Vor langer. langer Zeit, als das Wasser des
Rheins noch klar und ungetrübt war, als die Sommer noch heiß
und die Winter noch eisig kalt waren, ritt eine ansehnliche Schar von Rittern
durch das fruchtbare Tal, das sich unterhalb des Drachenfelsens erstreckte.
Die Reiter waren gut ausgerüstet und
dienten offenbar einem wohlhabenden Herrn, denn sie trugen allesamt schimmernde
Rüstungen und waren ausgezeichnet bewaffnet. An der Spitze des Trupps
ritt ein älterer, aber immer noch kräftiger, graubärtiger
Mann, dessen klare Augen einen unbeugsamen Willen, aber auch Weisheit ausstrahlten.
Gut geschützt inmitten der Reiter befand sich ein greiser, gebeugter
Edelmann, dessen Gesichtszüge von einer jahrelangen tiefgehenden Sorge
gezeichnet waren. Welches Leid mochte diesem Mann auf der Seele liegen?
Der Graubart hob seine Rechte. Der Trupp hielt
an.
"Da vorne liegt die Ortschaft, von der wir
gehört haben, mein Graf!" rief er dem Greis zu.
"Und dieser Berg dort muss der berühmte
Drachenfels mit dem Schloss Drachenburg sein!" gab dieser müde zurück.
"Lasst uns voranreiten. Der Tag ist nicht mehr jung, die Nacht nicht mehr
fern. Ich möchte heute einmal ein Dach über dem Kopf haben, wenn
ich mein Haupt zur Ruhe neige!"
Der Graubart nickte verstehend. Und auch die
restlichen Ritter freuten sich. Seit Wochen zogen sie nun schon durch die
Lande. Immer ein Ziel vor Augen, von dem sie nicht wussten, ob es überhaupt
existierte. Der Drachenfels und seine Burg waren berühmt. Aber kaum
jemand hatte sie jemals mit eigenen Augen gesehen. Nur die Liebe zu ihrem
Herrn und der Wunsch, ihm in seinem Leid beizustehen, hatten sie die Strapazen
der Reise überhaupt aushalten lassen. Der Graf musste über eine
schier unerschöpfliche Willenskraft verfügen, denn sein alter
Körper hatte immer mitgehalten und war ihnen stets ein Vorbild gewesen.
***
Die Ritter trieben ihre erschöpften Tiere
wieder an. So gelangten sie nach kurzer Zeit im Dorf an. Zu ihrer Überraschung
kümmerten sich die Einwohner kaum um sie. Sie wurden wohl freundlich
begrüßt, aber niemand schien sich vor ihnen zu fürchten.
Das war seltsam, denn für die damalige Zeit war eine Gruppe von 30
schwer bewaffneten Rittern schon eine ansehnliche Streitmacht, die niemand
so ohne weiteres durch sein Gebiet reiten lassen würde. Hier aber
schien das niemanden zu stören. Entweder fühlten sich die Leute
aus einem unerfindlichen Grund völlig sicher oder sie waren bodenlos
dumm. Aber dumm waren sie bestimmt nicht, denn die Gebäude waren sauber
gepflegt und zeugten von der Wohlhabenheit ihrer Besitzer. Einige Häuser
waren sogar aus Stein und nicht aus Lehm gebaut. Überall herrschte
reges Treiben. Nein! Dumm waren die Leute nicht. Aber warum fühlten
sie sich so sicher?
"Sieht ganz ordentlich aus, nicht wahr?" meinte
da ein Mann, der sich ihnen unauffällig genähert hatte. "Erlaubt
mir, dass ich mich vorstelle, edle Herren. Ich bin der Schulte dieses Dorfes!
Was kann ich für Euch tun?"
Der Graubart übernahm das Sprechen für
seine Gruppe.
"Wir sind die Ritter des Grafen vom Westlichen
Gehölz. Wir kommen in friedlicher Absicht und grüßen dich
und die Bewohner dieses Ortes. Mir scheint aber, dass du zu bescheiden
bist, wenn du diese Ansiedlung Dorf nennst. Hier scheint sich ja eine rechte
Stadt zu entwickeln."
Der Schulte lächelte stolz.
"Ihr habt es erkannt, edler Herr. Dieser Ort
wird bald eine Stadt sein und ich ihr erster Bürgermeister. Im letzten
Winter haben wir zusammen mit unserem König den Entschluss gefasst,
unsere Siedlung zu einer Stadt auszubauen. Zu Ehren unseres Königs
werden wir sie Königswinter nennen."
"Möge das Schicksal dieser Stadt mit
Glück und das ihrer Bewohner mit Gesundheit gesegnet sein!" antwortete
der Graue höflich.
"Ihr seid ein Mann von Welt, Herr" freute
sich der Dorfschulte. "Was kann ich für Euch tun? Wir sind leider
noch nicht darauf eingerichtet, eine solch große Schar von Reitern
zu beherbergen. Aber Speis’ und Trank können wir Euch anbieten."
"Ich danke dir, aber wir sind in Eile," entgegnete
der Graue. "Wir sind nämlich auf der Suche nach dem Zauberer Merling.
Wir haben ihm eine Bitte anzutragen. Wer könnte uns den Weg zu ihm
zeigen?"
"Oh, den Weg zu Merling kann Euch nur unser
König selbst erklären. Die beiden sind eng miteinander befreundet.
Ob Merling Euch aber empfangen wird, ist eine andere Sache. Er ist auf
seine Art ein komischer Kauz."
"Er muss es tun," murmelte der Greis so leise,
dass es nur seine Ritter hören konnten. "Sonst ist es mit mir zu Ende!"
Der Graue aber neigte den Kopf in Richtung
des Berges.
"Ist dies der Drachenfels mit der Drachenburg?
Du kannst es mir ruhig sagen. Wir kommen, wie gesagt, in Frieden und tragen
keine Arglist in uns."
Der Schulte schmunzelte.
"Herr, selbst wenn ihr die schlimmsten Verbrecher,
selbst wenn ihr nicht dreißig sondern 300 Ritter wäret, könnte
ich Euch getrost den Weg zu der Burg meines Königs zeigen. Ihr würdet
ihm nichts anhaben können. Er hat mächtige Verbündete, und
die Burg selbst ist uneinnehmbar. Reitet also getrost hinauf!"
Der Graubart blickte in Richtung seines Herrn.
Beide tauschten einen wissenden Blick aus, wobei die Augen des Alten kurz
in stillem Triumph aufleuchteten.
Danach verabschiedeten sie sich freundlich
von den Bewohnern des Dorfes und ritten geschwind davon.
***
Der Weg zur Burg stieg steil an und war beschwerlich.
Aber das war für die damalige Zeit normal. Burgen pflegten üblicherweise
hoch oben auf den Spitzen der Berge zu stehen, damit sie weit über
das Land blicken konnten und schwer anzugreifen waren. Dennoch waren die
Männer auf der Hut, denn das Gelände war unübersichtlich
und der dunkle Wald erhob sich düster dicht zu beiden Seiten des Weges.
