Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Pulpitis

Vor langer, langer Zeit, als die Wälder noch so große Flächen bedeckten, dass man auf einem guten Pferd viele Tage brauchte, um sie zu durchqueren, reiste ein Trupp von Rittern durch das Siebengebirge. Bereits auf den ersten Blick konnte man sehen, dass die Ritter einen bunt zusammengewürfelten Haufen bildeten. Denn einige waren zu Fuß, andere zu Pferd, und teilweise trugen sie verschiedene Wappen mit sich. Die stärkste Gruppe bildeten die Ritter vom Drachenwappen. Sie waren auch alle beritten. Die Mitglieder der Wolfsbande mühten sich zu Fuß ab, mit dem Rest Schritt zu halten. Den Abschluss des Zuges bildeten zwei Karren, von denen der eine in einem geschlossenen Holzaufbau einen leibhaftigen Drachen beherbergte, der stumpf und teilnahmslos dreinblickte.
Die Gruppe hatte einen langen Weg hinter sich. Alle, auch die Pferde, waren müde. Doch trotz ihrer Erschöpfung blickten die Männer aufmerksam in das Dickicht, das ihren Pfad säumte, denn in der damaligen Zeit war man vor Übergriffen nie sicher, selbst wenn man, wie hier, in einer größeren Gruppe reiste und gut bewaffnet war. Gerade die dunklen Wälder des Siebengebirges waren sagenumwoben und steckten voller Geheimnisse. Zu Beginn ihrer Reise waren die Männer noch sorglos drauflosgezogen, hatten aber schon bald erfahren, dass in diesen Wäldern Sorglosigkeit nicht angebracht war. Denn schon am ersten Tag war ein riesiger Troll aus einem Gebüsch gestürzt, hatte sich einen aus der Gruppe geschnappt und war spurlos verschwunden. Seitdem waren alle auf der Hut. Niemand wollte gerne im Kochtopf eines Trolls landen.

Die Ritter hatten es eilig! Der Winter stand kurz vor der Tür und sie hatten kein Dach über dem Kopf. Ziel ihrer Reise war eine Burg, die sich auf einem Berg inmitten der Wälder erheben sollte. Angeblich, so hatten sie gehört, war diese herrenlos. Allerdings sollte es in ihr spuken. Doch Spuk und Geister störten die Ritter nicht. Sie alle waren hartgesotten und fürchteten weder Tod noch Teufel.
Ein Triumphruf ihres Anführers ließ die Reisenden die müden Köpfe heben. Vor ihnen reckte sich ein Turm aus der grünen Dunkelheit: Die Burg war in Sicht. Erleichtert mobilisierten sie ihre letzten Kräfte. Doch es dauerte immerhin noch drei Stunden, bis sie am Fuße der Feste angekommen waren.
Das Gebäude war eine sehr prachtvolle Burg, Die Herzen der Ankömmlinge schlugen höher: Sie besaß ein großes Eingangstor als Vorder- und eine Zugbrücke als zusätzlichen Nebeneingang. Die vier Ecken waren durch dicke Wachttürme gesichert.
Nachdem sie die Pferde ausgespannt hatten, ließen sich die Ritter sogleich auf einer vorgelagerten Wiese nieder, um zu rasten. Ihr Anführer aber, ein Drachenritter, den man seiner Härte und Unnachgiebigkeit wegen Eisenfaust nannte, wollte nicht ruhen. Zwar gönnte er seinem wertvollen Schlachtross seine Ruhe und ließ es grasen, ging aber selbst gleich auf das große Haupttor zu, um einen Weg in die Burg zu finden. Die schweren Holztore ließen sich mit einiger Mühe öffnen. Dahinter aber fand er ein dickes ehernes Fallgitter, das allen Öffnungsversuchen widerstand. Schließlich umkreisten alle das Gemäuer, um einen versteckten Eingang zu finden. Aber es war vergebens. Es gab keinen Weg hinein!

Niedergeschlagen blickten die Männer in das Tal hinab, das sich am Fuß des Burgberges erstreckte. Fruchtbare Felder, grüne Wiesen so weit das Auge blickte. Schmucke Bauernhöfe rundeten das friedliche Bild ab.
Schließlich kam dem Anführer ein Gedanke.
"Ist es nicht möglich, dass die Bauersleute dort unten einen Weg in die Burg kennen?" fragte er seine Leute.
Sie antworteten, dass das durchaus möglich sei, aber ob die Bauern einem dahergelaufenen Haufen Rittern helfen würden, sei eine ganz andere Frage.
Eisenfaust dachte sich, dass er auch mit diesem Problem fertig werden würde. Er schwang sich auf sein Pferd, rief Zweien seiner Leute zu, sie möchten ihm folgen und machte sich an den Abstieg ins Tal. Die anderen ließen sich wieder aufs Gras fallen, erleichtert darüber, dass die Wahl nicht auf sie gefallen war.

***

Die Bauern des Tals waren stolze Leute, die seit vielen Jahren ihre Felder bearbeiteten. Sie hatten es Dank ihres Fleißes und des guten Bodens zu einigem Wohlstand gebracht. Mit Argwohn betrachteten sie darum die sich nähernden drei Reiter: Fremde konnten nichts Gutes bedeuten. Sie sollten sich dahin zurückscheren, wo sie hergekommen waren. Am besten zum Teufel.

"Was können wir für euch tun, Fremdlinge?" empfing sie der Dorfälteste kühl.
"Wir sind fahrende Ritter, die des Herumreisens müde geworden sind. Wir wollen uns in der Burg dort droben niederlassen, können aber keinen Eingang finden. Weißt du einen?"

Der Angesprochene war nicht erbaut von dem Plan der Ritter, sich dort oben einzuquartieren. Der alte Burgherr war vor einigen Jahren gestorben, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Seitdem war das Gemäuer verwaist. Es gab niemanden mehr, der ihnen Vorschriften machte oder gar Steuern eintrieb. Den Bauern gefiel dieser Zustand sehr. Sie hatten darum auch kein Interesse daran, jemandem zu helfen, der an dieser Sachlage rütteln konnte. Neue Burgherren zu haben verhieß nur die Aussicht auf Vorschriften und Ärger.

