Vor langer, langer Zeit, als die Macht der
Magie in vielen Gebieten der Welt zu schwinden begann, als die Magie keine
alltägliche Realität mehr war, sondern nur noch ein Wort, dessen
Bedeutung kaum mehr als verschwommen wahrgenommen wurde, gab es im Land
der aufgehenden Sonne ein kleines Dorf, das auf einem Hochplateau am Fuße
des Heiligen Berges erbaut worden war. Es bestand aus 40 schmucklosen Gebäuden,
die sich unter dem mächtigen Kegel des Berges duckten und ringförmig
zwei große Baracken umschlossen, die als Gemeinschaftsgebäude
dienten.
In einem der kleinen Gebäude lebte Inanuk
mit seiner Familie.
.
Die Gilde ist deine Familie. Sie gibt dir
Liebe und Sicherheit. Sie versorgt dich mit Nahrung und Wärme. Sie
gibt dir ein Auskommen. Die Gilde ist das Wichtigste und Wertvollste, das
du besitzt. Darum ist es deine vornehmste Aufgabe und Pflicht, sie zu schützen.
Wenn es sein muss mit deinem Leben.
Erstes Gebot des Lebensbuchs
der Grauen Gilde
.
Als Inanuk erwachte, hatte er sogleich das
unbestimmte Gefühl, dass dieser Tag ein ganz besonderer werden würde.
Er wandte den Kopf zur Tür. Dort stand Inawete, seine Frau, die schwarzen
Augen ihres herben Gesichts kühl auf ihn gerichtet.
"Steh’ auf," forderte sie ihn auf. "Der Gildemeister
hat nach dir geschickt. Du sollst ihn sobald wie möglich aufsuchen."
Inanuk gähnte herzhaft. Er reckte sich.
Mühsam rappelte er sich aus den Federn. Er war kein junger Mann mehr
und hatte im Laufe der Jahre immer mehr Muskeln, Knochen und Sehnen an
seinem Körper entdeckt, die ihm in seiner Jugend nie aufgefallen waren.
Erst jetzt, da ihn der Alterungsprozess mehr und mehr in Griff hatte, wurde
ihm bewusst, dass auch er einen Körper besaß, an dem die Zeit
nicht spurlos vorüberging. Er dachte an Nanawok, seinen und Inawetes
Sohn. Ihm wurde warm ums Herz. Der Junge war ihm eine große Freude,
die ihn für vieles in seiner unbefriedigenden Beziehung zu Inawete
entschädigte. Fragend blickte er seine Frau an.
"Der Gildemeister? Mich?"
Inawete zuckte gleichgültig mit den Schultern.
"Meinst du, ich mache Witze?"
Fast hätte Inanuk gelacht. Inawete und
scherzen? Eher würde der Heilige Berg im Meer versinken!
"Nein!" gab er zurück. "Dass du einen
Witz machst, hätte ich bestimmt nicht gedacht."
Er stand auf. Inanuk besaß einen für
sein Leben perfekt angepassten Körper: Das lebenslange Training hatte
ihn groß und kräftig gemacht. Dabei war er aber beweglich und
schlank geblieben. Wer ihn nicht kannte, sah ihm seine Kraft auf den ersten
Blick gar nicht an. Nach einigen gymnastischen Übungen funktionierte
sein Körper wieder perfekt. Die Geschmeidigkeit der Muskel und Gelenke
war wieder hergestellt. Er schmunzelte zufrieden. So alt war er nun auch
wieder nicht.
***
Die Konstruktion der Hütte Inanuks war
von großer Bescheidenheit: Sie bestand aus einem großen Wohnraum,
in dem sich das Familienleben der Familie abspielte und zwei angegliederten
kleineren Zimmern: Das Schlafzimmer der Eltern und das Zimmer für
den Nachwuchs.
Im großen Wohnraum hatte Inawete bereits
ein Frühstück zubereitet. Inanuk strich seinem Sohn, der schon
ungeduldig wartete, zur Begrüßung über das Haar. Sie wechselten
einige belanglose Worte. Dann nahm er Platz. Während der Mahlzeiten
hatte nach den Regeln der Gilde Schweigen zu herrschen. Inanuk und seine
Familie hielten sich daran. Erst nachdem der letzte Bissen zerkaut und
hinuntergeschluckt worden war, brach Inanuk das Schweigen.
"Hat der Gildemeister gesagt, warum er mich
sehen möchte?" fragte er.
Inawete schüttelte verneinend den Kopf.
"Das hat er nicht. Es wird sich also um einen
offiziellen Besuchstermin handeln. Vielleicht bekommst du sogar einen Auftrag.
Du hast schon lange nichts mehr für die Gilde getan."
Inanuk schwieg verletzt. Dies war wieder eine
der typischen Antworten Inawetes. Sie wusste genau, dass der Gildemeister
plante, ihn zu seinem Nachfolger zu machen, denn der Gildemeister war schon
sehr alt und musste sich um die Regelung seiner Nachfolge kümmern.
Inanuk war der Favorit in der Schar möglicher Nachfolger. Inawete
aber gönnte ihm diese Stellung nicht. Ihrer Meinung nach wäre
sie selbst die bessere Wahl gewesen. Bei der Grauen Gilde hatte es aber
noch nie eine Gildemeisterin gegeben. Und selbst wenn es einmal eine weibliche
Nachfolgerin geben sollte, würde sie gewiss nicht Ianwete heißen,
denn sie besaß aufgrund ihres herrischen und kalten Umgangstons nicht
die charakterliche Eignung für dieses Amt. Von einem Gildemeister
wurde ein ausgleichendes und vermittelndes Wesen erwartet. Er war die Vaterfigur
der Grauen Gilde. Inawete würde diese Rolle nie ausfüllen können.
Sie war bis zu ihrer Heirat mit Inanuk eine ausgezeichnete Kämpferin
der Gilde gewesen, hatte aber danach traditionsgemäß keine Aufträge
mehr zugeteilt bekommen, da sie sich vollständig auf ihre neue Rolle
als Mutter zu konzentrieren hatte. Das Wohlergehen des Nachwuchses war
einfach zu wichtig, als dass man die wenigen Frauen, die noch in der Lage
waren, Kinder in die Welt zu setzen, zu gefährlichen Einsätzen
schicken konnte. Dass der Gildemeister ihr eigener Vater war, hatte daran
nichts ändern können. Inawete betrachtete ihre Mutterschaft aber
als Stellungsverlust und trug dies den beiden Männern nach: Inanuk,
weil sie ihn hatte heiraten müssen, und ihrem Vater, weil er sie zu
dieser Ehe gezwungen hatte.
Inanuk erhob sich seufzend und bereitete sich
auf seinen Besuch beim Gildemeister vor. Er verließ den Wohnraum
und betrat das Schlafzimmer. Dort kleidete er sich den Regeln entsprechend
an: In die weite, sorgfältig geplättete Langhose, die er über
seine weiße Strumpfhose zog, wurde das graue Seidenhemd gestopft,
das seinen Oberkörper bedeckte. Über das Seidenhemd zog er die
schwarze, mit goldenen Stickereien verzierte Weste, die weit über
die Gürtellinie herab hing. Anschließend schlüpfte er in
seine Riemensandalen. Das waren die Kleidungsstücke, die ein Mitglied
der Grauen Gilde zu tragen hatte, wenn es zu einem offiziellen Besuch bei
seinem Gildemeister gerufen wurde.
Mit einem kurzen Seitenblick auf Inawete,
die wortlos und mit grimmiger Miene den Tisch abräumte, verließ
Inanuk seine Hütte und machte sich auf den Weg zur Behausung des Gildemeisters.
Nanawok war schon in der Ausbildungsbaracke, um seine morgendlichen Trainingseinheiten
zu absolvieren. In der Regel gingen sie gemeinsam dorthin. Aber der Besuch
beim Gildemeister ging natürlich vor. Inanuk blickte sich kurz um.
Alles war wie immer: Die Häuser des Dorfes waren in einem großen
Kreis angeordnet, in dessen Zentrum sich die zwei großen Baracken
erhoben. Die eine diente sanitären Zwecken, die andere war das Trainingszentrum
der Gilde.
Das Haus des Gildemeisters lag Inanuks Hütte
genau gegenüber und lehnte sich direkt an den Granitbauch des Heiligen
Berges. Inanuk überquerte den zentralen Platz. Aus der Trainingsbaracke
drang helles Waffenklirren. Der Tag nahm seinen normalen Gang.
.
Der Gildemeister ist das Oberhaupt der
Grauen Gilde. Er ist weise. Nur er allein weiß, was richtig ist.