Als der Abend heraufdämmerte erreichten
sie die Burg. Zu ihrer Überraschung war das Tor weit auf. Nur ein
einzelner, lustlos wirkender Wächter stand da und forderte die Schar
mit erhobenem rechten Arm zum Halten auf.
"Halt! Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?"
rief er ihnen zu.
Der Graubart stellte seine Begleiter und sich
vor und bat darum, eingelassen zu werden.
"Gastfreundschaft soll Euch gewährt werden.
Das ist so Sitte bei uns. Alles andere obliegt der Entscheidung meines
Königs," antwortete der Wächter und machte den Reitern Platz.
Die Ritter ließen ihre Pferde in den
Burghof traben, wo sie auch schon von einer recht seltsamen Schar erwartet
wurden:
Auf einer großen Freitreppe stand ein
Mann mittleren Alters, der eine schöne Frau an seiner Seite hatte.
Rechts neben ihnen befand sich ein Mann mit goldener Haut und grünen
Haaren, der ebenfalls von einer Frau begleitet wurde. Diese Frau war aber
von einer solchen Schönheit, dass den Rittern vor Erstaunen die Münder
offen stehen blieben. Auf der anderen Seite stand ein extrem hässlicher
Wicht mit einem Schwanz und Schmetterlingsflügeln an den Schultern.
Beide Arme stützten sich auf ein riesiges Zweihandschwert, das viel
zu groß für den Kleinen schien. Auch er wurde von einer Frau
begleitet: Sie war so klein wie er, aber fast ebenso schön wie die
Begleiterin des Goldenen.
Der Mann in der Mitte löste sich aus
der Gruppe und kam auf die Ankömmlinge zu.
"Seid gegrüßt, ihr Ritter! Ich
heiße Euch willkommen auf Schloss Drachenburg. Steigt ab von Euren
Rössern. Ich bin König Richard und biete Euch die Gastfreundschaft
meines Reiches an!"
Das Wort "Gastfreundschaft" war für die
damalige Zeit nicht irgendeine dahingeworfene Floskel. Gastfreundschaft
bedeutete Essen, Trinken und Sicherheit, sowie ein Dach über dem Kopf.
Wurde einem Reisenden die Gastfreundschaft angetragen, so war er erst einmal
aller Sorgen ledig.
Diesmal war es der Greis, der antwortete.
Nicht der Grauhaarige.
"Wir danken Euch für diese Worte, König
Richard. Ich bin Graf Gottlieb vom Westlichen Gehölz. Seit Wochen
schon sind wir auf der Suche nach dem Zauberer Merling, der in diesen Wäldern
leben soll. Ich hörte, dass Ihr uns den Weg zu ihm weisen könnt.
Wenn dies der Fall sein sollte, so nehmen wir Euer Angebot mit Freuden
an, denn wir sind alle sehr erschöpft und sehnen uns nach Wärme,
einem guten Mahl und Ruhe."
"Ihr seid am rechten Orte angelangt, Graf,"
entgegnete Richard. "Ich kann Euch den Weg zu Merling zeigen. Aber bedenket:
Er ist weit und beschwerlich. Und Ihr müsst ihn allein gehen. Gönnt
Euch zuerst Ruhe!"
Der Greis nickte dem Grauen zu. Dieser gab
den Männern ein Zeichen, worauf diese von ihren Pferden stiegen.
Plötzlich wurde die friedliche Atmosphäre
von einem lauten Schrei gestört.
"Iihhhhhhh! Lass das! Zu Hilfeee!"
Ein etwa zehnjähriges Mädchen lief
in Windeseile über den Hof auf die Freitreppe zu. Dicht gefolgt von
einem etwa gleichaltrigen Jungen. Die beiden boten einen seltsamen Anblick,
passten also durchaus zu den sechs Erwachsenen auf der Treppe. Das Mädchen
besaß auffallend schönes und langes Haar, das ihr wie eine goldene
Mähne um den Kopf flog. Der Junge hatte dagegen kohlpechrabenscharze
Haut und feuerrotes, wild wucherndes Haar auf dem Kopf. Mit einer Hand
hielt er eine Haarsträhne des Mädchens umfasst und zerrte grob
daran.
"Quetzi! Das tut mir doch weh!" rief die Kleine
und war dem Weinen nah.
Die Ritter waren unschlüssig, was sie
tun sollten. Kinder rauften mitunter miteinander. Trotzdem widerstrebte
es ihnen, tatenlos zuzusehen, wie dieser Raudi der Kleinen wehtat. Zu gerne
hätten sie dem Burschen den Hosenboden stramm gezogen. Unschlüssig
sahen sie dem Schauspiel zu, bis ein lautes Poltern aus dem Bergfried der
Burg ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Aus dem großen Eingangstor
des massiven Turmes löste sich eine riesige, behaarte Gestalt. Mit
einer gewaltigen Keule bewaffnet stürzte sie sich auf die beiden Kinder
und brüllte aus Leibeskräften:"Knurps fressen kleine Bösewichter.
Ha! Mampf, knirsch! Knochen brechen! Blut trinken! Uaaahhh!"
Jetzt schrieen beide Kinder wie am Spieß
und rannten, als ginge es um ihr Leben. Nun wurde es den fremden Rittern
doch zu bunt.
Streitende Kinder hin. Gastfreundschaft her.
Die beiden schienen Todesangst ausstehen zu müssen - und wenn sie
ehrlich sein wollten, wurde es ihnen selbst bang ums Herz.
Sie zogen ihre Schwerter und stellten sich
dem Riesen in den Weg, um ihn aufzuhalten und gegebenenfalls niederzumachen.
"Haltet ein, ihr Herren!" rief Richard da
mit aller Kraft. "Nehmt Eure Schwerter zurück und befleckt nicht die
heilige Gastfreundschaft mit dem Stahl Eurer Waffen. Die Kinder sind nicht
in Gefahr! Ihr braucht sie nicht zu beschützen!"
Verwirrt hielten die Ritter inne. Sie blickten
betreten zu Boden.
"Es tut uns leid, die Waffen gezogen zu haben,"
bekannte der Graue. "Bedenket aber, oh König, dass Ihr es hier mit
austrainierten Rittern zu tun habt. Unsere Reflexe sind schnell und sicher.
Wir sahen Not und wollten helfen. Nichts lag uns ferner, als Euch zu beleidigen
oder uns Eurer Gastfreundschaft als unwürdig zu erweisen. Verzeiht
uns bitte!"
"Ich verstehe Euch, bitte Euch aber darum,
in Zukunft etwas mehr Zurückhaltung zu üben. Wir scheinen Euch
wahrscheinlich in mancher Beziehung etwas seltsam erscheinen. In meinem
Reich ist die Macht der Magie stark und unverbraucht. Ihr werdet noch viele
ungewöhnliche Dinge erleben. Greift also nicht wieder zu den Waffen.