"Nein, auch wir kennen keinen Eingang. Zieht am besten weiter und überlasst die Burg sich selbst. Die Mauern sind mit einem Zauber belegt, der sie uneinnehmbar macht. Ohne den rechten Eingang zu finden, werdet Ihr also nicht hineinkommen," antwortete der Bauer darum.
Die Drachenritter aber waren harte Burschen, die schon so manchen Strauß ausgefochten hatten. Sie ließen sich darum nicht so leicht von einem Bauern von ihrem Vorhaben abbringen.
"Ich glaube dir nicht, Bauer!" antwortete Eisenfaust also. "Ihr lebt schon seit vielen Jahren in dieser Gegend. Du kannst mir nicht erzählen, dass ihr nicht das ein oder andere wisst!"
Mit diesen Worten zog er ein Schwert und setzte dessen Spitze an die Kehle des anderen. Doch der Dorfälteste blieb stur. Lieber würde er sterben, als auch nur einen Schritt nachzugeben. In diesem Moment schritt der Sohn des Mannes ein. Er drückte die Schwertspitze zur Seite und stellte sich zwischen seinen Vater und den Ritter.
"Haltet ein!" rief er laut. "Wir wissen wirklich keinen Weg in die Burg. Es gibt aber einen Zauberer, der euch sicher helfen kann."
"Wo ist dieser Zauberer?" fragte der Drachenritter. "Du wirst uns hinführen. Es wird dein Schaden nicht sein."
Doch der junge Mann schüttelte den Kopf.
"Ich kann euch nicht hinführen. Niemand kann das, denn wer mit dem Zauberer sprechen will, muss zuerst seinen Mut beweisen. Dazu gehört, dass er allein und ohne Waffen zu ihm kommt."
"Der Zauberer scheint mir ein rechter Feigling zu sein, wenn er seine Besucher nur einzeln und waffenlos empfängt," lachte der Ritter. "Doch das soll mich nicht stören. Weise mir den Weg, damit ich diesen seltsamen Heiligen finde!"

Der Bauernsohn, Richard mit Namen, beschrieb den Weg so gut er konnte.
"Ihr müsst tief in den Wald hineingehen. Gerade dort hinein, wo die Bäume am dichtesten stehen. Wenn der Wald so dicht geworden ist, dass das Licht der Sonne nicht mehr auf den Boden fällt und nur noch schwarze Nacht um euch herum ist, habt Ihr die Wohnstatt des Magiers gefunden."

Eisenfaust nickte mit dem Kopf, dann steckte er sein Schwert ein und zog mit seinen Männern von dannen. Er würde diesen Zauberer schon finden.
"Wehe dir, wenn du mich belogen hast! Drachenfeuer wird über dich kommen, so wahr ich der Anführer der Drachen- und Wolfsritter bin!" rief er noch. Dann waren er und seine Männer verschwunden.

***

Gleich am nächsten Tag drang Eisenfaust in die Wald ein. Dort lenkte er sein Pferd weisungsgemäß immer in die Richtung, in der die Bäume gerade am dichtesten standen. Als die Nacht hereinbrach, musste er das Tier zurücklassen. Zu eng war der Platz zwischen den Bäumen. Schließlich war der Weg so schmal und dunkel, dass es selbst ihm unheimlich wurde. Schwarz und drohend schienen ihm die dicken Bäume des Waldes zu raten, von seinem Vorhaben abzulassen. Doch er gab nicht auf. Nach viel Mühen kam er an eine Lichtung, in deren Mitte sich ein kleines Haus erhob. Aus einem der Fenster scholl eine kräftige Stimme: "Siehe da! Nach vielen Jahren wieder ein Besucher! Dein Anliegen scheint wirklich wichtig zu sein. Sonst hättest du dir die Mühe des Weges bestimmt erspart."

Nach diesen Worten teilte sich das Haus in der Mitte und klappte auseinander. Heraus trat ein kleiner verschrumpelter Wicht mit einem hohen, spitz zulaufenden Hut und einem langen, weißen Rauschebart.

"Willkommen!" grüßte er freundlich. "Ich bin der Zauberer Merling! Was kann ich für Euch tun?"
Der Zauberer schien ein Mann der Tat zu sein, was dem Ritter sehr gefiel. Kurz trug er seine Bitte vor. Der Magier strich sich über den Bart und dachte nach. Schließlich sagte er: "Ich kenne einen Weg in die Burg. Aber zuerst muss ich wissen, ob Ihr bereit seid, den Preis für meine Hilfe zu zahlen."

Nun, Zauberer wollen natürlich auch für ihre Arbeit bezahlt werden. Darum kamen die Worte Merlings für Eisenfaust nicht unerwartet. Er machte mit seiner Hand eine wegwerfende Bewegung: "Nur zu! Was ist deine Bedingung, Zauberer?"
"Nichts Großartiges," gab dieser zurück. "Wenn Ihr in die Burg kommt, werdet Ihr sie erst einmal gründlich durchsuchen, schätze ich. Ihr werdet viele Schätze entdecken, denn der vorherige Burgherr war sehr reich. Ich möchte nur eines von euch: Bringt mir das Erste das Ihr findet, das weiß ist. So bin ich schon zufrieden!"

Der Ritter war nur zu gerne bereit, dieser Bitte entgegenzukommen. Der Magier war scheinbar ein rechter Sonderling, denn die Schätze schlug er aus: Gold war bekanntlich gelb und Diamanten auf keinen Fall weiß. Was mochte das schon besonderes sein, was er wollte?

"Wenn Ihr auf die Nordseite der Burg geht, werdet Ihr an einer Stelle einen verzauberten Dornbusch finden. Wartet bis zur nächsten Neumondnacht. Begebt Euch dann zu dem Strauch und zwängt Euch hindurch. So werdet Ihr an einen Teil der Burgmauer kommen, den noch nie ein Sonnenstrahl berührt hat. Klopft dreimal gegen den hellsten Stein, den Ihr finden könnt, so wird sich die Mauer öffnen und euch einlassen."

Nun gab es für den Drachenritter kein Halten mehr. Er bedankte sich flüchtig und verließ den Alten. Seine ganzen Gedanken waren nur noch auf die Burg gerichtet. Der Magier aber sah dem Davonschreitenden mit einem leichten Lächeln nach. Dann schloss sich das Haus wieder und der Zauberer verschwand als hätte es ihn nie gegeben.

