteilt bekommen, da sie sich vollständig auf ihre neue Rolle als Mutter zu konzentrieren hatte. Das Wohlergehen des Nachwuchses war einfach zu wichtig, als dass man die wenigen Frauen, die noch in der Lage waren, Kinder in die Welt zu setzen, zu gefährlichen Einsätzen schicken konnte. Dass der Gildemeister ihr eigener Vater war, hatte daran nichts ändern können. Inawete betrachtete ihre Mutterschaft aber als Stellungsverlust und trug dies den beiden Männern nach: Inanuk, weil sie ihn hatte heiraten müssen, und ihrem Vater, weil er sie zu dieser Ehe gezwungen hatte.
Inanuk erhob sich seufzend und bereitete sich auf seinen Besuch beim Gildemeister vor. Er verließ den Wohnraum und betrat das Schlafzimmer. Dort kleidete er sich den Regeln entsprechend an: In die weite, sorgfältig geplättete Langhose, die er über seine weiße Strumpfhose zog, wurde das graue Seidenhemd gestopft, das seinen Oberkörper bedeckte. Über das Seidenhemd zog er die schwarze, mit goldenen Stickereien verzierte Weste, die weit über die Gürtellinie herab hing. Anschließend schlüpfte er in seine Riemensandalen. Das waren die Kleidungsstücke, die ein Mitglied der Grauen Gilde zu tragen hatte, wenn es zu einem offiziellen Besuch bei seinem Gildemeister gerufen wurde.
Mit einem kurzen Seitenblick auf Inawete, die wortlos und mit grimmiger Miene den Tisch abräumte, verließ Inanuk seine Hütte und machte sich auf den Weg zur Behausung des Gildemeisters. Nanawok war schon in der Ausbildungsbaracke, um seine morgendlichen Trainingseinheiten zu absolvieren. In der Regel gingen sie gemeinsam dorthin. Aber der Besuch beim Gildemeister ging natürlich vor. Inanuk blickte sich kurz um. Alles war wie immer: Die Häuser des Dorfes waren in einem großen Kreis angeordnet, in dessen Zentrum sich die zwei großen Baracken erhoben. Die eine diente sanitären Zwecken, die andere war das Trainingszentrum der Gilde.
Das Haus des Gildemeisters lag Inanuks Hütte genau gegenüber und lehnte sich direkt an den Granitbauch des Heiligen Berges. Inanuk überquerte den zentralen Platz. Aus der Trainingsbaracke drang helles Waffenklirren. Der Tag nahm seinen normalen Gang.

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Der Gildemeister ist das Oberhaupt der Grauen Gilde. Er ist weise. Nur er allein weiß, was richtig ist. Nur er allein erteilt Aufträge. Kritik an seinen Weisungen oder seinem Verhalten ist dir nicht erlaubt. Achte und liebe ihn, denn er ist der Vater der Gilde.
Zweites Gebot des Lebensbuchs der Grauen Gilde

