Geschichten von Quatzkotl von W. H. Asmek
Janus

Vor langer. langer Zeit, als das Wasser des Rheins noch klar und ungetrübt war, als die Sommer noch heiß und die Winter noch eisig kalt waren, ritt eine ansehnliche Schar von Rittern durch das fruchtbare Tal, das sich unterhalb des Drachenfelsens erstreckte.
Die Reiter waren gut ausgerüstet und dienten offenbar einem wohlhabenden Herrn, denn sie trugen allesamt schimmernde Rüstungen und waren ausgezeichnet bewaffnet. An der Spitze des Trupps ritt ein älterer, aber immer noch kräftiger, graubärtiger Mann, dessen klare Augen einen unbeugsamen Willen, aber auch Weisheit ausstrahlten. Gut geschützt inmitten der Reiter befand sich ein greiser, gebeugter Edelmann, dessen Gesichtszüge von einer jahrelangen tiefgehenden Sorge gezeichnet waren. Welches Leid mochte diesem Mann auf der Seele liegen?
Der Graubart hob seine Rechte. Der Trupp hielt an.
"Da vorne liegt die Ortschaft, von der wir gehört haben, mein Graf!" rief er dem Greis zu.
"Und dieser Berg dort muss der berühmte Drachenfels mit dem Schloss Drachenburg sein!" gab dieser müde zurück. "Lasst uns voranreiten. Der Tag ist nicht mehr jung, die Nacht nicht mehr fern. Ich möchte heute einmal ein Dach über dem Kopf haben, wenn ich mein Haupt zur Ruhe neige!"
Der Graubart nickte verstehend. Und auch die restlichen Ritter freuten sich. Seit Wochen zogen sie nun schon durch die Lande. Immer ein Ziel vor Augen, von dem sie nicht wussten, ob es überhaupt existierte. Der Drachenfels und seine Burg waren berühmt. Aber kaum jemand hatte sie jemals mit eigenen Augen gesehen. Nur die Liebe zu ihrem Herrn und der Wunsch, ihm in seinem Leid beizustehen, hatten sie die Strapazen der Reise überhaupt aushalten lassen. Der Graf musste über eine schier unerschöpfliche Willenskraft verfügen, denn sein alter Körper hatte immer mitgehalten und war ihnen stets ein Vorbild gewesen.

***

Die Ritter trieben ihre erschöpften Tiere wieder an. So gelangten sie nach kurzer Zeit im Dorf an. Zu ihrer Überraschung kümmerten sich die Einwohner kaum um sie. Sie wurden wohl freundlich begrüßt, aber niemand schien sich vor ihnen zu fürchten. Das war seltsam, denn für die damalige Zeit war eine Gruppe von 30 schwer bewaffneten Rittern schon eine ansehnliche Streitmacht, die niemand so ohne weiteres durch sein Gebiet reiten lassen würde. Hier aber schien das niemanden zu stören. Entweder fühlten sich die Leute aus einem unerfindlichen Grund völlig sicher oder sie waren bodenlos dumm. Aber dumm waren sie bestimmt nicht, denn die Gebäude waren sauber gepflegt und zeugten von der Wohlhabenheit ihrer Besitzer. Einige Häuser waren sogar aus Stein und nicht aus Lehm gebaut. Überall herrschte reges Treiben. Nein! Dumm waren die Leute nicht. Aber warum fühlten sie sich so sicher?
"Sieht ganz ordentlich aus, nicht wahr?" meinte da ein Mann, der sich ihnen unauffällig genähert hatte. "Erlaubt mir, dass ich mich vorstelle, edle Herren. Ich bin der Schulte dieses Dorfes! Was kann ich für Euch tun?"
Der Graubart übernahm das Sprechen für seine Gruppe.
"Wir sind die Ritter des Grafen vom Westlichen Gehölz. Wir kommen in friedlicher Absicht und grüßen dich und die Bewohner dieses Ortes. Mir scheint aber, dass du zu bescheiden bist, wenn du diese Ansiedlung Dorf nennst. Hier scheint sich ja eine rechte Stadt zu entwickeln."
Der Schulte lächelte stolz.
"Ihr habt es erkannt, edler Herr. Dieser Ort wird bald eine Stadt sein und ich ihr erster Bürgermeister. Im letzten Winter haben wir zusammen mit unserem König den Entschluss gefasst, unsere Siedlung zu einer Stadt auszubauen. Zu Ehren unseres Königs werden wir sie Königswinter nennen."
"Möge das Schicksal dieser Stadt mit Glück und das ihrer Bewohner mit Gesundheit gesegnet sein!" antwortete der Graue höflich.
"Ihr seid ein Mann von Welt, Herr" freute sich der Dorfschulte. "Was kann ich für Euch tun? Wir sind leider noch nicht darauf eingerichtet, eine solch große Schar von Reitern zu beherbergen. Aber Speis’ und Trank können wir Euch anbieten."
"Ich danke dir, aber wir sind in Eile," entgegnete der Graue. "Wir sind nämlich auf der Suche nach dem Zauberer Merling. Wir haben ihm eine Bitte anzutragen. Wer könnte uns den Weg zu ihm zeigen?"
"Oh, den Weg zu Merling kann Euch nur unser König selbst erklären. Die beiden sind eng miteinander befreundet. Ob Merling Euch aber empfangen wird, ist eine andere Sache. Er ist auf seine Art ein komischer Kauz."
"Er muss es tun," murmelte der Greis so leise, dass es nur seine Ritter hören konnten. "Sonst ist es mit mir zu Ende!"
Der Graue aber neigte den Kopf in Richtung des Berges.
"Ist dies der Drachenfels mit der Drachenburg? Du kannst es mir ruhig sagen. Wir kommen, wie gesagt, in Frieden und tragen keine Arglist in uns."
Der Schulte schmunzelte.
"Herr, selbst wenn ihr die schlimmsten Verbrecher, selbst wenn ihr nicht dreißig sondern 300 Ritter wäret, könnte ich Euch getrost den Weg zu der Burg meines Königs zeigen. Ihr würdet ihm nichts anhaben können. Er hat mächtige Verbündete, und die Burg selbst ist uneinnehmbar. Reitet also getrost hinauf!"
Der Graubart blickte in Richtung seines Herrn. Beide tauschten einen wissenden Blick aus, wobei die Augen des Alten kurz in stillem Triumph aufleuchteten. 
Danach verabschiedeten sie sich freundlich von den Bewohnern des Dorfes und ritten geschwind davon.

***

Der Weg zur Burg stieg steil an und war beschwerlich. Aber das war für die damalige Zeit normal. Burgen pflegten üblicherweise hoch oben auf den Spitzen der Berge zu stehen, damit sie weit über das Land blicken konnten und schwer anzugreifen waren. Dennoch waren die Männer auf der Hut, denn das Gelände war unübersichtlich und der dunkle Wald erhob sich düster dicht zu beiden Seiten des Weges.
Als der Abend heraufdämmerte erreichten sie die Burg. Zu ihrer Überraschung war das Tor weit auf. Nur ein einzelner, lustlos wirkender Wächter stand da und forderte die Schar mit erhobenem rechten Arm zum Halten auf.
"Halt! Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?" rief er ihnen zu.
Der Graubart stellte seine Begleiter und sich vor und bat darum, eingelassen zu werden.
"Gastfreundschaft soll Euch gewährt werden. Das ist so Sitte bei uns. Alles andere obliegt der Entscheidung meines Königs," antwortete der Wächter und machte den Reitern Platz.
Die Ritter ließen ihre Pferde in den Burghof traben, wo sie auch schon von einer recht seltsamen Schar erwartet wurden:
Auf einer großen Freitreppe stand ein Mann mittleren Alters, der eine schöne Frau an seiner Seite hatte. Rechts neben ihnen befand sich ein Mann mit goldener Haut und grünen Haaren, der ebenfalls von einer Frau begleitet wurde. Diese Frau war aber von einer solchen Schönheit, dass den Rittern vor Erstaunen die Münder offen stehen blieben. Auf der anderen Seite stand ein extrem hässlicher Wicht mit einem Schwanz und Schmetterlingsflügeln an den Schultern. Beide Arme stützten sich auf ein riesiges Zweihandschwert, das viel zu groß für den Kleinen schien. Auch er wurde von einer Frau begleitet: Sie war so klein wie er, aber fast ebenso schön wie die Begleiterin des Goldenen.
Der Mann in der Mitte löste sich aus der Gruppe und kam auf die Ankömmlinge zu.
"Seid gegrüßt, ihr Ritter! Ich heiße Euch willkommen auf Schloss Drachenburg. Steigt ab von Euren Rössern. Ich bin König Richard und biete Euch die Gastfreundschaft meines Reiches an!"
Das Wort "Gastfreundschaft" war für die damalige Zeit nicht irgendeine dahingeworfene Floskel. Gastfreundschaft bedeutete Essen, Trinken und Sicherheit, sowie ein Dach über dem Kopf. Wurde einem Reisenden die Gastfreundschaft angetragen, so war er erst einmal aller Sorgen ledig.
Diesmal war es der Greis, der antwortete. Nicht der Grauhaarige.
"Wir danken Euch für diese Worte, König Richard. Ich bin Graf Gottlieb vom Westlichen Gehölz. Seit Wochen schon sind wir auf der Suche nach dem Zauberer Merling, der in diesen Wäldern leben soll. Ich hörte, dass Ihr uns den Weg zu ihm weisen könnt. Wenn dies der Fall sein sollte, so nehmen wir Euer Angebot mit Freuden an, denn wir sind alle sehr erschöpft und sehnen uns nach Wärme, einem guten Mahl und Ruhe."
"Ihr seid am rechten Orte angelangt, Graf," entgegnete Richard. "Ich kann Euch den Weg zu Merling zeigen. Aber bedenket: Er ist weit und beschwerlich. Und Ihr müsst ihn allein gehen. Gönnt Euch zuerst Ruhe!"
Der Greis nickte dem Grauen zu. Dieser gab den Männern ein Zeichen, worauf diese von ihren Pferden stiegen.
Plötzlich wurde die friedliche Atmosphäre von einem lauten Schrei gestört.
"Iihhhhhhh! Lass das! Zu Hilfeee!" 
Ein etwa zehnjähriges Mädchen lief in Windeseile über den Hof auf die Freitreppe zu. Dicht gefolgt von einem etwa gleichaltrigen Jungen. Die beiden boten einen seltsamen Anblick, passten also durchaus zu den sechs Erwachsenen auf der Treppe. Das Mädchen besaß auffallend schönes und langes Haar, das ihr wie eine goldene Mähne um den Kopf flog. Der Junge hatte dagegen kohlpechrabenscharze Haut und feuerrotes, wild wucherndes Haar auf dem Kopf. Mit einer Hand hielt er eine Haarsträhne des Mädchens umfasst und zerrte grob daran.
"Quetzi! Das tut mir doch weh!" rief die Kleine und war dem Weinen nah.
Die Ritter waren unschlüssig, was sie tun sollten. Kinder rauften mitunter miteinander. Trotzdem widerstrebte es ihnen, tatenlos zuzusehen, wie dieser Raudi der Kleinen wehtat. Zu gerne hätten sie dem Burschen den Hosenboden stramm gezogen. Unschlüssig sahen sie dem Schauspiel zu, bis ein lautes Poltern aus dem Bergfried der Burg ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Aus dem großen Eingangstor des massiven Turmes löste sich eine riesige, behaarte Gestalt. Mit einer gewaltigen Keule bewaffnet stürzte sie sich auf die beiden Kinder und brüllte aus Leibeskräften:"Knurps fressen kleine Bösewichter. Ha! Mampf, knirsch! Knochen brechen! Blut trinken! Uaaahhh!"
Jetzt schrieen beide Kinder wie am Spieß und rannten, als ginge es um ihr Leben. Nun wurde es den fremden Rittern doch zu bunt. 
Streitende Kinder hin. Gastfreundschaft her. Die beiden schienen Todesangst ausstehen zu müssen - und wenn sie ehrlich sein wollten, wurde es ihnen selbst bang ums Herz. 
Sie zogen ihre Schwerter und stellten sich dem Riesen in den Weg, um ihn aufzuhalten und gegebenenfalls niederzumachen.
"Haltet ein, ihr Herren!" rief Richard da mit aller Kraft. "Nehmt Eure Schwerter zurück und befleckt nicht die heilige Gastfreundschaft mit dem Stahl Eurer Waffen. Die Kinder sind nicht in Gefahr! Ihr braucht sie nicht zu beschützen!"
Verwirrt hielten die Ritter inne. Sie blickten betreten zu Boden. 
"Es tut uns leid, die Waffen gezogen zu haben," bekannte der Graue. "Bedenket aber, oh König, dass Ihr es hier mit austrainierten Rittern zu tun habt. Unsere Reflexe sind schnell und sicher. Wir sahen Not und wollten helfen. Nichts lag uns ferner, als Euch zu beleidigen oder uns Eurer Gastfreundschaft als unwürdig zu erweisen. Verzeiht uns bitte!"
"Ich verstehe Euch, bitte Euch aber darum, in Zukunft etwas mehr Zurückhaltung zu üben. Wir scheinen Euch wahrscheinlich in mancher Beziehung etwas seltsam erscheinen. In meinem Reich ist die Macht der Magie stark und unverbraucht. Ihr werdet noch viele ungewöhnliche Dinge erleben. Greift also nicht wieder zu den Waffen. Sie könnten Euch hier sowieso nicht viel helfen."
Gleich darauf erschienen mehrere Bedienstete der Burg, die einen fetten Mastochsen mit sich führten. Das Tier wurde an Ort und Stelle geschlachtet und auf einem großen Spieß über einem schnell entfachten Feuer gebraten. Bald drang der Duft von köstlichem Braten über den Schlosshof. Als noch mehrere Fässer mit gutem Wein an die Lagerstelle der Ritter gerollt wurden, ließen sich alle mit lautem Aufseufzen nieder. König Richard ließ sich nicht lumpen! So ein gutes Mahl hatten sie schon lange nicht mehr genossen. Richard und seine Getreuen zogen sich höflich zurück, so dass die Ritter sich selbst überlassen blieben. Aber das war ihnen nur recht.
Befriedigt registrierten die Männer, dass das große Burgtor mit Einbruch der Nacht doch noch geschlossen wurde. Der König mochte seltsam sein, aber verrückt war er nicht.

