Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Brautschau

Es war zu einer Zeit, in der es noch keine Autos gab, keine Eisenbahn und keine Flugzeuge. Es war die Zeit, in der sich über einem fruchtbaren grünen Tal eine stolze Burg erhob, die auf dem Drachenfels stand. Es war das Schloss Drachenburg, das Schloss König Richards, des Bauernkönigs.
Es war die Zeit der Aussaat. Die rechtschaffenen Bauern des Tales arbeiteten auf ihren Feldern, um das Einbringen des Samens in den Boden vorzubereiten. Die laue, angenehme Luft des Frühlings war voller Versprechungen auf ein gutes Jahr und eine gute Ernte. Es war ein angenehmes Leben. Und wer fleißig genug war und die Arbeit nicht scheute, konnte es zu einigem Wohlstand bringen, denn König Richard war ein weiser und gerechter Herrscher, der nur das nahm, das man ihm freiwillig gab.
An jenem Frühlingstag nun erhob sich ein gewaltiges Brausen und Sausen hoch oben in der Luft. Die Erwachsenen ließen sich allerdings dadurch nicht in ihrer Arbeit stören. Sie kannten dieses Geräusch zur Genüge. Es bedeutete keine Gefahr. Nur die Kinder richteten ihre neugierigen Nasen gen Himmel, um der Ursache des Lärms auf den Grund zu gehen.
Sie erblickten einen riesigen, grünen Schatten, der mit hoher Geschwindigkeit durch den blauen Himmel schoß. Mächtige, ledrige Schwingen bewegten sich auf und ab. Sie verursachten das Brausen, das ihre Aufmerksamkeit erweckt hatte.
"Seht!" riefen sie. "Ein Drache! Er fliegt zum Schloss!"
"Das ist Quatzkotl, der König der Drachen!" beruhigte sie eine der Mütter. "Ihr kennt ihn doch, Kinder. Er ist der beste Freund König Richards. Von ihm haben wir nichts zu befürchten."
Einer der Männer richtete sich auf. 
"Menschenskind! Der hat’s heute aber eilig!" stellte er nach einem kurzen Blick fest. "Möchte nur wissen, was da wieder los ist."

***

Quatzkotl hatte es in der Tat sehr eilig, zu seinem Freund Richard zu kommen. Seit seinem letzten Abenteuer, als er des Königs Tochter Jannie aus den Klauen des bösen Magiers Xusia befreit hatte, war eine stete Unruhe in ihm. Er schlief schlecht. Das Essen mundete ihm nicht mehr. Eine unbestimmbare Sehnsucht erfüllte seine Gedanken und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er war nicht mehr er selbst und konnte sich selbst nicht mehr leiden. Für ein jahrhundertealtes Wesen wie ihn war dieser Zustand einfach unerträglich. Er musste einfach wissen, was mit ihm los war.
Schwungvoll schwebte er über dem Schlosshof ein und ließ sich wenig elegant auf den steingepflasterten Boden plumpsen.
Ganz in der Nähe kicherte ein Mädchen amüsiert auf.
"Hihihi! Das hast du aber schon mal besser hingekriegt!" lachte es.
Quatzkotl, gereizt wie er war, warf den Kopf herum, bereit, dem, der ihn da verspottete, eine drachige Abreibung zu verpassen.
"Och, du oller Brummbär! Sei doch nicht so! Ich bin’s doch!" Das Mädchen lief quer über den Schlosshof auf ihn zu. Lange blonde Haare umwehten das zarte Gesicht des Kindes wie eine prachtvolle Mähne. Es umarmte den schuppigen Hals Quatzkotls und drückte ihm einen dicken Schmatzer auf die Nüstern.
Quatzkotls Zorn schmolz dahin wie Butter in der Sonne. Es war ein seltsames Bild, das zarte Kind mit dem riesigen und gefährlichen Ungeheuer zusammenzusehen.
"Jannie!" brummte er liebevoll, denn Jannie, dem süßen Mädchen mit dem Glückshaar, konnte man nur mit Liebe begegnen.
"Verzeih mir bitte, Süße! Ich kann mich zurzeit selbst nicht leiden. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist."
"Na, dann geh’ mal zu Pappi!" riet ihm Jannie. "Er kann dir bestimmt helfen!"
"Meinst du?" fragte der Drache hoffnungsvoll und schickte sich an, die große Treppe zum Eingangsportal hinaufzusteigen.
"Nimm aber deine menschliche Erscheinung an, Quatzkotl. Wir brauchen die Burg noch!" rief ihm das Mädchen nach.
Quatzkotl nickte zerstreut. Jannie hatte Recht. Das Tor war groß, aber für einen Drachen immer noch zu schmal. Wenn er sich hindurchzwängen würde, wäre die Standfestigkeit der Mauern doch sehr gefährdet.
Der Drachenkönig eilte in seiner Gestalt als Goldener durch das Schloss, bis er in den Thronsaal König Richards kam. Er war so schnell, dass George, das Gespenst, das in letzter Zeit aus Langeweile als Haushofmeister seinen Dienst tat, sich anstrengen musste, um vor ihm da zu sein.
"Quatzkotl, König der Drachen!" kündigte es den Besucher atemlos und wenig protokollgemäß an.
Als König Richard des Besuchs angesichtig wurde, erhob er sich von seinem Thron, um seinen Freund zu umarmen.
"Sei mir willkommen, alter Freund. In letzter Zeit hast du dich rar gemacht! Was war mit dir los?"
Der Goldene schilderte Richard sein Leid und Schloss mit den Worten:
"Ich beginne mir ernsthaft Sorgen zu machen. Wenn das so weitergeht, weiß ich nicht, was noch aus mir werden soll. Ein kranker Drache! Hat man so etwas schon einmal gehört?"
Richard schmunzelte.
"So, so! Du schläfst schlecht, hast keinen rechten Appetit?"
Quatzkotl nickte.
"Du bist unruhig, hast Schmetterlinge im Bauch?"
Quatzkotl nickte betrübt.
"Du bist leicht gereizt, kannst dich auf nichts konzentrieren?"
Erste Tränen rannen über Quatzkotls Wangen.
"Ich bin völlig verzweifelt!" gestand er.
"Nun, ich glaube, ich kenne dein Leiden, mein Freund!" sagte Richard und warf seiner Gemahlin, die auf ihrer Seite des Throns verblieben war, einen verschmitzten Blick zu.
"Ist es eine schwere Krankheit?" fragte Quatzkotl unsicher. "Kann man sie heilen?"
"Zweimal 'ja'," antwortete Richard. "Ich hatte diese Krankheit auch. Aber ich bin geheilt worden, denn ich habe geheiratet!"
Quatzkotl blickte Richard verwirrt an. 
Da riefen Richard, die Königin, George und Jannie, die ebenfalls hereingekommen war, im Chor:
"Du bist verliebt! Unsterblich verliebt, Quatzkotl! Verknallt, verschossen!"
Da ging ein verklärtes Leuchten über das Gesicht des Goldenen. Er begann strahlend zu lachen, breitete die Arme aus und begann, sich um sich selbst zu drehen. 
"Ich bin verliebt, verknallt, verschossen!" rief er. Seine Freunde umringten ihn und klopften ihm auf die Schultern.
Doch urplötzlich kam die Ernüchterung.
Quatzkotl blieb stehen.
"Was ist, wenn sie mich nicht auch liebt?" fragte er entsetzt.
"Damit müsstest du dann fertig werden!" gab Richard zurück. "Nicht jede Liebe erfüllt sich."
"Nun quäle ihn doch nicht so, Papa!" schimpfte die herzensgute Jannie. "Wir alle kennen doch eine gewisse Hexe, die nicht mehr richtig schläft, nicht zur Ruhe kommt, der das Essen nicht mehr schmeckt und die sich selbst nicht mehr leiden kann!"
Die Königin ging auf Quatzkotl zu und sah ihm fest in die Augen.
"Sie liebt dich ebenso wie du sie. Da bin ich mir absolut sicher!" sagte sie fest. "Nun mach dich aber auf den Weg und bitte Merling förmlich um ihre Hand. Sonst tut das noch ein anderer!"
Diese Worte trafen Quatzkotl wie ein Blitz. 
"Ein anderer? Meine Cillie? Den röste ich und fresse ihn auf!" knurrte er, jetzt wieder ganz der stolze Drache. 
Er blickte Richard an.
"Ich muss sofort zu Merling. Willst du mich auf diesem Weg begleiten?"
"Selbstverständlich!" antwortete Richard schmunzelnd. "Ich lasse doch meinen besten Freund in dieser schweren Stunde nicht im Stich."
Quatzkotl stürmte eilig hinaus in den Hof. Dort verwandelte er sich in seine natürliche Gestalt zurück.
Richard wollte ihm so schnell wie möglich folgen. Doch Jannie hielt ihn kurz zurück und steckte ihm flüsternd etwas zu. Richard sah seine Tochter liebevoll an und drückte sie sanft. Dann eilte er dem Drachen nach. Im Hof schwang er sich auf dessen Rücken und ab ging es im Drachenflug zur Behausung Merlings.
Richard hatte schon oft auf dem Rücken des Drachen gesessen. Doch immer wieder genoss er den sausenden Flug aufs Neue. Da war der Flugwind, der pfeifend um Richards ungeschützte Nase wehte. Die ledrig warmen und doch so harten, nahezu unzerstörbaren Schuppen des Drachen. Die dicht an den mächtigen Leib gelegten Klauen. Die riesigen ledernen Schwingen, deren stetes Auf und Ab das so charakteristische Sausen und Brausen des Drachenflugs bewirkten - und naja die absolute Sicherheit, die ihm die Nähe des Drachen garantierte. Kein Wesen, das auch nur halbwegs seine Sinne beisammen hatte, würde es wagen, einem Drachen mit bösen Absichten entgegenzutreten. Ein Flug mit einem Drachen war eben ein unvergleichliches Erlebnis.