***

An der Burg wurde Eisenfaust von seinen Leuten zurückhaltend begrüßt.
"Warum kommst du denn schon zurück? Hattest du etwa Angst?" fragten sie ihn. 
"Ich und Angst?" fragte er verwundert. "Wie kommt ihr darauf? Schließlich war ich fünf Tage fort. Ich habe den Zauberer gefunden und auch einen Weg in die Burg. Was wollt ihr also?"

Da erklärten ihm seine Männer, dass seit seinem Aufbruch erst ein paar Minuten vergangen waren. Wie er in dieser kurzen Zeit denn den Magier hätte finden können, wollten sie wissen.
Da war es an der Reihe des Ritters, sich zu wundern und seine Achtung vor Merling stieg gewaltig. Natürlich kam es den Männern nicht in den Sinn, bis auf die nächste Neumondnacht zu warten, denn draußen war es schon sehr kalt, und sie wollten so schnell als möglich ein warmes Dach über dem Kopf haben. Schnurstracks begaben sie sich zur Nordseite der Burg, wo sie auch sofort den Dornbusch fanden. Da er recht harmlos aussah, fand sich auch sofort jemand, der sich bereit erklärte, durch ihn hindurchzugehen. Doch kaum hatte er den ersten Zweig berührt, reckte sich ihm auch schon der ganze Busch entgegen. Gesicht und Arme wurden ihm so fürchterlich zerkratzt, dass er schreiend davonlief. Der Nächste, nicht dumm, schlüpfte in seine Rüstung. 
"Durch Eisen kommt auch dieser biestige Dornbusch nicht durch!" dachte er bei sich. Doch wie groß war sein Erstaunen, als er die Stiche des Strauchs auch durch seine Schutzkleidung hindurch verspürte. Fragend blickte Eisenfaust die Leute der Wolfsbande an. Doch diese winkten dankend ab. 
"Wir haben genug gesehen!" riefen sie. "Der Busch ist verhext. Wir warten lieber ab!"
Auf den Neumond mussten sie eine Woche warten. Aber dann war es so weit.

Es kam genau so, wie der Zauberer es vorausgesagt hatte: Der Dornbusch ließ einen der Ritter hindurch und auf dreimaliges Klopfen gab die Burgmauer einen Weg ins Innere preis. Innerhalb kurzer Zeit war die Burg im Besitz der Ritter, welche sich auch sogleich gemütlich einrichteten. Die Pferde fanden bequeme Stallungen und die Ritter gemütliche Zimmer, in denen zwar der Staub hoch lag, was sie aber nicht weiter störte. Das Burgverließ hatte nur einen einzigen Insassen vorzuweisen: Das weiße Skelett eines vergessenen Gefangenen, der hier verschmachtet war. Die Ritter vergaßen die Überreste des Unglücklichen auch sofort wieder. Für das Verließ hatten sie keine Verwendung. Noch nicht!

Einige Zeit genossen sie ihr neues Heim. Doch dann gingen ihnen die Vorräte aus und sie erinnerten sich wieder an die Bauern in ihrem fruchtbaren Tal.
"Wir sind die Burgherren," stellte Eisenfaust fest. "Also müssen uns die Bauern selbstverständlich Tribut entrichten. Dafür schützen wir sie wiederum vor ihren Feinden! So wäscht die eine Hand die andere!" 
Begeistert stimmten ihm seine Kumpane zu. Dass die Bauern überhaupt keine Feinde hatten, vor denen man sie beschützen musste, störte sie dabei gar nicht. Kurz entschlossen sattelten drei der Drachenritter ihre Rösser und machten sich auf den Weg ins Tal, um die Landleute mit der guten Botschaft zu überraschen.

Doch diese wollten von Tributzahlungen nichts wissen. 
"Wir sind freie Bauern!" antwortete der Dorfälteste, der den Rittern ja bereits wegen seiner Starrköpfigkeit bekannt war. Die anderen Dorfbewohner standen beifällig nickend dabei. "Wenn ihr etwas braucht, so könnt ihr es haben, wenn ihr dafür bezahlt. Gold genug habt ihr ja wohl!"

Die Ritter wurden blass vor Wut über die Unverschämtheit dieser Forderung. Sie sollten bezahlen? Freie Bauern? Eisenfaust beugte sich vom Pferd herab.
"Hör mir gut zu, Dorfschulte!" grollte er. "Ich gebe euch zwei Tage Zeit. Wenn ihr uns bis dahin nicht alles gebracht habt, was wir wollen, dann wird ein großes Unglück über euch kommen. so wahr ich ein Drachenritter bin!"
Dann zogen die Ritter ab.

Die Bauern dachten selbstverständlich nicht daran, die Forderung der Ritter zu erfüllen. Unbekümmert gingen sie ihren Beschäftigungen nach.

Am Morgen des dritten Tages aber erhob sich ein fürchterliches Sausen und Brausen in der Luft. Von den Zinnen der Burg stieß ein großer Drache in das friedliche Tal herab. Er verwüstete die Felder mit seinem giftigen Atem, tötete das Vieh auf den Weiden und entzündete die Häuser mit seinem glühend heißen Drachenfeuer. Drei Tage wütete das Ungeheuer. Dann zog es sich wieder auf die Burg zurück.

Die Bauern aber blieben hart. Sie richteten ihr Hab und Gut wieder her, so gut es eben ging, mühten sich, den Drachen zu vergessen und lebten weiter wie bisher.

Als wiederum zwei Tage vergangen waren, erhob sich abermals ein fürchterliches Sausen und Brausen in der Luft. Der Drache erschien aufs Neue, verwüstete die Felder mit seinem giftigen Atem, tötete das Vieh auf den Weiden und entzündete die Häuser.

Da wurde es dem Dorfältesten zu bunt. Er rief seinen Sohn Richard zu sich und sprach:
"Mein Sohn, den Drachen haben uns mit Sicherheit die Ritter auf den Hals gehetzt. Er wird uns so lange peinigen, bis wir unsere Abgaben entrichtet oder all unsere Habe verloren haben. Wir sind aber freie Bauern. Niemand hat ein Recht, uns zu seinen Sklaven zu machen. Wir müssen einen Weg finden, uns den schrecklichen Drachen vom Halse zu halten. Ich bitte dich, gehe zum Magier Merling und frage ihn um Rat."