***

Am nächsten Tag stand der Graf früh auf, erfrischte sich kurz am Brunnen und machte sich reisefertig. Richard erwartete ihn bereits am Burgtor. 
"Ihr müsst gleich hinter der nächsten Wegbiegung in den Wald eindringen. Geht immer in die Richtung, in der die Bäume am dichtesten stehen. Wenn ihr nicht mehr reiten könnt, müsst Ihr zu Fuß weitergehen. Wenn es so eng wird, dass Ihr meint, nicht mehr weiter zu können, wird sich vor Euch eine Lichtung auftun. Inmitten dieser Lichtung steht das Haus des Magiers Merling. Ihr werdet diese Lichtung nur erreichen, wenn Ihr allein und unbewaffnet seid. Außerdem muss Euer Anliegen wichtig sein."
Richard seufzte: "Ihr seht, es wird nicht einfach sein für Euch!"
Der Graf aber reckte sich auf wie ein Junger und entgegnete fest: "Ich danke euch für diese Hinweise. Aber lasst Euch nicht durch mein weißes Haar in die Irre leiten! Ich trage zwar den Schnee vieler Winter auf meinem Haupt, aber mein Herz ist noch jung und mein Körper stark. Ich werde es schaffen. Vor allem, da vom Gelingen meiner Mission mein Seelenheil abhängt."
Damit gab er seinem Ross die Sporen und galoppierte davon.
"Wann wird er wieder zurück sein?" fragte der Graue, der sich inzwischen zu Richard gesellt hatte.
"Gleich!" gab Richard zurück.
Der andere schaute ihn verwirrt an.
Richard sah, dass er seinem Gegenüber eine Erklärung schuldete.
"Der Weg zu Merling ist lang und beschwerlich. Aber nur für den, der ihn geht," sagte er. "Für uns werden die Tage wie Minuten vergehen. Hier ist nämlich das Land der Magie, der unerklärlichen Rätsel und Wunder. Dein Herr wird in wenigen Augenblicken wieder auftauchen. Schau! Da ist er schon!"
Zum unbeschreiblichen Erstaunen des Graubartes kam der Graf in diesem Augenblick schon wieder um die Biegung zurück. Doch wie sahen Ross und Reiter aus! Schmutzig, zerschrammt und grau vor Müdigkeit. Das Pferd stolperte und der Alte konnte sich kaum im Sattel halten. Das eben noch stolze Gesicht leer, der Körper kraftlos. Der Reiter erreichte das Tor nicht mehr. Wenige Schritte vor Richard und dem Grauen fiel der Graf bewusstlos aus dem Sattel, schlug schwer auf dem Boden auf und rührte sich nicht mehr.
Mit einem Aufschrei sprang der Graubart vor, kniete sich hinter den Gestürzten und nahm dessen Kopf in seinen Schoß.
"Herr!" flüsterte er. "Komm wieder zu dir. Du darfst nicht sterben. Nicht jetzt! Das hast du nicht verdient!"
Die anderen Ritter waren durch den Schrei aufmerksam geworden, eilten herbei und mühten sich um den Greis, als sei er ihr aller Vater.
Tief bewegt von der Liebe, die die Männer dem Grafen entgegenbrachten, bot Richard ihnen seine Hilfe an.
"Ich kenne Heilkundige, die Eurem Herrn helfen können. Erlaubt mir, das Notwendige zu unternehmen."
"König Richard," gab der Graue zurück. "Ich bin Gandolf Wichmann, der Waffenmeister des Grafen. Ich bin der letzte Abkömmling des Wichmann, den man den Schwarzen nannte. Des Schwarzen Wichmann, des berühmten Waffenmeisters des Herrn von Altena. Falls Ihr meinem Herrn das Leben retten könnt, so schenke ich Euch mein Schwert."
Mit diesen Worten zog Gandolf ein prachtvolles Schwert aus der Scheide. Er reckte den Stahl in die Sonne, dass er aufblitzte und rief.
"Bei allem, was mir heilig ist, bei meiner Seele und meiner Ehre! Dies ist das Schwert Drachentöter, geschmiedet über Elfenfeuer und gehärtet mit Trollblut. Es ist das berühmteste und wertvollste aller Schwerter dieser Welt. Es soll Euch gehören, wenn dafür das Leben meines Herrn gerettet werden kann!"
Eine kraftvolle goldene Hand griff nach dem Schwert und wand es dem Grauen mühelos aus der Hand.
"Mit welchem Recht besitzt du das Schwert, das meinen Vater tötete?" rief der Goldene erregt. "Es gibt nur einen auf dieser Welt, der ein Anrecht auf dieses Schwert besitzt. Und der bin ich: Quatzkotl, der Sohn Pergotzkatls und König der Drachen!"
Gandolf ließ sich von der Stimme des Drachenkönigs nicht einschüchtern.
"Es ist mir egal, wer du bist, Goldener!" erwiderte er stolz. "Ich bin der rechtmäßige Besitzer des Schwertes. Ich gebe es nur an den, der das Leben meines Herrn rettet."
"Wir sollten uns zunächst um das Wohlergehen meines Gastes kümmern," schlug Richard vor und schob sich zwischen die beiden Streithähne. "Wir können uns später immer noch über die Besitzverhältnisse Drachentöters streiten. Wenn dem Grafen nicht schleunigst geholfen wird, wird er sterben. Und das hilft keinem von uns!"
Quatzkotl ließ unwillig von seinem Gegner ab. Ein Ritter nahm den Grafen auf die Schultern und trug ihn in den Burghof, wo sich gleich die Damen um ihn kümmerten. Unter ihren gemeinsamen Bemühungen wachte der Alte schließlich wieder auf. Doch im Gegensatz zu der Erleichterung, die sich in den Mienen der Umstehenden abzeichnete, wirkte der Gerettete unwirsch.
"Ihr hättet mich ruhig sterben lassen sollen!" knurrte er. "Mir ist jetzt sowieso nicht mehr zu helfen!"
"Konnte Merling nichts für Euch tun, Graf?" erkundigte sich Richard besorgt.
"Pah! Euer sagenhafter Zauberer war nicht da!" gab der Graf bitter zurück. "Vielleicht gibt es ihn gar nicht. Vielleicht ist er nur eine Erfindung, um reiche Hilfesuchende hierher zu locken. Wer weiß, warum das Dorf unten im Tal so wohlhabend ist! Ich wittere Lug und Trug!"
"Ihr seid ungerecht, Gottlieb vom Westlichen Gehölz!" konterte Richard aufgebracht. "Wenn Ihr die Hütte im Wald nicht gefunden habt, dann könnt Ihr es uns nicht zum Vorwurf machen!"
"Ich habe die Hütte gefunden. Sie stand auf der Lichtung, wie Ihr es mir beschrieben habt. Ich konnte mir jeden Raum ansehen. Aber bis auf eklige Reagenzien und einen stinkenden Kochtopf habe ich nichts gefunden. Euer Magier jedenfalls war nicht da!"
"Das ist seltsam," dachte Richard laut nach. "Merling verlässt seine Lichtung nie! Wenn ich daran denke, dass wir ihn regelrecht zwingen mussten, an Quetzis Taufe teilzunehmen, dann erscheint mir diese Geschichte doch zu seltsam."
Der Goldene und die anderen Begleiter Richards nickten schweigsam. Merling nicht in seiner Behausung? Kaum vorstellbar!
Richard versammelte seine Lieben um sich.
"Da stimmt etwas nicht," flüsterte er ihnen zu. "Einer von uns muss nachsehen und feststellen, was da passiert ist. Die Geschichte kommt mir nicht  ganz geheuer vor."
"Ich fliege hin!" erbot sich Quatzkotl. 
"Ich komme mit!" rief Cillie. "Schließlich ist Merling mein Vater!"
"Gut!" schloss Richard. "Ihr zwei seht nach und ich kümmere mich um die Fremden hier.
Die Ritter hatten inzwischen ihr Gepäck zusammengesucht und bereiteten offensichtlich ihre Abreise vor. Mürrisch, ja fast feindselig blickten sie zu Richard und sein Gefolge hinüber.
"Denk an das Schwert, das du mir versprochen hast!" rief Quatzkotl zu dem Graubart hinüber. Dieser wollte gerade eine zornige Antwort geben, als Quatzkotl sich in seine natürliche Drachengestalt verwandelte und mit mächtigem Flügelschlag aufstieg.
Die anderen Ritter sahen dem gewaltigen Drachen mit offenen Mündern nach. Doch ihre Verwunderung verwandelte sich in Bestürzung, als ein zweiter, nicht viel kleinerer Drachen, dem ersten folgte: Cillie flog ihrem Gemahl nach.
"Was, was ist das?" fragte der Waffenmeister des Grafen. Sein Gesicht hatte die gleiche Farbe angenommen wie sein Bart.
"Das sind Quatzkotl, der König der Drachen, und Cillie, seine Gattin, die Tochter Merlings! Sie fliegen los, um nachzusehen, wo Merling ist," erklärte Richard. "Glaubst du uns nun, dass wir es nicht nötig haben, Reisende zu betrügen?"
Der alte Graf erhob sich von seinem Lager und schritt auf Richard zu.
"Ich bedaure mein Verhalten zutiefst. Ich bin beschämt, dass ich mich habe so gehen lassen, Richard," sagte er. "Bitte verzeiht mir, aber Merling war meine letzte Hoffnung. Wenn ich ihn nicht finde, bin ich verloren. Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Geschichten über die Magie in diesem Land nie wirklich geglaubt. Es ist ein Wunder, dass es Drachen wirklich gibt. Wenn ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es immer noch nicht glauben. Erlaubt uns, noch eine Nacht hier zu bleiben, damit wir über die weitere Vorgehensweise beratschlagen können."
"Ihr könnt gerne noch einige Tage bleiben, Herr vom Westlichen Gehölz," meinte Richard. "Ihr werdet weiterhin anständig verpflegt werden."
Damit drehte er sich um und begab sich in seine Burg.