Nur er allein erteilt Aufträge. Kritik an seinen Weisungen oder seinem
Verhalten ist dir nicht erlaubt. Achte und liebe ihn, denn er ist der Vater
der Gilde.
Zweites Gebot des Lebensbuchs
der Grauen Gilde
.
Als Inanuk sein Ziel erreicht hatte, öffnete
sich die Tür: Der Meister empfing ihn persönlich.
"Sei gegrüßt, Inanuk, ehrenhafter
Kämpfer unseres Volkes," sagte dieser. "Möge das Glück immer
auf deiner Seite sein!"
Die Männer schauten sich die vorgeschriebenen
drei Sekunden schweigend an. Diese Zeit hatte der Gildemeister zu nutzen,
um sich eine Vorstellung über die Verfassung seines Schützlings
zu machen. War er nicht in Form, durfte er keinen Auftrag erhalten. Inanuk
machte aber einen frischen und einsatzbereiten Eindruck. Der Meister gab
den Weg in das Innere der Hütte frei.
Sein Haus unterschied sich äußerlich
in keiner Weise von denen der anderen Mitglieder der Gilde. Nur dort, wo
sich in Inanuks Hütte das Kinderzimmer befand, traf der Blick auf
eine schwere, reich mit Ornamenten geschmückte Tür, die einen
langen und gewundenen Gang verbarg, welcher tief hinein in den Heiligen
Berg führte. Inanuk kannte diesen Gang gut. Schon oft hatte er ihn
benutzt, um an den Ort zu gelangen, an dem die Mitglieder der Grauen Gilde
ihre Aufträge entgegennahmen.
Doch noch war es nicht soweit. Jetzt, da sie
in der Hütte, vor den Blicken anderer geschützt und sozusagen
privat zusammen waren, fiel die Begrüßung des Gildemeisters
herzlicher aus.
"Na, mein Sohn, wie geht es mit dir und Inawete?"
wollte er wissen.
"Du kennst deine Tochter," gab Inanuk zurück.
"Sie hat sich nicht geändert."
Der Meister schüttelte traurig den Kopf.
"Ich kenne sie - und sie wird sich nie ändern.
Leider habt ihr beiden genetisch so gut zueinander gepasst, dass ich angesichts
unserer Situation keine andere Entscheidung treffen konnte als die, die
ich seinerzeit getroffen habe: Ihr beiden musstet heiraten und Nachwuchs
zeugen. Der Erfolg gibt mir Recht: Nanawok ist zu einem exzellenten jungen
Mann herangewachsen. Dennoch wäre Inawete besser nicht als Frau geboren
worden. Aber wir können es nicht ändern."
Er öffnete die Tür zum Inneren des
Heiligen Berges und blickte Inanuk ernst an.
"Heute habe ich einen besonders wichtigen
Auftrag für dich. Bitte lasse dich nieder. Wir wollen nun den Raum
des Heiligen Auftrags aufsuchen."
Inanuk war irritiert. Dass der Gildemeister
die Wichtigkeit des Auftrags betonte, war ungewöhnlich, denn da die
ordnungsmäßige Erfüllung des Auftrags die Lebensgrundlage
der Gilde schlechthin war, bedurfte ihre Bedeutung keiner besonderen Betonung.
Zusammen mit dem Gildemeister ließ er
sich nieder. Beide liefen geschwind durch den Gang, bis sie in eine große,
achteckige Halle gelangten, deren Mitte eine kreisrunde Arena beherrschte.
Den Boden des Runds bedeckte ein kostbarer Teppich, der mit magischen Zeichen
bestickt war. Ringsum standen Wachskerzen in eisernen Ständern. Sie
warfen ein ruhiges Licht. In der Mitte der Arena stellten sich die beiden
gegenüber auf.
Nach einer geraumen Weile, in der sie sich
still und reglos gegenübergestanden hatten, fragte der Gildemeister:
"Inanuk, bist du bereit, deinen Auftrag von
mir, dem Gildemeister unseres Volkes, zu empfangen, selbst wenn seine Ausführung
dich das Leben kosten sollte?"
"Ja, Gildemeister! Ich bin bereit, den Auftrag
zu empfangen und ihn bis zum Ende durchzuführen. Selbst wenn es mich
das Leben kosten sollte!"
Damit war die Zeremonie der Auftragserteilung
offiziell eröffnet. Der Gildemeister nickte befriedigt und fuhr fort.
"Was weißt du von Yono Hatamoto?"
"Er ist der Erste Samurai dieses Landes und
einer der mächtigsten Männer des Landes der Aufgehenden Sonne.
Er besitzt das Ohr des Kaisers, sagt man."
"Was weißt du über seinen Sohn?"
"Sein Sohn ist ein so ehrenvoller Samurai,
wie es sich für einen Sohn dieses Vaters geziemt."
"Weißt du, wo er zurzeit lebt?"
"Das weiß ich nicht. Er hat das Land
bereits vor Jahren verlassen. Über seinen genauen Aufenthaltsort ist
nichts bekannt."
"Was ist das größte Problem unseres
Volkes, Inanuk?"
Diese Frage war seltsam. Inanuks Irritation
wuchs. Zuerst hatte er gedacht, dass sein Auftrag sich auf die Person Yono
Hatamotos beziehen würde, wenn es ihm auch unwahrscheinlich erschien,
denn in die hohe Politik des Landes hatte sich die Gilde bisher nie eingemischt.
Und Yono war hohe Politik. Sehr hohe! Doch die sich jetzt anschließende
Frage hatte mit der ersten nichts zu tun. Oder doch?
"Unser Volk stirbt!" antwortete Inanuk. "Unsere
Geburtenrate ist zu niedrig, um die Verluste, die durch das Hinsterben
der Alten entstehen, wieder auszugleichen."
Der Gildemeister knurrte bitter.
"Unser Problem ist, dass es vor zweihundert
Jahren noch viele Tausende von uns gab. Doch dann erstarb nach und nach
in dieser Welt die Magie. Sie verschwand, weil die Menschen den Glauben
an sie durch die Gier nach Technik und Reichtum ersetzten. Sie löste
sich einfach auf. Wir wurden vertrieben, weil wir die Magie zum Leben brauchen
und ohne sie schwach werden. Und hier, am Fuß des Heiligen Berges
des Landes der aufgehenden Sonne, fanden wir eine letzte Zuflucht. Nicht,
weil man uns achtete, sondern weil die Mächtigen dieses Landes unsere
Fähigkeiten brauchen. Jetzt sind wir nur noch fünfzig Familien
und längst nicht alle haben Kinder in die Welt gesetzt."
Inanuk senkte bekümmert den Kopf. Der
Meister hatte die Wahrheit schonungslos beim Namen genannt. Die Mitglieder
der Grauen Gilde brauchten die Kraft der Magie, um existieren zu können.
Ohne sie gab es keine Zukunft.
Der Gildemeister sprach weiter:
"Was würdest du sagen, wenn es ein Land
gäbe, in dem die Magie noch so stark ist wie in der alten Zeit? Ein
Land, in dem es Hexen, Elfen, Kobolde gibt? Ein großes, wundervolles
Land, das sogar von einem Drachenkönig beherrscht wird?"
Inanuk antwortete bitter:
"Meister, ich glaube, du möchtest mich
zum Narren halten! So ein Land gibt es nicht! Du solltest mit diesem Thema
keinen Spott treiben! Es ist zu ernst und zu traurig zugleich!"
"Ich stimme dir zu, Inanuk!" gab dieser zurück.
"Und doch ist es so. Hieronto Hatamoto, Yonos Sohn, lebt in diesem Land.
Er hat dort eine Frau gefunden, die er heiraten will. Eine echte Prinzessin
mit magischen Fähigkeiten."
Inanuk durchfuhr ein elektrischer Schlag.
Vor Aufregung vermochte er nichts mehr zu sagen. Seine Gedanken überschlugen
sich. Ein Land voller Magie. Unvorstellbar!
"Und was ist mein Auftrag?" wollte er wissen.
"Dein Auftrag besteht aus zwei Teilen. Erstens:
Finde heraus, ob dieses Land wirklich so magisch ist, wie man sagt und
ob wir dort leben könnten. Wenn ja, so versuche, mit dem Drachenkönig
zu einer Einigung zu kommen. Versuche seine Erlaubnis zu bekommen, dass
sich die Graue Gilde dort ansiedeln darf, um dort zu leben. Hier werden
wir auf jeden Fall sterben. Dort aber werden wir vielleicht leben."
"Wie soll ich das tun? Wie könnten wir
einem echten Drachen von Nutzen sein?"
"Wir sind unschlagbare Kämpfer. Einer
von uns kann es mit zwanzig erfahrenen Samurais aufnehmen. Vielleicht kann
er echte Krieger gebrauchen."