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Als Inanuk sein Ziel erreicht hatte, öffnete sich die Tür: Der Meister empfing ihn persönlich.
"Sei gegrüßt, Inanuk, ehrenhafter Kämpfer unseres Volkes," sagte dieser. "Möge das Glück immer auf deiner Seite sein!"
Die Männer schauten sich die vorgeschriebenen drei Sekunden schweigend an. Diese Zeit hatte der Gildemeister zu nutzen, um sich eine Vorstellung über die Verfassung seines Schützlings zu machen. War er nicht in Form, durfte er keinen Auftrag erhalten. Inanuk machte aber einen frischen und einsatzbereiten Eindruck. Der Meister gab den Weg in das Innere der Hütte frei.
Sein Haus unterschied sich äußerlich in keiner Weise von denen der anderen Mitglieder der Gilde. Nur dort, wo sich in Inanuks Hütte das Kinderzimmer befand, traf der Blick auf eine schwere, reich mit Ornamenten geschmückte Tür, die einen langen und gewundenen Gang verbarg, welcher tief hinein in den Heiligen Berg führte. Inanuk kannte diesen Gang gut. Schon oft hatte er ihn benutzt, um an den Ort zu gelangen, an dem die Mitglieder der Grauen Gilde ihre Aufträge entgegennahmen.
Doch noch war es nicht soweit. Jetzt, da sie in der Hütte, vor den Blicken anderer geschützt und sozusagen privat zusammen waren, fiel die Begrüßung des Gildemeisters herzlicher aus.
"Na, mein Sohn, wie geht es mit dir und Inawete?" wollte er wissen.
"Du kennst deine Tochter," gab Inanuk zurück. "Sie hat sich nicht geändert."
Der Meister schüttelte traurig den Kopf.
"Ich kenne sie - und sie wird sich nie ändern. Leider habt ihr beiden genetisch so gut zueinander gepasst, dass ich angesichts unserer Situation keine andere Entscheidung treffen konnte als die, die ich seinerzeit getroffen habe: Ihr beiden musstet heiraten und Nachwuchs zeugen. Der Erfolg gibt mir Recht: Nanawok ist zu einem exzellenten jungen Mann herangewachsen. Dennoch wäre Inawete besser nicht als Frau geboren worden. Aber wir können es nicht ändern."
Er öffnete die Tür zum Inneren des Heiligen Berges und blickte Inanuk ernst an.
"Heute habe ich einen besonders wichtigen Auftrag für dich. Bitte lasse dich nieder. Wir wollen nun den Raum des Heiligen Auftrags aufsuchen."
Inanuk war irritiert. Dass der Gildemeister die Wichtigkeit des Auftrags betonte, war ungewöhnlich, denn da die ordnungsmäßige Erfüllung des Auftrags die Lebensgrundlage der Gilde schlechthin war, bedurfte ihre Bedeutung keiner besonderen Betonung.
Zusammen mit dem Gildemeister ließ er sich nieder. Beide liefen geschwind durch den Gang, bis sie in eine große, achteckige Halle gelangten, deren Mitte eine kreisrunde Arena beherrschte. Den Boden des Runds bedeckte ein kostbarer Teppich, der mit magischen Zeichen bestickt war. Ringsum standen Wachskerzen in eisernen Ständern. Sie warfen ein ruhiges Licht. In der Mitte der Arena stellten sich die beiden gegenüber auf.
Nach einer geraumen Weile, in der sie sich still und reglos gegenübergestanden hatten, fragte der Gildemeister:
"Inanuk, bist du bereit, deinen Auftrag von mir, dem Gildemeister unseres Volkes, zu empfangen, selbst wenn seine Ausführung dich das Leben kosten sollte?"
"Ja, Gildemeister! Ich bin bereit, den Auftrag zu empfangen und ihn bis zum Ende durchzuführen. Selbst wenn es mich das Leben kosten sollte!"
Damit war die Zeremonie der Auftragserteilung offiziell eröffnet. Der Gildemeister nickte befriedigt und fuhr fort.
"Was weißt du von Yono Hatamoto?"
"Er ist der Erste Samurai dieses Landes und einer der mächtigsten Männer des Landes der Aufgehenden Sonne. Er besitzt das Ohr des Kaisers, sagt man."
"Was weißt du über seinen Sohn?"
"Sein Sohn ist ein so ehrenvoller Samurai, wie es sich für einen Sohn dieses Vaters geziemt."
"Weißt du, wo er zurzeit lebt?"
"Das weiß ich nicht. Er hat das Land bereits vor Jahren verlassen. Über seinen genauen Aufenthaltsort ist nichts bekannt."
"Was ist das größte Problem unseres Volkes, Inanuk?"
Diese Frage war seltsam. Inanuks Irritation wuchs. Zuerst hatte er gedacht, dass sein Auftrag sich auf die Person Yono Hatamotos beziehen würde, wenn es ihm auch unwahrscheinlich erschien, denn in die hohe Politik des Landes hatte sich die Gilde bisher nie eingemischt. Und Yono war hohe Politik. Sehr hohe! Doch die sich jetzt anschließende Frage hatte mit der ersten nichts zu tun. Oder doch?
"Unser Volk stirbt!" antwortete Inanuk. "Unsere Geburtenrate ist zu niedrig, um die Verluste, die durch das Hinsterben der Alten entstehen, wieder auszugleichen."
Der Gildemeister knurrte bitter.
"Unser Problem ist, dass es vor zweihundert Jahren noch viele Tausende von uns gab. Doch dann erstarb nach und nach in dieser Welt die Magie. Sie verschwand, weil die Menschen den Glauben an sie durch die Gier nach Technik und Reichtum ersetzten. Sie löste sich einfach auf. Wir wurden vertrieben, weil wir die Magie zum Leben brauchen und ohne sie schwach werden. Und hier, am Fuß des Heiligen Berges des Landes der aufgehenden Sonne, fanden wir eine letzte Zuflucht. Nicht, weil man uns achtete, sondern weil die Mächtigen dieses Landes unsere Fähigkeiten brauchen. Jetzt sind wir nur noch fünfzig Familien und längst nicht alle haben Kinder in die Welt gesetzt."
Inanuk senkte bekümmert den Kopf. Der Meister hatte die Wahrheit schonungslos beim Namen genannt. Die Mitglieder der Grauen Gilde brauchten die Kraft der Magie, um existieren zu können. Ohne sie gab es keine Zukunft.
Der Gildemeister sprach weiter:
"Was würdest du sagen, wenn es ein Land gäbe, in dem die Magie noch so stark ist wie in der alten Zeit? Ein Land, in dem es Hexen, Elfen, Kobolde gibt? Ein großes, wundervolles Land, das sogar von einem Drachenkönig beherrscht wird?"
Inanuk antwortete bitter:
"Meister, ich glaube, du möchtest mich zum Narren halten! So ein Land gibt es nicht! Du solltest mit diesem Thema keinen Spott treiben! Es ist zu ernst und zu traurig zugleich!"
"Ich stimme dir zu, Inanuk!" gab dieser zurück. "Und doch ist es so. Hieronto Hatamoto, Yonos Sohn, lebt in diesem Land. Er hat dort eine Frau gefunden, die er heiraten will. Eine echte Prinzessin mit magischen Fähigkeiten."
Inanuk durchfuhr ein elektrischer Schlag. Vor Aufregung vermochte er nichts mehr zu sagen. Seine Gedanken überschlugen sich. Ein Land voller Magie. Unvorstellbar!
"Und was ist mein Auftrag?" wollte er wissen.
"Dein Auftrag besteht aus zwei Teilen. Erstens: Finde heraus, ob dieses Land wirklich so magisch ist, wie man sagt und ob wir dort leben könnten. Wenn ja, so versuche, mit dem Drachenkönig zu einer Einigung zu kommen. Versuche seine Erlaubnis zu bekommen, dass sich die Graue Gilde dort ansiedeln darf, um dort zu leben. Hier werden wir auf jeden Fall sterben. Dort aber werden wir vielleicht leben."
"Wie soll ich das tun? Wie könnten wir einem echten Drachen von Nutzen sein?"
"Wir sind unschlagbare Kämpfer. Einer von uns kann es mit zwanzig erfahrenen Samurais aufnehmen. Vielleicht kann er echte Krieger gebrauchen."
Inanuk senkte nachdenklich den Kopf. Der Meister hatte Recht. Man durfte nichts unversucht lassen. - Wenn die Information denn stimmte, war es immer einen Versuch wert.
"Und zweitens?" fragte Inanuk.
"Yonos Stellung in diesem Land mag im Moment unangefochten sein. Doch er hat viele Neider, die befürchten, dass er seine Position ausnutzen wird, um bei der nächsten Gelegenheit selbst Kaiser des Landes zu werden. Die zukünftige Frau Hierontos soll die magische Fähigkeit besitzen, Glück zu bringen. Yonos Macht gepaart mit Glück sollte ihn automatisch in die Position eines Anwärters auf den Kaiserthron bringen. Seine Widersacher wollen das natürlich unter allen Umständen verhindern. Der zweite Teil deines Auftrages lautet daher: Töte die Verlobte Hierontos! Töte Jannie von Drachenfels!"
Diesen Teil des Auftrags nahm Inanuk gelassen hin. Üblicherweise bestanden die Aufträge der Gilde darin, Menschen zu töten, die anderen im Wege standen. Darauf waren alle Kämpfer der Grauen Gilde trainiert. Nichts war einfacher, als einen Menschen umzubringen. Mochte er noch so stark sein, mochte seine Leibgarde noch so zahlreich sein. Der Tod kam in der Regel schnell und blitzartig über ihn. So wie es die Mitglieder der Gilde ein Leben lang übten.
"Wir mischen uns aber normalerweise nicht in die Hohe Politik ein!" gab er nur zu bedenken.
"Diese Frau ist keine hohe Politik," antwortete der Meister. "Wir rühren Hieronto nicht an. Wegen eines Mädchens wird Yono keinen Aufstand machen. Eine Frau ist nach den Sitten dieses Landes von keinem hohen Wert. Die Auftraggeber gehen davon aus, dass Yono das Unglück, das über seinen Sohn kommen wird, zähneknirschend hinnehmen wird. In der Hafenstadt Yokohama wird in drei Tagen das Handelsschiff "Undine" ablegen. Es sind zwei Plätze reserviert. Der Kapitän ist ein ehrenwerter Mann. Er heißt Hüppes und kennt das magische Land sehr gut. Eine Bitte noch: Nimm deinen Sohn Nanawok mit. Er wird dich bei der Erfüllung deines Auftrags unterstützen."
Inanuk blickte überrascht auf.
"Nanawok? Warum? Meinst du nicht, dass ich den Auftrag allein ausführen kann? Traust du mir das nicht mehr zu?"
Der Meister schmunzelte.
"Dieser Auftrag ist von so großer Bedeutung für unser Volk, dass ich ihn durch meinen besten Mann ausführen lasse: Und der bist du! Eigentlich hatte ich vor, mein Amt noch in diesem Jahr an meinen Nachfolger abzugeben. Auch das solltest du sein. Aber nun muss ich noch ein wenig auf meinem Posten ausharren. Der Auftrag besteht aus zwei Teilen. Dadurch ist der Einsatz von zwei Kriegern gerechtfertigt."
"Aber Nanawok ist noch zu jung! Seine Ausbildung ist noch nicht abgeschlossen!" gab Inanuk zu bedenken.
"Der Junge ist alt genug. Es fehlt ihm zwar noch der letzte Schliff, aber den wirst du ihm geben. Wer könnte dafür auch besser geeignet sein als du - sein Vater und zukünftiger Gildemeister? Nanawok hat ausgezeichnete Erbanlagen. Inawete mag sein, wie sie will, aber sie ist eine herausragende Frau unserer Gilde und du bist ein herausragender Mann. Ich habe mit seinen Trainern gesprochen. Dein Sohn wird in jeder Disziplin mit ausgezeichneten Noten bewertet. Niemand führt das Schwert tödlicher als er, niemand wirft den Djan präziser. Er ist intelligent, schnell, stark und ausdauernd. Was ihm fehlt, ist Weisheit - aber die wirst du ihm vermitteln. Ich weiß, dass du dich um ihn sorgst. Das ist auch gut so, denn du bist sein Vater. Doch es wird Zeit für seinen ersten Einsatz!"
Inanuk bemühte sich, seine Sorgen nicht zu deutlich werden zu lassen. Es fiel ihm in der Tat schwer, seinen Sohn, den er über alles liebte, den Gefahren eines echten Einsatzes auszusetzen. Doch er hatte keine Wahl: Der Gildemeister hatte immer Recht. Es stand ihm nicht zu, in irgendeiner Form Kritik zu üben.
Die Augen des Meisters blickten ihn an.
"Hast du mir etwas zu sagen, Inanuk?" fragte er Gildemeister.
"Es ist gut, Meister, ich habe den Auftrag verstanden. Ich nehme ihn an und werde ihn ausführen!" sagte Inanuk.
Der Meister ging auf Inanuk zu und legte ihm in einer väterlichen Geste einen Arm um seine Schultern.
"Du bist nicht nur einfach mein Schwiegersohn, Inanuk, du bist mehr für mich. Ich weiß darum, wie schwer es dir fällt, Nanawok mitzunehmen. Ich vertraue dir diesen Auftrag auch nur schweren Herzens an. Doch glaube mir: Ohne ihn wirst du diese Aufgabe nicht lösen können. Gehe hin, mein Sohn. Möge das Werk gelingen!"
Ein eisiger Wind fegte durch den Raum und löschte die Flammen der Kerzen. Der Auftrag war ordnungsgemäß übergeben und angenommen. Die Zeremonie beendet. Gleichzeitig war der Auftrag auch so gut wie ausgeführt. Nicht umsonst waren die Krieger der Grauen Gilde für ihre Auftragstreue berühmt und berüchtigt zugleich. Jannie von Drachenfels war bereits so gut wie tot.