Sie könnten Euch hier sowieso nicht viel helfen."
Gleich darauf erschienen mehrere Bedienstete
der Burg, die einen fetten Mastochsen mit sich führten. Das Tier wurde
an Ort und Stelle geschlachtet und auf einem großen Spieß über
einem schnell entfachten Feuer gebraten. Bald drang der Duft von köstlichem
Braten über den Schlosshof. Als noch mehrere Fässer mit gutem
Wein an die Lagerstelle der Ritter gerollt wurden, ließen sich alle
mit lautem Aufseufzen nieder. König Richard ließ sich nicht
lumpen! So ein gutes Mahl hatten sie schon lange nicht mehr genossen. Richard
und seine Getreuen zogen sich höflich zurück, so dass die Ritter
sich selbst überlassen blieben. Aber das war ihnen nur recht.
Befriedigt registrierten die Männer,
dass das große Burgtor mit Einbruch der Nacht doch noch geschlossen
wurde. Der König mochte seltsam sein, aber verrückt war er nicht.
***
Am nächsten Tag stand der Graf früh
auf, erfrischte sich kurz am Brunnen und machte sich reisefertig. Richard
erwartete ihn bereits am Burgtor.
"Ihr müsst gleich hinter der nächsten
Wegbiegung in den Wald eindringen. Geht immer in die Richtung, in der die
Bäume am dichtesten stehen. Wenn ihr nicht mehr reiten könnt,
müsst Ihr zu Fuß weitergehen. Wenn es so eng wird, dass Ihr
meint, nicht mehr weiter zu können, wird sich vor Euch eine Lichtung
auftun. Inmitten dieser Lichtung steht das Haus des Magiers Merling. Ihr
werdet diese Lichtung nur erreichen, wenn Ihr allein und unbewaffnet seid.
Außerdem muss Euer Anliegen wichtig sein."
Richard seufzte: "Ihr seht, es wird nicht
einfach sein für Euch!"
Der Graf aber reckte sich auf wie ein Junger
und entgegnete fest: "Ich danke euch für diese Hinweise. Aber lasst
Euch nicht durch mein weißes Haar in die Irre leiten! Ich trage zwar
den Schnee vieler Winter auf meinem Haupt, aber mein Herz ist noch jung
und mein Körper stark. Ich werde es schaffen. Vor allem, da vom Gelingen
meiner Mission mein Seelenheil abhängt."
Damit gab er seinem Ross die Sporen und galoppierte
davon.
"Wann wird er wieder zurück sein?" fragte
der Graue, der sich inzwischen zu Richard gesellt hatte.
"Gleich!" gab Richard zurück.
Der andere schaute ihn verwirrt an.
Richard sah, dass er seinem Gegenüber
eine Erklärung schuldete.
"Der Weg zu Merling ist lang und beschwerlich.
Aber nur für den, der ihn geht," sagte er. "Für uns werden die
Tage wie Minuten vergehen. Hier ist nämlich das Land der Magie, der
unerklärlichen Rätsel und Wunder. Dein Herr wird in wenigen Augenblicken
wieder auftauchen. Schau! Da ist er schon!"
Zum unbeschreiblichen Erstaunen des Graubartes
kam der Graf in diesem Augenblick schon wieder um die Biegung zurück.
Doch wie sahen Ross und Reiter aus! Schmutzig, zerschrammt und grau vor
Müdigkeit. Das Pferd stolperte und der Alte konnte sich kaum im Sattel
halten. Das eben noch stolze Gesicht leer, der Körper kraftlos. Der
Reiter erreichte das Tor nicht mehr. Wenige Schritte vor Richard und dem
Grauen fiel der Graf bewusstlos aus dem Sattel, schlug schwer auf dem Boden
auf und rührte sich nicht mehr.
Mit einem Aufschrei sprang der Graubart vor,
kniete sich hinter den Gestürzten und nahm dessen Kopf in seinen Schoß.
"Herr!" flüsterte er. "Komm wieder zu
dir. Du darfst nicht sterben. Nicht jetzt! Das hast du nicht verdient!"
Die anderen Ritter waren durch den Schrei
aufmerksam geworden, eilten herbei und mühten sich um den Greis, als
sei er ihr aller Vater.
Tief bewegt von der Liebe, die die Männer
dem Grafen entgegenbrachten, bot Richard ihnen seine Hilfe an.
"Ich kenne Heilkundige, die Eurem Herrn helfen
können. Erlaubt mir, das Notwendige zu unternehmen."
"König Richard," gab der Graue zurück.
"Ich bin Gandolf Wichmann, der Waffenmeister des Grafen. Ich bin der letzte
Abkömmling des Wichmann, den man den Schwarzen nannte. Des Schwarzen
Wichmann, des berühmten Waffenmeisters des Herrn von Altena. Falls
Ihr meinem Herrn das Leben retten könnt, so schenke ich Euch mein
Schwert."
Mit diesen Worten zog Gandolf ein prachtvolles
Schwert aus der Scheide. Er reckte den Stahl in die Sonne, dass er aufblitzte
und rief.
"Bei allem, was mir heilig ist, bei meiner
Seele und meiner Ehre! Dies ist das Schwert Drachentöter, geschmiedet
über Elfenfeuer und gehärtet mit Trollblut. Es ist das berühmteste
und wertvollste aller Schwerter dieser Welt. Es soll Euch gehören,
wenn dafür das Leben meines Herrn gerettet werden kann!"
Eine kraftvolle goldene Hand griff nach dem
Schwert und wand es dem Grauen mühelos aus der Hand.
"Mit welchem Recht besitzt du das Schwert,
das meinen Vater tötete?" rief der Goldene erregt. "Es gibt nur einen
auf dieser Welt, der ein Anrecht auf dieses Schwert besitzt. Und der bin
ich: Quatzkotl, der Sohn Pergotzkatls und König der Drachen!"
Gandolf ließ sich von der Stimme des
Drachenkönigs nicht einschüchtern.
"Es ist mir egal, wer du bist, Goldener!"
erwiderte er stolz. "Ich bin der rechtmäßige Besitzer des Schwertes.
Ich gebe es nur an den, der das Leben meines Herrn rettet."
"Wir sollten uns zunächst um das Wohlergehen
meines Gastes kümmern," schlug Richard vor und schob sich zwischen
die beiden Streithähne. "Wir können uns später immer noch
über die Besitzverhältnisse Drachentöters streiten. Wenn
dem Grafen nicht schleunigst geholfen wird, wird er sterben. Und das hilft
keinem von uns!"