Inanuk senkte nachdenklich den Kopf. Der Meister
hatte Recht. Man durfte nichts unversucht lassen. - Wenn die Information
denn stimmte, war es immer einen Versuch wert.
"Und zweitens?" fragte Inanuk.
"Yonos Stellung in diesem Land mag im Moment
unangefochten sein. Doch er hat viele Neider, die befürchten, dass
er seine Position ausnutzen wird, um bei der nächsten Gelegenheit
selbst Kaiser des Landes zu werden. Die zukünftige Frau Hierontos
soll die magische Fähigkeit besitzen, Glück zu bringen. Yonos
Macht gepaart mit Glück sollte ihn automatisch in die Position eines
Anwärters auf den Kaiserthron bringen. Seine Widersacher wollen das
natürlich unter allen Umständen verhindern. Der zweite Teil deines
Auftrages lautet daher: Töte die Verlobte Hierontos! Töte Jannie
von Drachenfels!"
Diesen Teil des Auftrags nahm Inanuk gelassen
hin. Üblicherweise bestanden die Aufträge der Gilde darin, Menschen
zu töten, die anderen im Wege standen. Darauf waren alle Kämpfer
der Grauen Gilde trainiert. Nichts war einfacher, als einen Menschen umzubringen.
Mochte er noch so stark sein, mochte seine Leibgarde noch so zahlreich
sein. Der Tod kam in der Regel schnell und blitzartig über ihn. So
wie es die Mitglieder der Gilde ein Leben lang übten.
"Wir mischen uns aber normalerweise nicht
in die Hohe Politik ein!" gab er nur zu bedenken.
"Diese Frau ist keine hohe Politik," antwortete
der Meister. "Wir rühren Hieronto nicht an. Wegen eines Mädchens
wird Yono keinen Aufstand machen. Eine Frau ist nach den Sitten dieses
Landes von keinem hohen Wert. Die Auftraggeber gehen davon aus, dass Yono
das Unglück, das über seinen Sohn kommen wird, zähneknirschend
hinnehmen wird. In der Hafenstadt Yokohama wird in drei Tagen das Handelsschiff
"Undine" ablegen. Es sind zwei Plätze reserviert. Der Kapitän
ist ein ehrenwerter Mann. Er heißt Hüppes und kennt das magische
Land sehr gut. Eine Bitte noch: Nimm deinen Sohn Nanawok mit. Er wird dich
bei der Erfüllung deines Auftrags unterstützen."
Inanuk blickte überrascht auf.
"Nanawok? Warum? Meinst du nicht, dass ich
den Auftrag allein ausführen kann? Traust du mir das nicht mehr zu?"
Der Meister schmunzelte.
"Dieser Auftrag ist von so großer Bedeutung
für unser Volk, dass ich ihn durch meinen besten Mann ausführen
lasse: Und der bist du! Eigentlich hatte ich vor, mein Amt noch in diesem
Jahr an meinen Nachfolger abzugeben. Auch das solltest du sein. Aber nun
muss ich noch ein wenig auf meinem Posten ausharren. Der Auftrag besteht
aus zwei Teilen. Dadurch ist der Einsatz von zwei Kriegern gerechtfertigt."
"Aber Nanawok ist noch zu jung! Seine Ausbildung
ist noch nicht abgeschlossen!" gab Inanuk zu bedenken.
"Der Junge ist alt genug. Es fehlt ihm zwar
noch der letzte Schliff, aber den wirst du ihm geben. Wer könnte dafür
auch besser geeignet sein als du - sein Vater und zukünftiger Gildemeister?
Nanawok hat ausgezeichnete Erbanlagen. Inawete mag sein, wie sie will,
aber sie ist eine herausragende Frau unserer Gilde und du bist ein herausragender
Mann. Ich habe mit seinen Trainern gesprochen. Dein Sohn wird in jeder
Disziplin mit ausgezeichneten Noten bewertet. Niemand führt das Schwert
tödlicher als er, niemand wirft den Djan präziser. Er ist intelligent,
schnell, stark und ausdauernd. Was ihm fehlt, ist Weisheit - aber die wirst
du ihm vermitteln. Ich weiß, dass du dich um ihn sorgst. Das ist
auch gut so, denn du bist sein Vater. Doch es wird Zeit für seinen
ersten Einsatz!"
Inanuk bemühte sich, seine Sorgen nicht
zu deutlich werden zu lassen. Es fiel ihm in der Tat schwer, seinen Sohn,
den er über alles liebte, den Gefahren eines echten Einsatzes auszusetzen.
Doch er hatte keine Wahl: Der Gildemeister hatte immer Recht. Es stand
ihm nicht zu, in irgendeiner Form Kritik zu üben.
Die Augen des Meisters blickten ihn an.
"Hast du mir etwas zu sagen, Inanuk?" fragte
er Gildemeister.
"Es ist gut, Meister, ich habe den Auftrag
verstanden. Ich nehme ihn an und werde ihn ausführen!" sagte Inanuk.
Der Meister ging auf Inanuk zu und legte ihm
in einer väterlichen Geste einen Arm um seine Schultern.
"Du bist nicht nur einfach mein Schwiegersohn,
Inanuk, du bist mehr für mich. Ich weiß darum, wie schwer es
dir fällt, Nanawok mitzunehmen. Ich vertraue dir diesen Auftrag auch
nur schweren Herzens an. Doch glaube mir: Ohne ihn wirst du diese Aufgabe
nicht lösen können. Gehe hin, mein Sohn. Möge das Werk gelingen!"
Ein eisiger Wind fegte durch den Raum und
löschte die Flammen der Kerzen. Der Auftrag war ordnungsgemäß
übergeben und angenommen. Die Zeremonie beendet. Gleichzeitig war
der Auftrag auch so gut wie ausgeführt. Nicht umsonst waren die Krieger
der Grauen Gilde für ihre Auftragstreue berühmt und berüchtigt
zugleich. Jannie von Drachenfels war bereits so gut wie tot.
***
Der Auftrag ist die Lebensgrundlage der
Gilde. Nur seine Erfüllung garantiert ihre Existenz. Die Mächtigen
werden die Gilde nur so lange dulden, solange sie sie fürchten und
Nutzen aus ihr ziehen können. Darum führe den Auftrag unter allen
Umständen so aus, wie ihn dir der Gildemeister erteilt hat.
Elftes Gebot des Lebensbuchs
der Grauen Gilde
.
Üblicherweise machten sich die Krieger
der Grauen Gilde nach der Auftragsübergabe ohne weitere Verzögerung
ans Werk. Entsprechend zielstrebig handelte auch Inanuk. Auf dem Rückweg
holte er Nanawok aus der Baracke ab, entschuldigte ihn bei seinen Ausbildern
und kehrte zusammen mit ihm in seine Hütte zurück. Dort teilte
er Inawete mit, dass er einen Auftrag habe, den er zusammen mit Nanawok
ausführen müsse. Die folgenden bissigen Bemerkungen seiner Frau
ignorierte er mit stoischer Ruhe. Sollte sie sich ruhig austoben. Er würde
sie für viele Monate nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aufträge
hatten mitunter auch ihre guten Seiten.
Die Angehörigen der Gilde hatten, von
ihren Waffen abgesehen, kaum persönlichen Besitz. Die Habseligkeiten,
die sie für ihre Reise benötigten, waren in der Regel schnell
gepackt: Die Bekleidung bestand aus einer einfachen, eng geschnittenen
langbeinigen Hose von grauer Farbe und einem entsprechend geschneiderten
Hemd, über das ein kuttenähnliches Gewand gezogen wurde, das
Mantel, Wind- und Regenschutz zugleich war. In einem Schulterhalfter befanden
sich zwei Lederfutterale, die so befestigt waren, dass sie mit einem schnellen
Griff hinter den Hals sofort zu erreichen waren. In diese Scheiden steckten
sie je einen Djan, den schweren, zweischneidigen Wurfdolch der Gilde. Um
die Hüften banden sie die Halterung für ihr Schwert: Ein leichter
Einhänder, der sie bei ihrer Reise nicht über Gebühr behindern
würde, aber als Waffe in der Hand eines erfahrenen Schwertkämpfers
nicht zu unterschätzen war. Natürlich waren die Krieger der Grauen
Gilde in der Handhabung dieser Waffe wahre Meister.
Nur drei Stunden nach der Auftragserteilung
verließen Vater und Sohn ihre Behausung und richteten ihre Schritte
in Richtung des einzigen Pfades, der vom Plateau hinab ins Tal führte.
Inanuk warf einen letzten Blick zurück auf den weißen Kegel
des Heiligen Berges. Dort oben, in fast 4000 Metern Höhe war immer
Winter. Ob er diesen Anblick jemals wieder sehen würde?