***

Der Auftrag ist die Lebensgrundlage der Gilde. Nur seine Erfüllung garantiert ihre Existenz. Die Mächtigen werden die Gilde nur so lange dulden, solange sie sie fürchten und Nutzen aus ihr ziehen können. Darum führe den Auftrag unter allen Umständen so aus, wie ihn dir der Gildemeister erteilt hat.
Elftes Gebot des Lebensbuchs der Grauen Gilde

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Üblicherweise machten sich die Krieger der Grauen Gilde nach der Auftragsübergabe ohne weitere Verzögerung ans Werk. Entsprechend zielstrebig handelte auch Inanuk. Auf dem Rückweg holte er Nanawok aus der Baracke ab, entschuldigte ihn bei seinen Ausbildern und kehrte zusammen mit ihm in seine Hütte zurück. Dort teilte er Inawete mit, dass er einen Auftrag habe, den er zusammen mit Nanawok ausführen müsse. Die folgenden bissigen Bemerkungen seiner Frau ignorierte er mit stoischer Ruhe. Sollte sie sich ruhig austoben. Er würde sie für viele Monate nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aufträge hatten mitunter auch ihre guten Seiten.
Die Angehörigen der Gilde hatten, von ihren Waffen abgesehen, kaum persönlichen Besitz. Die Habseligkeiten, die sie für ihre Reise benötigten, waren in der Regel schnell gepackt: Die Bekleidung bestand aus einer einfachen, eng geschnittenen langbeinigen Hose von grauer Farbe und einem entsprechend geschneiderten Hemd, über das ein kuttenähnliches Gewand gezogen wurde, das Mantel, Wind- und Regenschutz zugleich war. In einem Schulterhalfter befanden sich zwei Lederfutterale, die so befestigt waren, dass sie mit einem schnellen Griff hinter den Hals sofort zu erreichen waren. In diese Scheiden steckten sie je einen Djan, den schweren, zweischneidigen Wurfdolch der Gilde. Um die Hüften banden sie die Halterung für ihr Schwert: Ein leichter Einhänder, der sie bei ihrer Reise nicht über Gebühr behindern würde, aber als Waffe in der Hand eines erfahrenen Schwertkämpfers nicht zu unterschätzen war. Natürlich waren die Krieger der Grauen Gilde in der Handhabung dieser Waffe wahre Meister.
Nur drei Stunden nach der Auftragserteilung verließen Vater und Sohn ihre Behausung und richteten ihre Schritte in Richtung des einzigen Pfades, der vom Plateau hinab ins Tal führte. Inanuk warf einen letzten Blick zurück auf den weißen Kegel des Heiligen Berges. Dort oben, in fast 4000 Metern Höhe war immer Winter. Ob er diesen Anblick jemals wieder sehen würde?
Auf ihrem Weg nach Yokohama trafen sie kaum einen Menschen, denn die Bevölkerung des Landes mied die Gegend um das Dorf der Grauen Gilde, wo sie es nur konnte. Die hoch gewachsenen Krieger und ihre Fähigkeiten waren unheimlich. Es war zwar bekannt, dass die Gilde nur im Rahmen eines Auftrages tötete, aber wer konnte sicher sein, dass er nicht selbst Ziel eines solchen war oder werden würde? Arme Leute waren in der Regel sicherer als Wohlhabende, denn ein armer Mensche würde wohl kaum einen derartigen Zorn eines Reichen auf sich ziehen, der den Einsatz der Gilde rechtfertigte, denn die Gilde verlangte ungeheure Summen für ihre Dienste. Aber dennoch! Den Grauen ging man besser immer aus dem Weg, denn hatte man sie erst einmal auf seiner Fährte, wurde man sie erst dann wieder los, wenn man tot war. Und auf diese Erfahrung konnte jedermann gut verzichten.
So eintönig der Marsch für Inanuk auch war, so war er für Nanawok ein großes Abenteuer. Da die Gilde ihr Dorf nur im Rahmen eines Auftrags verließ, hatten Jugendliche so gut wie keine Gelegenheit, das Plateau zu verlassen, denn sie mussten zuerst ihre Ausbildung vollenden, ehe sie einen Auftrag durchführen durften. So entdeckte der Junge hinter jeder Biegung neues und löcherte seinen Vater mit Fragen. Da Inanuk sich noch gut an seinen ersten Auftrag erinnern konnte, beantwortete er schmunzelnd jede Frage seines Sohnes so gut er konnte, selbst wenn es ihm mit der Zeit zuviel wurde und er sich insgeheim nach Stille sehnte.
Nach einem dreitägigen Marsch, in dessen Verlauf Inanuk sich den Mund wund redete, erreichten sie endlich den Hafen Yokohamas. Die Stadt zog sich eine beachtliche Strecke an der Küste entlang und war bis dicht an das Hafenbecken eng bebaut. Das Gewimmel von Händlern, Seeleuten und Hafenarbeitern, die sich rings um die festgemachten Schiffe tummelten, war unvorstellbar. Hinzu kam ein Wirrwarr von Lauten und Gerüchen, die sich zu einem unbeschreiblichen Klang- und Geruchserlebnis vereinten. Entsprechend groß war die Belastung der empfindlichen Sinne der beiden Grauen, die normalerweise die abgeschiedene Ruhe ihres Plateaus gewohnt waren.
Die Seeleute des Landes der Aufgehenden Sonne mochten die Hochsee aufgrund ihrer Gefahren nicht. Sie bevorzugten die wesentlich ruhigere Küstenregion. Ihre Schiffe waren daher in der Regel relativ leicht gebaut und nicht besonders groß. Der Großsegler, der seine drei Masten kühn in den Himmel reckte und träge wie ein Wal im Hafenwasser lag, wirkte darum so groß und wuchtig wie ein Truthahn in einem Taubenschlag: Er war nicht zu übersehen. Das musste die Undine sein!
"Ist das unser Schiff?" fragte Nanawok auch sofort.
Inanuk hatte diese Reaktion vorausgesehen und blickte seinen Sohn an.
"Ich gehe mal davon aus, Sohn. Seiner Größe nach ist es hochseetauglich. Außerdem erkenne ich am Heck einen Schriftzug. Undine steht da drauf. Das muss unser Schiff sein."
Nanawok war kaum zu halten. Er schritt so schnell aus, dass sein Vater Mühe hatte, ihm zu folgen.
"Bewahre deine Würde, Nanawok," rief er ihm nach. "Es schickt sich für uns nicht, in Hast zu verfallen!"
Natürlich dachte der junge Krieger nicht daran, sich zurückzuhalten. Da er den Blick nicht von dem beeindruckenden Schiff lassen wollte, drohte er mehr als einmal mit anderen Passanten zusammenzustoßen. Inanuk war heilfroh, als sie endlich ohne viel Aufsehen zu erregen an ihrem Ziel angekommen waren.
"Ist es nicht wunderschön?" seufzte Nanawok aus vollem Herzen, als er unmittelbar vor dem Rumpf des Seglers stand, den Kopf weit in den Nacken gelegt, um die hohen Masten bis zur Spitze überblicken zu können.
"Das will ich meinen, junger Mann!" ließ sich die Stimme eines kleinen und dicken Mannes vernehmen, der in unmittelbarer Nähe stand. "Das ist die Undine. Eines der schönsten Schiffe weit und breit. Zum Glück besitze ich es schon. Sonst müsste ich es mir noch kaufen!"
Nanawok ließ sich in seinen Betrachtungen nicht stören. Begeistert verschlang er mit seinen Augen die aufwändige Takelage, die Männer, die in einem geregelten Durcheinander das Schiff seeklar machten und die wertvollen Schnitzereien, die den Bug zierten.
Etwas irritiert wandte der Dicke seinen Blick ab und sah schließlich Inanuk, der inzwischen auch herangetreten war.
"Gehört ihr beide zusammen?" fragte er, nachdem er ihn ausführlich gemustert hatte. "Der Kleidung nach kommt ihr aus dem gleichen Stall!"
"So kann man es auch nennen!" lachte Inanuk. "Ich muss mich für die Unhöflichkeit meines Sohnes entschuldigen, aber er hat noch nie ein so großes Schiff gesehen. Die Jugend ist eben sehr begeisterungsfähig. Ich hoffe, Ihr nehmt uns trotzdem an Bord. Wir haben zwei Plätze gebucht."
Der Dicke lachte freundlich zurück und reichte ihm die Hand, die Inanuk sofort ergriff. 
"Aber sicher," sagte er. "Ich bin Hüppes, Kapitän und Eigner der Undine. Willkommen an Bord!"
Inanuk stellte sich und seinen Sohn vor. Dann folgten sie Hüppes auf das Schiff.
"Wir sind gleich seeklar," erläuterte dieser. "Ich freue mich, dass Ihr so pünktlich gekommen seid. So können wir gleich mit dem Einsetzen der Ebbe auslaufen."
Er schaute Inanuk an.
"Wenn ich mich recht erinnere, wollt Ihr bis zum Ende der Reise mitfahren. Von hier aus geht es fast einmal ganz um die Welt. Unser Ziel ist die Hafenstadt Rotter. Wir werden sie aber in frühestens acht Monaten erreichen."
Inanuk nickte bejahend, sagte aber noch nichts über das magische Land, das er finden wollte. Zunächst wollte er den guten Kapitän näher kennen lernen.
Da Hüppes sich nun voll auf das Auslaufen des Schiffes konzentrieren musste, suchten Inanuk und Nanawok ihre Kajüte auf. Sie waren zufrieden. Der Raum war geräumig und hell. Außerdem war er sauber und ordentlich. Sie würden die lange Reise also gut aushalten können.
Nachdem sie ihre Habseligkeiten verstaut hatten, gingen sie wieder an Deck, um das Auslaufen des Schiffes zu beobachten.