***

Am Abend entfachten die Ritter erneut ein großes Feuer und lagerten sich ringsum in dessen Schein. Der Graue und sein Graf lagerten in der Mitte des Kreises der Bewaffneten und unterhielten sich.
Beide waren in ihr Gespräch vertieft und beachteten das junge Mädchen mit dem goldenen Haar nicht, das sich ihnen näherte.
"Hallo, Herr Graf, darf ich Euch etwas fragen?" flüsterte die Kleine.
"Nun, mein Kind! Komm ruhig näher!" forderte der Graf sie auf. "Was bist du denn noch so spät auf?"
"Ich bin Jannie, die Tochter König Richards," sagte das Mädchen. "Ich würde Euch gerne helfen, wenn ich kann."
Der Alte schmunzelte freundlich.
"Wie willst du mir helfen, Kind?" fragte er. "Wenn die beiden Drachen Merling nicht finden, wird mir keiner mehr helfen können. In meinem Fall ist selbst Gottvertrauen vergebens! Aber sag, warum hast du denn gestern, als wir ankamen, so geschrieen?"
"Och!" seufzte Jannie. "Gestern haben Quetzi und ich mit Knurps gespielt. Knurps war der mit der Keule. Er ist ein Troll - aber ein friedlicher," setzte sie beruhigend hinzu, als sie die erschreckten Gesichter der beiden Männer sah. "Quetzi heißt eigentlich Quetzalkoatlus und ist der Sohn Quatzkotls und Cillies. Aber Quetzi passt besser zu ihm. Er ist ein wenig grob und ungestüm, wie Jungen es schon einmal sind. Aber sonst ist er ein ganz netter Kerl."
"Hier ist alles ein wenig wunderlich!" sagte der Graf nachdenklich. "Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es diese sagenhaften Wesen wie Trolle und Drachen wirklich gibt!"
"Und Kobolde nicht zu vergessen!" lächelte Jannie. "Der Kleine mit dem Riesenschwert ist kein geringerer als El Pitto Gnomo, der Anführer der Finsterwaldkobolde. Es gibt keinen besseren Schwertkämpfer als ihn!"
"Das glaube ich nicht!" meinte Gandolf nachsichtig. "Du hast mich noch nicht mit meinem Schwert umgehen sehen. Drachentöter ist ein magisches Schwert, das seinen Träger unbesiegbar macht."
"Wie wäre es mit einer Wette?" schlug Jannie vor.
"Wette?" fragte der Graue.
"Ja! Du hast doch dem, der den Grafen wieder gesund macht, das Schwert versprochen. Wie wäre es, wenn Du das Schwert behalten darfst, wenn du den Koboldhäuptling besiegen kannst?"
"Einverstanden!" sagte der Waffenmeister sofort. "Wenn dein Vater zustimmt!"
"Das wird er!" schmunzelte Jannie. "Er kann mir keinen Wunsch abschlagen. Aber..." und damit wandte sie sich dem Grafen zu. "Was ist nun mit Eurem Problem? Vielleicht kann ich Euch helfen?"
Der Graf seufzte. Er griff in seine Satteltasche und holte eine weiße Flasche von der Größe einer Weinflasche hervor.
"Dieses Ding hier ist mein Schicksal", sagte er. "Sie ist die Quelle meines Reichtums und gleichzeitig die Ursache meines Elends."
Jannie sah sich die Flasche an. 
"Ich kann nichts Besonderes an ihr erkennen," meinte sie. 
"Die Flasche selbst besteht auch aus ganz normalem Glas. Das Interessante ist ihr Inhalt. Pass mal auf!"
Der Graf setzte das Gefäß auf den Boden, schaute es an und sprach langsam und leise die folgenden Worte:
"Hitzli Putzli Flaschengeist. Zeige Dich! Sag was du weißt!"
Die milchige Einfärbung des Glases verschwand. Der Blick ins Innere der Flasche wurde frei. Jannie sah einen kleinen runzligen Gnom, der das Behältnis fast vollständig ausfüllte. Der Gnom sprang ununterbrochen auf und ab.
"Hihihihi! Was willst Du von mir, mein Herr?" rief es mit hoher Stimme. "Beeile dich, sonst ist es zu spät! Hihihihi!"
"Sag mir: wo ist Merling der Zauberer?" befahl der Graf.
Das Männchen hörte auf zu zappeln. Sein runzliges Gesicht wirkte erschreckt.
"Das darf ich dir nicht sagen, Graf. Auch wir Flaschengeister sind den Gesetzen der magischen Gesellschaft unterworfen. Ich darf dir nicht sagen, wo er ist. Das musst du schon selbst herausfinden. Ich kann dir nur sagen, warum er verschwunden ist."
Der Graf war verwundert.
"Dann sag, was du sagen kannst, Hitzli Putzli!"
"Janus ist wieder unterwegs. Er jagt wieder!"
"Wer ist Janus?"
"Janus ist ein Dämon. Er ist der mächtigste der Fürsten der Finsternis. Selbst Xusia hat ihn gefürchtet."
"Und was jagt Janus?"
"Ist doch klar, hihihihi! Er jagt Menschen! Hihihihi. Er sammelt sie!"
Damit war der Gnom wohl überzeugt, genug gesagt zu haben. Er schwieg und die Flasche wurde wieder weiß.
Jannie war besorgt.
"Ich kannte Xusia," sagte sie. "Er hat mich vor einigen Jahren entführt. Aber mein Vater und seine Freunde haben ihn mit vereinten Kräften besiegt. Kaum vorstellbar, dass selbst er vor Janus Angst gehabt haben soll!"
"Ich glaube das schon," antwortete der Graf. "Ich kenne den Flaschengeist schon seit vielen Jahren. Ich habe den Eindruck, dass auch er Angst hat. Und das will bei diesem Kerlchen schon etwas heißen."
"Was ist denn so Schlimmes an dem Flaschengeist?" wollte sie wissen. "Er wirkt doch ganz harmlos!"
"Auf den ersten Blick schon," gab der Graf zurück. "Doch mit dem Geist hat es eine unangenehme Bewandtnis. Er erfüllt seinem rechtmäßigen Besitzer jeden Wunsch. Das hört sich gut an, aber dafür gehört ihm im Falle seines Todes dessen Seele!"
Jannie erschrak. 
"Ihr habt ihm für Geld Eure Seele verkauft?"
"Leider ist es so. Als ich die Flasche damals kaufte, war ich jung, leichtsinnig und dumm. Ich habe lange Zeit ein schönes Leben geführt und die Kräfte des Flaschengeistes nicht nur für mich, sondern auch für andere Menschen eingesetzt und viel Gutes getan. Doch im Laufe der Jahre kam mir zu Bewusstsein, dass Reichtum und ein sorgloses Leben nicht alles sind. Seit vielen Jahren schon versuche ich, die Flasche wieder loszuwerden. Aber vergeblich."
"Was müsst Ihr denn tun, um Euch der Flasche zu entledigen? Könnt Ihr sie nicht einfach ins Meer oder einen Abgrund werfen?"
"Das würde nichts bringen, denn ich wäre dann immer noch ihr rechtmäßiger Eigentümer. Meine Seele wäre also nicht gerettet. Nein! Einfaches Wegwerfen würde nichts bringen. Ich müsste sie verkaufen."
"Warum tut Ihr es dann nicht?"
"Weil das nicht so einfach ist, wie es sich anhört, mein Kind. Ich habe die Flasche seinerzeit für einen Taler gekauft. Bedingung beim Verkauf dieser Flasche ist es aber, dass sie immer billiger verkauft werden muss, als sie eingekauft worden ist. Ich müsste jetzt also weniger als einen Taler für sie verlangen."
"Ich verstehe," meinte Jannie. "Und jeder mögliche Käufer würde darüber nachdenken, dass er die Flasche ja wieder billiger verkaufen müsste, bis letztendlich jemand keinen Dummen mehr finden würde."
"Genau, irgendwann wird es einen Letzten geben, der sie für einen Heller gekauft hat und sie nicht mehr billiger weiterverkaufen kann. Es wird also immer schwieriger, einen Käufer zu finden. Ich habe es schon seit Jahren versucht - aber niemanden gefunden. Ich hatte gehofft, dass Merling eine Lösung finden würde. Er war meine einzige und letzte Hoffnung."
"Kann der Geist Euch keinen Käufer besorgen?"
"Das ist der einzige Wunsch, den er mir nicht erfüllt. Einen Käufer besorgt er mir nicht!"
Jannie schaute dem alten Grafen mitfühlend ins Gesicht. Er war ein guter Mensch. Kein Zweifel! Für den Leichtsinn seiner Jugend hatte er wahrhaft genug gebüßt. Es wurde Zeit, einen Käufer für die Flasche zu finden. Sie fasste einen Entschluss. Sie stand auf, verabschiedete sich von dem Grafen und suchte den Bergfried auf, in dem Knurps in letzter Zeit häufig den Tag verschlief. Als sie eintrat, war Knurps schon munter. Sein massiger, stark behaarter Körper regte sich.
"Knurps!" sagte Jannie. "Merling ist verschwunden. Wir müssen ihn suchen!"
Knurps war es nicht gewohnt, nachzudenken. Es reichte ihm, dass Jannie ihm sagte, was zu tun war.
"Gut!" grunzte er. 
Er setzte das Mädchen auf seine breiten Schultern und trabte mit ihm in den Wald. Wenn jemand in der Lage war, Merling aufzuspüren, dann Knurps. So gut wie der Troll kannte sich kein anderes Wesen in den Wäldern des Siebengebirges aus. Lautlos tauchten sie in der Dunkelheit des Waldes unter.

***

Am nächsten Tag kehrten in aller Frühe die beiden Drachen zurück. Quatzkotl verwandelte sich zurück in den Goldenen und Cillie nahm auch menschliche Gestalt an. Die Ritter nahmen es hin. Sie wunderten sich inzwischen über nichts mehr.
"Merling ist tatsächlich fort," teilten sie dem wartenden Richard mit. "Wir haben die ganze Nacht über den Wald abgesucht, aber nicht den Hauch einer Spur gefunden."
Da näherte sich ihnen der Graf.
"Ich habe erfahren, dass ein gewisser Janus auf der Jagd nach Menschen ist und Merling entführt haben soll," sagte er.
Quatzkotl zuckte zusammen.
"Woher willst du das wissen?" frage er unwirsch.
"Ich habe meinen Flaschengeist gefragt."
Quatzkotl warf ihm einen forschenden Blick aus seinen goldenen Augen zu.
"Es hat nie viele Flaschengeister gegeben," bemerkte er. "Soweit wie ich weiß, haben auch alle bereits die Seelen ihrer ehemaligen Eigentümer übernommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du so verrückt bist, einen Flaschengeist gekauft zu haben. Irgendwann gibt es immer einen letzten Besitzer - und der verliert seine unsterbliche Seele an seinen Flaschengeist."
Richard hörte interessiert zu. Auch er hatte bereits von Flaschengeistern gehört, sich aber nie weiter für dieses Thema interessiert, da er niemals einen gekauft hätte. Seine Seele für Geld zu verkaufen wäre ihm nie in den Sinn gekommen.
"Es ist aber so," bestätigte der Graf. "Ich bin der Eigentümer des Flaschengeistes Hitzli Putzli."
"Das tut mir Leid für dich, denn dann bist du verloren," gab Quatzkotl, der keinerlei Verständnis für den Grafen aufbringen mochte, kalt zurück. "Soweit wie ich gehört habe, hat der letzte Besitzer die Flasche für einen Taler gekauft. Allerdings dachte ich, er wäre bereits gestorben."
In diesem Moment trat ein Skelett auf die Freitreppe. Die Ritter stöhnten auf vor Entsetzen. Sie waren zwar inzwischen einiges gewohnt, aber ein wandelndes Skelett traf sie dennoch wie ein Schock. Das gespenstische Wesen beachtete sie jedoch nicht weiter, sondern wandte sich an Richard.
"Hast du Jannie gesehen? Es ist Zeit für ihren Unterricht. Normalerweise versäumt sie ihn nie."
Richard schüttelte den Kopf.
"Nein, tut mir Leid, Mischa. Aber ich weiß nicht, wo sie steckt. Sie war schon nicht beim Frühstück. Aber sie steckt ja oft mit Knurps zusammen. Vielleicht weiß der, wo sie ist."
Das Skelett steckte den Kopf in die Tür des Bergfrieds, drehe sich dann aber um und rief:
"Knurps ist auch nicht da. Um diese Zeit müsste er aber schon längst schlafend auf seinem Lager liegen."
Richard wurde unruhig. Jannie nicht da. Knurps nicht da. Merling verschwunden. Was war nur los?
"Was hat es mit diesem Janus auf sich," fragte er Quatzkotl, dessen Zusammenzucken ihm nicht entgangen war.
"Janus ist zurzeit der Oberste der Fürsten der Finsternis," gab der Drachenkönig zurück. "Man nennt ihn auch den Zweigesichtigen, da sein Kopf zwei Gesichter trägt. Das eine ist das eines gutaussehenden normalen Mannes. Das andere hat noch niemand beschreiben können, denn wer es sieht, wird von einem Moment zum anderen zu Stein."
"Und anscheinend macht er Jagd auf Menschen," warf der Graf ein, der inzwischen seine Flasche geholt hatte.
"Hitzli Putzli, Flaschengeist. Zeige dich! Sag was du weißt!" murmelte er.
Die Flasche wurde durchsichtig. Der kleine Gnom wurde auf- und abtanzend sichtbar.
"Ich weiß schon, was du fragen willst, hihihihi!" wisperte der Geist. "Janus hat die beiden noch nicht. Aber er wird sie bekommen! Gleich! Hihihihih! Das Mädchen mit dem Glückshaar wird ihm gefallen! Hihihihihi!"
"Glückshaar?" fragte der Graf erstaunt.
"Ja! Jannie, meine Tochter, hat magisches Haar. Wer es berührt hat fortan Glück."
"Das hat uns gerade noch gefehlt!" stöhnte der Graue, der sich inzwischen dazugesellt hatte. "Ich weiß zwar nicht, was ein Fürst der Finsternis ist, finde aber, dass es sich schon unheimlich genug anhört. Was immer er auch kann oder gekonnt hat. Wenn das mit dem Glückshaar des netten Mädchens stimmt, ist seine Gefährlichkeit wohl kaum noch zu überbieten."
Quatzkotl nickte bestätigend.
"Wir werden die beiden suche. Hoffentlich sind wir schneller als Janus."
Er wandte sich an Cillie. 
"Fliege du bitte schon mal voraus. Ich werde mich an alle Drachen wenden, die ich erreichen kann. Wir müssen alles zusammentrommeln, was wir haben. Anschließend komme ich nach."
"Und ich werde alle Gnome, Trolle, Feen und Elfen des Waldes alarmieren," schlug Mischa vor. "Janus ist schon mächtig genug. Wir dürfen nicht völlig hilflos werden."