Auf ihrem Weg nach Yokohama trafen sie kaum
einen Menschen, denn die Bevölkerung des Landes mied die Gegend um
das
Dorf der Grauen Gilde, wo sie es nur konnte. Die hoch gewachsenen Krieger
und ihre Fähigkeiten waren unheimlich. Es war zwar bekannt, dass die
Gilde nur im Rahmen eines Auftrages tötete, aber wer konnte sicher
sein, dass er nicht selbst Ziel eines solchen war oder werden würde?
Arme Leute waren in der Regel sicherer als Wohlhabende, denn ein armer
Mensche würde wohl kaum einen derartigen Zorn eines Reichen auf sich
ziehen, der den Einsatz der Gilde rechtfertigte, denn die Gilde verlangte
ungeheure Summen für ihre Dienste. Aber dennoch! Den Grauen ging man
besser immer aus dem Weg, denn hatte man sie erst einmal auf seiner Fährte,
wurde man sie erst dann wieder los, wenn man tot war. Und auf diese Erfahrung
konnte jedermann gut verzichten.
So eintönig der Marsch für Inanuk
auch war, so war er für Nanawok ein großes Abenteuer. Da die
Gilde ihr Dorf nur im Rahmen eines Auftrags verließ, hatten Jugendliche
so gut wie keine Gelegenheit, das Plateau zu verlassen, denn sie mussten
zuerst ihre Ausbildung vollenden, ehe sie einen Auftrag durchführen
durften. So entdeckte der Junge hinter jeder Biegung neues und löcherte
seinen Vater mit Fragen. Da Inanuk sich noch gut an seinen ersten Auftrag
erinnern konnte, beantwortete er schmunzelnd jede Frage seines Sohnes so
gut er konnte, selbst wenn es ihm mit der Zeit zuviel wurde und er sich
insgeheim nach Stille sehnte.
Nach einem dreitägigen Marsch, in dessen
Verlauf Inanuk sich den Mund wund redete, erreichten sie endlich den Hafen
Yokohamas. Die Stadt zog sich eine beachtliche Strecke an der Küste
entlang und war bis dicht an das Hafenbecken eng bebaut. Das Gewimmel von
Händlern, Seeleuten und Hafenarbeitern, die sich rings um die festgemachten
Schiffe tummelten, war unvorstellbar. Hinzu kam ein Wirrwarr von Lauten
und Gerüchen, die sich zu einem unbeschreiblichen Klang- und Geruchserlebnis
vereinten. Entsprechend groß war die Belastung der empfindlichen
Sinne der beiden Grauen, die normalerweise die abgeschiedene Ruhe ihres
Plateaus gewohnt waren.
Die Seeleute des Landes der Aufgehenden Sonne
mochten die Hochsee aufgrund ihrer Gefahren nicht. Sie bevorzugten die
wesentlich ruhigere Küstenregion. Ihre Schiffe waren daher in der
Regel relativ leicht gebaut und nicht besonders groß. Der Großsegler,
der seine drei Masten kühn in den Himmel reckte und träge wie
ein Wal im Hafenwasser lag, wirkte darum so groß und wuchtig wie
ein Truthahn in einem Taubenschlag: Er war nicht zu übersehen. Das
musste die Undine sein!
"Ist das unser Schiff?" fragte Nanawok auch
sofort.
Inanuk hatte diese Reaktion vorausgesehen
und blickte seinen Sohn an.
"Ich gehe mal davon aus, Sohn. Seiner Größe
nach ist es hochseetauglich. Außerdem erkenne ich am Heck einen Schriftzug.
Undine steht da drauf. Das muss unser Schiff sein."
Nanawok war kaum zu halten. Er schritt so
schnell aus, dass sein Vater Mühe hatte, ihm zu folgen.
"Bewahre deine Würde, Nanawok," rief
er ihm nach. "Es schickt sich für uns nicht, in Hast zu verfallen!"
Natürlich dachte der junge Krieger nicht
daran, sich zurückzuhalten. Da er den Blick nicht von dem beeindruckenden
Schiff lassen wollte, drohte er mehr als einmal mit anderen Passanten zusammenzustoßen.
Inanuk war heilfroh, als sie endlich ohne viel Aufsehen zu erregen an ihrem
Ziel angekommen waren.
"Ist es nicht wunderschön?" seufzte Nanawok
aus vollem Herzen, als er unmittelbar vor dem Rumpf des Seglers stand,
den Kopf weit in den Nacken gelegt, um die hohen Masten bis zur Spitze
überblicken zu können.
"Das will ich meinen, junger Mann!" ließ
sich die Stimme eines kleinen und dicken Mannes vernehmen, der in unmittelbarer
Nähe stand. "Das ist die Undine. Eines der schönsten Schiffe
weit und breit. Zum Glück besitze ich es schon. Sonst müsste
ich es mir noch kaufen!"
Nanawok ließ sich in seinen Betrachtungen
nicht stören. Begeistert verschlang er mit seinen Augen die aufwändige
Takelage, die Männer, die in einem geregelten Durcheinander das Schiff
seeklar machten und die wertvollen Schnitzereien, die den Bug zierten.
Etwas irritiert wandte der Dicke seinen Blick
ab und sah schließlich Inanuk, der inzwischen auch herangetreten
war.
"Gehört ihr beide zusammen?" fragte er,
nachdem er ihn ausführlich gemustert hatte. "Der Kleidung nach kommt
ihr aus dem gleichen Stall!"
"So kann man es auch nennen!" lachte Inanuk.
"Ich muss mich für die Unhöflichkeit meines Sohnes entschuldigen,
aber er hat noch nie ein so großes Schiff gesehen. Die Jugend ist
eben sehr begeisterungsfähig. Ich hoffe, Ihr nehmt uns trotzdem an
Bord. Wir haben zwei Plätze gebucht."
Der Dicke lachte freundlich zurück und
reichte ihm die Hand, die Inanuk sofort ergriff.
"Aber sicher," sagte er. "Ich bin Hüppes,
Kapitän und Eigner der Undine. Willkommen an Bord!"
Inanuk stellte sich und seinen Sohn vor. Dann
folgten sie Hüppes auf das Schiff.
"Wir sind gleich seeklar," erläuterte
dieser. "Ich freue mich, dass Ihr so pünktlich gekommen seid. So können
wir gleich mit dem Einsetzen der Ebbe auslaufen."
Er schaute Inanuk an.
"Wenn ich mich recht erinnere, wollt Ihr bis
zum Ende der Reise mitfahren. Von hier aus geht es fast einmal ganz um
die Welt. Unser Ziel ist die Hafenstadt Rotter. Wir werden sie aber in
frühestens acht Monaten erreichen."
Inanuk nickte bejahend, sagte aber noch nichts
über das magische Land, das er finden wollte. Zunächst wollte
er den guten Kapitän näher kennen lernen.
Da Hüppes sich nun voll auf das Auslaufen
des Schiffes konzentrieren musste, suchten Inanuk und Nanawok ihre Kajüte
auf. Sie waren zufrieden. Der Raum war geräumig und hell. Außerdem
war er sauber und ordentlich. Sie würden die lange Reise also gut
aushalten können.
Nachdem sie ihre Habseligkeiten verstaut hatten,
gingen sie wieder an Deck, um das Auslaufen des Schiffes zu beobachten.
***
Die sich nun anschließende Seereise war
trotz ihrer langen Dauer selbst für Inanuk, der doch schon einiges
erlebt hatte, eine der schönsten Begebenheiten seines Lebens. Für
Nanawok war sie sogar das große Abenteuer schlechthin. Das Wetter
meinte es auch gut mit ihnen: Die See war ruhig, woran selbst gelegentlich
leicht auffrischende Winde nichts änderten, sodass sie die Seefahrt
nur von der angenehmen Seite her kennen lernten.
Nur ein dritter Passagier, der schon vor ihnen
an Bord der Undine gekommen war, sich aber so gut wie nie an Deck zeigte
und die meiste Zeit dumpf in seiner Kajüte vor sich hin brütete,
störte hin und wieder die angenehm träge Harmonie an Bord. Für
ihn verlief die Reise nicht schnell genug, denn Hüppes ließ
sich viel Zeit. Als Kaufmann kam es ihm nicht darauf an, seinen Zielhafen
so schnell wie möglich zu erreichen, sondern soviel Handel zu treiben,
wie möglich. Deshalb steuerte er Rotter nicht direkt an, sondern lief
einen großen Hafen nach dem anderen an, ohne natürlich sein
Ziel nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Da Hüppes ein angenehmer
Gesellschafter und schon viel herumgekommen war, war er vielerorts bekannt.