***

Merling, der Zauberer, lebte in der finstersten Ecke des Siebengebirges. Die Bäume standen hier so dicht, dass sich die Stämme nahezu berührten. Nur ein Wanderer, der sich vor nichts fürchtete und ein wichtiges Anliegen hatte, konnte bis zu Merlings Haus vordringen - oder ein Drache wie Quatzkotl, der den Weg durch die Luft nehmen konnte.
"Hoffentlich ist Merling uns nicht böse, wenn wir nicht zu Fuß zu ihm kommen!" gab Richard zu bedenken.
"Ist mir schnurz!" grunzte Quatzkotl. "Ich bin der König der Drachen und will Merlings Tochter heiraten. Ich werde nicht wie ein Bettler zu ihm gekrochen kommen! Er muss mich auch so anhören."
Bald tauchte die Lichtung mit Merlings Hütte unter ihnen auf. Quatzkotl stoppte abrupt den rasenden Flug und glitt (diesmal ganz elegant) zu Boden.
Merling erwartet sie schon.
"Was bildet ihr euch ein, so mir nichts, dir nichts hier herunterzukommen! Ihr kennt doch die Regeln! Ich empfange nur den, der zu Fuß zu mir kommt!" Merlings Rauschebart zitterte vor Zorn. 
Quatzkotl war im Begriff, eine grobe Antwort zu geben. Ein mächtiger Knuff Richards, belehrte ihn jedoch gerade noch rechtzeitig eines Besseren. Immerhin stand sein zukünftiger Schwiegervater vor ihm.
"Verzeih mir bitte, Merling!" gab Quatzkotl nach. "Aber ein Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet, führt mich her. Es ist von äußerster Dringlichkeit, dass ich dich so schnell wie möglich erreiche!"
Merling hob eine Augenbraue. 
"So, so!" brummte er. "Was ist denn so dringend?"
Quatzkotl gab sich einen Ruck.
"Ich, Quatzkotl, König der Drachen, erscheine hier in Begleitung König Richards, des Bauernkönigs und bitte dich, Merling, den größten aller Magier, um die Hand deiner Tochter Cillie!"
"Jippieh! Juchhu! Tirilii!" kreischte es da aus dem Wald. Ein kleiner Wirbelwind sauste zwischen den Bäumen hervor, brauste heran, dass Merling der Hut vom Kopfe flog. Blätter und kleine Zweige stoben davon. Der Wirbelwind verwandelte sich in ein strahlend weiße und winzige Sonne und dann -  in Cillie. Die kleine Hexe flitzte auf den Drachen zu, umarmte und küsste ihn, dass es eine Art hatte. Quatzkotl wurde ganz rosa im Gesicht. Schnell verwandelte er sich in den Goldenen, um die Arme um Cillie legen zu können.
Merling und Richard schmunzelten.
"Willst du meine Tochter auf ewig ehren und lieben, bis dass der Tod euch scheidet?" fragte er.
"Natürlich!" riefen sowohl Cillie als auch Quatzkotl aus einem Munde.
"Nun, ich habe ja eigentlich den Drachen gefragt und nicht euch zwei," merkte Merling an. "Aber sei’s drum!"
"Sind wir jetzt verheiratet?" strahlte Cillie.
"Ach was!" gab Merling barsch zurück. "Mit seiner Antwort hat Quatzkotl lediglich bewiesen, dass er als Bräutigam in Frage kommt. Es gibt nämlich noch einen Bewerber."
"Was? Es gibt noch einen Bewerber?" rief Cillie. "Den will ich aber nicht!"
"Ich bin dein Vater. Und ich bestimme, wer dein Mann wird, Tochter. Vergiß das nicht!" knurrte Merling.
"Wer ist der andere?" wollte Quatzkotl wissen.
"Hier ist er," ertönte ein wohlbekannte Stimme aus dem Haus des Magiers.
Ein kleiner Mann trat aus dem Eingang. Er war wirklich sehr klein und reichte Richard bestimmt kaum bis zum Gürtel seiner Hose. Sein Gesicht war braun und hager. Es wurde von einer spitzen Nase, die sich über einem breiten, schmallippigen Mund befand, beherrscht. Große, bösartige Schlitzaugen funkelten unter buschigen Brauen hervor. Bekleidet war das Männchen mit einem braunen Umhang, dessen Kapuze weit über den Kopf gezogen war. Desweiteren trug es eine lange ledrige Hose, welche die kurzen, krummen Beinchen bedeckte. Der kleine Kerl besaß einen langen nackten Schwanz, der ihm aus seinem verlängerten Rücken wuchs und mit seiner dreieckigen Spitze unruhig hin und her zuckte. Über den Schultern erhoben sich große Schmetterlingsflügel. Mit knochigen Spinnenfingern stützte er sich auf ein riesiges Zweihandschwert, das im Licht hell blitzte.
"El Pitto Gnomo!" riefen Cillie, Quatzkotl und Richard verwundert.
"Genau!" grinste der Kobold mit einer dunklen Stimme, die so gar nicht zu dem kleinen Kerl passen wollte. "Und wie du weißt, Quatzkotl, kommt an mir keiner vorbei, hähähä!"
"Papa, das darf doch nicht dein Ernst sein!" schimpfte Cillie empört. "Du willst mich doch wohl nicht an diesen Zwerg verkuppeln!"
"Warum nicht?" gab Merling zurück. "Er ist Häuptling der Finsterwaldkobolde und somit so etwas wie ein König. Außerdem besitzt er im Schwertkampf magische Fähigkeiten. Er ist also eine standesgemäße Partie. Außerdem," Merling warf Quatzkotl einen strafenden Blick zu, "hat er seine Bitte schon vor einiger Zeit vorgetragen. Nach den Sitten unserer magischen Welt muss ich seinen Antrag berücksichtigen."
Richard trat vor und wollte etwas sagen.
Doch Quatzkotl hielt ihn zurück. 
"Er hat Recht!" flüsterte er ihm zu. "Merling kann gar nicht anders."
Laut jedoch sagte er: "Ich bin für einen Zweikampf. Ich röste ihn und fresse ihn auf. Damit ist die Sache erledigt."
El Pitto Gnomo wurde zwar etwas weiß um die Nase, seine Stimme blieb aber fest, als er antwortete.
"Mir soll dieser Vorschlag recht sein. Ich werde grünes Drachenhackfleisch aus ihm machen."
"Nein! So habe ich mir das nicht vorgestellt!" gab Merling zurück.
"Hast du einen besseren Vorschlag?" wollte Richard ärgerlich wissen. "Willst du etwa wieder deinen scheußlichen Kochtopf mit Abfällen füttern und sehen, was dabei herauskommt?"
Quatzkotl grinste. Er hatte ähnliches gedacht, es aber aus Respekt vor Merling nicht ausgesprochen.
"Nein!" gab Merling zurück. "ich habe eine Aufgabe für die Zwei! Sie werden mir einen Ableger der Weißen Alraune holen. Zusammen! Derjenige, der sich dabei am geschicktesten anstellt, bekommt Cillie zur Frau!" 
"Die Weiße Alraune?" rief Cillie empört. "Die wird doch von der Roggenmuhme bewacht! Keinem Menschen und keinem Zauberwesen ist es bisher gelungen, sie zu überwinden!"
"Die schreckliche Roggenmuhme!" entfuhr es El Pitto Gnomo. "Aber für Cillie ist mir keine Gefahr zu groß, keine Reise zu weit. Und wenn es mich das Leben kosten sollte. Ich werde es versuchen!"
"Keine Frage," meinte auch der Drache. "Ich gebe nur zu bedenken, dass die Weiße Alraune in der ehemaligen Höhle meines Vaters Pergotzkatl wächst. Und die liegt im Gebiet der Burg Altena. Altena liegt am Rande der magischen Zone. Die Leute dort glauben nicht mehr an die Kraft der Magie, so dass Ihre Kraft schwindet. Für magische Wesen ist der Aufenthalt in diesem Gebiet also nicht ungefährlich. Außerdem habe ich dem einstigen Herrn von Altena versprochen, dass seine Nachfahren nie wieder durch Drachen belästigt werden. Ich kann mich dort also nicht sehen lassen!"
"Ausreden eines Feiglings!" erwiderte El Pitto Gnomo wegwerfend. "Du darfst eben nicht in Gestalt eines Drachen auftreten, sondern musst als Goldener reisen."
"Hast du eben Feigling gesagt!" fuhr Quatzkotl auf und lief rot an. Viel hätte nicht mehr gefehlt und er hätte wieder Drachengestalt angenommen, um El Pitto Gnomo einen Feuerstrahl ins Gesicht zu blasen.
"Keine Zwistigkeiten, Ihr zwei!" ging Merling dazwischen. "Ihr müßt miteinander auskommen. Sonst kommt ihr nie ans Ziel!"
"Auskommen? Mit dem?!" riefen beide Kontrahenten wie aus einem Munde.
"Ganz recht!" erwiderte Merling. "Und damit niemand dem anderen gegenüber einen Vorteil hat, wird euch Knurps gemeinsam bis an den Rand des Siebengebirges bringen. Anschließend werdet ihr zu Fuß weiterreisen! Verstanden?"
Quatzkotl und der Kobold ergaben sich in ihr Schicksal. El Pitto Gnomo ging nur noch einmal in Merlings Haus, um seine "Siebensachen zu packen", wie er sagte.
Richard trat auf Quatzkotl zu. Dabei achtete er darauf, Merling die Sicht auf den Goldenen zu verdecken. 
"Jannie hat mir etwas für dich mitgegeben," flüsterte er und zog eine goldene Locke aus der Tasche seines Wamses.
Zu seiner Überraschung lehnte Quatzkotl aber das Geschenk ab.
"Lieber Richard, ich danke dir und Jannie für dieses Geschenk. Ich kann es aber nicht annehmen! Diese Locke würde mir nämlich einen ungerechten Vorteil verschaffen, denn das Vorhaben würde auf jeden Fall zu meinem Vorteil gelingen. Ich will Cillie aber nicht durch unehrenhaftes Verhalten, sondern allein durch die Kraft meines liebenden Herzens erringen! Ich hoffe, du verstehst mich!"
Richard verstand ihn voll und ganz.
"Du bist der edelste Freund, den ein König nur haben kann!" flüsterte Richard ergriffen und umarmte den Goldenen. Er hielt es aber für seine Freundespflicht, Quatzkotl mit der Locke über den Rücken zu streichen. Ohne dass er es merkte selbstverständlich. Nur so zur Vorsicht. Als Abschiedsgruß sozusagen.
Er drehte sich um und prallte erschrocken zurück. Vor ihm schwebte ein riesiges Ohr in der Luft. 
"Ich habe alles gehört!" sagte Cillie, denn nur sie war in der Lage, sich in ein sprechendes Ohr zu verwandeln. "Wenn du doch nur eher gekommen wärst! Dann wäre dieses ganze Theater unnötig gewesen. Viel Glück, mein Held!" 
Dann verwandelte sie sich in eine Gewitterwolke, schwebte zornig über das Haupt ihres Vaters und begoß ihn blitzend und donnernd mit einem kräftigen Schwall eiskalten Wassers.
Merling ließ die unangenehme Prozedur ungerührt über sich ergehen.
"Ihr Zukünftiger kann sich auf eine abwechslungsreiche Beziehung freuen!" grinste er sarkastisch.
Schließlich tauchte der Kobold wieder auf, einen kleinen Rucksack auf den Schultern und sein Schwert in der Rechten.
"Ich bin bereit!" verkündete er stolz und reckte seinen kleinen Körper.
Quatzkotl grunzte nur mühsam beherrscht und ging auf Knurps zu. Der Troll wartete am Waldrand auf die beiden, bis sie ihn erreicht hatten, dann drehte er sich um und stapfte polternd voraus.
"Es ehrt Quatzkotl, dass er die Locke Jannies nicht angenommen hat," sagte Merling zu Richard.
"Du weißt davon?" staunte Richard.
"Natürlich!" erwiderte Merling. "Ich bin schließlich Merling, der Magier, der alles weiß!"
Richard schaute Merling prüfend an. Ob dieser bemerkt hatte, dass er Quatzkotl mit der Locke über den Rücken gestrichen hatte?
Doch Merling sagte nichts, sondern gab den Blick schmunzelnd zurück. 