***

Die sich nun anschließende Seereise war trotz ihrer langen Dauer selbst für Inanuk, der doch schon einiges erlebt hatte, eine der schönsten Begebenheiten seines Lebens. Für Nanawok war sie sogar das große Abenteuer schlechthin. Das Wetter meinte es auch gut mit ihnen: Die See war ruhig, woran selbst gelegentlich leicht auffrischende Winde nichts änderten, sodass sie die Seefahrt nur von der angenehmen Seite her kennen lernten.
Nur ein dritter Passagier, der schon vor ihnen an Bord der Undine gekommen war, sich aber so gut wie nie an Deck zeigte und die meiste Zeit dumpf in seiner Kajüte vor sich hin brütete, störte hin und wieder die angenehm träge Harmonie an Bord. Für ihn verlief die Reise nicht schnell genug, denn Hüppes ließ sich viel Zeit. Als Kaufmann kam es ihm nicht darauf an, seinen Zielhafen so schnell wie möglich zu erreichen, sondern soviel Handel zu treiben, wie möglich. Deshalb steuerte er Rotter nicht direkt an, sondern lief einen großen Hafen nach dem anderen an, ohne natürlich sein Ziel nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Da Hüppes ein angenehmer Gesellschafter und schon viel herumgekommen war, war er vielerorts bekannt. Er galt als ehrlicher Geschäftspartner und war überall gern gesehen.
Diese Art des Reisens war dem Dritten aber ein Dorn im Auge. Immer dann, wenn sie einen neuen Hafen anliefen, kam er an Deck und fragte ärgerlich, wann es denn nun endlich nach Rotter gehe. Er habe einen eiligen Auftrag zu erledigen und nicht alle Zeit der Welt.
Der Mann war ein fast typischer Vertreter der Bewohner des Landes der Aufgehenden Sonne: Deutlich größer als der Durchschnitt zwar und damit nicht viel kleiner als die beiden Grauen, aber ansonsten mit schwarzem Haar, das er hinten zu einem Zopf zusammengebunden trug, gelb-bräunlichem Teint und Mandelaugen, die stets misstrauisch und mit höchster Aufmerksamkeit die Umgebung beobachteten, versehen. An der Seite trug er zwei Schwerter. Ein langes und ein kurzes. Seine Kleidung bestand aus dunkler Seide und offenen Sandalen.
Hüppes mochte denn Mann nicht besonders, blieb aber stets der freundliche Gastgeber. Mit gleich bleibender Geduld erklärte er ihm, dass die Undine ein Handelsschiff und kein Schnellsegler war. Außerdem gab es keine andere Reisemöglichkeit nach Rotter: Der Landweg war viel zu beschwerlich und andere Schiffe befuhren diese Route nicht. Der Schwertträger wandte sich dann jedes Mal grimmig ab, um in seiner Kajüte zu verschwinden, tauchte aber immer wieder aufs Neue auf, wenn sich wieder einmal eine Gelegenheit bot, ungeduldig zu werden.
"Was hältst du von ihm?" fragte Inanuk nach einigen Tagen seinen Sohn, als der Mann wieder einmal seinem Unmut Luft gemacht hatte.
Nanawok zeigte, dass er trotz seiner Jugend genug Menschenkenntnis hatte, um intelligente Schlüsse zu ziehen.
"Er führt sich auf wie ein Samurai. Seiner wertvollen Kleidung nach ist er kein Feld-, Wald- und Wiesen-Samurai, sondern besitzt eine herausragende Stellung. Der Farbe seines Umhangs nach könnte er ein Gefolgsmann Yono Hatamotos sein."
"Das denke ich auch! Was meinst du, macht ein solcher Samurai auf der Undine?" bohrte Inanuk weiter.
"Da er so schnell wie möglich nach Rotter will, halte ich ihn für einen Boten. Es könnte sein, dass Yono von unserem Auftrag erfahren hat und beabsichtigt, seinen Sohn zu warnen."
Inanuk nickte anerkennend.
"Ja, das glaube ich auch. Was sollen wir also tun?"
Nanawok grinste.
"Es wäre kein Problem, ihn zu töten. Aber das würde gegen die Regeln des Lebensbuchs verstoßen."
"Welche Regel meinst du?"
"Regel dreizehn: Lasse die Zielperson wissen, dass du sie töten wirst. Wenn sie gewarnt werden soll, so lasse es geschehen. Wenn sie sich darauf richtet, dass du kommst und sie sich nach allen Seiten hin absichert, so wird ihr das nichts nützen, denn die Gilde tötet trotzdem schnell und zuverlässig. Die Warnung der Zielperson dient also letztendlich nur dem Ruhm der Gilde."
"Du hast deine Lektionen gut verinnerlicht, mein Sohn!" lobte Inanuk zufrieden seinen Sohn.
Endlich war der Bauch der Undine derart bis an den Rand mit wertvollen Waren gefüllt, dass auch mit bestem Willen und aller Gewalt nichts mehr hineinging. Als sie den letzten Hafen verließen, schaute Hüppes wehmütig drein.
"Ich fürchte, jetzt muss ich doch nach Rotter zurück, dabei wäre ich gerne noch weiter südwärts gesegelt. Dort soll es eine Insel mit kostbaren Gewürzen geben," brummte er. Dabei schaute er Inanuk und Nanawok an, die wie immer unzertrennlich an der Reling standen und den am Horizont verschwindenden Hafen betrachteten. "Mit Gewürzen lässt sich ein gutes Geschäftchen machen."
Inanuk lächelte den traurigen Kapitän an. Er mochte ihn. Überhaupt hatten sich die beiden Grauen und Hüppes in den letzten Monaten recht gut kennen gelernt. Inanuk schätzte die freundliche Ehrlichkeit des Kaufmanns und Hüppes seinerseits die ruhige Souveränität des anderen. Trotzdem wurde er nicht so recht schlau aus diesem Mann und dessen Sohn. Nun - Jetzt da alle Geschäfte abgeschlossen waren, würde er mehr Zeit haben, sich um seine Passagiere zu kümmern. Mal sehen, ob er ihnen nicht auf den Zahn fühlen konnte.