Er galt als ehrlicher Geschäftspartner und war überall gern gesehen.
Diese Art des Reisens war dem Dritten aber
ein Dorn im Auge. Immer dann, wenn sie einen neuen Hafen anliefen, kam
er an Deck und fragte ärgerlich, wann es denn nun endlich nach Rotter
gehe. Er habe einen eiligen Auftrag zu erledigen und nicht alle Zeit der
Welt.
Der Mann war ein fast typischer Vertreter
der Bewohner des Landes der Aufgehenden Sonne: Deutlich größer
als der Durchschnitt zwar und damit nicht viel kleiner als die beiden Grauen,
aber ansonsten mit schwarzem Haar, das er hinten zu einem Zopf zusammengebunden
trug, gelb-bräunlichem Teint und Mandelaugen, die stets misstrauisch
und mit höchster Aufmerksamkeit die Umgebung beobachteten, versehen.
An der Seite trug er zwei Schwerter. Ein langes und ein kurzes. Seine Kleidung
bestand aus dunkler Seide und offenen Sandalen.
Hüppes mochte denn Mann nicht besonders,
blieb aber stets der freundliche Gastgeber. Mit gleich bleibender Geduld
erklärte er ihm, dass die Undine ein Handelsschiff und kein Schnellsegler
war. Außerdem gab es keine andere Reisemöglichkeit nach Rotter:
Der Landweg war viel zu beschwerlich und andere Schiffe befuhren diese
Route nicht. Der Schwertträger wandte sich dann jedes Mal grimmig
ab, um in seiner Kajüte zu verschwinden, tauchte aber immer wieder
aufs Neue auf, wenn sich wieder einmal eine Gelegenheit bot, ungeduldig
zu werden.
"Was hältst du von ihm?" fragte Inanuk
nach einigen Tagen seinen Sohn, als der Mann wieder einmal seinem Unmut
Luft gemacht hatte.
Nanawok zeigte, dass er trotz seiner Jugend
genug Menschenkenntnis hatte, um intelligente Schlüsse zu ziehen.
"Er führt sich auf wie ein Samurai. Seiner
wertvollen Kleidung nach ist er kein Feld-, Wald- und Wiesen-Samurai, sondern
besitzt eine herausragende Stellung. Der Farbe seines Umhangs nach könnte
er ein Gefolgsmann Yono Hatamotos sein."
"Das denke ich auch! Was meinst du, macht
ein solcher Samurai auf der Undine?" bohrte Inanuk weiter.
"Da er so schnell wie möglich nach Rotter
will, halte ich ihn für einen Boten. Es könnte sein, dass Yono
von unserem Auftrag erfahren hat und beabsichtigt, seinen Sohn zu warnen."
Inanuk nickte anerkennend.
"Ja, das glaube ich auch. Was sollen wir also
tun?"
Nanawok grinste.
"Es wäre kein Problem, ihn zu töten.
Aber das würde gegen die Regeln des Lebensbuchs verstoßen."
"Welche Regel meinst du?"
"Regel dreizehn: Lasse die Zielperson wissen,
dass du sie töten wirst. Wenn sie gewarnt werden soll, so lasse es
geschehen. Wenn sie sich darauf richtet, dass du kommst und sie sich nach
allen Seiten hin absichert, so wird ihr das nichts nützen, denn die
Gilde tötet trotzdem schnell und zuverlässig. Die Warnung der
Zielperson dient also letztendlich nur dem Ruhm der Gilde."
"Du hast deine Lektionen gut verinnerlicht,
mein Sohn!" lobte Inanuk zufrieden seinen Sohn.
Endlich war der Bauch der Undine derart bis
an den Rand mit wertvollen Waren gefüllt, dass auch mit bestem Willen
und aller Gewalt nichts mehr hineinging. Als sie den letzten Hafen verließen,
schaute Hüppes wehmütig drein.
"Ich fürchte, jetzt muss ich doch nach
Rotter zurück, dabei wäre ich gerne noch weiter südwärts
gesegelt. Dort soll es eine Insel mit kostbaren Gewürzen geben," brummte
er. Dabei schaute er Inanuk und Nanawok an, die wie immer unzertrennlich
an der Reling standen und den am Horizont verschwindenden Hafen betrachteten.
"Mit Gewürzen lässt sich ein gutes Geschäftchen machen."
Inanuk lächelte den traurigen Kapitän
an. Er mochte ihn. Überhaupt hatten sich die beiden Grauen und Hüppes
in den letzten Monaten recht gut kennen gelernt. Inanuk schätzte die
freundliche Ehrlichkeit des Kaufmanns und Hüppes seinerseits die ruhige
Souveränität des anderen. Trotzdem wurde er nicht so recht schlau
aus diesem Mann und dessen Sohn. Nun - Jetzt da alle Geschäfte abgeschlossen
waren, würde er mehr Zeit haben, sich um seine Passagiere zu kümmern.
Mal sehen, ob er ihnen nicht auf den Zahn fühlen konnte.
***
Die folgenden Wochen boten Hüppes ausreichend
Gelegenheit, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er lud seine Passagiere
häufig in die Kapitänskajüte zu einem gemeinsamen Abendessen
ein. "Käpt’ns-Dinner" nannte er die Abende etwas salopp, an denen
er auserlesene Speisen und Getränke anbot. Selbst der grimmige Samurai
wurde lockerer und beteiligte sich lebhaft an den Gesprächen.
Bei einer dieser Gelegenheiten brachte Hüppes
auch die Sprache auf die Geschäfte, die Inanuk und seinen Sohn auf
die Undine gebracht haben mochten.
"Was führt Euch nach Rotter? Oder ist
Rotter gar nicht die Endstation Eurer Reise?" fragte er zutraulich.
Inanuk gab sich offen. Der Wein hatte auch
ihn in beschwingte Stimmung versetzt. Aber er war weit davon entfernt,
leichtsinnig zu werden.
"Ich bin im Auftrag eines Kaufmanns unterwegs,
dessen Namen ich nicht nennen möchte," antwortete er. "Er hat von
einem Land gehört, in dem es magisch zugehen soll. Die Magie dort
soll so stark sein, heißt es, wie sie es früher einmal überall
in der Welt war. Mein Auftraggeber möchte gerne wissen, ob das stimmt.
Ich selbst glaube nicht daran. Aber ich werde gut bezahlt. Also führe
ich den Auftrag aus."
Hüppes beeilte sich, sofort zu bestätigen,
dass es ein solches Land sehr wohl gebe und er es sehr gut kenne.
"Ich bin mit dem König dieses Landes
gut bekannt," behauptete er. "Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren. Sein
Reich markiert den Beginn der magischen Zone. Östlich davon beginnt
mit der Grafschaft Holledau und dem Herzogtum Urach das Alte Land. Es handelt
sich dabei um eine sehr ausgedehnte magische Zone."
Sie unterhielten sich noch bis spät in
Nacht. Hüppes beschrieb die Schönheit des Landes um Königswinter
und den Finsterwald in tiefer Eindringlichkeit. Er war ein guter Erzähler,
sodass er seinen Zuhörern das Gefühl vermittelte, selbst an Ort
und Stelle zu sein. Gegen Ende des Abends nahm Hüppes seine Zuhörer
so von sich ein, dass alle schwiegen, als magische Lebewesen zum Leben
erweckt wurden und Drachen, Kobolde und Feen durch den Raum geisterten.
Als das Beisammensein weit nach Mitternacht
endete, nahm Hüppes Inanuk beiseite und flüsterte ihm zu:
"Nehmt es mir bitte nicht übel, Inanuk,
aber ich nehme Euch nicht ab, dass Ihr als Beauftragter eines Kaufmanns
unterwegs seid. Kein Kaufmann würde jemanden auf Reisen schicken,
ohne ihn mit Warenmustern zu versehen. Ich habe aber gesehen, dass Ihr
mit leichtem Gepäck reist. Ich weiß zwar nicht wer und was Ihr
seid, aber ein Kaufmannsgehilfe seid Ihr nicht."
Inanuk dachte gar nicht daran, dem Dicken
die Bemerkung krumm zu nehmen. Nanawok warf seinem Vater wohl einen scharfen
Blick zu, unternahm aber nichts, da dieser gelassen blieb.
Zurück in ihrer Kajüte sagte Inanuk:
"Dieser Abend war Gold wert. Wir haben in
den vergangenen Stunden mehr erfahren als ich gehofft habe. Das wird uns
viel Zeit ersparen."
"Aber er nimmt uns unsere Tarnung nicht ab!"
warf Nanawok ein.