***

Als die Dreiergruppe den Rand des Siebengebirges erreicht hatte, kehrte Knurps den beiden Freiern wortlos den Rücken zu und stapfte zurück.
"Mürrischer Kerl!" knurrte El Pitto Gnomo und schaute zu Quatzkotl auf.
Doch der antwortet nicht, sondern marschierte mit hohem Tempo los. Der Kobold musste sich anstrengen, um mitzuhalten.
Tagelang marschierten sie durch dichte Wälder und feuchte Auen, durchwateten flache Seen und querten Bäche, erklommen Berge und durchschritten Täler. Immer der Nase nach in Richtung Altena ging es. Unermüdlich bewegten sie die Beine, unerschöpflich war ihre Kraft und unverzagt ihr Wille. Selbst der kleine Kobold wurde nicht müde.
Als Quatzkotl dann doch erste Anzeichen von Erschöpfung spürte, marschierte er noch schneller als vorher.
"Wenn ich schon müde werde, wie mag es da erst dem Zwerg gehen?" dachte er bei sich und hoffte, ihn buchstäblich platt zu wandern.
Doch El Pitto Gnomo hielt mit. Ja, er sprang übermütig hin und her und schwatzte munter drauflos:
"Weißt du, dass wir Kobolde in jedem Jahr einen großen Wandermarathon veranstalten? Jeder Teilnehmer muss in einem Rutsch vom Finsterwald über das Siebengebirge nach Altena und wieder zurück wandern. Ich habe in den letzten 50 Jahren alle Wettbewerbe gewonnen!"
Quatzkotl gab auf.
"Gut, laß uns eine Pause machen!" schlug er vor und ließ sich an Ort und Stelle auf den Boden fallen. Der Kleine tat es ihm nach.
"Puuh! Ich dachte schon, du würdest nie zu einem solch klugen Gedanken fähig sein, Großer!" grinste er, wobei er Quatzkotl lachend anblickte.
"Das mit dem Marathon war gelogen!" stellte Quatzkotl fest.
"Genau! Ich war am Ende meiner Kräfte," gab El Pitto Gnomo zu. "Aber irgendwie musste ich dich dazu bringen, eine Pause einzulegen. Sonst wäre ich tot umgefallen!" 
Nach diesem Worten ließ er sich auf den Rücken fallen. Sofort schlief er ein. Quatzkotl tat es ihm gleich, und schon erfüllte mächtiges Schnarchen den Wald.