Quatzkotl ließ unwillig von seinem Gegner
ab. Ein Ritter nahm den Grafen auf die Schultern und trug ihn in den Burghof,
wo sich gleich die Damen um ihn kümmerten. Unter ihren gemeinsamen
Bemühungen wachte der Alte schließlich wieder auf. Doch im Gegensatz
zu der Erleichterung, die sich in den Mienen der Umstehenden abzeichnete,
wirkte der Gerettete unwirsch.
"Ihr hättet mich ruhig sterben lassen
sollen!" knurrte er. "Mir ist jetzt sowieso nicht mehr zu helfen!"
"Konnte Merling nichts für Euch tun,
Graf?" erkundigte sich Richard besorgt.
"Pah! Euer sagenhafter Zauberer war nicht
da!" gab der Graf bitter zurück. "Vielleicht gibt es ihn gar nicht.
Vielleicht ist er nur eine Erfindung, um reiche Hilfesuchende hierher zu
locken. Wer weiß, warum das Dorf unten im Tal so wohlhabend ist!
Ich wittere Lug und Trug!"
"Ihr seid ungerecht, Gottlieb vom Westlichen
Gehölz!" konterte Richard aufgebracht. "Wenn Ihr die Hütte im
Wald nicht gefunden habt, dann könnt Ihr es uns nicht zum Vorwurf
machen!"
"Ich habe die Hütte gefunden. Sie stand
auf der Lichtung, wie Ihr es mir beschrieben habt. Ich konnte mir jeden
Raum ansehen. Aber bis auf eklige Reagenzien und einen stinkenden Kochtopf
habe ich nichts gefunden. Euer Magier jedenfalls war nicht da!"
"Das ist seltsam," dachte Richard laut nach.
"Merling verlässt seine Lichtung nie! Wenn ich daran denke, dass wir
ihn regelrecht zwingen mussten, an Quetzis Taufe teilzunehmen, dann erscheint
mir diese Geschichte doch zu seltsam."
Der Goldene und die anderen Begleiter Richards
nickten schweigsam. Merling nicht in seiner Behausung? Kaum vorstellbar!
Richard versammelte seine Lieben um sich.
"Da stimmt etwas nicht," flüsterte er
ihnen zu. "Einer von uns muss nachsehen und feststellen, was da passiert
ist. Die Geschichte kommt mir nicht ganz geheuer vor."
"Ich fliege hin!" erbot sich Quatzkotl.
"Ich komme mit!" rief Cillie. "Schließlich
ist Merling mein Vater!"
"Gut!" schloss Richard. "Ihr zwei seht nach
und ich kümmere mich um die Fremden hier.
Die Ritter hatten inzwischen ihr Gepäck
zusammengesucht und bereiteten offensichtlich ihre Abreise vor. Mürrisch,
ja fast feindselig blickten sie zu Richard und sein Gefolge hinüber.
"Denk an das Schwert, das du mir versprochen
hast!" rief Quatzkotl zu dem Graubart hinüber. Dieser wollte gerade
eine zornige Antwort geben, als Quatzkotl sich in seine natürliche
Drachengestalt verwandelte und mit mächtigem Flügelschlag aufstieg.
Die anderen Ritter sahen dem gewaltigen Drachen
mit offenen Mündern nach. Doch ihre Verwunderung verwandelte sich
in Bestürzung, als ein zweiter, nicht viel kleinerer Drachen, dem
ersten folgte: Cillie flog ihrem Gemahl nach.
"Was, was ist das?" fragte der Waffenmeister
des Grafen. Sein Gesicht hatte die gleiche Farbe angenommen wie sein Bart.
"Das sind Quatzkotl, der König der Drachen,
und Cillie, seine Gattin, die Tochter Merlings! Sie fliegen los, um nachzusehen,
wo Merling ist," erklärte Richard. "Glaubst du uns nun, dass wir es
nicht nötig haben, Reisende zu betrügen?"
Der alte Graf erhob sich von seinem Lager
und schritt auf Richard zu.
"Ich bedaure mein Verhalten zutiefst. Ich
bin beschämt, dass ich mich habe so gehen lassen, Richard," sagte
er. "Bitte verzeiht mir, aber Merling war meine letzte Hoffnung. Wenn ich
ihn nicht finde, bin ich verloren. Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Geschichten
über die Magie in diesem Land nie wirklich geglaubt. Es ist ein Wunder,
dass es Drachen wirklich gibt. Wenn ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen
hätte, würde ich es immer noch nicht glauben. Erlaubt uns, noch
eine Nacht hier zu bleiben, damit wir über die weitere Vorgehensweise
beratschlagen können."
"Ihr könnt gerne noch einige Tage bleiben,
Herr vom Westlichen Gehölz," meinte Richard. "Ihr werdet weiterhin
anständig verpflegt werden."
Damit drehte er sich um und begab sich in
seine Burg.
***
Am Abend entfachten die Ritter erneut ein großes
Feuer und lagerten sich ringsum in dessen Schein. Der Graue und sein Graf
lagerten in der Mitte des Kreises der Bewaffneten und unterhielten sich.
Beide waren in ihr Gespräch vertieft
und beachteten das junge Mädchen mit dem goldenen Haar nicht, das
sich ihnen näherte.
"Hallo, Herr Graf, darf ich Euch etwas fragen?"
flüsterte die Kleine.
"Nun, mein Kind! Komm ruhig näher!" forderte
der Graf sie auf. "Was bist du denn noch so spät auf?"
"Ich bin Jannie, die Tochter König Richards,"
sagte das Mädchen. "Ich würde Euch gerne helfen, wenn ich kann."
Der Alte schmunzelte freundlich.
"Wie willst du mir helfen, Kind?" fragte er.
"Wenn die beiden Drachen Merling nicht finden, wird mir keiner mehr helfen
können. In meinem Fall ist selbst Gottvertrauen vergebens! Aber sag,
warum hast du denn gestern, als wir ankamen, so geschrieen?"
"Och!" seufzte Jannie. "Gestern haben Quetzi
und ich mit Knurps gespielt. Knurps war der mit der Keule. Er ist ein Troll
- aber ein friedlicher," setzte sie beruhigend hinzu, als sie die erschreckten
Gesichter der beiden Männer sah. "Quetzi heißt eigentlich Quetzalkoatlus
und ist der Sohn Quatzkotls und Cillies. Aber Quetzi passt besser zu ihm.
Er ist ein wenig grob und ungestüm, wie Jungen es schon einmal sind.
Aber sonst ist er ein ganz netter Kerl."
"Hier ist alles ein wenig wunderlich!" sagte
der Graf nachdenklich. "Ich hätte es nie für möglich gehalten,
dass es diese sagenhaften Wesen wie Trolle und Drachen wirklich gibt!"
"Und Kobolde nicht zu vergessen!" lächelte
Jannie. "Der Kleine mit dem Riesenschwert ist kein geringerer als El Pitto
Gnomo, der Anführer der Finsterwaldkobolde. Es gibt keinen besseren
Schwertkämpfer als ihn!"