***

Die folgenden Wochen boten Hüppes ausreichend Gelegenheit, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er lud seine Passagiere häufig in die Kapitänskajüte zu einem gemeinsamen Abendessen ein. "Käpt’ns-Dinner" nannte er die Abende etwas salopp, an denen er auserlesene Speisen und Getränke anbot. Selbst der grimmige Samurai wurde lockerer und beteiligte sich lebhaft an den Gesprächen.
Bei einer dieser Gelegenheiten brachte Hüppes auch die Sprache auf die Geschäfte, die Inanuk und seinen Sohn auf die Undine gebracht haben mochten.
"Was führt Euch nach Rotter? Oder ist Rotter gar nicht die Endstation Eurer Reise?" fragte er zutraulich.
Inanuk gab sich offen. Der Wein hatte auch ihn in beschwingte Stimmung versetzt. Aber er war weit davon entfernt, leichtsinnig zu werden.
"Ich bin im Auftrag eines Kaufmanns unterwegs, dessen Namen ich nicht nennen möchte," antwortete er. "Er hat von einem Land gehört, in dem es magisch zugehen soll. Die Magie dort soll so stark sein, heißt es, wie sie es früher einmal überall in der Welt war. Mein Auftraggeber möchte gerne wissen, ob das stimmt. Ich selbst glaube nicht daran. Aber ich werde gut bezahlt. Also führe ich den Auftrag aus."
Hüppes beeilte sich, sofort zu bestätigen, dass es ein solches Land sehr wohl gebe und er es sehr gut kenne.
"Ich bin mit dem König dieses Landes gut bekannt," behauptete er. "Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren. Sein Reich markiert den Beginn der magischen Zone. Östlich davon beginnt mit der Grafschaft Holledau und dem Herzogtum Urach das Alte Land. Es handelt sich dabei um eine sehr ausgedehnte magische Zone."
Sie unterhielten sich noch bis spät in Nacht. Hüppes beschrieb die Schönheit des Landes um Königswinter und den Finsterwald in tiefer Eindringlichkeit. Er war ein guter Erzähler, sodass er seinen Zuhörern das Gefühl vermittelte, selbst an Ort und Stelle zu sein. Gegen Ende des Abends nahm Hüppes seine Zuhörer so von sich ein, dass alle schwiegen, als magische Lebewesen zum Leben erweckt wurden und Drachen, Kobolde und Feen durch den Raum geisterten.
Als das Beisammensein weit nach Mitternacht endete, nahm Hüppes Inanuk beiseite und flüsterte ihm zu:
"Nehmt es mir bitte nicht übel, Inanuk, aber ich nehme Euch nicht ab, dass Ihr als Beauftragter eines Kaufmanns unterwegs seid. Kein Kaufmann würde jemanden auf Reisen schicken, ohne ihn mit Warenmustern zu versehen. Ich habe aber gesehen, dass Ihr mit leichtem Gepäck reist. Ich weiß zwar nicht wer und was Ihr seid, aber ein Kaufmannsgehilfe seid Ihr nicht."
Inanuk dachte gar nicht daran, dem Dicken die Bemerkung krumm zu nehmen. Nanawok warf seinem Vater wohl einen scharfen Blick zu, unternahm aber nichts, da dieser gelassen blieb.
Zurück in ihrer Kajüte sagte Inanuk:
"Dieser Abend war Gold wert. Wir haben in den vergangenen Stunden mehr erfahren als ich gehofft habe. Das wird uns viel Zeit ersparen."
"Aber er nimmt uns unsere Tarnung nicht ab!" warf Nanawok ein.
"Das ist nicht weiter schlimm. Hüppes hat von der Gilde noch nie etwas gehört. Und selbst wenn es so wäre, ist kaum anzunehmen, dass er die richtigen Schlüsse zieht. Einzig und allein der Samurai hätte misstrauisch werden können. Der hat aber nichts gehört. Wir können also unbesorgt weitermachen wie bisher."