***

Am Nachmittag des folgenden Tages waren schließlich alle Getreuen versammelt. Alle Helden hatten sich eingefunden und draußen vor dem Schloss hielten sich mehr als hundert Drachen auf. Eine gewaltige Streitmacht aus Erd-, Feuer- und Luftdrachen, die nur darauf brannte, ihrem König und seinen Freunden zu helfen. Selbst Leviathan, der Erdrache, von dem man sagte, er sei so alt wie die Erde selbst, war erschienen. Seine stahlharten Schuppen schimmerten blau und seine roten Augen sprühten Feuer, während seine Klauen unruhig den Boden aufwühlten. Zwischen den Drachen und den Fürsten der Finsternis bestand eine alte Feindschaft. Kein Drache würde sich einen Kampf gegen die Fürsten entgehen lassen.
"Wenn das nur gut geht," orakelte Winnimee, Quatzkotls alte Mutter. "Es geht die Sage, dass Janus weder durch Stahl noch durch Drachenfeuer besiegt werden kann. Er ist mächtiger als alle anderen Fürsten der Finsternis zusammen."
"Wir müssen es versuchen, Mutter!" gab Quatzkotl zurück. "Es geht nicht anders!"
"Aber mein Püppelchen bleibt hier!" bestimme Winnimee energisch. "Liebelein darf keiner Gefahr ausgesetzt werden." Dabei drehte sie sich zu dem kleinen schwarzen Jungen um und verschlang ihn mit ihren Blicken.
"In Ordnung!" stimmte Quatzkotl zu. Der Junge war zwar nicht ganz einverstanden, beugte sich aber der Autorität seines Vaters und Königs.
In diesem Augenblick kam Cillie von ihrer Suche zurück. In einer Klaue hielt sie einen großen Körper: Knurps.
Als sie landete verwandelte sich die anfängliche Freude der anderen in jähes Entsetzen: Knurps war vollständig zu Stein geworden. Janus hatte seine Macht gezeigt. Der Flaschengeist hatte nicht gelogen.
Cillie war etwas außer Atem:
"Ich habe Knurps auf einer Lichtung im Wald gefunden," japste sie. "Ganz in der Nähe gibt es einen Berg mit dem Eingang zu einer Höhle. Im Höhleneingang fand ich das hier."
Sie hielt ein blaues Bändchen in die Höhe.
"Das gehört Jannie!" rief Richard. "Sie trägt es immer im Haar."
"Wenn Janus in der Höhle haust, dann ist sie in seiner Gewalt," erkannte der Graf und richtete die folgenden Worte an seine Ritter:
"Auf, auf, ihr Mannen! Richtet Eure Rüstungen, gürtet Eure Schwerter. Wir werden diesen Leuten Beistand leisten gegen alles Böse!"
Mit grimmig entschlossenen Gesichtern schickten sich die Männer an, dem Befehl ihres Herrn Folge leisten.
"Ich weiß den Heldenmut Eurer Männer zu schätzen, Herr vom Westlichen Gehölz," versicherte Richard. "Aber seid Ihr sicher, dass Ihr Eure Gefolgsleute in diesen aussichtslosen Kampf schicken wollt? Sie haben keinerlei Erfahrung mit magischen Kräften. Sie sind daher in diesem Kampf besonders gefährdet," gab Richard zu bedenken.
"Macht Euch darum keine Sorgen. Meine Männer sind die besten Schwertkämpfer des Landes. Es gibt niemanden, der sie zu bezwingen vermag."
Richard ließ nicht locker, da er sich ernsthafte Sorgen um die Ritter machte.
"Ich hege am Mut und der Entschlossenheit Eurer Getreuen keinen Zweifel," erklärte Richard. "Dennoch wäre es mir lieber, wenn sie hier auf der Burg blieben, um meine Frau, die alte Drachin und Quetzalkoatlus zu schützen. In wenigen Stunden werden alle magieerfahrenen Kämpfer bei der Höhle im Walde sein. Ich lasse meine Lieben ungern schutzlos zurück."
Der Graf zögerte, denn die Worte des Königs klangen logisch. Da hatte Richard eine Idee.
"Gottlieb vom Westlichen Gehölz. Was haltet Ihr von einem Zweikampf zwischen dem kleinen Geflügelten neben mir, der der Anführer der Finsterwaldkobolde ist, und einem Eurer Ritter? Verliert er, bleibt Ihr mit Euren Mannen in der Burg zurück. Gewinnt er, so ist bewiesen, dass Eure Leute auch Kämpfer mit magischen Kräften nicht zu fürchten brauchen und uns zur Höhle begleiten können. Ist es so recht?"
Der Graf wechselte einen kurzen Blick mit dem Graubart. Dieser nickte und sagte:
"Ich bin der beste Schwertkämpfer in dieser Runde. Darüber hinaus trage ich das Schwert Drachentöter. Der Drachenkönig dort, der Goldene, hat Anspruch auf dieses Schwert erhoben. Wenn ich den Kampf gegen den Kobold gewinne, habe ich nicht nur meine Kampfkunst gegenüber einem magischen Wesen bewiesen, sondern auch, dass ich dieses Schwert zu Recht trage und darf es auch behalten. Einverstanden?"
Richard blickte zu Quatzkotl. Dieser nickte mit dem Kopf. Er war einverstanden.
Die Menge verteilte sich im Schlosshof. Sie umringte die beiden Schwertkämpfer, die sich in der Mitte des Kreises aufhielten.
"Ein Wort noch zu den Spielregeln in diesem Kampf," warf Richard ein. "Gandolf Wichmann, der Waffenmeister des Grafen, wird versuchen, das Tor des Bergfrieds zu durchschreiten. El Pitto Gnomo wird das zu verhindern suchen! Dies ist kein Kampf auf Leben und Tod. Derjenige, der seinem Gegner eine schwere Wunde zufügt, hat den Kampf sofort verloren. Die beiden Wettkämpfer sollen uns die Kunst des Schwertkampfes zeigen. Nicht die des Tötens."
Die Menge veränderte die Form des Kreises so, dass sich eine Öffnung zum Bergfried hin bildete. El Pitto Gnomo stelle sich vor der Tür auf, stützte die knorrigen Ärmchen auf sein Schwert und sagte grinsend: "An mir kommt keiner vorbei!"
Der Graubart zog sein Schwert und ließ es durch die Luft sausen. Dann setzte er es in kreisende Bewegungen, bis es nur noch als Schemen zu erkennen war. Unheilvoll dröhnte der Schwung der magisch gehärteten Klinge durch den Burghof. Langsam schritt Gandolf auf den Gnom zu, der seinen Blick aufmerksam auf die kreisende Klinge richtete. Näher und näher rückte der Graubart. Er verstärkte den Schwung des Schwertes. Das wummernde Geräusch steigerte sich zu einem hellen Singen. Plötzlich riss der Gnom seinen Zweihänder hoch und stieß ihn inmitten des silbernen Luftkreises. Zugleich mit einem stählernen Klingen verstummte das Sirren der Luft. Die Kämpfer standen sich dicht an dicht gegenüber. Die Schwerter standen in der Luft und hemmten sich gegenseitig. Der Gnom und der Ritter drückten mit aller Kraft, um den anderen zur Aufgabe zu bewegen. Schweiß lief ihnen von der Stirn. Dann gaben sie den Kraftakt auf und schlugen mit ihren Waffen aufeinander ein. Doch keiner konnte die Abwehr des anderen überwinden. Krachend und dröhnend mit metallischem Klang schlugen die Schwerter gegeneinander. Wieder und wieder. Funken stoben. Keuchend und schwitzend zertrampelten die Recken den Boden. Keiner wollte aufgeben. Die magische Kraft des einen und die magische Kraft des Schwertes des anderen blockierten sich gegenseitig. Niemand schien diesen Kampf gewinnen zu können. Endlich holten beide Kämpfer zugleich zu einem gewaltigen Schlag aus. Jeder legte seine ganze Kraft in sein Schwert. Mit donnerndem Krachen schlugen die Klingen gegeneinander. Ein greller Blitz blendete die Augen der Zuschauer. Als alle wieder unbehindert sehen konnten, bot sich ihnen ein erstaunliches Bild: Durch den ungeheuren Schlag war El Pitto Gnomos Schwert geborsten. Der Gnom hielt nur einen unnützen Stumpf in der Hand. Gandolf jedoch hatte Drachentöter verloren. El Pitto Gnomo hatte es ihm aus der Hand geschlagen. Es lag weitab im Sand.
Die beiden gaben sich die Hand.
"Sag ich doch: An mir kommt keiner vorbei," grinste der Gnom und keuchte schwer.
Quatzkotl trat in den Kreis.
"Da ich einen Anspruch auf das Schwert Drachentöter erhoben habe, steht es mir auch zu, den Ausgang dieses Kampfes zu bewerten. Sind alle mit damit einverstanden?"
Als niemand Einspruch erhob, wendete er sich den beiden Kämpfern zu.
"El Pitto Gnomo hat es dank seines magischen Talents geschafft, dem Zauberschwert Drachentöter zu widerstehen. Gandolf seinerseits ist es nicht gelungen, den Bergfried zu erreichen. Gandolf hat das Schwert des Kobolds zerschlagen, war aber seinerseits nicht in der Lage, sein eigenes Schwert festzuhalten und hat es verloren."
Er drehte sich der Menge zu.
"Ist das so richtig?"
Beifälliges Gemurmel antwortete ihm. Der Drache nickte zufrieden.
"So höret denn mein Urteil: Wir haben es hier mit zwei ausgezeichneten Schwertkämpfern zu tun. Noch nie sah ich einen anderen der Kraft des Kobolds so lange widerstehen wie ich es bei Gandolf sah. Natürlich hatte die magische Kraft Drachentöters ihren Anteil daran. Doch ich habe auch gesehen, dass Gandolf, der Graue, über große Kraft und ebensolches Geschick im Schwertkampf verfügt, denn auch ein magisches Schwert will gut geführt sein. Niemand hat diesen Kampf gewonnen und niemand hat diesen Kampf verloren. Gandolf hat bewiesen, dass er Drachentöter zu Recht sein Eigen nennt. Wenn wir dieses Abenteuer hinter uns haben, werde ich entscheiden, ob ich meine Ansprüche auf dieses Schwert geltend machen werde. Bis dahin herrsche Frieden zwischen dem Grauen und mir!"
Die Zuschauer spendeten diesen Worten Beifall. Der Drachenkönig hatte bewiesen, dass er ein gerechter Richter war.
"So höret denn meine Worte!" rief der Graf. "Gandolf wird sich mit zehn Rittern der Streitmacht gegen Janus anschließen. Die anderen bleiben mit mir hier, um die Burg zu schützen. So ist den Interessen aller Genüge getan!"