"Das glaube ich nicht!" meinte Gandolf nachsichtig.
"Du hast mich noch nicht mit meinem Schwert umgehen sehen. Drachentöter
ist ein magisches Schwert, das seinen Träger unbesiegbar macht."
"Wie wäre es mit einer Wette?" schlug
Jannie vor.
"Wette?" fragte der Graue.
"Ja! Du hast doch dem, der den Grafen wieder
gesund macht, das Schwert versprochen. Wie wäre es, wenn Du das Schwert
behalten darfst, wenn du den Koboldhäuptling besiegen kannst?"
"Einverstanden!" sagte der Waffenmeister sofort.
"Wenn dein Vater zustimmt!"
"Das wird er!" schmunzelte Jannie. "Er kann
mir keinen Wunsch abschlagen. Aber..." und damit wandte sie sich dem Grafen
zu. "Was ist nun mit Eurem Problem? Vielleicht kann ich Euch helfen?"
Der Graf seufzte. Er griff in seine Satteltasche
und holte eine weiße Flasche von der Größe einer Weinflasche
hervor.
"Dieses Ding hier ist mein Schicksal", sagte
er. "Sie ist die Quelle meines Reichtums und gleichzeitig die Ursache meines
Elends."
Jannie sah sich die Flasche an.
"Ich kann nichts Besonderes an ihr erkennen,"
meinte sie.
"Die Flasche selbst besteht auch aus ganz
normalem Glas. Das Interessante ist ihr Inhalt. Pass mal auf!"
Der Graf setzte das Gefäß auf den
Boden, schaute es an und sprach langsam und leise die folgenden Worte:
"Hitzli Putzli Flaschengeist. Zeige Dich!
Sag was du weißt!"
Die milchige Einfärbung des Glases verschwand.
Der Blick ins Innere der Flasche wurde frei. Jannie sah einen kleinen runzligen
Gnom, der das Behältnis fast vollständig ausfüllte. Der
Gnom sprang ununterbrochen auf und ab.
"Hihihihi! Was willst Du von mir, mein Herr?"
rief es mit hoher Stimme. "Beeile dich, sonst ist es zu spät! Hihihihi!"
"Sag mir: wo ist Merling der Zauberer?" befahl
der Graf.
Das Männchen hörte auf zu zappeln.
Sein runzliges Gesicht wirkte erschreckt.
"Das darf ich dir nicht sagen, Graf. Auch
wir Flaschengeister sind den Gesetzen der magischen Gesellschaft unterworfen.
Ich darf dir nicht sagen, wo er ist. Das musst du schon selbst herausfinden.
Ich kann dir nur sagen, warum er verschwunden ist."
Der Graf war verwundert.
"Dann sag, was du sagen kannst, Hitzli Putzli!"
"Janus ist wieder unterwegs. Er jagt wieder!"
"Wer ist Janus?"
"Janus ist ein Dämon. Er ist der mächtigste
der Fürsten der Finsternis. Selbst Xusia hat ihn gefürchtet."
"Und was jagt Janus?"
"Ist doch klar, hihihihi! Er jagt Menschen!
Hihihihi. Er sammelt sie!"
Damit war der Gnom wohl überzeugt, genug
gesagt zu haben. Er schwieg und die Flasche wurde wieder weiß.
Jannie war besorgt.
"Ich kannte Xusia," sagte sie. "Er hat mich
vor einigen Jahren entführt. Aber mein Vater und seine Freunde haben
ihn mit vereinten Kräften besiegt. Kaum vorstellbar, dass selbst er
vor Janus Angst gehabt haben soll!"
"Ich glaube das schon," antwortete der Graf.
"Ich kenne den Flaschengeist schon seit vielen Jahren. Ich habe den Eindruck,
dass auch er Angst hat. Und das will bei diesem Kerlchen schon etwas heißen."
"Was ist denn so Schlimmes an dem Flaschengeist?"
wollte sie wissen. "Er wirkt doch ganz harmlos!"
"Auf den ersten Blick schon," gab der Graf
zurück. "Doch mit dem Geist hat es eine unangenehme Bewandtnis. Er
erfüllt seinem rechtmäßigen Besitzer jeden Wunsch. Das
hört sich gut an, aber dafür gehört ihm im Falle seines
Todes dessen Seele!"
Jannie erschrak.
"Ihr habt ihm für Geld Eure Seele verkauft?"
"Leider ist es so. Als ich die Flasche damals
kaufte, war ich jung, leichtsinnig und dumm. Ich habe lange Zeit ein schönes
Leben geführt und die Kräfte des Flaschengeistes nicht nur für
mich, sondern auch für andere Menschen eingesetzt und viel Gutes getan.
Doch im Laufe der Jahre kam mir zu Bewusstsein, dass Reichtum und ein sorgloses
Leben nicht alles sind. Seit vielen Jahren schon versuche ich, die Flasche
wieder loszuwerden. Aber vergeblich."
"Was müsst Ihr denn tun, um Euch der
Flasche zu entledigen? Könnt Ihr sie nicht einfach ins Meer oder einen
Abgrund werfen?"
"Das würde nichts bringen, denn ich wäre
dann immer noch ihr rechtmäßiger Eigentümer. Meine Seele
wäre also nicht gerettet. Nein! Einfaches Wegwerfen würde nichts
bringen. Ich müsste sie verkaufen."
"Warum tut Ihr es dann nicht?"
"Weil das nicht so einfach ist, wie es sich
anhört, mein Kind. Ich habe die Flasche seinerzeit für einen
Taler gekauft. Bedingung beim Verkauf dieser Flasche ist es aber, dass
sie immer billiger verkauft werden muss, als sie eingekauft worden ist.
Ich müsste jetzt also weniger als einen Taler für sie verlangen."
"Ich verstehe," meinte Jannie. "Und jeder
mögliche Käufer würde darüber nachdenken, dass er die
Flasche ja wieder billiger verkaufen müsste, bis letztendlich jemand
keinen Dummen mehr finden würde."
"Genau, irgendwann wird es einen Letzten geben,
der sie für einen Heller gekauft hat und sie nicht mehr billiger weiterverkaufen
kann. Es wird also immer schwieriger, einen Käufer zu finden. Ich
habe es schon seit Jahren versucht - aber niemanden gefunden. Ich hatte
gehofft, dass Merling eine Lösung finden würde. Er war meine
einzige und letzte Hoffnung."
"Kann der Geist Euch keinen Käufer besorgen?"
"Das ist der einzige Wunsch, den er mir nicht
erfüllt. Einen Käufer besorgt er mir nicht!"
Jannie schaute dem alten Grafen mitfühlend
ins Gesicht. Er war ein guter Mensch. Kein Zweifel! Für den Leichtsinn
seiner Jugend hatte er wahrhaft genug gebüßt. Es wurde Zeit,
einen Käufer für die Flasche zu finden. Sie fasste einen Entschluss.