***

Je mehr sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten, umso unfreundlicher wurde das Wetter. Die Sonne verzog sich hinter einen Schleier grauer Regenwolken und die See wurde unruhiger.
"Ja, ja. Der Winter hat uns eingeholt," brummte Hüppes, als ihm der Wind ein Gemisch aus Regen und Salzwasser ins Gesicht blies. "Hier in der Nordensee ist das Fahrwasser immer etwas rauer als anderswo."
Geschickt fing er die Stöße der Undine ab, die in der kabbeligen See ruckartig auf und ab schwang. Da sie aufgrund ihrer schweren Beladung tief im Wasser lag, nahm sie häufig Brecher auf, die über das ganze Deck schwappten, an den Seiten herunterliefen, um dann beim nächsten Abtauchen wieder erneuert zu werden. Grauer Horizont und graue See waren kaum zu unterscheiden, sodass der Gleichgewichtssinn von Besatzung und Reisenden der Undine auf eine harte Probe gestellt wurde. Am meisten litt der Samurai. Er hielt sich nun fast den ganzen Tag über an Deck auf, weil er das Stampfen des Schiffes in seiner Kajüte nicht mehr aushielt. Grün und bleich im Gesicht suchte er krampfhaft seine Kriegerwürde zu wahren, musste sich aber immer wieder über die Reling beugen.
Hüppes wunderte sich über die Widerstandskraft Inanuks und Nanawoks. Den beiden Männern schien die Witterung und die damit verbundenen Widerwärtigkeiten nichts auszumachen. Sie standen mit großem Gleichmut am Bug, wo das meiste Wasser überkam, und ließen sich von den eisigen Fluten durchnässen. Sie ließen sich weder durch die Kälte noch durch das Schaukeln irritieren. Der Jüngere von beiden hatte die See zu lieben gelernt. Seine Haut war braungebrannt. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung.
"Ein Prachtjunge!" dachte Hüppes. "Wenn ich mir einen Sohn wünschen könnte, dann müsste er so sein wie dieser Bursche da!"
Er warf einen letzten Blick auf die zwei, die der See herausfordernd trotzten und drehte sich um, um auf den Heckaufbau zu klettern, wo der Steuermann mit dem Ruder kämpfte.
"Kaufmannsgehilfen!" knurrte er. "Dass ich nicht lache! Die beiden sind knochenhart. Selbst mir ist es kalt. Und ich bin einiges gewohnt. Aber die zwei sind aus besonderem Holz geschnitzt. Möchte nur wissen, aus welchem!"
Nach drei Tagen kam das Festland in Sicht. Das Wetter hatte sich wieder einigermaßen beruhigt, sodass die Stadt Rotter sich von ihrer besseren Seite zeigen konnte. Gerade als die Undine mit einem letzten Schlag gegen den Wind in das Hafenbecken kreuzte, brach die Wolkendecke auf. Die Sonne tauchte auf, um Rotter in fahles Winterlicht zu tauchen. Für die Verhältnisse dieser Welt war Rotter eine große Stadt, konnte sich aber nicht mit Yokohama messen, wie Inanuk feststellte. Westlich des Hafens reckte sich eine große Landzunge in Richtung Meer. Hunderte von Menschen wimmelten auf ihr herum. Einige waren eifrig damit beschäftigt, schwere Säcke mit Erdreich heranzuschaffen und andere, diese Ladung auf der Landzunge festzuklopfen.
"Das wird der neue Damm von Rotter!" erläuterte Hüppes. "Als die Rotteraner vor vielen Jahren mit dem Bau des Deiches begonnen hatten, hatte ich damit gescherzt, dass sie die Stadt Rotter nach Fertigstellung des Dammes wohl in Rotterdamm umtaufen würden." Er lachte laut auf.
"Ich habe unterwegs von anderen Seeleuten erfahren, dass die Rotteraner inzwischen wirklich darüber nachdenken, ihrer Stadt einen anderen Namen zu geben. Sie wollen sie Rotterdam nennen. Von Orthografie haben die scheinbar keine Ahnung."
Die Undine schwang herum und legte am Kai an. Ungeduldig sprang der Samurai ans Ufer. Kurz grüßend verschwand er in der Menge.
"Er hat mich gefragt, wo man hier ein gutes Pferd kaufen könne," sagte Hüppes. "Er hat es sehr eilig, sollte es aber nur nicht übertreiben. Auch Ausgangs des Winters ist die Erde noch hart gefroren und von Schnee und Eis bedeckt. Da kommt ein Pferd schnell aus dem Tritt und stürzt."
Nanawok sah seinen Vater vielsagend an. Ihre Vermutung schien sich zu bestätigen. Der Samurai wollte so schnell wie möglich nach Königswinter, um Hieronto und dessen Braut zu warnen. Sollte er ruhig. Mochte diese Welt noch so magisch sein! So magisch wie Drachen und Kobolde waren sie selber auch.
Hüppes wandte sich ihnen zu.
"Und Ihr? Was wollt Ihr als nächstes tun? Wenn Ihr nach Königswinter wollt, steht Euch der Weg über den Rhein oder über Land offen. Das heißt, der Rhein ist erst in einigen Wochen wieder schiffbar. Wenn Ihr Zeit habt, könnt Ihr auf mich warten. Ich fahre mit meinem Flussschiff stromauf und würde Euch kostenlos mitnehmen. Wenn Ihr es aber eilig habt, bleibt Euch nur der Landweg."
Inanuk schaute Hüppes an.
"Ich danke Euch für Euer großzügiges Angebot, Hüppes. Wir möchten natürlich auch gerne so schnell wie möglich weiter. Außerdem haben wir uns lange genug ausgeruht. Wir brauchen Bewegung. Seid uns also bitte nicht böse, wenn wir nicht auf Euren Vorschlag eingehen, sondern den Landweg vorziehen."
"Dann solltet ihr den Pferdehändler Voorsdam aufsuchen!" riet Hüppes. "Er ist ein ehrlicher Mann und wird Euch gute Tiere zu einem fairen Preis überlassen. Ich habe auch den Samurai zu ihm geschickt."
Der dicke Kaufmann war über Inanuks Antwort nicht wenig überrascht.
"Ich glaube nicht, dass wir Pferde brauchen," antwortete Inanuk ruhig. "Sie würden uns nur behindern. Wir sind ohne Pferde schneller als mit ihnen."
Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander, denn die monatelange Reise hatte sie fast zu Freunden gemacht.
Als die beiden Männer untertauchten hatte Hüppes seine Verblüffung immer noch nicht überwunden. Wie, um alles in der Welt, wollte man zu Fuß schneller sein als zu Pferd?