Der Bauernsohn war ein tapferer junger Mann. Obwohl sein Herz seinem Hosenboden näher stand als seiner Brust, folgte er der Bitte seines Vaters und machte sich auf den Weg in den Wald des Zauberers.

***

Er marschiert sieben Tage und Nächte, bis er dahin kam, wo der Wald am finstersten war und die Bäume so dicht standen, dass es kein Weiterkommen mehr gab. Da fand er die Lichtung mit dem Haus des Zauberers.

"Oha! Wieder ein Besucher!" erscholl die Stimme des Magiers. "Hier ist in letzter Zeit aber viel los."
Das Haus teilte sich und Merling erschien auf der Lichtung.
Richard beeilte sich, seine Bitte vorzutragen. Merling hörte ihm zuerst ruhig zu. Als aber der Drache erwähnt wurde, stand er auf und ging auf und ab. Ab und zu unterbrach er die Ausführungen Richards mit Fragen wie: "War der Drache wirklich so groß?" oder "Waren seine Schuppen grün oder schwarz?", fragte nach der Farbe seiner Augen (Gelb oder Rot) und so weiter. Schließlich schwirrte Richard der Kopf. Der Magier aber war plötzlich lebhaft wie ein Fohlen. Er hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere und lief schließlich in sein Haus, um endlich mit einem dicken Buch, das er kaum zu tragen vermochte, wiederzukommen.

"Da habe ich doch kürzlich erst von einem großen Drachen gelesen," murmelte er. "Große Drachen sind nämlich inzwischen sehr selten geworden, musst du wissen, Richard. Seit die Menschen immer weniger an die Macht der Magie glauben, verflüchtigt sie sich mehr und mehr. Drachen sind magische Wesen. Verliert sich die Magie, verschwinden auch die Drachen. Aber dieser hier scheint ein Königsexemplar zu sein. Aha! Da ist er ja!" Triumphierend drehte er das Buch so, dass auch Richard einen Blick hineinwerfen konnte. Seine Augen richteten sich auf das Bild eines großen grünen Drachens.

"Das ist Quatzkotl, der letzte König der Drachen!" erklärte Merling. "Sein Vater, Pergotzkatl, soll angeblich vor mehreren hundert Jahren von einem schusseligen Ritter auf hinterlistige Weise getötet worden sein!" Bedauernd wiegte Merling seinen Kopf. "Wie kann man nur ein derart edles Wesen töten!"

"So weit her ist es mit dem Adel eines Drachens wohl nicht!" widersprach Richard dem Magier. "Wenn er so weiter macht wie bisher, dann nagen wir bald alle am Hungertuch!"
"Dieses Verhalten paßt nicht zu einem Drachen wie Quatzkotl!" gab der Merling barsch zurück. "Und jetzt sei still! Ich muss nachdenken!"

Er drehte sich um und verschwand mit seinem Buch in der Hütte. Mehrere Stunden später kam er wieder zurück.
"Pass auf, sagte er. Ich möchte, dass du in die Burg gehst und mir das Erste bringst, das du siehst, das weiß ist. Eil dich! Wir haben keine Zeit zu verlieren!"
"Aber wie komme ich hinein?" wollte Richard wissen. "Wenn die Ritter mich sehen, sperren sie mich sofort ein."
"Ich glaube, ich werde alt," seufzte Merling. Er zog ein kleines Fläschchen mit einer blauen Flüssigkeit aus seinem Wams. 
"Nimm dies!" befahl er und erklärte ihm den Weg über den Dornbusch in die Burg. "Wenn du den Inhalt dieser Flasche über den Busch schüttest und sagst: ’Trolle, Hölle, Drachenblut, lässt du mich durch, geht es dir gut’, dann lässt er dich sofort ein. Sonst müsstest du auf die nächste Neumondnacht warten. Jetzt aber los! Und vergiss nicht: Bringe mir das Erste, das weiß ist!"

Als Richard sich auf den Rückweg machen wollte, hielt ihn Merling zurück. 
"Warte," forderte er den jungen Mann auf. "Ich werde dir einen Führer mitgeben, damit du schneller bei der Burg ankommst - und vor allem, damit die Ritter dich nicht sehen!"
Er stieß einen grellen Pfiff aus. Als sich nichts tat, stampfte er wütend mit seinem rechten Fuß auf. 
"Verflixt und zugenäht!" schimpfte er. "Schläft der faule Kerl etwa wieder?"
Er schlich sich hinter seine Hütte. Richard hörte ein lautes Klatschen, gefolgt von lautem Wehgeschrei, das von einer Schimpfkanonade des kleinen Magiers begleitet wurde. Schließlich tauchte Merling wieder auf. Hinter sich zog er - Richard blieb das Herz stehen - einen halbwüchsigen Troll her.

"Das ist Knurps, der Troll!" erklärte Merling. "Er kennt die Gegend ganz ausgezeichnet und wird dich zur Burg bringen."
Richard hatte noch nie einen leibhaftigen Troll zu Gesicht bekommen und hatte auch nicht vor, die Bekanntschaft zu vertiefen, denn obwohl Knurps noch nicht ausgewachsen war, sah er schon wie ein rechter Troll aus:
Bereits jetzt war er schon größer als Richard, der mit seinen 18 Jahren fast erwachsen war und, durch die harte Feldarbeit gestählt, seinen Mann stand. Knurps überragte ihn jedoch um Haupteslänge. Seine muskelbepackten, behaarten Arme schleiften fast auf dem Boden. In dem viereckigen, mit struppigem Haar bedeckten Schädel, glitzerten pechschwarze kleine Augen. Die platte Nase und der breite Mund mit stumpfen, gelben Zähnen rundeten das Bild eines Halbungeheuers ab. In der Tat sah der Troll mehr wie ein Tier denn wie ein Mensch aus.

"Ich, äh, komme ganz gut allein zurecht!" stotterte Richard darum auch ängstlich.
"Papperlapapp!" gab der Magier grob zurück. "Knurps ist vollkommen ungefährlich. Seinen Appetit auf Menschenfleisch wird er erst als Erwachsener entwickeln. Und davon ist er noch ein paar Jahre entfernt. Nicht war, mein kleiner Liebling?"