***

Als Jannie erwachte, hing sie an einem seidenen Faden einige Fuß über dem steinernen Boden eines finsteren Gewölbes. Sie war nicht allein. Neben ihr baumelten andere Wesen wie sie an einem Seil von der Decke herab. Im Gegensatz zu ihr aber waren alle Figuren aus Stein. Die Gestalten, die sich leicht in einem kaum spürbaren Luftzug drehten, sahen erschreckend lebensecht aus. Fast schien es, als wollten sie gleich die Augen aufschlagen, aus einem tiefen Schlaf erwachen.
"Sieht hübsch aus, nicht war?" fragte ein angenehme Stimme unter ihr. "Ich habe schon eine ansehnliche Sammlung dieser Figuren."
Jannie senkte den Kopf so weit wie es ihr möglich war und erkannte einen Mann, der unter ihr stand. Jetzt erinnerte sie sich wieder! Sie war zusammen mit Knurps unterwegs gewesen, um Merling zu suchen. Als sie auf eine Lichtung traten, war Knurps plötzlich versteinert. Sie selbst hatte einen fremden Mann auf der Lichtung stehen sehen, dessen Gesicht so unbeschreiblich schrecklich ausgesehen hatte, dass sie vor Entsetzen ohnmächtig geworden war.
Jetzt sah das Gesicht des Mannes aber ganz normal aus. Oder stand da ein ganz anderer? 
"Wer bist du?" fragte Jannie neugierig und gar nicht ängstlich.
"Oh! Entschuldige! Ich bin Janus. Hast du schon von mir gehört?"
Jannie schüttelte den Kopf.
"Nein!" gab sie wahrheitsgemäß zurück.
"Na, das ist auch nicht nötig," erwiderte Janus. "Wichtig ist, dass ich von dir und deinem Glückshaar gehört habe. Diese Höhle wird nämlich von einer kleineren Drachen- und Ritter-Armee belagert. Nicht, dass ich sie ernsthaft fürchten müsste - aber ein bisschen Glück kann da nicht schaden."
Janus schwebte zu ihr hoch und strich ihr mit einer Hand über das Blondhaar. 
"So," sage er. "Genug davon."
Er ließ sich wieder hinunter und schritt eilig davon.
Jannie hatte sich vor der Berührung des Dämons regelrecht geekelt, aber auch keine Möglichkeit gehabt, sich ihr zu entziehen. Mit leisem Schaudern sah sie ihm nach. Hoffentlich kam der Kerl nicht so schnell wieder! Eine ganze Armee stand also draußen vor der Höhle und belagerte sie? Das konnten nur die Leute ihres Vaters und seiner Verbündeten sein. Sie war nicht ganz so sicher, dass Janus mit dieser Truppe fertig werden konnte. Sie schloss die Augen, da sie den Anblick der stummen und reglosen Gestalten, die sacht im Wind schaukelten, nicht mehr ertragen konnte. Sie bemühte sich, an etwas Schönes zu denken, damit ihr Herz aufhörte so schnell zu schlagen. Mit einiger Mühe schaffte sie es schließlich, sich einigermaßen zu entspannen und schlief schließlich sogar ein.

***

Quatzkotl hatte inzwischen seine Streitmacht vor der Höhle zusammengezogen. Er überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Da er diese Höhle nicht kannte, hielt er es für das beste, zunächst einen Erkundungstrupp loszuschicken, der das Gebiet erforschen sollte.
Er beauftragte zwei Erddrachen damit, in die Höhle einzudringen, da ihm diese aufgrund ihrer Erdverbundenheit die beste Wahl für dieses heikle Unternehmen zu sein schienen. Cillie verwandelte sich in eine Fledermaus, die sich auf einem der Drachen niederließ. Im Falle einer direkten Konfrontation mit Janus würde sie schnell davonfliegen können. Fledermäuse finden sich nämlich auch im Dunkeln zurecht. Cillie würde ihre Augen nicht gebrauchen müssen und so nicht in Gefahr geraten, versteinert zu werden.
Die beiden Drachen stampften los. Sie verspürten beim Eindringen in die Höhle keinerlei Unbehagen, denn zum einen kennen Drachen von Natur aus keine Angst und zum anderen fühlten sie sich in der Tat in jeder Höhle wohl. Höhlen waren dunkel, angenehm kühl und feucht - also ganz nach dem Geschmack der beiden. Das fehlende Licht bereitete ihnen auch keine Probleme. Drachen, insbesondere Erddrachen, können in der Dunkelheit nämlich ebenso gut sehen, wie am lichten Tag. Ihre Augen leuchteten die Gänge aus wie Scheinwerfer als sie voranschritten.
Der Eingang der Höhle verengte sich nach kurzer Zeit zu einem schmalen, niedrigen Gang, der leicht geneigt in die Tiefe führte. Es herrschte Stille. Nur die schnaufenden Atemgeräusche der Drachen waren zu hören. Nach einiger Zeit erweiterte sich der Gang zu einer großen Grotte, von der mehrere kleiner Gänge abzweigten, die sich in der Dunkelheit verloren.
"Was nun?" grunzte einer der Drachen. Erdrachen sind nicht besonders klug. Die Situation überforderte den Verstand der beiden.
"Wir fordern weitere Erdrachen an!" beschloss Cillie, entfaltete die Flügel und flog nach draußen, um mit Quatzkotl zu sprechen.
Dieser teilte ihr sechs weitere Drachen zu, darunter Leviathan, der der Aufforderung seines Königs mit Freuden nachkam und eilends in der Höhle verschwand. In der Grotte erwartete sie aber eine Überraschung: die beiden ersten Erddrachen waren zu Stein geworden.
"Janus muss hier gewesen sein!" erkannte Cillie. "Die beiden haben sich überrumpeln lassen!"
Leviathan stimmte ihr brummig zu.
"Noch nicht einmal Feuer gespieen haben sie. Das würde ich riechen!" knurrte er erbost. "Das ist eines Erddrachens nicht würdig."
Was aber nun? Janus konnte in jeder dieser Abzweigungen stecken und die Angreifer allein durch sein Erscheinen außer Gefecht setzen. Wie kam man ihm bei?
"Jeder von uns nimmt sich einen der Gänge vor," bestimmte Leviathan. "Alle fünf Schritte geben wir einen Feuerstoß nach vorne ab. Die Hexe bleibt hier, denn es wird hübsch warm werden. Uns macht die Hitze nichts aus. Aber jedem anderen Wesen wird es zu heiß werden!"
Cillie sah ein, dass sie sich dem Drachenfeuer nicht aussetzen durfte. Sie löste sich also von ihrem Drachen und hängte sich kopfüber an die Höhlendecke, wie es Sitte ist bei den Fledermäusen.
Die Drachen drangen in die Seitengänge ein. Fauchend entluden sich ihre Feuerlanzen. Selbst in der Grotte wurde es fast unerträglich heiß. Weiter und weiter marschierten die Drachen. Hinein in das finstere Versteck des Dämons, dem sie bald begegnen mussten.
Klirrende Schritte vom Eingang her zeugten davon, dass Quatzkotl Ritter zu Unterstützung der Drachen herbeigeordert hatte. Die Helden verteilten sich vor den Gängen und warteten, bis sich die hohen Temperaturen gelegt hatten. Dann schritten sie den Drachen nach. Sie waren nicht allein. Zwerge, mit Äxten bewaffnet, und Kobolde begleiteten sie. Zwerge und Kobolde kannten sich in Höhlen fast so gut aus wie Drachen. Es war schon eine starke Truppe, die Quatzkotl da zusammengestellt hatte. Nach und nach verstummte das Klirren der Waffen und Rüstungen, als die Ritter und ihre Begleiter in den Tiefen der Gänge verschwunden waren.
Cillie hielt es an ihrer Decke nicht mehr aus. Sie entfaltete ihre Flügel und schwebte in den Gang, den die Kämpfer genommen hatten. Sie wollte wissen, wie es drunten aussah. Dank ihrer Fähigkeiten konnte sie trotz der Dunkelheit ein flottes Flugtempo vorlegen und erreichte so bald die Nachhut der Truppe.
"Wir haben uns mit Leviathans Gruppe vereinigt," teilte ihr ein Kobold mit. "Die Gänge gehen teilweise wieder ineinander über. Wir haben festgestellt, dass es jetzt nur noch vier Gänge sind, die weiterführen. Irgendwann müssen wir auf Janus treffen."
Wie zur Bestätigung seiner Worte erklang plötzlich von vorne großes Geschrei. Ein gewaltiger Feuerstoß erhellte den Gang. Waffengeklirr zeugte davon, dass zumindest der vordere Abschnitt der Gruppe in einen Kampf verwickelt wurde. Die hinteren Kämpfer drängten vor, um die anderen zu unterstützen. Doch zu Cillies Entsetzen verringerte sich die Zahl der Angreifer schnell. Ein fahles Leuchten schob sich wie ein furchtbarer Umhang über ihre Verbündeten. Alle, die direkt in dieses Leuchten hineinblickten, wurden augenblicklich zu Stein. Bevor sie selbst jedoch von diesem Schein erfasst wurde, erklang das typische Sausen Drachentöters. Gleichzeitig erhellte der Schein eines Feuerstrahls die Dunkelheit. Es ertönte ein grausiger Schrei. Ein urtümlicher, unheimlicher Ruf voller Wut und Schmerz. Das Leuchten erlosch schlagartig. Eilige Schritte entfernten sich in der Dunkelheit. Nur ein sanftes Glühen der von dem Feuerstoß des Drachen erhitzen Wände spendete soviel Licht, dass Cillie sich ein Bild von der Lage machen konnte. 
Alle ihre Begleiter waren ausnahmslos in Stein verwandelt worden. Mit bebendem Herzen flog sie nach vorne, um mehr zu sehen. Der Graue stand wie eine Statue da, Drachentöter in seiner Hand. Leicht nach vorne gebeugt, den rechten Arm nach links gezogen, als habe er gerade einen Schwertstreich ausgeführt. Und wirklich: Frisches, schwarzes Dämonenblut schimmerte an seiner Schneide. Die Waffe selbst war unbeschädigt und ganz sie selbst: Janus Zauberkraft schien ihr nichts ausgemacht zu haben. Nur für ihren Besitzer kam jede Hilfe zu spät. In steinerner Unbeweglichkeit stand er da wie alle anderen aus seiner Gruppe auch.
Cillie nahm ihren ganzen Mut zusammen, verwandelte sich in einen Meisterdieb und entwand das Zauberschwert der steinernen Hand des Ritters.
Anschließend machte sie sich auf den Weg in die Oberwelt.

***

"So geht das nicht weiter, Quatzkotl!" sagte sie zu ihrem Gatten. "Janus ist in diesem Höhlenlabyrinth einfach unangreifbar. Wir kommen nicht an ihn heran."
"Er kommt aber auch nicht mehr weg hier," gab Quatzkotl zurück. "Ich vermute, dass er seine Menschensammlung in dieser Höhle versteckt. Er wird seine wertvolle Beute nicht aufgeben wollen. Wir sind in einer klassischen Patt-Situation. Er kommt nicht weg, weil wir mit unserer Drachentruppe die Lichtung blockieren, und wir kommen unsererseits nicht an ihn heran, weil seine Magie einfach zu mächtig ist."
"Was ist, wenn er einfach herauskommt, um uns anzugreifen?"
"Das würde ihm nicht viel nützen. Das tödliche Leuchten, das von seinem Zweiten Gesicht ausgeht, kann bei Tageslicht nicht so intensiv wirken, wie in der Dunkelheit. Bei guten Lichtverhältnissen muss er seinem Opfer direkt gegenüberstehen, um es zu versteinern. Dabei würden wir ihn unter Drachenfeuer nehmen. Wir können ihm zwar nicht ernsthaft schaden, aber selbst ihm dürfte die Hitze unerträgliche Schmerzen bereiten. Eine direkte Konfrontation mit uns wird er bei Tageslicht nicht wagen."
"Was sollen wir also machen?" fragte Cillie hartnäckig.
"Wir sollten zur Weißen Alraune gehen," schlug El Pitto Gnomo vor.
"Genau! Sie ist immer auf unserer Seite gewesen!" bestätigte Richard. "Vielleicht kennt sie sogar ein Mittel, um die Versteinerten wieder zurückzuverwandeln."
Quatzkotl nickte. Diese Handlungsweise schien in der gegenwärtigen Situation die einzig Erfolg versprechende zu sein.
"Gut!" stimmte er darum seinen Freunden zu. "Ich bleibe mit meinen Drachen hier. Einem anderen als mir würden sie ohnehin nicht folgen. Cillie sollte auch hier bleiben. Sie ist die einzige, die relativ gefahrlos in die Höhle gehen kann, um Erkundungsflüge zu unternehmen. Ich schlage vor, dass ihr zwei geht."
Richard und der Kobold waren einverstanden, winkten ihren Freunden noch einmal zu und machten sich dann auf den Weg zur Alraune.