"Das ist nicht weiter schlimm. Hüppes
hat von der Gilde noch nie etwas gehört. Und selbst wenn es so wäre,
ist kaum anzunehmen, dass er die richtigen Schlüsse zieht. Einzig
und allein der Samurai hätte misstrauisch werden können. Der
hat aber nichts gehört. Wir können also unbesorgt weitermachen
wie bisher."
***
Je mehr sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten,
umso unfreundlicher wurde das Wetter. Die Sonne verzog sich hinter einen
Schleier grauer Regenwolken und die See wurde unruhiger.
"Ja, ja. Der Winter hat uns eingeholt," brummte
Hüppes, als ihm der Wind ein Gemisch aus Regen und Salzwasser ins
Gesicht blies. "Hier in der Nordensee ist das Fahrwasser immer etwas rauer
als anderswo."
Geschickt fing er die Stöße der
Undine ab, die in der kabbeligen See ruckartig auf und ab schwang. Da sie
aufgrund ihrer schweren Beladung tief im Wasser lag, nahm sie häufig
Brecher auf, die über das ganze Deck schwappten, an den Seiten herunterliefen,
um dann beim nächsten Abtauchen wieder erneuert zu werden. Grauer
Horizont und graue See waren kaum zu unterscheiden, sodass der Gleichgewichtssinn
von Besatzung und Reisenden der Undine auf eine harte Probe gestellt wurde.
Am meisten litt der Samurai. Er hielt sich nun fast den ganzen Tag über
an Deck auf, weil er das Stampfen des Schiffes in seiner Kajüte nicht
mehr aushielt. Grün und bleich im Gesicht suchte er krampfhaft seine
Kriegerwürde zu wahren, musste sich aber immer wieder über die
Reling beugen.
Hüppes wunderte sich über die Widerstandskraft
Inanuks und Nanawoks. Den beiden Männern schien die Witterung und
die damit verbundenen Widerwärtigkeiten nichts auszumachen. Sie standen
mit großem Gleichmut am Bug, wo das meiste Wasser überkam, und
ließen sich von den eisigen Fluten durchnässen. Sie ließen
sich weder durch die Kälte noch durch das Schaukeln irritieren. Der
Jüngere von beiden hatte die See zu lieben gelernt. Seine Haut war
braungebrannt. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung.
"Ein Prachtjunge!" dachte Hüppes. "Wenn
ich mir einen Sohn wünschen könnte, dann müsste er so sein
wie dieser Bursche da!"
Er warf einen letzten Blick auf die zwei,
die der See herausfordernd trotzten und drehte sich um, um auf den Heckaufbau
zu klettern, wo der Steuermann mit dem Ruder kämpfte.
"Kaufmannsgehilfen!" knurrte er. "Dass ich
nicht lache! Die beiden sind knochenhart. Selbst mir ist es kalt. Und ich
bin einiges gewohnt. Aber die zwei sind aus besonderem Holz geschnitzt.
Möchte nur wissen, aus welchem!"
Nach drei Tagen kam das Festland in Sicht.
Das Wetter hatte sich wieder einigermaßen beruhigt, sodass die Stadt
Rotter sich von ihrer besseren Seite zeigen konnte. Gerade als die Undine
mit einem letzten Schlag gegen den Wind in das Hafenbecken kreuzte, brach
die Wolkendecke auf. Die Sonne tauchte auf, um Rotter in fahles Winterlicht
zu tauchen. Für die Verhältnisse dieser Welt war Rotter eine
große Stadt, konnte sich aber nicht mit Yokohama messen, wie Inanuk
feststellte. Westlich des Hafens reckte sich eine große Landzunge
in Richtung Meer. Hunderte von Menschen wimmelten auf ihr herum. Einige
waren eifrig damit beschäftigt, schwere Säcke mit Erdreich heranzuschaffen
und andere, diese Ladung auf der Landzunge festzuklopfen.
"Das wird der neue Damm von Rotter!" erläuterte
Hüppes. "Als die Rotteraner vor vielen Jahren mit dem Bau des Deiches
begonnen hatten, hatte ich damit gescherzt, dass sie die Stadt Rotter nach
Fertigstellung des Dammes wohl in Rotterdamm umtaufen würden." Er
lachte laut auf.
"Ich habe unterwegs von anderen Seeleuten
erfahren, dass die Rotteraner inzwischen wirklich darüber nachdenken,
ihrer Stadt einen anderen Namen zu geben. Sie wollen sie Rotterdam nennen.
Von Orthografie haben die scheinbar keine Ahnung."
Die Undine schwang herum und legte am Kai
an. Ungeduldig sprang der Samurai ans Ufer. Kurz grüßend verschwand
er in der Menge.
"Er hat mich gefragt, wo man hier ein gutes
Pferd kaufen könne," sagte Hüppes. "Er hat es sehr eilig, sollte
es aber nur nicht übertreiben. Auch Ausgangs des Winters ist die Erde
noch hart gefroren und von Schnee und Eis bedeckt. Da kommt ein Pferd schnell
aus dem Tritt und stürzt."
Nanawok sah seinen Vater vielsagend an. Ihre
Vermutung schien sich zu bestätigen. Der Samurai wollte so schnell
wie möglich nach Königswinter, um Hieronto und dessen Braut zu
warnen. Sollte er ruhig. Mochte diese Welt noch so magisch sein! So magisch
wie Drachen und Kobolde waren sie selber auch.
Hüppes wandte sich ihnen zu.
"Und Ihr? Was wollt Ihr als nächstes
tun? Wenn Ihr nach Königswinter wollt, steht Euch der Weg über
den Rhein oder über Land offen. Das heißt, der Rhein ist erst
in einigen Wochen wieder schiffbar. Wenn Ihr Zeit habt, könnt Ihr
auf mich warten. Ich fahre mit meinem Flussschiff stromauf und würde
Euch kostenlos mitnehmen. Wenn Ihr es aber eilig habt, bleibt Euch nur
der Landweg."
Inanuk schaute Hüppes an.
"Ich danke Euch für Euer großzügiges
Angebot, Hüppes. Wir möchten natürlich auch gerne so schnell
wie möglich weiter. Außerdem haben wir uns lange genug ausgeruht.
Wir brauchen Bewegung. Seid uns also bitte nicht böse, wenn wir nicht
auf Euren Vorschlag eingehen, sondern den Landweg vorziehen."
"Dann solltet ihr den Pferdehändler Voorsdam
aufsuchen!" riet Hüppes. "Er ist ein ehrlicher Mann und wird Euch
gute Tiere zu einem fairen Preis überlassen. Ich habe auch den Samurai
zu ihm geschickt."
Der dicke Kaufmann war über Inanuks Antwort
nicht wenig überrascht.
"Ich glaube nicht, dass wir Pferde brauchen,"
antwortete Inanuk ruhig. "Sie würden uns nur behindern. Wir sind ohne
Pferde schneller als mit ihnen."
Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander,
denn die monatelange Reise hatte sie fast zu Freunden gemacht.
Als die beiden Männer untertauchten hatte
Hüppes seine Verblüffung immer noch nicht überwunden. Wie,
um alles in der Welt, wollte man zu Fuß schneller sein als zu Pferd?
***
Nach der monatelangen Zwangsgefangenschaft
auf der Undine, konnten sowohl Inanuk als auch Nanawok ihren Bewegungsdrang
kaum noch bremsen. Sie strotzten vor Energie und suchten nach einer Möglichkeit,
ihre angestaute Kraft loszuwerden. Als sie endlich die Stadtmauern Rotters
hinter sich gelassen und das Ufer des Rheins erreicht hatten, wurde es
langsam dämmrig. Sie schauten sich lächelnd an.
"Können wir?" fragte Nanawok.
"Wir sollten noch warten, bis es etwas dunkler
geworden ist," riet Inanuk.
Sie beherrschten sich noch eine ganze Weile,
in der sie erwartungsvoll die vereiste Ebene betrachteten, durch die sich
das schwarze Band des Rheins seinen Weg bahnte. Wie zwei Müßiggänger
spazierten sie den Fluss entlang, ungeduldig auf die Dunkelheit wartend.
Schließlich war es soweit.
"Ich kann es kaum noch aushalten!" stieß
Nanawok hervor. "Ist es nicht schon dunkel genug? Rotter ist nur noch schemenhaft
zu erkennen. Ich glaube nicht, dass uns bei diesem Licht noch jemand von
der Stadt her beobachten kann."
Inanuk schaute sich noch einmal sorgfältig
um. Dann nickte er.
"Ich stimme dir zu! Wir können uns jetzt
auf den Weg machen."