Knurps fühlte sich angesprochen und grinste ein Faules-Zahn-Grinsen, das Richard das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Doch er ergab sich in sein Schicksal. Brav verabschiedete er sich von Merling, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Dann schlich er dem Troll hinterher, der sich polternd durch das Unterholz schob. 

***

Hatte die Anreise noch sieben Tage und Nächte gedauert, so war die Rückkehr im Handumdrehen erledigt. Knurps erwies sich als geschickter Führer, der Richard im Nu zur Burg brachte. Dort verabschiedete er sich mit einem Grinsen, das wohl freundlich sein sollte, Richard jedoch die Beine weich werden ließ. Dann war der Troll wieder in den Tiefen des Waldes verschwunden.

Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu. Die Sonne schickte sich an, unterzugehen und die Zinnen der Burg reckten sich jäh in den dunkler werdenden Himmel. Richard nahm sich keine Zeit zur Rast, sondern schlich sich zur Nordmauer, um den Dornenstrauch noch im letzten Licht der Dämmerung zu finden. Er entkorkte die Flasche, besprühte den Strauch kurz und flüsterte: "Hölle, Trolle. Drachenblut, lässt du mich durch, geht es dir gut!"

Der Strauch reagierte sofort. Seine Zweige teilten sich und gaben die Wand frei. Richard schlich hin, berührte den weißen Stein - und war schon im Inneren der Burgmauern.

Die Ritter hatten bereits einige Fackeln entfacht, die den Burghof notdürftig erhellten. Inmitten des Platzes stand ein großer vierrädriger Holzkarren, in dem sich etwas Großes, Schuppiges rührte. Richard nahm sich vor, einen großen Bogen um das Gefährt zu machen, denn nicht zu Unrecht vermutete er, dass vielleicht ein gewisser großer Drache drinnen sein könnte. Vorsichtig streifte er durch die Burg, wobei er immer wieder umhergehenden Rittern ausweichen musste, die sich in dem Gemäuer inzwischen wie zu Hause fühlten. Gerade als er durch ein eisernes Gitter schlüpfen wollte, das den Weg ins Verließ markierte, kam ihm ein Wolfsritter entgegen. Entsetzt schaute Richard sich um. Wohin? Wo sich verstecken? Wenn der Ritter ihn erwischte, war ihm der Tod gewiss!

"Nach rechts!" wisperte ihm da eine kaum hörbare Stimmte zu.
Richard überlegte nicht lange, sondern tat, wie ihm sein unsichtbarer Retter geraten hatte: Er sprang nach rechts in eine winzige Nische, die er vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Der Wolfsritter ging vorbei, ohne ihn zu sehen.
"Puhh!" sagte die Stimme von eben. "Das war knapp!"
"Wer bist du?" fragte Richard und sah sich um, ohne seinen Retter sehen zu können.
"Ich bin George!" antwortete die Stimme. "Ich bin das Gespenst dieser Burg."
Neben Richard entstand ein weißes Schemen, das ihn etwas an ein gut gewaschenes Bettlaken seiner Mutter erinnerte. Nur, dass es menschenähnlich geformt war und Augenhöhlen besaß. Normalerweise fürchtete sich Richard vor Gespenstern, aber dieses hier hatte ihm ja geholfen. Für Angst gab es also keinen Grund.

"Warum hast du mir geholfen, George?" wollte Richard wissen.
"Ach weißt du, ich mag die Ritter nicht besonders," gab George zurück. "Als Gespenst ist es meine Aufgabe, nachts herumzuspuken, um die Leute zu erschrecken. Die Ritter aber fürchten sich nicht vor mir. Kein Bisschen! Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich das für mich ist. Mein ganzes Selbstbewusstsein ist dahin!"
Georges Stimme wurde bei diesen Worten so traurig, dass Richards mitleidiges Herz sich regte.
"Also, auf mich machst du einen fürchterlich gespenstischen Eindruck, George!" bekräftige er. "Wenn ich dir unverhofft begegnet wäre, wäre ich sicherlich vor Angst gestorben."
George tat dieses Lob gut. Das fahle Leuchten des Geistes wurde heller.
"Vielen Dank, Richard!" antwortete er darum auch. "Zum Dank für deine Freundlichkeit, zeige ich dir auch, wo du das finden kannst, wonach du suchst."
"Woher weißt du, dass ich etwas suche?" fragte Richard erstaunt.
"Wir Geister wissen alles!" gab George stolz zurück und führte seinen neuen Freund ins Verließ zu dem weißen Gerippe des letzten Gefangenen der Burg.
"Bringe das hier dem Magier Merling!" sagte er und verblasste.

Richard war froh, am Ziel zu sein, raffte die klappernden Teile des Knochenmannes zusammen und machte sich daran, die Burg zu verlassen. Im Hof jedoch erwartete ihn eine unangenehme Überraschung. Die Ritter hatten sich in einem Kreis zusammengesetzt und ließen die Weinkrüge kreisen. Der Ausgang durch den Dornbusch lag genau gegenüber. Richard musste also mitten durch die Ritterrunde durch! Wie sollte er das schaffen? Unschlüssig trat er einige Schritte zurück, um sich möglichst weit aus dem Sichtfeld der Trinkenden zu bringen. Dabei stieß er mit dem Rücken gegen etwas Hartes. Verwirrt drehte er sich herum, um zu sehen, was ihn da behinderte. Er blickte in das gelbe Auge des Drachen. Himmel war der Drache groß! Entsetzt öffnete Richard den Mund, um seinem Schrecken durch einen lauten Hilfeschrei Luft zu machen.

"Halt’ besser den Mund! Sonst geht es dir an den Kragen!" brummte der Drache. "Mit den Rittern ist nicht zu spaßen. Ich hab’ da so meine Erfahrungen!"
Richard klappte den Mund unverrichteter Dinge wieder zu.
"Du kannst sprechen?" fragte er atemlos.
"Natürlich!" gab der Drache zurück. "Du doch auch oder etwa nicht?"
"Ja, sicher," antwortete Richard. "Aber immerhin bin ich ja auch ein Mensch!"
"Und ich nur ein Drache, nicht wahr? Ein dummes Tier, das keinen Verstand hat?"
Richard zögerte. Der Drache hatte genau das ausgesprochen, was Richard dachte. Ein Drache war ein Tier. Und Tiere konnten weder denken noch sprechen.