***

Jannie schreckte durch ein lautes Stöhnen auf, das unmittelbar unter ihr erklang. Sie hing immer noch an ihrem Seidenfaden und konnte sich nicht rühren.
Sie schaute herab und sah Janus auf dem Boden liegen. Er wand sich vor Schmerzen. Der Dämon merkte, dass er beobachtet wurde und blickte sie hasserfüllt an. 
"Das hat man nun davon, wenn man auf dein Glück vertraut, du hässliches Gör! Unvorsichtig bin ich gewesen und schon hat es mich erwischt!"
"Was ist denn passiert?" fragte Jannie, die den Unheimlichen beruhigen wollte.
"Was passiert ist willst du wissen? Ha! Eine ganze Horde von Drachen ist unter Begleitung von Rittern, Zwergen und Kobolden in meine Höhle eingedrungen. Normalerweise kein Problem für mich! Aber einer der Ritter hatte das Zauberschwert Drachentöter dabei. Normalerweise hätte ich es sofort an seiner magischen Ausstrahlung erkannt und mich vorgesehen. Ich fühlte mich aber zu sicher. Er traf mich an der Hüfte und gleichzeitig spie dieser elende Leviathan sein Feuer auf mich."
Janus schloss die Augen und stöhnte.
"Ahh! Dieser Schmerz!"
"Dann gib doch auf und lass dich versorgen," schlug Jannie vor. "Vater kennt gewiss jemanden, der dir helfen kann!"
"Für wie blöd hältst du mich eigentlich?" schnauzte Janus sie an. "Du vergisst, dass meine magische Kraft nahezu unendlich ist. Diese Wunde wird sich bald wieder schließen. Drachenfeuer kann mir normalerweise nichts Ernsthaftes anhaben. Nur in Zusammenwirkung mit der Schwertverletzung hat es der Drachen überhaupt geschafft, mich vorübergehend auszuschalten. So ein Pech aber auch!"
"Es kann auch Glück gewesen sein," überlegte Jannie laut, die sich dachte, dass sie für den Dämonen nicht mehr von Nutzen war, wenn er zu der Überzeugung kam, dass sie ihm kein Glück brachte. "Immerhin hat dich das Schwert an der Hüfte getroffen und nicht deinen Hals durchschlagen."
Janus richtete sich auf. Die Schmerzen schienen bereits nachzulassen. Seine Augen sprühten vor Zorn.
"Du willst mich wohl für dumm verkaufen, was?" zischte er. "Du bringst mir kein Glück, sondern Unglück. Ich kann dich nicht mehr brauchen!"
Bei diesen Worten drehte er seinen Kopf um 180 Grad. Jannie sah sein Zweites Gesicht. Der Anblick war so unbeschreiblich furchtbar, so grauenhaft, dass sie sofort zu Stein wurde.

***

Richard und El Pitto Gnomo hatten unterdessen die Höhle der Alraune erreicht.
"Ihr kommt spät!" sagte die magische Pflanze vorwurfsvoll. "Ich hatte euch eher erwartet."
"Wir hatten geglaubt, das Problem allein lösen zu können," entschuldigte sich Richard. "Wir hatten nicht gedacht, dass Janus ein so harter Brocken ist."
"Ach du meine Güte! Wie kann man nur so naiv sein, zu glauben, den obersten Fürsten der Finsternis mit einer Handvoll Drachen zu besiegen!" stöhnte die Alraune. "Drachenfeuer und Stahl kann ihm nichts anhaben. Das weiß Quatzkotl doch schon."
"Was sollen wir tun? Wie können wir den Versteinerten helfen? Gibt es Rettung für Jannie und Merling?" sprudelte Richard hervor.
"Nicht so schnell!" mahnte die Alraune. "Jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist Umsicht geboten. Außerdem darf ich deine Fragen nicht direkt beantworten. Ich kann immer nur indirekte Hinweise geben. Das weißt du doch!"
Richard nickte verstehend. Die Antworten der Alraune waren nicht immer leicht zu verstehen. Aber sie wusste immer einen Rat.
"Also," fuhr die Alraune fort. "Der Drachen Feuer und der Schwerter Stahl bereiten keine ernste Qual. Doch bedenket die Taufe des Letzten Königs und ihr werdet die einzig mögliche Lösung finden! Die Steinernen sind auch zu retten. Schickt Quetzalkoatlus nach einem Traumwächter. Der Preis ist hoch, aber er muss ihn zahlen."
Danach schwieg die Alraune. Sie würden keinen einzigen Ton mehr aus ihr herausbekommen. 
"Lass uns zum Schloss zurückkehren. Dort ist Quetzi. Er ist der Schlüssel zu Lösung unseres Problems," schlug der Kobold vor. Richard nickte nachdenklich. Was war nur bei der Taufe Besonderes passiert? Es wollte ihm einfach nicht einfallen.

***

Auf Schloss Drachenburg war es ruhig. Der Graf sprach leise mit seinen Rittern, wandte sich aber dann den Ankömmlingen zu. Auch Winnimee und der Jungdrache kamen heran.
Richard erläuterte kurz die Situation und schloss mit den Worten:
"Wenn ich nur wüsste, was so Besonderes auf der Taufe los war. Es will mir nicht einfallen."
"Aber ich!" riefen Winnimee und Quetzi wie aus einem Munde. Großmutter und Enkel sahen sich lachend an. Beide hatten zugleich denselben Gedanken gehabt.
"Die Lösung heißt Hydra!" fuhr Quetzi fort. "Sie kann kein Feuer speien, ist aber dafür so giftig, dass es selbst für Janus reichen dürfte. Wir müssen nur dafür sorgen, dass sie nah genug an ihn herankommt, um ihn beißen zu können."
"Das ist es!" rief El Pitto Gnomo begeistert. "Magisches Gift! Dass wir nicht eher daran gedacht haben!"
"Ich fliege sofort los und hole die Hydra!" fauchte Winnimee erregt. "Jetzt geht es Janus endlich an den Kragen."
Rauschend entfaltete sie ihre ledrigen Schwingen und hob ab. Schnell war sie den Blicken der anderen entschwunden.
"Jetzt bleibt nur noch die Sache mit dem Traumwächter," erinnerte sich Richard. "Weiß jemand, was das überhaupt ist?"
"Natürlich," meldete sich Mischa, der sich ohne seine Schülerin Jannie tagsüber schrecklich langweilte. Sein Kumpel George spukte nämlich nur in der Nacht. Tagsüber versteckte er sich nach Geisterart in den Gewölben der Burg.
"Ein Traumwächter dringt in die Träume von Schläfern ein und lenkt diese. Man bezeichnet die Traumwächter deshalb auch häufig als die Herren der Träume."
"Ein Wesen, das Träume lenken kann?" fragte Richard erstaunt. Davon hatte er noch nie gehört.
"Ja," bestätigte der Jungdrache. "Viele schwere Krankheiten werden durch schlechte Träume verursacht. Ein Traumwächter ist in diesem Sinne auch ein Heiler. Leider gibt es nicht sehr viele, und sie sind sehr teuer."
"Die Alraune sagte, dass du den Traumwächter suchen und auch du den Preis zahlen musst," sagte Richard.
Der kleine Drache schluckte.
"Wenn es denn das Schicksal von mir verlangt," erwiderte er tapfer, "so werde ich es tun müssen. Ich weiß nur nicht, wo ich den nächsten Traumwächter finden kann."
Alle anderen zuckten auch mit den Schultern. Die Ritter und ihr Graf hatten noch nie in ihrem Leben von einem derartigen Wesen gehört und auch Richard und El Pitto Gnomo wussten von nichts.
"Fragen wir den Flaschengeist," schlug der Graf vor und holte die Flasche hervor.
"Hitzli Putzli, Flaschengeist," sprach er. "Zeige dich! Sag was du weißt!"
Die Flasche wurde durchsichtig. Das auf und ab hüpfende Männlein fragte: "Was willst du, Graf?"
"Wo finde ich den nächsten Traumwächter?"
"Was willst du mit einem Traumwächter?"
"Beantworte meine Frage, Geist!" befahl der Alte. "Noch bin ich dein Herr und Meister. Noch gehört dir meine Seele nicht. Noch musst du mir gehorchen und nicht ich dir!"
"Schon gut!" gab der Geist zurück. "Ich halte mich an die Spielregeln. Den nächsten Traumwächter findest du im Riesengebirge. Er heißt Dommerjahn und er ist sehr teuer. Aber er ist auch der beste. Genaueres kann ich dir nicht sagen. Frag Rübezahl. Der kann dich zu ihm führen!"
Damit verstummte der Geist. Die Flasche wurde wieder milchig.
Der Graf blickte auf.
"Das war’s," sagte er. "Mehr werden wir nicht aus ihm herausbekommen."
"Rübezahl ist doch der mächtige Berggeist des Riesengebirges," warf El Pitto Gnomo ein. "War er nicht auch auf Quetzis Taufe?"
"Stimmt, das war er!" bestätigte der Jungdrache. "Lass uns keine Zeit verlieren. Ich fliege sofort los."
Der schwarze Junge mit dem roten Haar verwandelte sich in seine natürliche Gestalt: Einen halbwüchsigen kohlpechrabenschwarzen Drachen, dessen Schuppen prachtvoll in der Sonne schimmerten.
Den Rittern entfuhr ein achtungsvolles "Ahh" und "Ohh" als sie den schönen Drachen sahen, der seine kleinen Schwingen entfaltete und elegant davonflog.
Auf Winnimee und die Hydra mussten sie aber noch bis zum Abend warten.
In der aufkommenden Dämmerung bot die Hydra einen derart abscheulichen Anblick, dass auch die Ritter und ihr Graf eingeschüchtert in der Nähe des Bergfrieds zurückblieben: Neun unruhig auf Schlangenhälsen hin- und herzuckende Köpfe. Neun mit nadelscharfen Zähnen gespickte Mäuler, von denen unablässig ein magisches Gift troff, das jeden Menschen schon beim geringsten Hautkontakt auf der Stelle getötet hätte. Ein plumper Körper auf kurzen, stämmigen Beinen. Grosse Flügel und eine schrille Stimme. Das war die Hydra. Der abscheulichste Drachen aller Zeiten.
"Janus ist da, hörte ich?" kreischte sie. "Kann den Kerl nicht leiden. Ich bin ihm bisher aber lieber immer aus dem Weg gegangen. Er ist gefährlich!"
"Sie hat Angst!" entfuhr es einem der Ritter unbedacht.
"Angst?" kreischte die Hydra. Sie warf ein halbes Dutzend ihrer Köpfe herum und richtete sie auf die Ritter. "Wer hat das gesagt?"
Natürlich regte sich keiner der Männer auch nur um einen Millimeter von der Stelle.
"Selber Angst!" zischte sie. "Scheinbar ist Janus nicht der einzige, der andere in Stein verwandeln kann. Ihr seid ja vor Angst wie versteinert. Und ihr wollt Helden sein? Pah!"
Dann wandte sie sich an Richard.
"Lass uns abhauen!" schlug sie vor. "Ich kann den Anblick dieses feigen Gewürms nicht mehr ertragen."
Richard und El Pitto Gnomo leisteten der Aufforderung der Drachin Folge. Es war nicht gut, die Hydra zu reizen. Beide kletterten auf ihren Rücken, und in brausendem Drachenflug ging es zur Lichtung.