Sie stand auf, verabschiedete sich von dem Grafen und suchte den Bergfried
auf, in dem Knurps in letzter Zeit häufig den Tag verschlief. Als
sie eintrat, war Knurps schon munter. Sein massiger, stark behaarter Körper
regte sich.
"Knurps!" sagte Jannie. "Merling ist verschwunden.
Wir müssen ihn suchen!"
Knurps war es nicht gewohnt, nachzudenken.
Es reichte ihm, dass Jannie ihm sagte, was zu tun war.
"Gut!" grunzte er.
Er setzte das Mädchen auf seine breiten
Schultern und trabte mit ihm in den Wald. Wenn jemand in der Lage war,
Merling aufzuspüren, dann Knurps. So gut wie der Troll kannte sich
kein anderes Wesen in den Wäldern des Siebengebirges aus. Lautlos
tauchten sie in der Dunkelheit des Waldes unter.
***
Am nächsten Tag kehrten in aller Frühe
die beiden Drachen zurück. Quatzkotl verwandelte sich zurück
in den Goldenen und Cillie nahm auch menschliche Gestalt an. Die Ritter
nahmen es hin. Sie wunderten sich inzwischen über nichts mehr.
"Merling ist tatsächlich fort," teilten
sie dem wartenden Richard mit. "Wir haben die ganze Nacht über den
Wald abgesucht, aber nicht den Hauch einer Spur gefunden."
Da näherte sich ihnen der Graf.
"Ich habe erfahren, dass ein gewisser Janus
auf der Jagd nach Menschen ist und Merling entführt haben soll," sagte
er.
Quatzkotl zuckte zusammen.
"Woher willst du das wissen?" frage er unwirsch.
"Ich habe meinen Flaschengeist gefragt."
Quatzkotl warf ihm einen forschenden Blick
aus seinen goldenen Augen zu.
"Es hat nie viele Flaschengeister gegeben,"
bemerkte er. "Soweit wie ich weiß, haben auch alle bereits die Seelen
ihrer ehemaligen Eigentümer übernommen. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass du so verrückt bist, einen Flaschengeist gekauft zu haben. Irgendwann
gibt es immer einen letzten Besitzer - und der verliert seine unsterbliche
Seele an seinen Flaschengeist."
Richard hörte interessiert zu. Auch er
hatte bereits von Flaschengeistern gehört, sich aber nie weiter für
dieses Thema interessiert, da er niemals einen gekauft hätte. Seine
Seele für Geld zu verkaufen wäre ihm nie in den Sinn gekommen.
"Es ist aber so," bestätigte der Graf.
"Ich bin der Eigentümer des Flaschengeistes Hitzli Putzli."
"Das tut mir Leid für dich, denn dann
bist du verloren," gab Quatzkotl, der keinerlei Verständnis für
den Grafen aufbringen mochte, kalt zurück. "Soweit wie ich gehört
habe, hat der letzte Besitzer die Flasche für einen Taler gekauft.
Allerdings dachte ich, er wäre bereits gestorben."
In diesem Moment trat ein Skelett auf die
Freitreppe. Die Ritter stöhnten auf vor Entsetzen. Sie waren zwar
inzwischen einiges gewohnt, aber ein wandelndes Skelett traf sie dennoch
wie ein Schock. Das gespenstische Wesen beachtete sie jedoch nicht weiter,
sondern wandte sich an Richard.
"Hast du Jannie gesehen? Es ist Zeit für
ihren Unterricht. Normalerweise versäumt sie ihn nie."
Richard schüttelte den Kopf.
"Nein, tut mir Leid, Mischa. Aber ich weiß
nicht, wo sie steckt. Sie war schon nicht beim Frühstück. Aber
sie steckt ja oft mit Knurps zusammen. Vielleicht weiß der, wo sie
ist."
Das Skelett steckte den Kopf in die Tür
des Bergfrieds, drehe sich dann aber um und rief:
"Knurps ist auch nicht da. Um diese Zeit müsste
er aber schon längst schlafend auf seinem Lager liegen."
Richard wurde unruhig. Jannie nicht da. Knurps
nicht da. Merling verschwunden. Was war nur los?
"Was hat es mit diesem Janus auf sich," fragte
er Quatzkotl, dessen Zusammenzucken ihm nicht entgangen war.
"Janus ist zurzeit der Oberste der Fürsten
der Finsternis," gab der Drachenkönig zurück. "Man nennt ihn
auch den Zweigesichtigen, da sein Kopf zwei Gesichter trägt. Das eine
ist das eines gutaussehenden normalen Mannes. Das andere hat noch niemand
beschreiben können, denn wer es sieht, wird von einem Moment zum anderen
zu Stein."
"Und anscheinend macht er Jagd auf Menschen,"
warf der Graf ein, der inzwischen seine Flasche geholt hatte.
"Hitzli Putzli, Flaschengeist. Zeige dich!
Sag was du weißt!" murmelte er.
Die Flasche wurde durchsichtig. Der kleine
Gnom wurde auf- und abtanzend sichtbar.
"Ich weiß schon, was du fragen willst,
hihihihi!" wisperte der Geist. "Janus hat die beiden noch nicht. Aber er
wird sie bekommen! Gleich! Hihihihih! Das Mädchen mit dem Glückshaar
wird ihm gefallen! Hihihihihi!"
"Glückshaar?" fragte der Graf erstaunt.
"Ja! Jannie, meine Tochter, hat magisches
Haar. Wer es berührt hat fortan Glück."
"Das hat uns gerade noch gefehlt!" stöhnte
der Graue, der sich inzwischen dazugesellt hatte. "Ich weiß zwar
nicht, was ein Fürst der Finsternis ist, finde aber, dass es sich
schon unheimlich genug anhört. Was immer er auch kann oder gekonnt
hat. Wenn das mit dem Glückshaar des netten Mädchens stimmt,
ist seine Gefährlichkeit wohl kaum noch zu überbieten."
Quatzkotl nickte bestätigend.
"Wir werden die beiden suche. Hoffentlich
sind wir schneller als Janus."
Er wandte sich an Cillie.
"Fliege du bitte schon mal voraus. Ich werde
mich an alle Drachen wenden, die ich erreichen kann. Wir müssen alles
zusammentrommeln, was wir haben. Anschließend komme ich nach."
"Und ich werde alle Gnome, Trolle, Feen und
Elfen des Waldes alarmieren," schlug Mischa vor. "Janus ist schon mächtig
genug. Wir dürfen nicht völlig hilflos werden."
***
Am Nachmittag des folgenden Tages waren schließlich
alle Getreuen versammelt. Alle Helden hatten sich eingefunden und draußen
vor dem Schloss hielten sich mehr als hundert Drachen auf. Eine gewaltige
Streitmacht aus Erd-, Feuer- und Luftdrachen, die nur darauf brannte, ihrem
König und seinen Freunden zu helfen. Selbst Leviathan, der Erdrache,
von dem man sagte, er sei so alt wie die Erde selbst, war erschienen. Seine
stahlharten Schuppen schimmerten blau und seine roten Augen sprühten
Feuer, während seine Klauen unruhig den Boden aufwühlten. Zwischen
den Drachen und den Fürsten der Finsternis bestand eine alte Feindschaft.