Allerdings wollte dieser Drache überhaupt nicht in das "Dumme-Tier-Schema" passen. Seine Augen blickten ihn intelligent an - außerdem vermochte er nicht nur zu sprechen, sondern auch überaus klug zu argumentieren. Richard, der alles andere als ein Dummkopf war, beschloss die Dinge so zu nehmen, wie sie waren und sich keine weiteren unnützen Gedanken zu machen.

"Lass uns dieses Thema bei einer anderen Gelegenheit weiter verfolgen," schlug er vor. "Du bist doch der Drache, der unsere Felder verwüstet und unser Vieh tötet. Wenn du wirklich kein dummes Tier bist, musst du für deine Taten einen vernünftigen Grund haben. Was ist das also für ein Grund?"

Der Drache schlug bekümmert seine Augen nieder.
"Zahnschmerzen!" flüsterte er kaum hörbar.
"Zahnschmerzen?" echote Richard erstaunt. 
"Jawohl. Ich muss zugeben, dass ich grässliche Zahnschmerzen habe, weil sich einer meiner Zähne entzündet hat. Möchtest du ihn sehen?" fragte der Drache hoffnungsvoll.
"Nur das nicht!" wehrte Richard entschieden ab. Diese Nacht war für ihn ereignisreich genug gewesen und der Drache riesig groß. Ihm stand der Sinn nicht auch noch nach großen, spitzen Drachenzähnen.

"Was haben denn die Ritter mit deinen Schmerzen zu tun?" wollte er wissen.
"Sie geben mir eine Medizin, die die Schmerzen lindert. Sie verlangen dafür von mir, dass ich in diesem Käfig bleibe, bis sie mich wieder herauslassen."
"Und wenn sie das tun, musst du machen, was sie von dir verlangen zu tun?" 
Niedergeschlagen nickte der Drache mit dem Kopf.
"Und das mir, Quatzkotl, dem König der Drachen! Es ist nicht auszuhalten!"
Richard schaute ihn strafend an: "Ich habe aber den Eindruck, dass dir die Ausübung deiner Untaten direkt Spaß machen; denn du gehst sehr gründlich bei der Zerstörung unserer Felder vor!"
"Ich gebe es ja zu!" antwortete Quatzkotl bedrückt. "Aber stecke du mal den lieben langen Tag in diesem engen Käfig. Wenn sie mich rauslassen, habe ich das dringende Bedürfnis, mich auszutoben - und Drachen sind nun mal keine Schoßhündchen!"
Nach einer Pause fügte er hinzu: "Außerdem muss ich fürchten, dass die Ritter mir die Medizin verweigern, wenn ich nicht richtig loslege."

Richard schnüffelte. Der Drache schien erst vor kurzem eine Dosis der Medizin genossen zu haben. Der Duft, der ihm in die Nase stieg, kam ihm bekannt vor. Sein Vater nahm eine ähnliche Medizin zu sich: Wein. Die prachtvolle Fahne war unverkennbar! Die Ritter schienen enorme Mengen des Getränks bei sich haben, denn es musste für sie selbst reichen und zusätzlich noch für den Drachen, der wahrscheinlich eine gehörige Portion eingetrichtert bekommen musste, um den Zahnschmerz betäuben zu können.

Diese Kunde musste sofort dem Magier überbracht werden. Vielleicht konnte er Quatzkotl helfen, und dann wäre das Problem der Bauern gelöst. Ohne den schmerzenden Zahn würden die Ritter keine Gewalt mehr über den Drachen haben.

"Wie komme ich hier wieder heraus?" fragte Richard.
"Das ist kein Problem," antwortete George, das Gespenst, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. "Das Besäufnis der Ritter hat seinen Höhepunkt bereits überschritten. Sie werden gleich völlig benebelt umfallen und bis zum nächsten Mittag schlafen. Das machen sie immer. In der Zwischenzeit kannst du die Festung gefahrlos verlassen."

***

Es geschah genauso, wie George vorhergesagt hatte: Die Ritter tranken bis zum Umfallen und Richard konnte die Burg verlassen. Schnell schlug er sich in die Wälder, wo er bald Knurps in die Arme lief. Der Troll hatte ihn bereits erwartet. Unter seiner Führung gelangte Richard in Windeseile zum Magier.

"Ah!" rief dieser erfreut. "Wie ich sehe, hast du an das Skelett Georges gedacht! Gut! Sehr gut! Jetzt kann ich endlich das Drachenzahnschmerzpulver machen!"
"Wie, du wusstest, dass Quatzkotl Zahnschmerzen hat?" fragte Richard erstaunt.
"Nein! Ich wusste, dass der Drache, den die Ritter in ihrer Gewalt haben, Zahnschmerzen hat. Ich wusste aber nicht, dass es Quatzkotl ist, bevor du ihn mir beschrieben hattest."
"So was Blödes!" knurrte Richard. "Da schleiche ich wie ein Dieb mit vor Angst feuchten Händen und bebendem Herzen in der Burg herum, um stundenlang nach etwas zu suchen, das weiß ist und du hättest mir nur zu sagen brauchen, dass du die sterblichen Überreste Georges haben wolltest. Ich hätte geradewegs in den Kerker gehen können, anstatt lange zu suchen."

Der Magier grinste Richard ungeniert an.
"Wir Magier sind eben so, mein guter Richard. Man darf über die Ingredienzen eines Zaubertrankes nicht zu offen sprechen. Sonst verliert er seine Kraft. Wie ich aber sehe, lebst du noch und da nur deine Hände, aber nicht dein Hosenboden feucht geworden sind, kann es nicht zu schlimm gewesen sein."

Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt auf seine Hütte zu. Unter großem Ächzen und Stöhnen zog er aus einer finsteren Ecke einen riesigen, fürchterlich schmutzigen Kochtopf hervor.
Richard verzog angewidert das Gesicht.
"Und wenn mir einer deiner Zaubertränke das Leben retten könnte: Wenn er aus diesem Topf kommen sollte, würde ich ihn nicht trinken!" bekräftige Richard.
Der Magier linste ihn listig an: "Ich gebe zu, dieser Topf ist der Schrecken aller braven Hausfrauen. Aber bei den magischen Tränken ist es so, dass sie besser wirken, wenn sie in ungereinigten Töpfen gebraut werden. Das ist Teil ihrer Magie!"