***

Im Laufe der Zeit lernten die beiden mehr und mehr, sich zu respektieren. Wenn der Kampf um Cillie nicht immer zwischen ihnen gestanden hätte, wären sie mit Sicherheit bereits Freunde geworden.
Eines Tages erreichten Sie eine Lichtung im Wald, in deren Mitte sich eine gewaltige Eiche erhob, deren Laubwerk ein dichtes Dach bildete. Hinter dem Baumriesen reckte sich jäh eine graue Felswand in die Höhe.
"Diese Eiche kenne ich!" stellte Quatzkotl fest. "Wir sind im Gebiet der Burg Altena angekommen."
Eine Welle von Erinnerungen überflutete ihn. Hier hatte er als Jungdrache oft mit den Kindern des Herrn von Altena gespielt. Wehmütig umschritt er den mächtigen Baum. Dabei vergaß er, auf den Weg zu achten.
Plötzlich verlor er den Boden unter den Füßen und fiel in ein großes, tiefes Loch. Es wurde schwarz vor seinen Augen.
Der Kobold eilte rasch herbei und stoppte seinen Lauf, als er den Rand einer tiefen Fallgrube erreichte. Ein kurzer Blick überzeugte ihn, dass diese Grube von Menschenhand geschaffen worden war, denn auf dem Grund des Lochs lagen einige große scharfe Felsbrocken herum. Wer immer dort hineinfiel musste sich auf jeden Fall schwer verletzen. Es handelte sich also um eine Falle! Der Goldene war mit dem Kopf voran auf einen der Steine geschlagen. Einen Menschen würde ein solcher Sturz aus dieser Höhe leicht das Leben kosten. Quatzkotl aber war kein Mensch. Es bestand also Hoffnung, dass er wieder zu sich kommen würde. El Pitto Gnomo kämpfte mit seinem Gewissen. Sollte er seinen Gegner hilflos zurücklassen? Er zögerte.
"Eiei! Wen haben wir denn da!" 
Der Kobold wirbelte herum, kampfbereit und das Schwert zum Schlag hoch aufgerichtet.
Die gesamte Lichtung war von einer Schar von Räubern umsäumt. Die Waldblöße war groß. Es musste sich also wenigstens um 50 bis 70 Räuber handeln. Alle waren mit Schwertern, Helmbarten oder Morgensternen bewaffnet. Außerdem machten sie den Eindruck, als könnten sie mit ihren Waffen umgehen.
Einer der Strauchdiebe löste sich aus der Menge und trat ein paar Schritte auf El Pitto Gnomo zu.
"Ich bin Schlaubauch, der Anführer dieser tapferen Männer. Wir beobachten euch schon seit einigen Stunden. Was wollt ihr hier?"
"Wir sind auf der Durchreise!" gab der Kobold zurück. "Wenn ihr uns ziehen laßt, geschieht euch nichts!"
Die Räuber wollten sich schier ausschütten vor lachen. 
"Hohohohoh! Hehehee! Hihihihi!" Schlaubauch hielt sich den feisten Wanst, der wie ein großer Vanillepudding wackelte. "Habt ihr das gehört, Kameraden? Uns geschieht nichts!"
Die Lichtung bebte von dem Gebrüll der Bande.
"Ich will dir mal was sagen," schnauzte Schlaubauch. "Da du so ein großer Witzbold bist, darfst du abhauen. Wir geben dir fünf Minuten Vorsprung. Dann folgen wir dir und rupfen dir die Flügel aus. Zuerst aber ziehen wir deinem Kumpel hier in der Grube die goldene Haut ab!"
El Pitto Gnomo kam zu einem Entschluss, setzte sein fiesestes Grinsen auf und stützte die Arme auf sein Schwert. 
"An mir kommt keiner vorbei!" sagte er.
Schlaubauch, dem Räuberhauptmann, verschlug es nun die Sprache ob soviel Unverfrorenheit. Er gab seinen Leuten einen Wink. Drei Schwertträger lösten sich aus dem Trupp. Schnellen Schrittes gingen sie auf den Kleinen zu und hieben auf ihn ein. Sie verstanden ihr Handwerk. Jeden anderen hätten sie in wenigen Minuten fertiggemacht. Nicht aber unseren El Pitto Gnomo: Er ließ sein Schwert in der ihm eigenen, unnachahmlichen Weise kreisen. Die Räuber blickten in eine undurchdringliche Wand aus blitzendem Stahl, aus der hin und wieder die tückischen Augen des Kobolds funkelten. Ehe sich’s die drei Angreifer versahen, hatte ihnen El Pitto Gnomo seine Standardblitzrasur verpaßt. Völlig haarlos standen sie da, der Lächerlichkeit preisgegeben. Voller Überraschung ließen sie die Waffen sinken. Sie schauten sich an, schrien vor Schreck laut auf und machten, dass sie davonkamen.
Schlaubauch fand seine Stimme wieder: "Alle Mann auf ihn! Macht ihn nieder, den Kerl!" schrie er, wobei er selbst nicht hinten anstand, seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Mit einer angelegten Hellebarde sprang er, flinker als man es ihm mit seinem Wanst zugetraut hätte, auf seinen Widersacher los. Seine Leute folgten ihm mit einigem Abstand.
Als Schlaubauch in Reichweite von El Pitto Gnomos Schwert gelangte, war es mit der Herrlichkeit schnell vorbei. Der Kobold schwang sein Schwert und durchtrennte mit einem sauberen Schnitt den Gürtel unterhalb von Schlaubauchs Wampe. Die Hose fiel zu Boden. Der Wanst, seines Halts beraubt, fast auch. Der Räuberhauptmann hatte alle Mühe, seine Leute wieder zur Räson zu bringen, denn er bot einen absolut lächerlichen Anblick mit seinem leuchtend nackten Hinterteil, das nicht nur groß, sondern auch äußerst schmutzig war; denn Räuber halten nicht viel von Wasser und Seife. Der Branntwein ist ihnen lieber.
"Wollt ihr wohl aufhören zu lachen, ihr dummes Gesindel!" brüllte er. "Ich lasse euch alle Teeren und Federn, wenn ihr nicht augenblicklich mit diesem Unfug aufhört!" Dabei sprang er hin und her, dass es eine Art hatte. Selbst der Kobold hatte seinen Spaß an der Szene und lachte schallend, bis ihm die Tränen die runzeligen Wangen hinunterliefen.
Als sich die Räuber wieder beruhigt hatten, wurde es wirklich ernst. Mit vereinten Kräften drangen sie auf den kleinen Mann ein. Sie merkten wohl, dass sie es mit einem unvergleichlichen Schwertkämpfer zu tun hatten, dem sie eigentlich nicht gewachsen waren. Einmal aber, so hofften sie, würde auch er ermüden, denn im allgemeinen waren Schwerter sehr schwer und das Führen einer solchen Waffe erforderte nicht nur viel Geschick, sondern auch ebensoviel Kraft und Ausdauer.
Zu ihrer Überraschung jedoch zeigte der Kobold keinerlei Ermüdungserscheinungen. Der Wirbel der scharfen Schneide ließ nicht nach: Wer sich zu nah vorwagte, wurde rasiert oder verlor seine Hosen.
"Er ist ein Meister der Klinge, Schlaubauch!" riefen seine Leute. "An ihm kommt wirklich keiner vorbei! Er ist unbesiegbar. Hier muss Magie im Spiele sein!"
"Magie! Solch ein Schwachsinn!" erwiderte Schlaubauch. "Hört auf, solchen Unsinn zu erzählen. Sonst kommt ihr noch mit Hexen, Magiern und vielleicht auch noch Drachen und so einem Zeugs an! So etwas gibt es nicht! Punkt!"
Der Kampf ging also weiter. Stunde um Stunde kämpfte der Kleine gegen die gewaltige Übermacht an. Schließlich standen ihm doch die ersten Schweißtropfen auf der Stirn. Lange würde er nicht mehr durchhalten können! Hoffentlich kam Quatzkotl bald wieder zu sich! Nur er war in der Lage, die Räuber zu vertreiben.
Schon begann sein Schwertarm zu erlahmen. Die Beine wurden müde.
Da begann es in der Tiefe der Grube gar fürchterlich zu rumoren. Dampf stieg auf. Urzeitliches Gebrüll im Verein mit einer tosenden Feuerlohe drang nach oben. Die Räuber schlossen einen Moment die geblendeten Augen. Das Getöse war ihnen unheimlich. Sie hielten inne.
"Was war das?" fragte Schlaubauch unsicher.
Doch niemand brauchte ihm eine Antwort zu geben, denn das Unheil stieg in Form einer mächtigen, grünen Gestalt, umgeben von einer schwarzen Rauchwolke aus der Tiefe in die Höhe.
"Was ist denn hier los? Wer stört meine Ruhe?" drang eine abgrundtiefe Stimme an ihre ungewaschenen Ohren. Ein riesiges, zähnestarrendes Maul öffnete sich. Gelbe Augen blitzten wutentbrannt. Grüne Tatzen mit stahlharten Klauen, die einen Felsen zermalmen konnten, reckten sich den Räubern entgegen. Zuerst glaubten sie, Satan persönlich sei aus der Hölle gestiegen, um sie alle zu sich zu holen. Doch dann rief einer, dem das Entsetzten nicht schon vollends den Verstand geraubt hatte: "Ein Drache! Gott steh’ uns bei! Ein leibhaftiger Drache!"
Schlaubauch erkannte, dass es nun nur noch um eins gehen konnte: Flucht, und zwar so schnell wie möglich. Er gab Fersengeld. Seine Leute folgten ihm.
Nun ist es ein hoffnungsloses Unterfangen, einem feuerspeienden Drachen entkommen zu wollen. Quatzkotl schwang sich hoch in die Lüfte und schickte der Bande eine Feuergarbe nach der anderen hinterher. Dann ließ er sich herab, um sie zu Fuß zu verfolgen. Seine gewaltigen Klauen zerfurchten dabei den felsigen Boden, als sei er weiches Ackerland. Wer ihm in die Quere kam, bekam glühend heißen Dampf oder eine ebenso heiße Flamme zu spüren. Die Räuber verloren vor Entsetzen die Orientierung und holten sich manche Beule an den Stämmen des Waldes. Schließlich waren sie in alle Winde zerstreut. Jeder verbarg sich so gut er konnte in seinem eigenen Versteck. Schlaubauch, der Gerissenste von allen, fand sogar ein besonders gutes - wie er meinte. Aber davon später! Schlaubauchs Räuberbande jedoch fand sich nie wieder zusammen. Nie wieder wurden harmlose Wanderer von ihnen ausgeraubt. Die Wälder um Schloss Altena waren sicherer geworden.