Die beiden ließen sich nieder. Mit einem
heiseren Schrei liefen sie los. Mit dem Wind um die Wette und in einem
Tempo, das jedem guten Pferd zur Ehre gereicht hätte. Sie erreichten
zwar nicht die Laufgeschwindigkeit eines Rennpferdes, waren aber ausdauernder
und hatten keine Probleme damit, auf dem eisglatten Boden Halt zu finden.
Sie liefen traumhaft sicher und mit einer verblüffenden Eleganz. Gleichmäßig
und ruhig arbeiteten Muskeln, Sehnen und Knochen zusammen, wie bei einer
vollendeten Maschine. Zum ersten Mal ließen die beiden Grauen ein
Licht auf ihre unvorstellbaren Fähigkeiten fallen und zeigten, warum
sie im Land der Aufgehenden Sonne so gefürchtet wurden.
Es dauerte lange, bis die beiden Läufer
sich soweit verausgabt hatten, dass sie wieder klar denken konnten. Inanuk
verhielt und richtete sich wieder auf. Nanawok folgte seinem Beispiel.
"Herrlich!" rief er. "Endlich wieder Bewegung.
Noch einen Tag länger auf dem Meer und ich wäre gestorben."
Bei diesen Worten sprang er in die Luft und
vollführte einen vollendeten Salto.
"Mir ging es ähnlich, mein Sohn," gab
Inanuk zu. "Wir sollten aber jetzt nicht mehr so ein hohes Tempo vorlegen.
Sonst kommen wir früher in Königswinter an als der Bote Yonos.
Bei diesen Bodenverhältnissen muss er vorsichtig reiten. Sein Pferd
ist nicht so leistungsfähig wie wir."
"Das ist mir schon recht," gab Nanawok zurück.
"Solange ich nur nicht mehr auf dieses Schiff zurück muss."
Die beiden liefen noch eine Weile in normalem
Tempo nebeneinander her, bis sie sich dafür entschieden, ein Nachtlager
aufzuschlagen. Sie hatten keine Zeltausrüstung dabei und eine Herberge
wollten sie auch nicht aufsuchen. Da sie den freien Himmel so lange entbehrt
hatten, wollten sie kein von Menschen gemachtes Dach über sich haben.
Sie zündeten kein Feuer an, denn seine Wärme brauchten sie nicht.
Durch das harte Leben auf dem Plateau waren sie extreme Kälte gewohnt.
Lange Zeit lagen sie nebeneinander auf dem Boden, den Blick auf den Nachthimmel
gerichtet, der von einem fast vollen Mond beherrscht wurde.
"Ist er nicht wunderschön?" meinte Inanuk.
"Ja!" hauchte Nanawok. "Für mich ist
das Mondlicht die schönste Beleuchtung überhaupt. Nichts kommt
ihm gleich."
Dann schliefen sie ein. Furcht vor einem Überfall
hatten sie nicht. Ihre Sinne waren auch im Schlaf fein genug, um jede feindliche
Annäherung rechtzeitig zu bemerken. Zum Glück wurden sie von
niemandem gestört. Zum Glück für den potentiellen Störer...
Am nächsten Morgen reckten sie sich kurz.
"Wir brauchen etwas zu essen," stellte Inanuk
fest, als er einen Schluck Wasser aus dem Rhein zu sich nahm. "Bevor wir
uns heute schlafen legen, sollten wir uns nach einem Braten umsehen."
"Hier sind Wald und Buchwerk genug. Wir sollten
keine Schwierigkeiten haben, uns mit Fleisch zu versorgen. Was möchtest
du: Ein Kaninchen - oder soll ich ein Reh schlagen?"
"Nimm, was du bekommen kannst. Mir ist es
gleich."
Sie nahmen ihren Weg wieder auf. Niedergelassen
trabten sie nebeneinander her. Ortschaften wichen sie aus. Im Moment hatten
sie noch genug von Menschenansammlungen und waren mit sich und ihrer Zweisamkeit
zufrieden. Als es langsam dunkel wurde, brach Nanawok plötzlich nach
rechts in ein Gebüsch aus, weil er ein Kaninchen bemerkt hatte. Der
kleine Nager hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Nanawok schnitt
ihn von seinem Bau ab und Inanuk verhinderte, dass er in eine Notfluchtröhre
einfuhr. Nach kurzer, heftiger Jagd, war das Tier gefangen. Die beiden
Grauen verzehrten ihre Beute roh, da sie weiterhin auf ein Feuer verzichten
wollten. Nanawok grinste dabei seinen Vater an.
"Ich weiß nicht, wie mir das Fleisch
besser schmeckt. Roh oder gebraten. Ich glaube beides ist gleich lecker."
"Das kommt ganz auf die Güte deiner Zähne
an!" bemerkte Inanuk weise.
Als das Tier zwischen ihren Zähnen verschwunden
war, legten sie sich wieder hin, um den Nachthimmel zu betrachten. Der
Mond war voller als gestern. Sein fahler Schein tauchte die erfrorene Winterwelt
in milchiges Licht. Die beiden Männer fühlten, wie sie ein unwiderstehliches
Sehnen ergriff. Mehr und mehr begann die eigentümliche Macht des Mondes
Besitz von Ihnen zu ergreifen.
Zuerst gab Inanuk dem Drang nach und stand
auf. Dann folgte ihm Nanawok nach. Beide entledigten sich ihrer Kleidung.
Sie breiteten die Arme aus, den Blick unentwegt steil nach oben zum Mond
gerichtet. Dann begannen sie zu tanzen. Es war ein seltsamer, urtümlicher
Tanz: Sie sprangen mit beiden Beinen hoch, dem Mond entgegen, federten
zurück und sprangen wieder hoch. Dabei bewegten sie ihre Oberkörper
ruckhaft zuerst nach hinten, dann noch vorn und federten wieder zurück.
Sie stampften mit den Füßen auf, sprangen wieder, vollführten
Peitschbewegungen mit dem Oberkörper, federten wieder zurück,
sprangen wieder hoch und drehten sich. Dabei bewegten sie sich fortwährend
im Kreis. Sie spürten die frostige Kälte der Winternacht nicht
und besangen in ihrer Sprache die Schönheit des Mondes, seine Herrlichkeit
und Pracht, die ihnen Mut und Kraft gab, die sie mit denen, die sie liebten,
in der Heimat verband. Sie tanzten und sangen die ganze Nacht, bis der
Mond vom Himmel verdrängt wurde und die Sonne seinen Platz einnahm.
Nach der Anstrengung glänzten ihre Körper
vor Schweiß. Sie waren müde und fertig - aber glücklich.
Es war lange her, dass sie eine so befriedigende Nacht verbracht hatten.
Die nächsten Tage vergingen wie der vorangegangene.
Tagsüber liefen sie, in der Dämmerung jagten sie, in der Nacht
tanzten und sangen sie. Zum Glück war die Gegend weitestgehend menschenleer,
so dass niemand auf die Idee kam, sie zu fragen, was sie hier trieben.
Nur bei ihrem nächtlichen Tanz sträubten sich so manchem Bauern
auf so manch einsamem Gehöft die Haare, wenn er in seinem Bette lag
und nach Ruhe suchend das Lied der beiden Grauen hörte. So kam es
vor, dass sich der Bauer nach seiner Frau an seiner Seite umdrehte und
feststellte, dass sie sich die Decke furchtsam über den Kopf gezogen
hatte: Das grauplige Geheul klang einfach zu schrecklich in den Ohren,
als dass es einem nicht durch Mark und Bein fuhr.
Das ging so lange, bis der Mond nicht mehr
voll war und er seine Macht über sie verloren hatte. Gleichzeitig
schlug das Wetter um: Die angenehme Kälte wich regnerischem Schmuddelwetter,
das den Boden matschig machte und zu einem nachhaltigen Sinken der Stimmung
unserer beiden Reisenden führte.
"Wir brauchen eine Unterkunft. Mir steht der
Sinn nach einem heißen Bad und einem warmen Essen," knurrte Inanuk.
"Das macht das Alter, Papa," grinste Nanawok,
schaltete aber gleich einen Gang zurück, als er den ganz und gar unhumorigen
Blick seines Vaters auf sich ruhen fühlte. "Schon gut! Auch ich könnte
ein wenig Luxus vertragen," gab er zu.
Sie beschlossen, bei der nächstbesten
Gelegenheit ein Gasthaus aufzusuchen, um sich verwöhnen zu lassen.
Sie hatten zwar keine Ausrüstung dabei, aber an Gold mangelte es ihnen
nicht. Geld war nicht das Problem der Gilde.
Leider kamen sie in der nächsten Zeit
an keiner Ortschaft vorbei, sodass es noch zwei Tage dauerte, bis sie an
einem einsamen Gebäude vorbeikamen, dessen Beschriftung es als Herberge
auswies: "Zum alten Rapfen" hieß es und aus den geöffneten Fenstern
ertönte lautes Gegröle.