Zerstreut gebot der Magier Richard nun, still zu sein und begann mit seiner Arbeit. Richard sah ihm dabei fasziniert über die Schultern.

Der Magier warf zunächst das Skelett Georges in den Topf. Es bekam Gesellschaft in Gestalt zweier getrockneter Fledermausflügel, einem geraspelten Hexenzahn und mehreren anderen Dingen, die Richard nicht eindeutig identifizieren konnte. Genau genommen wollte er es auch gar nicht wissen.

"Ah, der gelierte Krötendarm, eine Faust Trollhaare. Hmm, eine Küchenschabe kann auch nicht schaden." Der Magier warf in den Topf, was ihm in die Quere kam. Richard wandte sich schließlich ab. Grün im Gesicht ging er ein Stück weg.
Merling seinerseits ging ungerührt seiner Arbeit nach. Er entfachte ein gewaltiges Feuer unter dem Kessel. Bald brodelte der seltsame Inhalt wie ein dicker, zäher Sumpfbrei vor sich hin.

Nach zwei Stunden gab es eine dumpfe Explosion, in deren Folge sich der Inhalt des Topfes gleichmäßig über die Umgebung verteilte.

"Juchhu!" grölte der Zauberer. "Geschafft. Jetzt ist das Werk getan!" 
Mit einem riesigen Schöpflöffel trat er an den Kessel und füllte eine kleine Flasche mit einer glasklaren Flüssigkeit.
"Das ist es!" verkündete er stolz und reichte Richard das Gefäß. "Nimm es und gib es Quatzkotl, wenn er euch wieder heimsucht. Danach wird er wieder Herr seiner selbst sein! Anschließend schicke ihn zu mir. Ich werde ihm dann endgültig helfen."

Richard bedankte sich artig bei Merling und machte sich wieder auf den Heimweg - natürlich begleitet von Knurps, dem der Menschenjunge offenbar gefiel. Am Rande des Waldes blieb er jedoch zurück. Trolle scheuen das helle Licht des Tages. Die Dämmerung der Nacht oder der Waldes ist ihnen lieber. Grelles Sonnenlicht verwandelt sie sofort zu Stein. Wenn man aufmerksam genug durch die Natur geht, kann man auch heute noch alte verwitterte Felsen entdecken, die früher einmal lebendige Trolle gewesen sind. Im Laufe der Jahrhunderte aber sind die Steine so verwittert, dass man sie inzwischen kaum noch als Trollsteine erkennen kann. Der Kundige aber erkennt sie noch!

***

Im Dorf bereitete man Richard einen freudigen Empfang. Selbst sein starrköpfiger Vater drückte ihn an sich. Richards Bericht jedoch rief einige Unmutsfalten auf dessen Stirn hervor.
"Ein Drache mit Zahnschmerzen?" fragte er argwöhnisch. "Mein Sohn, ich hoffe, dass du dir keinen Bären hast aufbinden lassen!"
"Warten wir’s ab, Vater!" gab Richard zuversichtlich zurück, und das ganze Dorf machte sich daran, auf den nächsten Angriff des Drachen zu warten.
Wenige Tage später war es so weit. Von den Zinnen der Burg stieß Quatzkotl, der König der Drachen, wie ein riesiger Adler herab auf das Dorf. Ein mächtiges Sausen und Brausen erhob sich in der Luft, als das Ungeheuer getragen von gewaltigen Schwingen durch die Luft glitt. Die Herzen schlugen den Bauersleuten bis zum Halse, denn der Anblick eines großen Flugdrachens ist beängstigend.

Richard jedoch nahm all seinen Mut zusammen und trat mit dem Fläschchen des Magiers in der Hand dem Drachen entgegen.
"Sei gegrüßt, großer Quatzkotl!" rief er dem Drachen entgegen. "Ich habe hier eine Medizin, die der große Magier Merling für dich gemacht hat. Sie wird dir helfen, deinen Schmerz zu überwinden."
Quatzkotl blickte Richard wild an und antwortete: "Wer denkst du, wer du bist, dass du dich traust, mir entgegenzutreten?"
Richard ließ den Mut nicht sinken.
"Erkennst du mich denn nicht? Ich bin Richard, der dich noch vor kurzem in der Burg besucht und mit dir gesprochen hat. Ich weiß von deinen Schmerzen und deinem Wunsch nach Freiheit. Bitte lass dir von mir helfen!"

Der Drache reckte seinen Hals und blickte Richard an: "Fürwahr, Zwerg, ich erkenne dich jetzt wieder. Lass sehen, was du in Händen hältst!"
Richard hielt die Flasche hoch. Die helle Flüssigkeit glänzte in der Sonne. 
"Merling sagst du? Er ist unter den Magiern nicht gerade der Größten einer. Aber in meiner jetzigen Lage darf ich nicht wählerisch sein. Ich muss das Joch des Schmerzes abwerfen. Gib her!"
Quatzkotl schnappte nach der Flasche, zerbiss sie und schluckte ihren Inhalt hinunter.
"Aahh!" stöhnt er, "Das brennt wie Feuer. Herrlich! Merling muss einen geraspelten Hexenzahn hineingetan haben!"
Quatzkotl verdrehte genussvoll die Augen und stieß einen flammenden Feuerstrahl gen Himmel.
"Ist der Schmerz weg?" fragte Richard.
"Vollkommen!" freute sich der Drache.
"Du musst jetzt sofort zu Merling!" empfahl Richard. "Nur er kann dir den Schmerz für immer nehmen."
"Schon kapiert, Richard," brummte Quatzkotl, der nachdem ihn der Schmerz verlassen hatte, wieder umgänglich war. "Willst du mit mir fliegen?"
Richard stimmte freudig zu. Der Gedanke, auf dem Rücken des Drachens sitzend durch die Luft zu reisen, entzückte ihn. Schnell krabbelte er Quatzkotl auf den Buckel. Dieser schwang sich mit Macht in den blauen Himmel und ab ging‘s mit Gesaus zu Merling dem Magier.
"Hallo, ihr zwei, wie ich sehe, seid ihr ja schon Freunde geworden!" begrüßte dieser die Ankömmlinge.
"Klar doch!" antwortete Quatzkotl als er landete. "Immerhin hat er mir meine Freiheit und meine Lebensfreude wiedergegeben."