***

Als Quatzkotl sich wieder beruhigt hatte, kehrte er zur Lichtung zurück - oder besser zu dem, was davon übrig geblieben war. Der Kobold erwartete ihn schon.
"Musste das sein, Drache?" fragte dieser.
Quatzkotl sah sich geknickt um: Die Bäume der Lichtung waren zum größten Teil verkohlt. Knackende Überreste ehemals prächtiger Baumriesen zeugten noch von dem Drachenfeuer, das vor kurzem hier gewütet hatte. Selbst die mächtige Eiche war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Traurig ließ sie ihre Äste hängen, das Blattwerk welk und rauchend vom giftigen Drachenodem.
"Ich gebe zu, dass ich übertrieben reagiert habe," bekannte er. "Aber bedenke doch: Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich verliebt und muss sehen, dass sich noch ein anderer um mein Mädchen bemüht. Und - leider kein Schlechter!"
Dabei warf er einen vielsagenden Blick auf El Pitto Gnomo.
"Dann diese blödsinnige Prüfung, von der niemand weiß, wie sie ausgehen wird. Und zu allem Überfluss falle ich auch noch aus Unachtsamkeit in eine primitive Fallgrube hinein. Da bin ich ganz einfach geplatzt!"
Der Kobold nickte verständnisvoll. 
"Laß uns weiterziehen!" schlug er vor. "Der Wald wird sich schon wieder erholen. Aber auch wenn man noch so guten Grund hat, aus der Haut zu fahren: Niemand hat das Recht, Dinge zu zerstören, nur weil ihm gerade danach ist. Mögen die Gründe auch noch so nachvollziehbar sein."

***

Einen Tag später erreichten sie die Lenne. Quatzkotl, der sich wieder in den Goldenen verwandelt hatte, wies nach rechts. 
"Wir müssen hier weiter. Immer am Ufer der Lenne entlang. Dann erreichen wir automatisch die Höhle meines Vaters," erklärte er. 
Die beiden Rivalen schritten kräftig aus, das Ziel ihrer Reise nun dicht vor den Augen. So erreichten sie schließlich den Beginn der felsigen Zone. Hier hatte vor mehreren Hundert Jahren der Herr von Altena sein Roß zurückgelassen, um zu Fuß weiterzugehen. Einem ungewissen Schicksal entgegen. 
Von hier an entwickelte sich die Lenne nun zu einem gefährlichen, düsteren Fluß, der reißend durch die Enge rauschte. Plötzlich verlor El Pitto Gnomo auf dem glitschigen Boden den Halt. Mit einem lauten Schrei stürzte er in die schäumende Flut. Quatzkotl wußte, dass Kobolde keine guten Schwimmer waren und sich in der Regel von Gewässern fernhielten. Im ersten Moment wußte er nicht, was er tun sollte. Dass er seinen lästigen Konkurrenten los war, kam ihm nicht einen Moment in den Sinn. El Pitto Gnomo war zu seinem Wegbegleiter und Kampfgefährten geworden. Niemals würde er ihn im Stich lassen! Doch was tun? Zum einen standen die Felsen zu eng beieinander, als dass er, in Drachengestalt, eine Rettungsaktion aus der Luft unternehmen konnte. Zum anderen musste er sich beeilen, wenn er noch etwas für den Kleinen tun wollte. Ihm kam ein Gedanke. Er verwandelte sich in einen Drachen. Sofort entfachte er das magische Feuer in seinem Bauch zu gewaltiger Glut. Dann spitzte er seine Schnauze und richtete sie auf die Lenne. Sein Plan ging tatsächlich auf: Die sengende Hitze verdampfte die Fluten des Wasserlaufs auf breiter Front. Die Lenne konnte nicht genug Wasser heranschaffen, um die entstandene Lücke zu schließen. Quatzkotl brachte es tatsächlich fertig, den Unterlauf des Flusses vollständig auszutrocknen. Dichter Nebel verhüllte die Klamm. Der Drache hoffte, dass sein Begleiter es nun schaffen würde, allein aus dem trockenen Flußbett zu steigen und sich ans Ufer zu retten, denn er musste sich ganz auf sein Feuer konzentrieren.
"Du kannst jetzt aufhören, Drache!" erklärte eine erschöpfte Stimme schließlich dicht neben ihm. "Und vielen Dank auch!"
El Pitto Gnomo stand neben ihm.
Quatzkotl stellte sein Feuerwerk ein. Rauschend stürzte der Fluss zu Tal. Schon nach wenigen Augenblicken füllte er wieder die ganze sichtbare Länge seines Bettes aus. Nur der Nebel würde sich noch eine Weile halten.
Der Drache und der Kobold schauten sich erleichtert an. Dann nahm Quatzkotl wieder die Gestalt des Goldenen an. Beide marschierten flussabwärts, der Höhle entgegen.
Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht: Die Schlucht weitete sich zu einem großen Talkessel, an dessen Ende sich der finstere Schlund der Höhle auftat.
"Wir sind da!" stellte Quatzkotl fest.
"Dann wollen wir mal keine Müdigkeit vorschützen!" meinte El Pitto Gnomo und ging energisch auf das schwarze Loch zu. Quatzkotl folgte ihm. Modrige Luft schlug ihnen entgegen.