***

Nach der monatelangen Zwangsgefangenschaft auf der Undine, konnten sowohl Inanuk als auch Nanawok ihren Bewegungsdrang kaum noch bremsen. Sie strotzten vor Energie und suchten nach einer Möglichkeit, ihre angestaute Kraft loszuwerden. Als sie endlich die Stadtmauern Rotters hinter sich gelassen und das Ufer des Rheins erreicht hatten, wurde es langsam dämmrig. Sie schauten sich lächelnd an.
"Können wir?" fragte Nanawok.
"Wir sollten noch warten, bis es etwas dunkler geworden ist," riet Inanuk.
Sie beherrschten sich noch eine ganze Weile, in der sie erwartungsvoll die vereiste Ebene betrachteten, durch die sich das schwarze Band des Rheins seinen Weg bahnte. Wie zwei Müßiggänger spazierten sie den Fluss entlang, ungeduldig auf die Dunkelheit wartend.
Schließlich war es soweit.
"Ich kann es kaum noch aushalten!" stieß Nanawok hervor. "Ist es nicht schon dunkel genug? Rotter ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Ich glaube nicht, dass uns bei diesem Licht noch jemand von der Stadt her beobachten kann."
Inanuk schaute sich noch einmal sorgfältig um. Dann nickte er.
"Ich stimme dir zu! Wir können uns jetzt auf den Weg machen."
Die beiden ließen sich nieder. Mit einem heiseren Schrei liefen sie los. Mit dem Wind um die Wette und in einem Tempo, das jedem guten Pferd zur Ehre gereicht hätte. Sie erreichten zwar nicht die Laufgeschwindigkeit eines Rennpferdes, waren aber ausdauernder und hatten keine Probleme damit, auf dem eisglatten Boden Halt zu finden. Sie liefen traumhaft sicher und mit einer verblüffenden Eleganz. Gleichmäßig und ruhig arbeiteten Muskeln, Sehnen und Knochen zusammen, wie bei einer vollendeten Maschine. Zum ersten Mal ließen die beiden Grauen ein Licht auf ihre unvorstellbaren Fähigkeiten fallen und zeigten, warum sie im Land der Aufgehenden Sonne so gefürchtet wurden.
Es dauerte lange, bis die beiden Läufer sich soweit verausgabt hatten, dass sie wieder klar denken konnten. Inanuk verhielt und richtete sich wieder auf. Nanawok folgte seinem Beispiel.
"Herrlich!" rief er. "Endlich wieder Bewegung. Noch einen Tag länger auf dem Meer und ich wäre gestorben."
Bei diesen Worten sprang er in die Luft und vollführte einen vollendeten Salto.
"Mir ging es ähnlich, mein Sohn," gab Inanuk zu. "Wir sollten aber jetzt nicht mehr so ein hohes Tempo vorlegen. Sonst kommen wir früher in Königswinter an als der Bote Yonos. Bei diesen Bodenverhältnissen muss er vorsichtig reiten. Sein Pferd ist nicht so leistungsfähig wie wir."
"Das ist mir schon recht," gab Nanawok zurück. "Solange ich nur nicht mehr auf dieses Schiff zurück muss."
Die beiden liefen noch eine Weile in normalem Tempo nebeneinander her, bis sie sich dafür entschieden, ein Nachtlager aufzuschlagen. Sie hatten keine Zeltausrüstung dabei und eine Herberge wollten sie auch nicht aufsuchen. Da sie den freien Himmel so lange entbehrt hatten, wollten sie kein von Menschen gemachtes Dach über sich haben. Sie zündeten kein Feuer an, denn seine Wärme brauchten sie nicht. Durch das harte Leben auf dem Plateau waren sie extreme Kälte gewohnt. Lange Zeit lagen sie nebeneinander auf dem Boden, den Blick auf den Nachthimmel gerichtet, der von einem fast vollen Mond beherrscht wurde.
"Ist er nicht wunderschön?" meinte Inanuk.
"Ja!" hauchte Nanawok. "Für mich ist das Mondlicht die schönste Beleuchtung überhaupt. Nichts kommt ihm gleich."
Dann schliefen sie ein. Furcht vor einem Überfall hatten sie nicht. Ihre Sinne waren auch im Schlaf fein genug, um jede feindliche Annäherung rechtzeitig zu bemerken. Zum Glück wurden sie von niemandem gestört. Zum Glück für den potentiellen Störer...
Am nächsten Morgen reckten sie sich kurz.
"Wir brauchen etwas zu essen," stellte Inanuk fest, als er einen Schluck Wasser aus dem Rhein zu sich nahm. "Bevor wir uns heute schlafen legen, sollten wir uns nach einem Braten umsehen."
"Hier sind Wald und Buchwerk genug. Wir sollten keine Schwierigkeiten haben, uns mit Fleisch zu versorgen. Was möchtest du: Ein Kaninchen - oder soll ich ein Reh schlagen?"
"Nimm, was du bekommen kannst. Mir ist es gleich."
Sie nahmen ihren Weg wieder auf. Niedergelassen trabten sie nebeneinander her. Ortschaften wichen sie aus. Im Moment hatten sie noch genug von Menschenansammlungen und waren mit sich und ihrer Zweisamkeit zufrieden. Als es langsam dunkel wurde, brach Nanawok plötzlich nach rechts in ein Gebüsch aus, weil er ein Kaninchen bemerkt hatte. Der kleine Nager hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Nanawok schnitt ihn von seinem Bau ab und Inanuk verhinderte, dass er in eine Notfluchtröhre einfuhr. Nach kurzer, heftiger Jagd, war das Tier gefangen. Die beiden Grauen verzehrten ihre Beute roh, da sie weiterhin auf ein Feuer verzichten wollten. Nanawok grinste dabei seinen Vater an.
"Ich weiß nicht, wie mir das Fleisch besser schmeckt. Roh oder gebraten. Ich glaube beides ist gleich lecker."
"Das kommt ganz auf die Güte deiner Zähne an!" bemerkte Inanuk weise.
Als das Tier zwischen ihren Zähnen verschwunden war, legten sie sich wieder hin, um den Nachthimmel zu betrachten. Der Mond war voller als gestern. Sein fahler Schein tauchte die erfrorene Winterwelt in milchiges Licht. Die beiden Männer fühlten, wie sie ein unwiderstehliches Sehnen ergriff. Mehr und mehr begann die eigentümliche Macht des Mondes Besitz von Ihnen zu ergreifen.
Zuerst gab Inanuk dem Drang nach und stand auf. Dann folgte ihm Nanawok nach. Beide entledigten sich ihrer Kleidung. Sie breiteten die Arme aus, den Blick unentwegt steil nach oben zum Mond gerichtet. Dann begannen sie zu tanzen. Es war ein seltsamer, urtümlicher Tanz: Sie sprangen mit beiden Beinen hoch, dem Mond entgegen, federten zurück und sprangen wieder hoch. Dabei bewegten sie ihre Oberkörper ruckhaft zuerst nach hinten, dann noch vorn und federten wieder zurück. Sie stampften mit den Füßen auf, sprangen wieder, vollführten Peitschbewegungen mit dem Oberkörper, federten wieder zurück, sprangen wieder hoch und drehten sich. Dabei bewegten sie sich fortwährend im Kreis. Sie spürten die frostige Kälte der Winternacht nicht und besangen in ihrer Sprache die Schönheit des Mondes, seine Herrlichkeit und Pracht, die ihnen Mut und Kraft gab, die sie mit denen, die sie liebten, in der Heimat verband. Sie tanzten und sangen die ganze Nacht, bis der Mond vom Himmel verdrängt wurde und die Sonne seinen Platz einnahm.
Nach der Anstrengung glänzten ihre Körper vor Schweiß. Sie waren müde und fertig - aber glücklich. Es war lange her, dass sie eine so befriedigende Nacht verbracht hatten.
Die nächsten Tage vergingen wie der vorangegangene. Tagsüber liefen sie, in der Dämmerung jagten sie, in der Nacht tanzten und sangen sie. Zum Glück war die Gegend weitestgehend menschenleer, so dass niemand auf die Idee kam, sie zu fragen, was sie hier trieben. Nur bei ihrem nächtlichen Tanz sträubten sich so manchem Bauern auf so manch einsamem Gehöft die Haare, wenn er in seinem Bette lag und nach Ruhe suchend das Lied der beiden Grauen hörte. So kam es vor, dass sich der Bauer nach seiner Frau an seiner Seite umdrehte und feststellte, dass sie sich die Decke furchtsam über den Kopf gezogen hatte: Das grauplige Geheul klang einfach zu schrecklich in den Ohren, als dass es einem nicht durch Mark und Bein fuhr.
Das ging so lange, bis der Mond nicht mehr voll war und er seine Macht über sie verloren hatte. Gleichzeitig schlug das Wetter um: Die angenehme Kälte wich regnerischem Schmuddelwetter, das den Boden matschig machte und zu einem nachhaltigen Sinken der Stimmung unserer beiden Reisenden führte.
"Wir brauchen eine Unterkunft. Mir steht der Sinn nach einem heißen Bad und einem warmen Essen," knurrte Inanuk.
"Das macht das Alter, Papa," grinste Nanawok, schaltete aber gleich einen Gang zurück, als er den ganz und gar unhumorigen Blick seines Vaters auf sich ruhen fühlte. "Schon gut! Auch ich könnte ein wenig Luxus vertragen," gab er zu.
Sie beschlossen, bei der nächstbesten Gelegenheit ein Gasthaus aufzusuchen, um sich verwöhnen zu lassen. Sie hatten zwar keine Ausrüstung dabei, aber an Gold mangelte es ihnen nicht. Geld war nicht das Problem der Gilde.
Leider kamen sie in der nächsten Zeit an keiner Ortschaft vorbei, sodass es noch zwei Tage dauerte, bis sie an einem einsamen Gebäude vorbeikamen, dessen Beschriftung es als Herberge auswies: "Zum alten Rapfen" hieß es und aus den geöffneten Fenstern ertönte lautes Gegröle.
Inanuk rümpfte die Nase.
"Na ja! Unter einem Gasthaus stelle ich mir eigentlich etwas anderes vor. Aber wenn wir jetzt nicht einkehren, brauchen wir es gar nicht mehr zu tun. Wir sind bald in Königswinter."
Die beiden schauten sich an, zuckten mit den Schultern und betraten den Schankraum.
Schlagartig verstärkte sich der Lärm und ein süßlich sauer Brodem aus abgestandenem Alkohol, Rauch und Schweiß schlug ihnen als Kneipendunst entgegen.