Richard stieg schwindlig vom rasenden Flug vom Rücken des Drachen herunter. Er musste sich erst einmal setzen. Es tat gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben! 
Während Merling und Quatzkotl sich zurückzogen, um ein Pläuschchen miteinander zu halten, gesellte sich Knurps zu Richard. Fast sah es so aus, als sei er auf Quatzkotl ein wenig eifersüchtig.

Nach geraumer Zeit kamen Magier und Drache wieder zurück. Beide waren bester Stimmung. 
"Jetzt kommt das Größte!" grinste Quatzkotl.
Richard schaute ihn fragend an.
"Nun, die Ritter müssen doch noch ihr Fett wegbekommen!" erklärte Merling. "Glaubst du etwa, dass sich ein Drache wie Quatzkotl diese Behandlung gefallen lässt?"
"Darf ich mit?" fragte Richard. "Immerhin habe ich ja auch mit den Leuten ein Hühnchen zu rupfen!"
Knurps stand auf und schlug sich mit den schmutzigen Fäusten gegen die Brust, dass es dröhnte.
Drache, Magier und Mensch lachten. Da wollte offenbar noch jemand mit.

***

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt:
Wie ein Sturmwind brauste der Drache mit Richard und Knurps durch die Lüfte zur Burg. Als die Ritter bemerkten, was da auf sie zukam, rollten sie gar fürchterlich mit den Augen, rauften sich die Haare und griffen mutig und zu allem entschlossen zu ihren Schwertern. Doch gegen den wieder gesundeten Quatzkotl und den riesigen Troll hatten sie trotz ihrer ganzen Kampferfahrung keine Chance. Richard hielt sich im Hintergrund, um das Geschehen ungefährdet beobachten zu können. Knurps bewegte seine Arme wie Windmühlenflügel. Voller Freude, seine Bärenkräfte einmal ganz herauslassen zu dürfen, drosch er wonnevoll auf jedes Mitglied der Wolfbande ein, das ihm vor die Augen kam. Quatzkotl wiederum zeigte den Drachenrittern, dass niemand einen Drachen ungestraft einsperren und demütigen darf: Er spie Feuer, brühend heißen Dampf oder giftigen Rauch, wobei er sich ganz auf die eisernen Hosenböden der ritterlichen Rüstungen konzentrierte. Schließlich ergriffen sie alle die Flucht. Mit ihren verbrühten oder angerösteten hinteren Körperteilen war allerdings ein Reiten nicht mehr möglich. Zu Fuß und benebelt vom giftigen Drachenodem schlichen sie wie geprügelte Hunde von dannen, das Lachen ihrer Gegner in den Ohren.
Richard umarmte Quatzkotl und sogar den unheimlichen Knurps.

"Wir sollten diese Burg abreißen, damit sich nie wieder fremde Raubritter hier niederlassen können, um uns das Leben schwer zu machen!" schlug er vor.
"Um Himmels Willen, das geht nicht!" rief George. "Als Gespenst bin ich an diese Burg gebunden. Du vernichtest meine Existenz, wenn du das tust."
Richard beeilte sich, zu versichern, dass er unter diesen Umständen nicht daran denke, der Burg Schaden zuzufügen.
"Ich weiß etwas Besseres," meldete sich Quatzkotl zu Wort. "Du, Richard, hast gezeigt, dass du in der Lage bist, in schwierigen Zeiten deinen Mann zu stehen. Du hast Mut und bist tapfer. Du bist klug und tolerant auch Andersartigen gegenüber. Immerhin hast du jetzt einen Troll und einen Drachen zum Freund. Was hältst du davon, wenn Merling, Knurps und ich dafür eintreten, dass du der neue König in dieser Festung wirst?"

Und so geschah es auch. Die Bauern das Tales waren mit dem Vorschlag einverstanden, da sie sich dachten, dass Richard immerhin einer der ihren war und sie es mit einem fremden König sicherlich schlechter treffen könnten. Der Dorfschulte fühlte sich darüber hinaus geschmeichelt, dass seinem Sohn diese hohe Ehre zuteil wurde und so waren letztendlich alle zufrieden.

Als diese Dinge geregelt waren, verabschiedete sich Quatzkotl von seinen neuen Freunden.
"Wo gehst du hin, Quatzkotl?" wollte Richard wissen.
"Ach weißt du, Richard," gab Quatzkotl gedehnt zurück. "Wir befinden uns hier am Rande der alten Zeit. Ich gehe wieder zurück in die Tiefe der Wildnis, wo die Magie noch mächtig ist und alle Zauber stark sind. Dahin, wo die Menschen noch Respekt vor uns Drachen haben, wo es noch echte Prinzessinnen gibt, die schön sind wie der helle Tag. Wo sich Hexen, Kobolde und Elfen ein Stelldichein geben, der Nöck noch seinen Flöte spielt. Vielleicht finde ich dort sogar eine feurige Drachendame, die zu mir paßt!"
Richard ließ traurig den Kopf hängen.
"Werde ich dich nie wieder sehen?"
"Wenn du einmal Sorgen haben solltest und wenn die Not am größten ist, werde ich zur rechten Zeit da sein, um dir zu helfen. Glaube mir, Richard, du bist mein Freund und ein Drache lässt seine Freunde nie im Stich!"

Nach diesem Versprechen breitete Quatzkotl die Flügel aus und schwang sich in das Licht der untergehenden Sonne. Wie ein riesiger Vogel verschwand er in der Dämmerung.
Richard aber wurde zu König Richard. Die Burg wurde zu Schloss Drachenburg, in der George, das Gespenst, nach Herzenslust herumspuken konnte. Selbstverständlich fürchteten sich alle pflichtschuldigst vor ihm, wie es sich gehörte.

Der Berg aber, auf dem die Burg erbaut worden war, wurde fortan der Drachenfels genannt. Zu Ehren Quatzkotls, des Königs der Drachen.
 

© W. H. Asmek
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