***

Im Inneren der Höhle herrschte tiefste Finsternis. Aber sowohl Kobolde als auch Drachen können im Dunkeln ausgezeichnet sehen. Außerdem kannte Quatzkotl die Höhle noch aus seiner Kindheit. Den beiden machte die Lichtlosigkeit und der modrige Dunst also nichts aus. Sicher schritten sie voran. Je weiter sie vorankamen, umso enger wurde der sich stetig windende und immer feuchter werdende Gang.
"Halt! Wer da?" rief plötzlich eine energische Stimme. Der Lichtschein einer Fackel erhellte die Finsternis. Ein zerbeulter, haarloser und zerkratzter Kopf schob sich in ihr Blickfeld. Das Gesicht kam ihnen beiden seltsam bekannt vor. Ohne Zweifel: Es war Schlaubauch, der sie aber in der Dunkelheit nicht so gut sehen konnte, wie sie ihn.
"Wer da, frage ich!" erzürnte sich die Stimme. "Melde er sich, Eindringling, sonst werde ich ihn Mores lehren!"
El Pitto Gnomo trat grinsend vor: "Keine Sorge, Schlaubauch. Wir sind’s nur: Gute Freunde!"
"Warte! Ich sehe dich nicht richtig!" befahl der Räuberhauptmann. 
Ächzend zwängte er sich durch den Spalt, in dem er sich versteckt gehalten hatte, und hielt die Fackel vor des Kobolds Gesicht.
"Ahhh!" kreischte er entsetzt. "Bei allen Geistern dieser Höhle. Der Zwerg und der Drache! Rette sich, wer kann!" 
Er ließ die Fackel fallen, als sei sie ein glühendes Eisen und stürmte davon, weiter in die Tiefe der Höhle. Schmerzensschreie und dumpfe Geräusche zeugten davon, dass er in der Dunkelheit nähere Bekanntschaft mit den Wänden machte.
"Sein Gesicht wird bestimmt nicht schöner werden durch die zusätzlichen Beulen, die er sich jetzt holt!" schmunzelte El Pitto Gnomo. Sein Grinsen wurde breiter. Auch Quatzkotl fand die Situation sehr erheiternd.
Nach einer halben Stunde, in der sie scherzend weiter marschiert waren, wurden sie allerdings doch aufgehalten.
Vor ihnen flammte mitten in der Luft ein sanftes Leuchten auf. Eine kleine Gestalt, in etwa von der Größe des Kobolds, entstand vor ihnen. Sie trug ein fein gewebtes, weißes Kleidchen, stand auf bloßen rosigen Füßchen, hatte kohlpechrabenschwarzes Haar und ein feingeschnittenes anmutiges Gesicht. Über den zarten Schultern entfalteten sich durchsichtige Flügelchen.
"Eine Fee!" entfuhr es Quatzkotl überrascht.
"Eine Elfe!" berichtigte El Pitto Gnomo.
"Quatsch!" beendete die Kleine mit einer überraschend dunklen und volltönenden Stimme die Diskussion. "Koboldin! Und Roggenmuhme!"

Nachdem sich die beiden Reisenden von ihrem Schrecken erholt hatten, vor der so gefürchteten Roggenmuhme zu stehen, fand der Goldene als erster seine Fassung wieder.
"Sei gegrüßt, oh mächtige Roggenmuhme!" sagte er. "Wir sind zwei Wanderer, die einen langen Weg hinter sich haben und um deine Gastfreundschaft bitten."
"Gastfreundschaft?" echote die Roggenmuhme höhnisch. "Wollt ihr mir weismachen, dass ihr in dieses abgelegene Tal kommt, nur um meine Gastfreundschaft zu erbitten? Die Pergotzkatlhöhle liegt so weit ab von allen Handelswegen, dass niemals ein Wanderer hier vorbeikommt! Wenn ihr mich hochnehmen wollt, dann müßt ihr früher aufstehen! Was also ist euer Begehr?"
El Pitto Gnomo sah ein, dass sie nun Farbe bekennen mussten.
"Wir sind gekommen, um dich um einen Ableger der Weißen Alraune zu bitten!" erklärte er.
Die Roggenmuhme lachte.
"Ihr spinnt wohl! Die Weiße Alraune ist nicht für euch bestimmt, sondern ausschließlich für Xusia, meinen Gebieter. Eines Tages wird er herkommen und sie befragen. Die Alraune, müßt ihr wissen, weiß auf alle Fragen dieser Welt eine Antwort, heilt alle Krankheiten und schenkt ihrem Besitzer ewige Jugend."
Die leuchtende Aura der Roggenmuhme verstärkte sich.
"Ihr beiden werdet doch wohl einsehen, dass eine derart mächtige Pflanze nicht für zwei so armselige Tröpfe wie euch gedacht sein kann," fuhr sie fort. "Trollt euch also!"
Quatzkotls drachiges Temperament heizte sich wieder auf.
"Wir werden nicht gehen, sondern uns einen Ableger der Pflanze holen. Und du wirst uns nicht daran hindern!" grollte er. Er nahm seine Drachengestalt an.
"Ein Drache! Sieh an!" kommentierte die Muhme seine Verwandlung. Schnell hob sie einen Zauberstab, den sowohl der Kobold als auch der Drache vorher nicht beachtet hatten.
"Eeene meene muh, jetzt gebt Ruhe, du und du!" murmelte sie mit melodischer Singstimme und ließ den Stab kreisen.
El Pitto Gnomo und Quatzkotl wurde es schwarz vor Augen. Sie versanken übergangslos in einen tiefen Schlaf.            