Inanuk rümpfte die Nase.
"Na ja! Unter einem Gasthaus stelle ich mir
eigentlich etwas anderes vor. Aber wenn wir jetzt nicht einkehren, brauchen
wir es gar nicht mehr zu tun. Wir sind bald in Königswinter."
Die beiden schauten sich an, zuckten mit den
Schultern und betraten den Schankraum.
Schlagartig verstärkte sich der Lärm
und ein süßlich sauer Brodem aus abgestandenem Alkohol, Rauch
und Schweiß schlug ihnen als Kneipendunst entgegen.
***
Während sich das Unheil in Form und Gestalt
der beiden Grauen näherte, ging das Tagesgeschäft auf Schloss
Drachenburg seinen gewohnten Gang. König Richard sorgte sich wegen
der ständig steigenden Zahl der Abenteurer, die aus der schönen
Stadt Königswinter zunehmend eine Hochburg für Schläger
und Trunkenbolde machte.
"Wie soll ich das alles nur in den Griff bekommen?"
fragte er immer wieder und richtete den Blick fragend auf El Pitto Gnomo,
der in der letzten Zeit sehr häufig auf dem Schloss weilte, weil er,
seit seine Tochter Lilly nicht mehr zu Hause wohnte, mit seiner Frau Lisa
in Unfrieden lebte.
Jannie war vom Reisefieber gepackt, weil sie
im Frühjahr mit Hieronto in das Land der Aufgehenden Sonne reisen
wollte, um dessen Heimat kennen zu lernen.
"Was soll ich nur einpacken?" seufzte sie
und betrachtete ratlos ihren Kleiderschrank, der aber nicht so überquoll,
wie man es vom Kleiderschrank einer Prinzessin eigentlich vermuten würde.
Für einen Herrscher seines Standes lebte König Richard mit seinem
Hofstaat auf sehr bescheidenem Fuß. Sehr zur Freude seiner Untertanen
übrigens, die mit einer sehr geringen Steuerlast leben durften.
Als Jannie im Schlosshof lautes Hufgetrappel
hörte, schaute sie neugierig aus dem Fenster. Ihr Herz tat einen Sprung,
als ihr Blick auf Hieronto fiel, der sich im Hof aufhielt. Er durfte natürlich
nicht mir ihr allein in einem Zimmer sein. Schließlich waren sie
nur verlobt und nicht verheiratet. Ihre Mutter wusste, was sich schickte
und achtete sehr darauf, dass die beiden Verliebten sich an die gesellschaftlichen
Spielregeln hielten.
Gerade stand Hieronto auf und ging auf den
Reiter zu, dessen Ankunft sie gerade vernommen hatte. Zu ihrer Überraschung
handelte es sich dabei um einen Samurai ihres zukünftigen Schwiegervaters
Yono.
"Was will der denn hier?" fragte sie sich.
Ihre Kleidersorgen waren sofort vergessen. Neugierig und ganz undamenhaft
stürmte sie aus ihrem Zimmer und lief in den Schlosshof hinaus, wobei
ihr langes Haar wie eine goldene Schleppe hinter ihr her wehte. Als sie
an ihrem Ziel ankam, stand Hieronto bereits beim Pferd des Ankömmlings.
Schon von weitem konnte sie sehen, dass das Gesicht ihres Verlobten bleich
war. Seine rechte Hand hatte sich in der Satteldecke verkrampft.
Die beiden Männer bemerkten ihre Annäherung
nicht, sondern starrten sich schweigend an.
Jannie gab sich munter, obwohl die angespannte
Haltung der beiden sie alarmierte: Hier stimmte eindeutig etwas nicht.
"Hallo!" rief sie. "Was ist los? Schlechte
Nachrichten?"
Mühsam wandte Hieronto sich ihr zu. Jede
Bewegung schien ihn große Kraft zu kosten.
"Sehr schlechte Nachrichten, Jannie!" stieß
er hervor. "Wir müssen unbedingt sofort mit deinem Vater sprechen."
"Was ist los? Ist etwas mit deinem Vater?
Sag mir doch endlich was!" rief sie mit jagendem Herzen. Eiserne Selbstbeherrschung
gehörte zu den Grundtugenden eines Samurai. Der Bote schien aber eine
Nachricht überbracht zu haben, die über Hierontos Kräfte
ging. Noch nie hatte sie ihn dermaßen bekümmert gesehen, wie
jetzt.
Hieronto ging nicht auf ihre Bitte ein. Er
bat den Samurai abzusteigen. Gemeinsam schritten die drei mit wehenden
Kleidern über den Hof und eilten in den Thronsaal Richards, wo dieser
mit El Pitto Gnomo zusammensaß.
Richard war nicht wenig überrascht, als
die Ankömmlinge den Raum betraten. In der Regel konnten Jannie und
Hieronto natürlich unangemeldet bei ihm erscheinen. Schließlich
gehörten sie zur Familie. Aber der Dritte im Bunde schien einen langen
Ritt hinter sich zu haben. Es hätte sich gehört, ihn sich zuerst
einmal erfrischen zu lassen. Der Samurai kniete nieder und verbeugte sich
tief vor Richard.
"Ich bitte Euch um Verzeihung, edler König,
dass ich unangemeldet und vom Reisestaub bedeckt bei Euch vorspreche. Hieronto
Hatamoto, der Sohn meines Herrn Yono Hatamoto, meinte aber, dass Euch meine
Botschaft unverzüglich überbracht werden müsse."
Richard blickte Hieronto irritiert an. Was
um alles in der Welt war so wichtig, dass man diesem Mann keine Erfrischung
gönnte? Schließlich herrschte ringsum Frieden. Wenn man mal
von den Problemen in Königswinter absah.
"So sprich!" forderte er den Boten auf.
"Herr, ich muss Euch leider die Nachricht
überbringen, dass die Graue Gilde den Auftrag erhalten hat, Eure Tochter
Jannie zu töten. Sie hat den Auftrag bereits akzeptiert. Es tut mir
so leid!"
"Und was soll daran so schlimm sein?" fragte
Richard. "Jannie ist schon von Xusia und Janus entführt und von Laurin
bedroht worden. Die ersten beiden waren immerhin Fürsten der Finsternis,
also ganz schlimme Burschen. Wir sind einiges gewohnt am Drachenfels!"
Hieronto, weiß wie eine Wand, trat einen
Schritt vor.
"Du verstehst nicht, Richard. Die Graue Gilde
ist in meiner Heimat gefürchtet wie der Teufel selbst. Wenn sie einen
Mordauftrag annimmt, dann ist die Zielperson verloren. Die Gilde gibt nie
auf!"
"Wie sehen denn diese Mörder aus?" fragte
Richard.
"Das weiß niemand. Noch nie ist ein
Mitglied der Grauen Gilde gefasst worden. Sie kommen und gehen unerkannt.
Nur die toten Opfer bleiben zurück."
"Auch das werden wir in den Griff bekommen,"
behauptete Richard. "Ich kenne dich, Hieronto, und liebe dich wie meinen
eigenen Sohn. Darum nehme ich die Warnung ernst. Wir werden einen Ring
von Wachen um Jannie legen. Wir haben den Zauberer Merling, der einen Schutzzauber
schaffen wird. Wir haben Drachen, die Jannie beschützen werden. Wir
haben die Weiße Alraune, die uns beraten kann. Und wir haben einen
magischen Schwertkämpfer, an dem niemand vorbeikommt. An diesem Schutzwall
wird die Gilde sich ihre Zähne ausbeißen. Wir haben Magie in
Hülle und Fülle. Jannie wird nichts passieren."
In erster Linie zählte Richard dies alles
nur auf, weil er sich selbst beruhigen wollte. Natürlich machte er
sich auch Sorgen um seine Tochter. Die Reaktion des Boten brachte ihn aber
doch aus der Fassung. Dieser richtete sich nämlich auf und sagte:
"König Richard. Ihr werdet selbstverständlich
auch auf meine Schwerter zählen können. Ich werde mein Leben
mit Freuden für Eure Tochter hingeben. Denn eins ist gewiss: Alle,
die sich vor Eure Tochter stellen werden, um ihr Leben zu schützen,
werden auch sterben. Denn das ist so Sitte bei der Gilde. Zuerst sterben
die Beschützer. Am Schluss die Zielperson."
Er wandte sich Jannie zu.
"Ich bedaure, das sagen zu müssen, Prinzessin,
aber Ihr seid bereits tot. Es wird mir eine Ehre sein, an Eurer Seite zu
sterben."
...
© W. H.
Asmek
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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