Kein Drache würde sich einen Kampf gegen die Fürsten entgehen
lassen.
"Wenn das nur gut geht," orakelte Winnimee,
Quatzkotls alte Mutter. "Es geht die Sage, dass Janus weder durch Stahl
noch durch Drachenfeuer besiegt werden kann. Er ist mächtiger als
alle anderen Fürsten der Finsternis zusammen."
"Wir müssen es versuchen, Mutter!" gab
Quatzkotl zurück. "Es geht nicht anders!"
"Aber mein Püppelchen bleibt hier!" bestimme
Winnimee energisch. "Liebelein darf keiner Gefahr ausgesetzt werden." Dabei
drehte sie sich zu dem kleinen schwarzen Jungen um und verschlang ihn mit
ihren Blicken.
"In Ordnung!" stimmte Quatzkotl zu. Der Junge
war zwar nicht ganz einverstanden, beugte sich aber der Autorität
seines Vaters und Königs.
In diesem Augenblick kam Cillie von ihrer
Suche zurück. In einer Klaue hielt sie einen großen Körper:
Knurps.
Als sie landete verwandelte sich die anfängliche
Freude der anderen in jähes Entsetzen: Knurps war vollständig
zu Stein geworden. Janus hatte seine Macht gezeigt. Der Flaschengeist hatte
nicht gelogen.
Cillie war etwas außer Atem:
"Ich habe Knurps auf einer Lichtung im Wald
gefunden," japste sie. "Ganz in der Nähe gibt es einen Berg mit dem
Eingang zu einer Höhle. Im Höhleneingang fand ich das hier."
Sie hielt ein blaues Bändchen in die
Höhe.
"Das gehört Jannie!" rief Richard. "Sie
trägt es immer im Haar."
"Wenn Janus in der Höhle haust, dann
ist sie in seiner Gewalt," erkannte der Graf und richtete die folgenden
Worte an seine Ritter:
"Auf, auf, ihr Mannen! Richtet Eure Rüstungen,
gürtet Eure Schwerter. Wir werden diesen Leuten Beistand leisten gegen
alles Böse!"
Mit grimmig entschlossenen Gesichtern schickten
sich die Männer an, dem Befehl ihres Herrn Folge leisten.
"Ich weiß den Heldenmut Eurer Männer
zu schätzen, Herr vom Westlichen Gehölz," versicherte Richard.
"Aber seid Ihr sicher, dass Ihr Eure Gefolgsleute in diesen aussichtslosen
Kampf schicken wollt? Sie haben keinerlei Erfahrung mit magischen Kräften.
Sie sind daher in diesem Kampf besonders gefährdet," gab Richard zu
bedenken.
"Macht Euch darum keine Sorgen. Meine Männer
sind die besten Schwertkämpfer des Landes. Es gibt niemanden, der
sie zu bezwingen vermag."
Richard ließ nicht locker, da er sich
ernsthafte Sorgen um die Ritter machte.
"Ich hege am Mut und der Entschlossenheit
Eurer Getreuen keinen Zweifel," erklärte Richard. "Dennoch wäre
es mir lieber, wenn sie hier auf der Burg blieben, um meine Frau, die alte
Drachin und Quetzalkoatlus zu schützen. In wenigen Stunden werden
alle magieerfahrenen Kämpfer bei der Höhle im Walde sein. Ich
lasse meine Lieben ungern schutzlos zurück."
Der Graf zögerte, denn die Worte des
Königs klangen logisch. Da hatte Richard eine Idee.
"Gottlieb vom Westlichen Gehölz. Was
haltet Ihr von einem Zweikampf zwischen dem kleinen Geflügelten neben
mir, der der Anführer der Finsterwaldkobolde ist, und einem Eurer
Ritter? Verliert er, bleibt Ihr mit Euren Mannen in der Burg zurück.
Gewinnt er, so ist bewiesen, dass Eure Leute auch Kämpfer mit magischen
Kräften nicht zu fürchten brauchen und uns zur Höhle begleiten
können. Ist es so recht?"
Der Graf wechselte einen kurzen Blick mit
dem Graubart. Dieser nickte und sagte:
"Ich bin der beste Schwertkämpfer in
dieser Runde. Darüber hinaus trage ich das Schwert Drachentöter.
Der Drachenkönig dort, der Goldene, hat Anspruch auf dieses Schwert
erhoben. Wenn ich den Kampf gegen den Kobold gewinne, habe ich nicht nur
meine Kampfkunst gegenüber einem magischen Wesen bewiesen, sondern
auch, dass ich dieses Schwert zu Recht trage und darf es auch behalten.
Einverstanden?"
Richard blickte zu Quatzkotl. Dieser nickte
mit dem Kopf. Er war einverstanden.
Die Menge verteilte sich im Schlosshof. Sie
umringte die beiden Schwertkämpfer, die sich in der Mitte des Kreises
aufhielten.
"Ein Wort noch zu den Spielregeln in diesem
Kampf," warf Richard ein. "Gandolf Wichmann, der Waffenmeister des Grafen,
wird versuchen, das Tor des Bergfrieds zu durchschreiten. El Pitto Gnomo
wird das zu verhindern suchen! Dies ist kein Kampf auf Leben und Tod. Derjenige,
der seinem Gegner eine schwere Wunde zufügt, hat den Kampf sofort
verloren. Die beiden Wettkämpfer sollen uns die Kunst des Schwertkampfes
zeigen. Nicht die des Tötens."
Die Menge veränderte die Form des Kreises
so, dass sich eine Öffnung zum Bergfried hin bildete. El Pitto Gnomo
stelle sich vor der Tür auf, stützte die knorrigen Ärmchen
auf sein Schwert und sagte grinsend: "An mir kommt keiner vorbei!"
Der Graubart zog sein Schwert und ließ
es durch die Luft sausen. Dann setzte er es in kreisende Bewegungen, bis
es nur noch als Schemen zu erkennen war. Unheilvoll dröhnte der Schwung
der magisch gehärteten Klinge durch den Burghof. Langsam schritt Gandolf
auf den Gnom zu, der seinen Blick aufmerksam auf die kreisende Klinge richtete.