***

Als Quatzkotl erwachte, fand er sich in einer kleinen Grotte wieder, die von drei Seiten von Felsgestein umgeben war. Nur die vierte war frei, wenn man von dem massiven, türlosen Gitter absah, das ein Verlassen der kleinen Nebenhöhle unmöglich machte.
Quatzkotl erhob sich und umfaßte die weißen Gitterstäbe mit seinen Drachenklauen. Heftig rüttelte er daran. Zu seinem Erstaunen hielt das Material seinen Kräften stand. Das hatte er noch nie erlebt.
"Sinnlose Kräftevergeudung, Kollege. Das ist Trollgebein. Es ist unzerstörbar!"
Das war El Pitto Gnomo, der zusammen mit ihm das Bewußtsein wiedererlangt hatte. 
"Wenn uns die Muhme nicht freiwillig freiläßt, kommen wir nie wieder hier heraus!"
Quatzkotl schüttelte den Kopf. Von Trollgebein hatte er natürlich schon gehört. Man sagte ihm nach, dass es magische Kräfte besäße. Demnach müßte es das ideale Material sein, um Gefangene festzuhalten, da es durch nichts zu zerstören sein sollte. 
"Glaube ich nicht!" knurrte er. "Es gibt nichts, das der Kraft eines Drachen widerstehen kann."
Doch der Kobold war nicht seiner Meinung. 
"Gib es doch zu! Die Muhme ist uns über!" forderte er seinen Begleiter auf und fügte mit verklärtem Gesicht hinzu: "Hast du übrigens schon bemerkt, wie schön sie ist?"
"Wer ist schön?" brummte Quatzkotl zerstreut. Ärgerlich betrachtete er das Gitter.
"Die Roggenmuhme, du Banause! Diese zarte Haut, die zarten Schwingen! Der feingeschwungene Mund, das feine Haar!" schwärmte der Kobold und seufzte andächtig.
Quatzkotl lachte.
"Denke daran, dass sie eine Freundin Xusias ist. Das spricht nicht unbedingt für sie!" gab er zu bedenken.
"Wenn du aufmerksam zugehört hättest, dann wäre dir aufgefallen, dass sie von ihrem Herrn Xusia gesprochen hat. Nicht von ihrem Freund!" verteidigte der Kobold seine Angebetete. "Außerdem ist Xusia tot. Das ändert sowieso alles!"
"Was ist denn mit dir los?" schmunzelte der Drache. "Willst du Cillie untreu werden? Aber mir soll’s recht sein!"
El Pitto Gnomo antwortete nicht, sondern schwieg, in Schwärmereien versunken.
Quatzkotl sah ein, dass er auf die Mitarbeit seines tapferen Gefährten vorerst verzichten musste. Offensichtlich war dieser bis über beide Ohren verliebt, verschossen und verknallt.
"Hmm! Magie muss man mit Magie bekämpfen!" dachte sich der Drache.
Er pumpte seinen Feuerofen mächtig an, öffnete seinen Rachen weit und spie eine unvorstellbar heiße Feuerfontäne mit einem gewaltigen Schwall gegen das Knochengitter. Die Flammen, die mit einem Mal freigegeben worden waren, wurden teilweise von dem Trollgebein zurückgeworfen. Sie züngelten bis in den hintersten Winkel der Grotte, wo sie auf etwas stießen, das weder Quatzkotl noch El Pitto Gnomo gesehen hatten, da der eine sich nur mit dem Gitter und der andere sich nur mit der lieblichen Muhme befaßt hatte. Das Etwas bewegte sich. Langsam zuerst, dann immer geschmeidiger. Schließlich erhob es sich, schaute sich um und sah dann den Drachen.
Quatzkotl seinerseits schaute befriedigt auf das Riesenloch, das sein Drachenfeuer in das Gitter gerissen hatte.
"Na also!" brummte er zufrieden. "Es geht doch!"
"Natürlich!" meldete sich in diesem Moment eine ihm unbekannte Stimme aus dem Hintergrund. "Drachenfeuer ist eben nichts gewachsen."
Quatzkotl fuhr blitzschnell herum. Er erblickte ein Skelett, das auf ihn zuschritt.
"Keinen Meter weiter! Sonst bekommst auch du mein Feuer zu spüren!" drohte er.
Der Kobold sprang auf, zog sein Schwert, stelle sich vor den Drachen und sagte: "An mir kommt keiner vorbei!"
Das Skelett hob abwehrend die Arme.
"Es besteht kein Grund zur Sorge, meine Herren!" beteuerte es. "Ich bin Mischa, das Skelett. Ich bin der Eigentümer dieser Höhle."
"Ich dachte immer, das sei die Roggenmuhme!" gab Quatzkotl wenig überzeugt zurück.
"Die Roggenmuhme wohnt jetzt hier, nachdem sie mich verdrängt und hier eingekerkert hat. Ich habe viele Jahre auf Burg Altena gelebt, bin dann aber in diese Höhle gezogen und habe sie als meine Wohnung angesehen, bis sich eines Tages die Roggenmuhme auf Befehl Xusias hier niederließ, um für ihn die Weiße Alraune zu bewachen. Sie hat mich in einen ewigen Schlaf gezaubert, der anhielt, bis ich durch Drachenfeuer wieder ins Leben zurückgeholt wurde."
"Ach so ist das!" nickte El Pitto Gnomo. Er ging auf Mischa zu und gab ihm die Hand. "Nichts für ungut, Mischa. Aber wir sind ein bißchen nervös."
"Schon gut! Ein Skelett wirkt ja auch etwas unheimlich," gab Mischa zu. 
"Dann laßt uns mal diesen gastlichen Ort verlassen und nach der Weißen Alraune suchen," forderte Quatzkotl seine Kameraden auf. 
Mit diesen Worten zwängte er seinen Drachenkörper durch die Gebeinlücke. Der Kobold und das Skelett folgten ihm. Anschließend machten sie sich auf den Weg zur Weißen Alraune. Mit Mischa als Führer war das kein Problem, denn er kannte sich in der Höhle noch besser aus als Quatzkotl, der ja nur auf seine Kindheitserinnerungen zurückgreifen konnte. Nach kurzem Marsch weitete sich der schmale Gang zu einer hohen Halle, die von einem fahlen Leuchten erfüllt war. Ein weißes Pflanzengeflecht umhüllte den vor ihnen liegenden Fels vom Boden bis an die Decke: Sie hatten die Weiße Alraune gefunden.
"Ich hatte sie mir schöner vorgestellt," dachte El Pitto Gnomo laut. "Irgendwie beeindruckender. Majestätischer!"
"Es geht ihr nicht gut!" erklang eine feine Stimme aus dem Hintergrund.
Die Roggenmuhme hatte sich ihnen unbemerkt genähert.
Quatzkotl fuhr herum, fest entschlossen, sie an weiteren Zaubersprüchen zu hindern.
Doch so schnell er auch war: die Muhme war noch schneller.
"Eene mene Maus, Drachenfeuer gehe aus!" reimte sie und schwang den Zauberstab. 
In Quatzkotls Bauch wurde es plötzlich ungewöhnlich kalt. Sein Drachenfeuer war erloschen. Die Roggenmuhme hatte ihn seiner wertvollsten Waffe beraubt. Doch auch nur mit seinen Klauen und seinem schrecklichen Gebiß war er immer noch ein schier unüberwindlicher Gegner. Die Muhme wußte das.
"Halte ein! Warte bitte!" rief sie darum, als Quatzkotl Anstalten machte, sich auf sie zu stürzen. "Ich bin hier, um die Weiße Alraune vor allen Gefahren zu schützen. Ich glaube aber, ich kenne dich, Drache. Wenn ich mich nicht täusche, dann bist du Quatzkotl, der König der Drachen. Man erzählt sich, du seist weise und gerecht. Was willst du also hier?"
"Ich bin hier, um einen Ableger der Weißen Alraune zu Merling, dem Magier zu bringen."
"Ich habe euch doch schon gesagt, dass das nicht gehen wird," gab die Muhme zurück. "Xusia selbst befahl mir, die Weiße Alraune vor Unbefugten zu schützen. Nur er selbst darf sie aufsuchen und mit ihr sprechen!"
"Xusia ist tot!" warf El Pitto Gnomo ein.
Die Muhme war verunsichert. Sie warf Mischa einen prüfenden Blick zu.
"Stimmt das?" fragt sie ihn.
"Ja, es stimmt," antwortete dieser. "Xusia ist von Quatzkotl in einem ehrlichen Zweikampf besiegt worden."
Die Muhme ließ den Zauberstab sinken und begann bitterlich zu weinen.
El Pitto Gnomo nahm sie liebevoll in die Arme, um sie zu trösten.
"Warum glaubt sie dir, Mischa?" wollte er wissen.
"Ach ja," gab das Skelett zurück. "Ich habe euch ja noch gar nicht gesagt, dass ich ein magisches Talent besitze. Ich weiß, was wahr ist und kann doch selbst nie sagen, was unwahr ist."
"Dann ist ja alles gut!" freute sich der Kobold. "Hoffentlich überwindet die Muhme den Schock schnell. Ich kann sie nicht leiden sehen!"
"Von mir aus! Hoffentlich kann sie mir auch meinen Bauch wieder anwärmen!" brummelte Quatzkotl ärgerlich. "Es ist nicht angenehm für einen Drachen, wenn ihm das Feuer ausgeht."
Die Muhme hatte sich inzwischen durch die liebevolle Fürsorge des Kobolds wieder gefangen. Dankbar schenkte sie ihm ein Lächeln, das ihm die Knie weich und den Kopf rot werden ließ.
"Eene mene Mann, Feuer geh’ schon an!" sang sie. 
Befriedigt registrierte Quatzkotl die vertraute Wärme, die in seinem Bauch aufstieg.
"Jetzt, da alle Feindseligkeiten ruhen, sollten wir uns besser kennenlernen!" schlug er vor.
"Au ja!" freute sich die Muhme. "Ich würde gerne wissen, wer dieser unglaublich gut aussehende und stattliche Mann hier neben mir ist."
Der Kobold wollte sich gerne selbst vorstellen. Er klappte den Mund auf und zu, brachte aber kein Wort hervor.
"Das ist El Pitto Gnomo, der Häuptling der Finsterwaldkobolde!" kam Quatzkotl seinem Gefährten zu Hilfe. "Er ist ein Ehrenmann und ein Meister des Schwertes."
"An mir kommt keiner vorbei!" bestätigte der Kleine, der seine Sprache wiedergefunden hatte, stolz.
Die Muhme klatsche begeistert in ihre kleinen Händchen.
"Und ich bin die Roggenmuhme. Ich bin für das Wohlergehen der Weißen Alraune zuständig. Leider geht es ihr seit Jahren ständig schlechter. Der Glaube der Menschen an die Macht der Magie nimmt stetig ab. Die Alraune leidet darunter. Leider ist sie zu groß, als dass man sie an einen anderen Ort bringen könnte. Ich fürchte, sie wird absterben! Seit Jahren lebe ich in der ständigen Angst, dass Xusia kommt und mich straft, weil ich eine so schlechte Hüterin der Alraune bin. Aber ich kann doch wirklich nichts dafür!"
Quatzkotl ging langsam aber sicher ein Licht, so groß wie eine Sonne auf.
Er wandte sich an Mischa.
"Und du, wie geht es dir? Du bist doch auch ein magisches Wesen. Wie fühlst du dich?"
"Ich habe bereits die Burg Altena verlassen, weil ich mich dort nicht mehr wohl fühlte. Ich glaubte, es wäre allein die Einsamkeit. Aber auch hier in der Höhle steht es nicht zum Besten. Außerdem langweile ich mich, so alleine."
"Dieser Teufelskerl! Genau, das ist es!" brach es aus Quatzkotl heraus, dem das Licht nun vollends aufgegangen war. Er sah die Muhme und El Pitto Gnomo an, die sich gegenseitig anschmachteten wie verliebte Teenager, die welke Alraune und das bleiche Skelett.
Alle sahen ihn verwirrt an.
"Was ist?" fragten sie verwirrt.
"Na, das liegt doch auf der Hand! Merling, dieser Teufelskerl. Er hat das alles gewußt!" rief Quatzkotl ungeduldig. "Merkt ihr es denn immer noch nicht? El Pitto Gnomo und ich haben uns um dasselbe Mädchen beworben. Die Muhme paßt aber viel besser zu ihm als Cillie. Die Weiße Alraune geht ganz offensichtlich ein. Wir werden aber einen Ableger zu Merling bringen. Im Siebengebirge ist die Magie noch stark. Mag die Mutterpflanze auch sterben, der Ableger wird zu einer neuen, starken Alraune heranwachsen. Dann ist da noch Mischa. Er fühlt sich unwohl und langweilt sich alleine. Auf Schloss Drachenburg aber ist Platz für ihn. Und George, das Gespenst, hat endlich einen Partner, mit dem es zusammen herumspuken kann."
El Pitto Gnomo, der noch am besten die Genialität Merlings Plan erkennen konnte schaute ihn mit großen Augen an. 
"Du hast recht!" stieß er hervor und hielt die Hand der Muhme noch fester. "Merling hat für uns alle gesorgt!"
Quatzkotl wurde leicht ums Herz, wie schon lange nicht mehr. Alle seine Probleme waren gelöst.
"Wir machen uns allesamt auf dem schnellsten Wege ins Siebengebirge!" bestimmte er. "Die Muhme löst einen lebensfähigen Teil der Alraune aus dem Gestein. Anschließend verschwinden wir von hier!"
Alle stimmten ihm begeistert zu.
"Wie kommen wir denn am besten wieder zurück?" fragte El Pitto Gnomo. "Der Fußmarsch ist sehr beschwerlich."
"Wir werden fliegen!" meinte Quatzkotl. "Die Menschen hier in dieser Gegend glauben nicht mehr an die Kraft der Magie. Drachen sind in Vergessenheit geraten. Falls mich jemand sehen sollte, wird er an eine Sinnestäuschung glauben."
"Ich kann dich auch unsichtbar machen, Quatzkotl," schlug die Roggenmuhme vor. "Somit wären wir alle vor einer Entdeckung sicher!"
Sie druckste noch ein wenig herum, fasste sich dann ein Herz und fügte hinzu: "Es wäre mir lieber, wenn ihr mich nicht länger mit Roggenmuhme ansprechen würdet. Diesen Namen habe ich mir nur zugelegt, um den Menschen Angst zu machen. In Wirklichkeit heiße ich Lisa!"
"Lisa! Welch ein süßer Name," flüsterte El Pitto Gnomo und schmolz wieder einmal dahin.