***

Dort hatte sich in der Zwischenzeit einiges getan. Auf der freien Stelle zwischen Wald und Höhle standen wahllos verstreut einige steinerne Drachenstatuen herum. 
Als sie landeten kam ihnen Quatzkotl erleichtert entgegen.
"Endlich seid ihr da! Wir können uns nicht mehr lange halten. Janus kommt immer wieder für kurze Zeit aus der Höhle heraus und verwandelt den einen oder anderen von uns zu Stein, bis er dem massiven Drachenfeuer nicht mehr widerstehen kann und sich wieder zurückziehen muss. Auf die Dauer wird er aber den Sieg davontragen. Wir können ihn nicht ernsthaft verletzen, aber er kann unsere Zahl dezimieren."
"Das werden wir jetzt regeln!" versprach die Hydra, die von Richard und dem Kobold während des Fluges gut informiert worden war. "Jetzt nehme ich die Dinge in die Hand." 
Sie wendete sich El Pitto Gnomo zu. 
"Du nimmst Drachentöter und einen blank polierten Schild an dich. Wir werden jetzt zusammen mit den übrig gebliebenen Erddrachen in die Höhle gehen. Der Rest bleibt draußen und riegelt den Höhleneingang weiterhin ab. Janus darf die Höhle nicht mehr verlassen! Haltet den Eingang unter Dauerfeuer!"
Als die Gruppe die Grotte innerhalb der Höhle erreicht hatte sagte die Hydra:
"Ihr durchkämmt die Gänge und sucht Janus. Wenn ihr auf ihn trefft, zieht ihr euch sofort in Richtung dieser Grotte hier zurück. El Pitto Gnomo geht euch voran, um euch zu führen. Allerdings rückwärts. Dabei wird er den Schild wie einen Spiegel vor sich halten, so dass er gefahrlos das überblicken kann, was hinter seinem Rücken vorgeht. Janus Zweites Gesicht wirkt nämlich nur bei direktem Blickkontakt. Euch droht also keine Gefahr. Der Kobold wird Janus frühzeitig erblicken. Lasst euch auf keinen Kampf mit dem Dämonen ein. Reizt ihn mit eurem Feuer. Macht ihn wütend, so dass er seinen klaren Kopf verliert. Wichtig ist, dass ihr ihn hierher lockt, wo ich ihn erwarte! Los jetzt!"
Die anderen kamen der Aufforderung der alten Drachin ohne zu zögern nach. Sie war selbst ihren Artgenossen nicht ganz geheuer.
Langsam, da El Pitto Gnomo infolge seines Rückwärtsgehens nicht so zügig vorankam wie sonst, zogen sie ab. Die Hydra blieb zurück und behielt mit ihren neun Köpfen die Ausgänge im Blick. Sie war bereit. Sollte Janus doch kommen!
Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Zeit verrann und nichts geschah.
Da drang mit einem Mal das typische Fauchen an ihr Ohr, das immer dann ertönte, wenn ein Drache Feuer spie. Das Theater ging also endlich los. Ihre Freunde hatten Janus aufgespürt. Nach einiger Zeit verebbte das Fauchen. An seine Stelle trat ein Schleifen und Poltern, das die Ankunft der Drachen und des Kobolds ankündigte. Die Hydra machte sich bereit. Voller Anspannung wartete sie auf den entscheidenden Moment.
Schließlich tauchte der erste Drachenkopf auf.
"Schnell raus hier!" rief sie ihrem Artgenossen zu, der dieser Aufforderung nur zu gerne nachkam. So schnell er konnte polterte der Drache dem Ausgang der Grotte zu und kroch durch den Gang dem Ausgang der Höhle zu. Die anderen Ungeheuer folgten ihm. Schließlich trat auch der Kobold aus dem Gang, der die Drachen freigegeben hatte.
"Pass auf!" keuchte er. "Der Dämonenfürst kommt. Er hat es geschafft, mindestens drei der Drachen zu versteinern. Er ist ungeheuer mächtig!"
Doch die Hydra hörte schon nicht mehr hin. Die Fähigkeiten Janus waren ihr bekannt. Sie durfte sich jetzt nur nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sonst hatte auch sie keine Chance.
Plötzlich bekam der Kobold von hinten einen so mächtigen Schlag ins Kreuz, dass er wie ein Ball in die Grotte flog und keuchend auf dem Rücken liegen blieb. Eine schattenhafte Gestalt löste sich aus dem Gang und betrat die Grotte. Ein Kopf der Hydra zuckte gedankenschnell vor - war aber bereits zu Stein geworden, als er auf den Dämonen traf. Dieser wurde zwar durch die Wucht des Stoßes auf den Boden geworfen, kam aber mit dem Gift nicht mehr in Berührung.
Jetzt zeigten sich die Qualitäten des Koboldes. El Pitto Gnomo sprang auf, schwang das Zauberschwert und drang, den Schild wie einen Sichtschutz vor sich haltend, auf Janus ein. Seine magische Kampfkraft wurde durch die Magie des Schwertes gesteigert. Fast schien es so, als wäre das Schwert nur für den Kobold geschaffen worden. Der Gesang Drachentöters klang unheilvoll durch die Grotte. Schnell wie ein böser Gedanke und zielstrebig wie ein Pfeil suchte es sein Ziel. Der Kobold brauchte nur einen Wunsch zu denken, schon reagierte das Schwert wie von selbst. Ihre magischen Fähigkeiten ergänzten sich auf wundersame Weise.
Doch Janus beeindruckte das nur wenig. Schnell und geschmeidig wich er immer wieder den furchtbaren Streichen des Koboldes aus. Dabei versuchte er wieder und wieder, den Sichtschutz seines Gegners zu überwinden, um ihm sein entsetzliches Gesicht entgegenzuhalten. Wie er es dabei noch schaffte, auch der Hydra auszuweichen, blieb ein Rätsel. Janus war wirklich der mächtigste Dämon seiner Zeit.
Fast schien es, als würden Kobold und Drache an ihrer Aufgabe zerbrechen. Schon waren fünf Köpfe der Hydra zu Stein geworden, da passierte es: Janus stolperte über einen Stein und strauchelte. Für den Bruchteil einer Sekunde war er darin überfordert, gleichzeitig auf sein Gleichgewicht zu achten und den Kobold und die Hydra nicht aus den Augen zu verlieren. Einen Moment lang übersah er die noch aktiven Köpfe der Hydra. Drei zahnbewehrte Mäuler zuckten heran. Drei giftsprühende Gebisse schnappten zu. Ein abgrundtiefer Schrei drang aus dem Mund des Dämons. Sein Zweites Gesicht verlor seine entsetzliche Aura. Es erlosch wie ein Licht, das der Wind ausbläst. Janus drehte sein normales Gesicht nach vorne. Unendliche Qual und Pein stand in ihm geschrieben.
"Bei allen Dämonen und Ausgeburten der Hölle! Helft mir!" heulte er. "Das Gift der Hydra! Es glüht in mir. Es verbrennt mich! Nein, dieser Schmerz! Ich halte es nicht aus!" Dabei wand er sich am Boden wie eine verrücktgewordene Schlange.
El Pitto Gnomo hob sein Schwert, um es in einem letzten, entscheidenden Schlag auf den Kopf des Dämons niederfahren zu lassen. Doch die Hydra hielt ihn zurück.
"Lass ihn!" befahl sie. "Dein Schwert wird ihn nicht töten. Mein Gift auch nicht! Janus ist nicht zu töten. Er ist unsterblich wie das Universum selbst. Aber er wird diese Schmerzen bis in alle Ewigkeit zu ertragen haben. Es gibt kein Gegenmittel. Das soll die Strafe für alle seine Untaten sein!"

***

Sie ließen den hilflosen Janus in der Grotte liegen und machten sich auf den Weg nach oben, wo sie ihren Verbündeten über den Ausgang des Kampfes berichteten. Mit Hilfe der Ritter aus der Burg und dem Rest der ehemals so großen Truppe durchsuchten sie die Höhle und fanden schließlich Janus' Sammlung versteinerter Menschen und Drachen. Als sie die letzte Statue ans Licht des Tages holten, war Janus verschwunden. Er hatte sich wohl mit dem letzten Rest seiner Zauberkraft in sein Höllenreich zurückgezogen. Alle waren erleichtert. Nur Richard weinte, als er seine geliebte Tochter Jannie sah.
"Hoffentlich hat dein Sohn Erfolg!" flüsterte er. Quatzkotl nickte.
"Er muss!" sagte er.

***

Quetzalkoatlus war unterdessen unterwegs, um den Traumwächter zu suchen. Der Jungdrache war ein entschlossener kleiner Kerl, dem es gewiss nicht am nötigen Mut fehlte, um seine wichtige Mission erfolgreich zu Ende zu führen. Dennoch war ihm ein wenig bang ums Herz. Schließlich war er zum ersten Mal in seinem Leben allein und ausschließlich auf sich selbst gestellt unterwegs.
Nach zwei Tagen erreichte er das Riesengebirge, in dem der mächtige Berggeist Rübezahl herrschte. Wie sollte er mit Rübezahl Kontakt aufnehmen?
Quetzalkoatlus dachte nicht groß darüber nach, wie er den Herrscher dieses Gebietes am besten rufen sollte, sondern verhielt sich so, wie es junge Drachen in seinem Alter eben tun:
"Hey! Berggeist! Ich will mit dir sprechen! Zeige dich!" rief er laut als er über die Berggipfel flog. Doch Rübezahl ließ sich nicht blicken.
Schließlich wurde es dem kleinen Kerl zu bunt. Geduld ist nicht gerade die Stärke der Jugend. Und schon mal gar nicht die junger Drachen.
"Komm raus aus deinem Versteck, du alter Knochen! Ich muss mit dir sprechen. Weißt du nicht, mit wem du es zu tun hast?"
Da meldete sich der Berggeist - und seine Antwort war nicht von schlechten Eltern. Der Drache bekam eine so gewaltige Maulschelle, dass er seinen Flug abrupt unterbrach und zu Boden ging. Japsend schnappte er nach Luft.
"He!" rief er empört. "Wer wagt es..."
Seine Worte wurden von einer erneuten Maulschelle unterbrochen, die es ebenfalls in sich hatte.
Quetzi hielt es für das beste, zunächst einmal den Mund zu halten. Wer immer da zuschlug: Seine Schläge schmeckten nicht besonders.
Jetzt zeigte sich der Berggeist auch. Er hatte die Gestalt eines Riesen angenommen, der selbst die höchsten Berggipfel des Riesengebirges überragte.
"Du ungezogener Lümmel!" schimpfte er. "Was fällt dir ein, dich dermaßen schlecht zu benehmen! Ich kenne deinen Vater recht gut. Er würde dein Verhalten niemals billigen. Bedenke, dass du ein Königssohn bist und ein entsprechendes Verhalten erwartet wird."
Der Berggeist tobte noch eine ganze Weile herum, bis sein Zorn verraucht war.
"Entschuldige bitte," gab der Drache kleinlaut bei. "Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich wusste nur nicht, wie ich mit dir in Kontakt treten sollte."
"Wenn du dich zu benehmen wüsstest, dann hättest du schon die richtigen Worte gefunden, Bengel!" dröhnte Rübezahl. "Es wird Zeit, dass dir jemand Benimm beibringt."
Quetzalkoatlus schwieg betreten. Er war über seine Fehler genau im Bilde. Schließlich ermahnten ihn seine Eltern oft genug, nicht so grob zu Jannie zu sein oder mehr Ordnung zu halten.
"Ich meine es doch nicht böse!" sagte er betrübt. "Ich bin eben so!"
"Schon gut!" knurrte der Herr des Riesengebirges. "Deine Abreibung hast du jetzt erst einmal weg. Der Rest wird auch noch kommen. Was führt dich her?"
Quetzi erzählte ihm, was geschehen war.
"Hmm!" brummte der Berggeist. "Das hört sich nicht gut an! Zum Glück lebt Dommerjahn nicht weit von hier. Ich werde dich zu ihm bringen. Mehr kann ich aber nicht tun. Du musst ihn selbst dazu bringen, den Auftrag anzunehmen. Traumwächter sind in dieser Beziehung heikel. Ein falsches Wort und sie sind beleidigt. Sieh dich also vor!"

***

Dommerjahn lebte in einem kleinen Versteck im Wurzelgeflecht einer riesigen Tanne. Er wirkte unscheinbar, als sei er irgendein weißhaariger alter Gnom. Nichts wies darauf hin, dass er einer der geheimnisvollen Traumwächter war.
Rübezahl stellte den kleinen Drachen kurz vor und schilderte dessen Anliegen. Danach löste er sich in Luft auf. Quetzi war auf sich allein gestellt.
Der Gnom hob den Kopf und sah dem Drachen tief in die Augen. Diesem wurde ganz seltsam zumute, denn Dommerjahns Augen waren groß und schwarz und übten eine seltsame Anziehungskraft aus. Gerade so, als wollten sie ihn in sich hineinziehen.
Nach einer geraumen Weile sprach der Traumwächter. "Ich habe gesehen, dass du ein gutes Herz hast. Also werde ich deine Bitte erfüllen, wenn du bereit bist, den Preis zu zahlen."
"Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, wenn ich dadurch meinen Freunden helfen kann," erwiderte der kleine Drachen mit fester Stimme aber bebendem Herzen, denn der Gnom war ihm unheimlich.
"Der Preis wird hoch sein, Letzter König!" betonte der Gnom. "Überlege dir deine Antwort gut, denn es gibt keinen Weg zurück mehr für dich, wenn du dem Handel einmal zugestimmt hast."
"Ich bin der Einzige, der allen Versteinerten ihr Leben zurückgeben kann. Ich muss mich selbst verachten, wenn ich es nicht tue! Der Handel gilt!"
"Gut! So sei es!" rief der Traumwächter und erhob seine Arme. "Folgender Handel soll gelten zwischen mir und dem Letzten König der Magie, dem Sohn des Drachenkönigs Quatzkotl, dem Enkel Pergotzkatls, des Schwärzesten der Schwarzen, und dem Patenkind der gräulichen Hydra: Es gilt, die versteinerten Opfer des Dämons Janus aus ihrer Erstarrung zu erlösen. Für diesen Dienst wird mir Quetzalkoatlus siebenmal dreizehn Jahre dienen. Wenn er diesen Dienst zu meiner Zufriedenheit abgeleistet hat, wird er frei sein. Wird er aber diesen Dienst nicht zu meiner Zufriedenheit ableistet, so wird er mir weitere sieben mal sieben Jahre dienen und dann weitere sieben mal sieben Jahre und so fort, bis in alle Ewigkeit, bis aus ihm ein Drache geworden ist, der zu Recht den Namen ‘Der Letzte König’ tragen wird!"
Jedes Wort Dommerjahns traf Quetzalkoatlus wie ein Keulenschlag. Er hatte keine Vorstellungen davon gehabt, was der Preis für die Dienste des Traumwächters sein könnte. Damit hatte er aber auf keinen Fall gerechnet. Für fast hundert Jahre sollte er Diener des Gnoms sein. Mindestens! Dies war ein wahrhaft hoher Preis.