***

Während sich das Unheil in Form und Gestalt der beiden Grauen näherte, ging das Tagesgeschäft auf Schloss Drachenburg seinen gewohnten Gang. König Richard sorgte sich wegen der ständig steigenden Zahl der Abenteurer, die aus der schönen Stadt Königswinter zunehmend eine Hochburg für Schläger und Trunkenbolde machte.
"Wie soll ich das alles nur in den Griff bekommen?" fragte er immer wieder und richtete den Blick fragend auf El Pitto Gnomo, der in der letzten Zeit sehr häufig auf dem Schloss weilte, weil er, seit seine Tochter Lilly nicht mehr zu Hause wohnte, mit seiner Frau Lisa in Unfrieden lebte.
Jannie war vom Reisefieber gepackt, weil sie im Frühjahr mit Hieronto in das Land der Aufgehenden Sonne reisen wollte, um dessen Heimat kennen zu lernen.
"Was soll ich nur einpacken?" seufzte sie und betrachtete ratlos ihren Kleiderschrank, der aber nicht so überquoll, wie man es vom Kleiderschrank einer Prinzessin eigentlich vermuten würde. Für einen Herrscher seines Standes lebte König Richard mit seinem Hofstaat auf sehr bescheidenem Fuß. Sehr zur Freude seiner Untertanen übrigens, die mit einer sehr geringen Steuerlast leben durften.
Als Jannie im Schlosshof lautes Hufgetrappel hörte, schaute sie neugierig aus dem Fenster. Ihr Herz tat einen Sprung, als ihr Blick auf Hieronto fiel, der sich im Hof aufhielt. Er durfte natürlich nicht mir ihr allein in einem Zimmer sein. Schließlich waren sie nur verlobt und nicht verheiratet. Ihre Mutter wusste, was sich schickte und achtete sehr darauf, dass die beiden Verliebten sich an die gesellschaftlichen Spielregeln hielten.
Gerade stand Hieronto auf und ging auf den Reiter zu, dessen Ankunft sie gerade vernommen hatte. Zu ihrer Überraschung handelte es sich dabei um einen Samurai ihres zukünftigen Schwiegervaters Yono.
"Was will der denn hier?" fragte sie sich. Ihre Kleidersorgen waren sofort vergessen. Neugierig und ganz undamenhaft stürmte sie aus ihrem Zimmer und lief in den Schlosshof hinaus, wobei ihr langes Haar wie eine goldene Schleppe hinter ihr her wehte. Als sie an ihrem Ziel ankam, stand Hieronto bereits beim Pferd des Ankömmlings. Schon von weitem konnte sie sehen, dass das Gesicht ihres Verlobten bleich war. Seine rechte Hand hatte sich in der Satteldecke verkrampft.
Die beiden Männer bemerkten ihre Annäherung nicht, sondern starrten sich schweigend an.
Jannie gab sich munter, obwohl die angespannte Haltung der beiden sie alarmierte: Hier stimmte eindeutig etwas nicht.
"Hallo!" rief sie. "Was ist los? Schlechte Nachrichten?"
Mühsam wandte Hieronto sich ihr zu. Jede Bewegung schien ihn große Kraft zu kosten.
"Sehr schlechte Nachrichten, Jannie!" stieß er hervor. "Wir müssen unbedingt sofort mit deinem Vater sprechen."
"Was ist los? Ist etwas mit deinem Vater? Sag mir doch endlich was!" rief sie mit jagendem Herzen. Eiserne Selbstbeherrschung gehörte zu den Grundtugenden eines Samurai. Der Bote schien aber eine Nachricht überbracht zu haben, die über Hierontos Kräfte ging. Noch nie hatte sie ihn dermaßen bekümmert gesehen, wie jetzt.
Hieronto ging nicht auf ihre Bitte ein. Er bat den Samurai abzusteigen. Gemeinsam schritten die drei mit wehenden Kleidern über den Hof und eilten in den Thronsaal Richards, wo dieser mit El Pitto Gnomo zusammensaß.
Richard war nicht wenig überrascht, als die Ankömmlinge den Raum betraten. In der Regel konnten Jannie und Hieronto natürlich unangemeldet bei ihm erscheinen. Schließlich gehörten sie zur Familie. Aber der Dritte im Bunde schien einen langen Ritt hinter sich zu haben. Es hätte sich gehört, ihn sich zuerst einmal erfrischen zu lassen. Der Samurai kniete nieder und verbeugte sich tief vor Richard.
"Ich bitte Euch um Verzeihung, edler König, dass ich unangemeldet und vom Reisestaub bedeckt bei Euch vorspreche. Hieronto Hatamoto, der Sohn meines Herrn Yono Hatamoto, meinte aber, dass Euch meine Botschaft unverzüglich überbracht werden müsse."
Richard blickte Hieronto irritiert an. Was um alles in der Welt war so wichtig, dass man diesem Mann keine Erfrischung gönnte? Schließlich herrschte ringsum Frieden. Wenn man mal von den Problemen in Königswinter absah.
"So sprich!" forderte er den Boten auf.
"Herr, ich muss Euch leider die Nachricht überbringen, dass die Graue Gilde den Auftrag erhalten hat, Eure Tochter Jannie zu töten. Sie hat den Auftrag bereits akzeptiert. Es tut mir so leid!"
"Und was soll daran so schlimm sein?" fragte Richard. "Jannie ist schon von Xusia und Janus entführt und von Laurin bedroht worden. Die ersten beiden waren immerhin Fürsten der Finsternis, also ganz schlimme Burschen. Wir sind einiges gewohnt am Drachenfels!"
Hieronto, weiß wie eine Wand, trat einen Schritt vor.
"Du verstehst nicht, Richard. Die Graue Gilde ist in meiner Heimat gefürchtet wie der Teufel selbst. Wenn sie einen Mordauftrag annimmt, dann ist die Zielperson verloren. Die Gilde gibt nie auf!"
"Wie sehen denn diese Mörder aus?" fragte Richard.
"Das weiß niemand. Noch nie ist ein Mitglied der Grauen Gilde gefasst worden. Sie kommen und gehen unerkannt. Nur die toten Opfer bleiben zurück."
"Auch das werden wir in den Griff bekommen," behauptete Richard. "Ich kenne dich, Hieronto, und liebe dich wie meinen eigenen Sohn. Darum nehme ich die Warnung ernst. Wir werden einen Ring von Wachen um Jannie legen. Wir haben den Zauberer Merling, der einen Schutzzauber schaffen wird. Wir haben Drachen, die Jannie beschützen werden. Wir haben die Weiße Alraune, die uns beraten kann. Und wir haben einen magischen Schwertkämpfer, an dem niemand vorbeikommt. An diesem Schutzwall wird die Gilde sich ihre Zähne ausbeißen. Wir haben Magie in Hülle und Fülle. Jannie wird nichts passieren."
In erster Linie zählte Richard dies alles nur auf, weil er sich selbst beruhigen wollte. Natürlich machte er sich auch Sorgen um seine Tochter. Die Reaktion des Boten brachte ihn aber doch aus der Fassung. Dieser richtete sich nämlich auf und sagte:
"König Richard. Ihr werdet selbstverständlich auch auf meine Schwerter zählen können. Ich werde mein Leben mit Freuden für Eure Tochter hingeben. Denn eins ist gewiss: Alle, die sich vor Eure Tochter stellen werden, um ihr Leben zu schützen, werden auch sterben. Denn das ist so Sitte bei der Gilde. Zuerst sterben die Beschützer. Am Schluss die Zielperson."
Er wandte sich Jannie zu.
"Ich bedaure, das sagen zu müssen, Prinzessin, aber Ihr seid bereits tot. Es wird mir eine Ehre sein, an Eurer Seite zu sterben."

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© W. H. Asmek
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Und schon geht es weiter zum zweiten Teil...!
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