***

Als sie den Ausgang der Höhle erreicht hatten, kletterten sie auf den Rücken des Drachen. Lisa hob ihren Zauberstab und sang "Eene meene Tiger, werde unsichtbar, mein Lieber!"
Quatzkotl verschwand plötzlich vor aller Augen. Sie konnte nur noch seine Schuppen fühlen. Der Drache entfaltete seine unsichtbaren Schwingen. Als er, eine mächtige Staubwolke aufwirbelnd, abhob, drehte sich die Muhme noch einmal zu der alten Pergotzkatlhöhle um und sang: "Eene meene Stute, sei für immer zu, du Gute!"
Mit lautem Gerumpel verschloss sich der Höhlenschlund.

***

Der Rest der Geschichte ist, wie immer, schnell erzählt. Die seltsame Reisegesellschaft kam bereits nach kurzer Zeit im Wald des Zauberers Merling an. Cillie empfing ihren Drachenkönig in Gestalt einer riesigen Keule, denn sie hatte sich geschworen, ihren Zukünftigen tüchtig durchzuwalken, wenn er sich so dumm angestellt hätte, dass er ihrer nicht würdig gewesen wäre.
"Ich verliebe mich nicht in einen Tolpatsch!" hatte sie gesagt.
Aber ihre Sorgen waren natürlich völlig unbegründet. 
Von der rauschenden Hochzeit der kleinen, temperamentvollen Hexe mit dem großen Drachen wurde noch viele Jahre im Siebengebirge und allen angrenzenden Regionen, in den die Magie noch mächtig war, gesprochen. Vor allem hielt sich das Gerücht, dass Quatzkotl bei seinem Jawort gezögert habe, da ihm in diesem Moment wohl zum ersten Mal klar geworden war, mit was für einer stürmischen Partnerin er sich da für den Rest seines Lebens verbinden wollte.
Merling hatte seinen Spaß an der Sache. Vor allem, wie er seinem Freund Richard heimlich sagte, weil er schon befürchtet habe, dass Cillie mit ihrem Temperament niemals einen geeigneten Partner fürs Leben finden würde. 
"Jetzt hat der Drache den Salat!" grinste er. "Sollen sie miteinander glücklich werden!" 
Und das wurden sie dann auch! Aber das und die Sache mit dem kleinen schwarzen Drachenkind ist eine ganz andere Geschichte!
Und die Roggenmuhme, pardon, Lisa? Nun, sie und El Pitto Gnomo flogen Hand in Hand in den Finsterwald, wo er sie seiner Sippe vorstellen wollte. Niemand zweifelte daran, dass die beiden glücklich werden würden.
Und Mischa, das Skelett? Nun, er und George verstanden sich auf Anhieb. Die Nächte im Schloss Drachenburg wurden eine Zeitlang unruhig, denn beide wollten sich gegenseitig zeigen, dass der eine besser spuken konnte als der andere.
König Richard ließ sie nach Herzenslust herumgeistern. Wie gesagt: Er war ein weiser König, der seine Freunde gewähren ließ. Das Glück seiner Untertanen war ihm lieb und teuer, selbst wenn er dabei ein wenig Ungemach zu ertragen hatte.
Und der Ableger der Weißen Alraune? Nun, Merling hatte selbstverständlich bereits einen geeigneten Platz für die wertvolle Pflanze vorbereitet. Sie gedieh prächtig. Vor allem, da sie einen aufmerksamen Wächter hatte: Knurps, den Troll mit der steinernen rechten Hand, der sie von nun an beschützte. Sie war also sicher untergebracht. Wer würde sich schon mit einem haarigen Troll anlegen, dessen Fäuste so groß waren wie Grabschaufeln?
Und die Pergotzkatlhöhle? Nun, bis zum heutigen Tage ist es niemandem gelungen, sie wiederzufinden, obwohl sie nicht weit von der Burg Altena liegt; denn der Zauberspruch der Roggenmuhme wirkt bis auf den heutigen Tag.
Aber, wer weiß: Vielleicht hat ja die Weiße Alraune doch noch überlebt und wartet nur darauf, von einem Menschen gefunden zu werden, der sich den Glauben an die Macht der Magie bewahrt hat. Von einem Menschen, der daran glaubt, dass es dereinst Feen gab und Elfen, Magier und Trolle, Kobolde und Hexen, den Nöck und - Drachen und ihren König Quatzkotl!
 

© W. H. Asmek
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