***

Der Gnom setzte sich auf den schmalen Rücken des kleinen Drachens. Gemeinsam flogen sie zurück ins Siebengebirge und trafen nach zwei Tagesreisen auf der Lichtung im Wald ein. 
"Das wird ein hartes Stück Arbeit," brummte Dommerjahn, als sie eine Runde um den Platz drehten. "Janus hat sich ja ganz schön ausgetobt! Ein Dutzend Drachen und jede Menge Ritter, Zwerge und Kobolde. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät."
"Wieso zu spät?" wollte Quetzi wissen.
"Janus Zweites Gesicht schenkt böse Träume. Das heißt, dass der magische Schock, der jeden trifft, der Janus Zweites Gesicht sieht, einen tiefen Alptraum auslöst. Dieser Traum ist so tief, dass niemand von selbst wieder aus ihm erwachen kann. Ich versenke mich in die Scheinwelt des Träumers, werde Bestandteil des Traumes und führe ihn wieder zurück in die reale Welt. Das kann ich aber nur, wenn der Traum noch nicht zu lange gedauert hat."
"Heißt das, dass du unter Umständen nicht mehr alle Versteinerten wiederbeleben kannst?"
"Leider ja! Auch meine Macht hat ihre Grenzen," gab der Gnom zu.
Als sie landeten, kam Quatzkotl gleich auf sie zu.
"Sei uns willkommen, Traumwächter," grüßte er höflich und neigte seinen langen Drachenhals. "Es ist uns allen eine Ehre, einen Traumwächter bei uns zu haben. Wenn du einen Wunsch haben solltest, dann äußere ihn. Wir sind bereit, dir zu Diensten zu sein."
Quetzalkoatlus war völlig konsterniert, seinen Vater so demutsvoll sprechen zu hören. Sonst war er einen anderen Ton gewohnt. Der Traumwächter musste unter den magischen Wesen trotz seiner unscheinbaren Gestalt einen sehr hohen Rang einnehmen.
El Pitto Gnomo, der die Reaktion des Jungdrachen wohl bemerkte, zog diesen ein wenig an die Seite.
"Was hast du?" fragte er.
"So habe ich Papa noch nie erlebt," bekannte dieser. "Er ist doch König der Drachen. Sogar die Elfen, Zwerge und Kobolde sind seinem Ruf gefolgt. Vor Dommerjahn aber dienert er ja geradezu!"
"Das hat auch seinen Grund," erklärte der Kobold. "Drachen, Kobolde und die anderen Wesen, die du bis jetzt kennengelernt hast, besitzen eine relativ einfache Magie. Drachen können Feuer speien, sind groß und stark. Das ist nichts Besonderes! Die anderen sind aus magischer Sicht noch viel einfacher gestrickt. Darum nehmen die Drachen unter den einfachen magischen Wesen bereits eine Sonderstellung ein. Die Weiße Alraune dagegen kennt alle Antworten und alle Fragen dieser Welt. Ihre Magie ist weitaus mächtiger und vielschichtiger. Darum begegnen wir ihr alle auch mit größter Hochachtung. Bei den Traumwächtern ist es ähnlich. Sie kennen alle Träume und die tiefsten Abgründe der Seele. Sie sind so wie die Weiße Alraune anzusehen und genießen deshalb höchstes Ansehen bei uns. Je größer und vielfältiger die magische Macht, umso größer das Ansehen bei den magischen Wesen. Verstehst du das?"
Der Jungdrache nickte zweifelnd. Er hatte Schwierigkeiten einzusehen, dass ein unscheinbarer Gnom wie Dommerjahn in höherem Ansehen stehen sollte als sein Vater Quatzkotl, der ein mächtiger und starker Drache war. Er war wohl noch zu jung, um zu begreifen, dass geistige Fähigkeiten höher anzusehen waren als alle physische Kraft.
Der Traumwächter hatte sich unterdessen an die Arbeit gemacht. Er setzte sich neben die versteinerte Jannie, legte eine Hand auf ihren Kopf und konzentrierte sich. Bereits nach wenigen Minuten zeigten sich erste Veränderungen. Die Versteinerung bildete sich langsam zurück. Es dauerte nicht lange, da schlug sie die Augen auf.
"Wo ist Janus?" fragte sie erstaunt, als sie sich zurechtgefunden hatte.
Der Traumwächter beruhigte sie:
"Es ist alles in Ordnung. Janus ist besiegt. Durch den Biss der Hydra wird er bis an das Ende aller Zeiten unter qualvollen Schmerzen leiden. Es gibt keine Heilung für ihn. All seine magische Macht wird ihm nichts nützen. Er ist verloren für immer und ewig."
"Ist das nicht eine zu harte Strafe?" Jannies gutes Herz regte sich.
"Er hat die Strafe bekommen, die ihm das Schicksal auferlegt hat," erläuterte der Traumwächter. "Das Schicksal ist nicht immer gerecht. Aber ich glaube, dass Janus die ihm zustehende Strafe bekommen hat."
"Eines verstehe ich immer noch nicht," bekannte Jannie. "Janus hatte mich in seiner Gewalt und mir soweit ich weiß mindestens einmal über das Haar gestrichen. Er hätte Dank meines Glücks die Auseinandersetzung gewinnen müssen."
Der Gnom lächelte weise.
"Auf gar keinen Fall, mein Kind! Die Magie deines Haares ist nicht so simpel wie du denkst. Wenn ein böses Wesen gegen deinen Willen über dein Glückshaar streicht, so wird es von da an vom Pech verfolgt! Selbst Janus' mächtige Magie vermochte sich nicht gegen die Wirkung deines Haares durchzusetzen. In den entscheidenden Momenten des Kampfes, immer dann, wenn es auf das berühmte Quentchen Glück ankam, hat er Pech gehabt. Das Unglück begann für ihn schon, als Cillie dein Haarband vor der Höhle fand. Von da an wussten deine Freunde, wo sie dich suchen mussten. Ohne dein Haarband hätten sie dich nie gefunden und Janus hätte sich mitsamt seiner Beute unbehelligt aus dem Staub machen können. Das Unglück setzte sich fort, als er durch Drachentöter eine Wunde geschlagen bekam, die dann zusätzlich noch mit dem Drachenfeuer Leviathans in Berührung kam. Sie heilte schlecht und schränkte seine Beweglichkeit ein. Als dann im entscheidenden Moment der Stein in seinem Weg lag, war es dann passiert: Straucheln, Fallen, Biss. Ende der Geschichte!"
Jannie sah den Gnom mit großen Augen an.
"Dann war ich der Grund dafür, dass Janus besiegt wurde?"
"Ja, sein entscheidender Fehler war es, dich zu entführen!" bestätigte der Traumwächter.
Dommerjahn stand auf, um sich zum nächsten Opfer Janus' zu begeben. Doch Jannie hatte noch etwas auf dem Herzen.
"Dommerjahn," rief sie ihm nach. "Ich kenne da einen alten Grafen. Und der..." 
"Ich weiß schon," schmunzelte der Traumwächter. "Du willst auch ihm helfen. Ich glaube zwar, dass er sein Schicksal ebenso verdient hat wie Janus das seine, denn ein Mensch, der seine unsterbliche Seele des Geldes wegen verkauft, muss die Folgen tragen. Aber, da du für ihn bittest..."
Er zögerte einen Moment.
"Sei’s drum!" gab er sich einen Ruck. "Es gibt eine einfache Lösung für das Problem. Die Regel verlangt, dass der Graf die Flasche billiger verkauft, als er sie selbst gekauft hat. Wenn du nachdenkst, wird dir jemand einfallen, der als Käufer in Frage kommt. Die Lösung ist so nahe liegend, dass du auf sie kommen wirst. Vor allem, da du jetzt weißt, dass es sie gibt! Denk nach!"
Mit diesen Worten wandte er sich dem nächsten Träumer zu.

***

Jannie wurde nun von ihrem Vater und ihren Freunden kräftig gedrückt und geküsst. Fast schien es, als wollten sie sie mit ihrer Liebe erdrücken. Jannie ertrug die Prozedur so tapfer, wie es sich gehörte, war aber nicht ganz bei der Sache.
"Was bist du so nachdenklich?" wollte Richard wissen.
Jannie sagte es ihm.
"Der Traumwächter sagte, es gäbe eine Lösung für des Grafen Problem. Ich komme aber nicht drauf. Er betonte, dass es ausschließlich ums Geld ginge: Billiger verkaufen als einkaufen. Eine andere Regel gäbe es nicht. Ich weiß nicht, wo da die Lösung sein sollte."
"Ihr habt eben alle keine Ahnung!" brummte da eine wohlbekannte griesgrämige Stimme. "Dazu brauche ich noch nicht einmal meinen Topf anzuheizen."
Merling war wieder unter ihnen! Dommerjahn hatte auch ihn aufgeweckt. Der alte Magier sah die Freude in den Gesichtern seiner Freunde und streckte beide Ärmchen von sich.
"Ich bitte von Gunstbezeugungen, Liebesschwüren und sonstigem Unsinn Abstand zu nehmen!" rief er.
Merling war eben ein äußerst ungeselliger Mann. Doch es half ihm nichts. Sekunden später lag er unter einer dichten Traube von Leuten begraben, die ihn begrüßen wollten. Als sich alle wieder beruhigt hatten und sich der Staub verzogen hatte, lag Merling ächzend auf dem Boden.
"Mein Gott! Dass ich so beliebt bin, hätte ich nicht gedacht!" stöhnte er, freute sich aber doch.
Schließlich rappelte er sich auf.
"Also, das mit dem Flaschengeist des Grafen geht so: Die Flasche muss für weniger Geld verkauft werden, als sie eingekauft worden ist. Wer sagt denn nun, dass der Käufer der Flasche eine Seele besitzen muss?" grinste Merling.
"Und!" strahlte Jannie, der ein Licht aufging, "wer sagte denn, dass der Käufer sterblich sein muss?"
"Das ist es!" riefen alle im Chor. Und allen schwebte auch schon ein Käufer vor.

***

Am Abend musste Dommerjahn eine Pause einlegen. Er war erschöpft und brauchte Ruhe. Alle zogen sich auf die Burg zurück, wo Richards Gemahlin schon ein großes Fest organisiert hatte. Ein Dutzend Mastochsen briet an Spießen. Bier und Wein gab es in Hülle und Fülle. Für jeden gab es genug und gleich zu Beginn der Feier wurde die Flasche mit Hitzli Putzli verkauft: An Mischa das Skelett, der die Flasche dem Grafen für einen Heller abkaufte. Auch das Schwert Drachentöter fand einen neuen Besitzer. Gandolf Wichmann überreichte es persönlich dem, der es als einziger verdiente: El Pitto Gnomo.
"Nimm es hin, mein Freund und Waffenbruder!" sagte er feierlich. "Vor Jahrhunderten geschmiedet ist es jetzt am Ziel seiner Reise angelangt. Nur mit dir und deiner magischen Kraft wird es seine volle Macht entfalten und seine Erfüllung finden."
El Pitto Gnomo nahm das einmalige Geschenk gerührt entgegen. Ihm fehlten die Worte, seine Gefühle zu offenbaren. Aber in seinen Augen standen Tränen.

Als die Weinbecher ihre ersten Runden gedreht hatten und die Stimmung immer lustiger wurde, zog Quatzkotl sich auf den Bergfried zurück und blickte über den Rhein und das fruchtbare Tal. Ihm war wehmütig ums Herz.
"Mach dir keine Sorgen um unseren Sohn! Er wird nun langsam erwachsen werden!"
Das war Cillie, seine Gemahlin, die sich zu ihm gesellte.
"Eigentlich mache ich mit keine echten Sorgen," erwiderte Quatzkotl. "Mich betrübt nur der Gedanke an die Trennung. Ich liebe den Jungen sehr und mein Herz tut mir weh bei dem Gedanken, ihn nicht mehr jeden Tag um mich haben zu können."
"Das ist das Schicksal aller Eltern," gab die Hexe zurück. "Aber ich habe ein gutes Gefühl. Dommerjahn ist weise. Er wird unserem Sohn in den kommenden 91 Jahren ein strenger aber auch ein gerechter Lehrmeister sein. Quetzi mag ihn! Das habe ich schon gemerkt. Außerdem: Was sind schon 91 Jahre für uns Drachen und Hexen! Wie im Fluge werden sie vorübergehen."
"Ich mache mir keine Sorgen," antwortete Quatzkotl. "Ich bin nur traurig!"
So standen sie da, der Drachenkönig und die Hexe, blickten in die Nacht hinaus und dachten nach über die Zeit, die da kommen würde. An die Zeit, in der sie selbst alt sein würden und ihr Sohn Quetzalkoatlus seine Herrschaft als der letzte aller Drachenkönige antreten würde. - Aber das wird eine ganz andere Geschichte.
 

© W. H. Asmek
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