Näher und näher rückte der Graubart. Er verstärkte
den Schwung des Schwertes. Das wummernde Geräusch steigerte sich zu
einem hellen Singen. Plötzlich riss der Gnom seinen Zweihänder
hoch und stieß ihn inmitten des silbernen Luftkreises. Zugleich mit
einem stählernen Klingen verstummte das Sirren der Luft. Die Kämpfer
standen sich dicht an dicht gegenüber. Die Schwerter standen in der
Luft und hemmten sich gegenseitig. Der Gnom und der Ritter drückten
mit aller Kraft, um den anderen zur Aufgabe zu bewegen. Schweiß lief
ihnen von der Stirn. Dann gaben sie den Kraftakt auf und schlugen mit ihren
Waffen aufeinander ein. Doch keiner konnte die Abwehr des anderen überwinden.
Krachend und dröhnend mit metallischem Klang schlugen die Schwerter
gegeneinander. Wieder und wieder. Funken stoben. Keuchend und schwitzend
zertrampelten die Recken den Boden. Keiner wollte aufgeben. Die magische
Kraft des einen und die magische Kraft des Schwertes des anderen blockierten
sich gegenseitig. Niemand schien diesen Kampf gewinnen zu können.
Endlich holten beide Kämpfer zugleich zu einem gewaltigen Schlag aus.
Jeder legte seine ganze Kraft in sein Schwert. Mit donnerndem Krachen schlugen
die Klingen gegeneinander. Ein greller Blitz blendete die Augen der Zuschauer.
Als alle wieder unbehindert sehen konnten, bot sich ihnen ein erstaunliches
Bild: Durch den ungeheuren Schlag war El Pitto Gnomos Schwert geborsten.
Der Gnom hielt nur einen unnützen Stumpf in der Hand. Gandolf jedoch
hatte Drachentöter verloren. El Pitto Gnomo hatte es ihm aus der Hand
geschlagen. Es lag weitab im Sand.
Die beiden gaben sich die Hand.
"Sag ich doch: An mir kommt keiner vorbei,"
grinste der Gnom und keuchte schwer.
Quatzkotl trat in den Kreis.
"Da ich einen Anspruch auf das Schwert Drachentöter
erhoben habe, steht es mir auch zu, den Ausgang dieses Kampfes zu bewerten.
Sind alle mit damit einverstanden?"
Als niemand Einspruch erhob, wendete er sich
den beiden Kämpfern zu.
"El Pitto Gnomo hat es dank seines magischen
Talents geschafft, dem Zauberschwert Drachentöter zu widerstehen.
Gandolf seinerseits ist es nicht gelungen, den Bergfried zu erreichen.
Gandolf hat das Schwert des Kobolds zerschlagen, war aber seinerseits nicht
in der Lage, sein eigenes Schwert festzuhalten und hat es verloren."
Er drehte sich der Menge zu.
"Ist das so richtig?"
Beifälliges Gemurmel antwortete ihm.
Der Drache nickte zufrieden.
"So höret denn mein Urteil: Wir haben
es hier mit zwei ausgezeichneten Schwertkämpfern zu tun. Noch nie
sah ich einen anderen der Kraft des Kobolds so lange widerstehen wie ich
es bei Gandolf sah. Natürlich hatte die magische Kraft Drachentöters
ihren Anteil daran. Doch ich habe auch gesehen, dass Gandolf, der Graue,
über große Kraft und ebensolches Geschick im Schwertkampf verfügt,
denn auch ein magisches Schwert will gut geführt sein. Niemand hat
diesen Kampf gewonnen und niemand hat diesen Kampf verloren. Gandolf hat
bewiesen, dass er Drachentöter zu Recht sein Eigen nennt. Wenn wir
dieses Abenteuer hinter uns haben, werde ich entscheiden, ob ich meine
Ansprüche auf dieses Schwert geltend machen werde. Bis dahin herrsche
Frieden zwischen dem Grauen und mir!"
Die Zuschauer spendeten diesen Worten Beifall.
Der Drachenkönig hatte bewiesen, dass er ein gerechter Richter war.
"So höret denn meine Worte!" rief der
Graf. "Gandolf wird sich mit zehn Rittern der Streitmacht gegen Janus anschließen.
Die anderen bleiben mit mir hier, um die Burg zu schützen. So ist
den Interessen aller Genüge getan!"
***
Als Jannie erwachte, hing sie an einem seidenen
Faden einige Fuß über dem steinernen Boden eines finsteren Gewölbes.
Sie war nicht allein. Neben ihr baumelten andere Wesen wie sie an einem
Seil von der Decke herab. Im Gegensatz zu ihr aber waren alle Figuren aus
Stein. Die Gestalten, die sich leicht in einem kaum spürbaren Luftzug
drehten, sahen erschreckend lebensecht aus. Fast schien es, als wollten
sie gleich die Augen aufschlagen, aus einem tiefen Schlaf erwachen.
"Sieht hübsch aus, nicht war?" fragte
ein angenehme Stimme unter ihr. "Ich habe schon eine ansehnliche Sammlung
dieser Figuren."
Jannie senkte den Kopf so weit wie es ihr
möglich war und erkannte einen Mann, der unter ihr stand. Jetzt erinnerte
sie sich wieder! Sie war zusammen mit Knurps unterwegs gewesen, um Merling
zu suchen. Als sie auf eine Lichtung traten, war Knurps plötzlich
versteinert. Sie selbst hatte einen fremden Mann auf der Lichtung stehen
sehen, dessen Gesicht so unbeschreiblich schrecklich ausgesehen hatte,
dass sie vor Entsetzen ohnmächtig geworden war.
Jetzt sah das Gesicht des Mannes aber ganz
normal aus. Oder stand da ein ganz anderer?
"Wer bist du?" fragte Jannie neugierig und
gar nicht ängstlich.
"Oh! Entschuldige! Ich bin Janus. Hast du
schon von mir gehört?"
Jannie schüttelte den Kopf.
"Nein!" gab sie wahrheitsgemäß
zurück.
"Na, das ist auch nicht nötig," erwiderte
Janus. "Wichtig ist, dass ich von dir und deinem Glückshaar gehört
habe. Diese Höhle wird nämlich von einer kleineren Drachen- und
Ritter-Armee belagert. Nicht, dass ich sie ernsthaft fürchten müsste
- aber ein bisschen Glück kann da nicht schaden."
Janus schwebte zu ihr hoch und strich ihr
mit einer Hand über das Blondhaar.
"So," sage er. "Genug davon."
Er ließ sich wieder hinunter und schritt
eilig davon.
Jannie hatte sich vor der Berührung des
Dämons regelrecht geekelt, aber auch keine Möglichkeit gehabt,
sich ihr zu entziehen. Mit leisem Schaudern sah sie ihm nach. Hoffentlich
kam der Kerl nicht so schnell wieder! Eine ganze Armee stand also draußen
vor der Höhle und belagerte sie? Das konnten nur die Leute ihres Vaters
und seiner Verbündeten sein. Sie war nicht ganz so sicher, dass Janus
mit dieser Truppe fertig werden konnte. Sie schloss die Augen, da sie den
Anblick der stummen und reglosen Gestalten, die sacht im Wind schaukelten,
nicht mehr ertragen konnte. Sie bemühte sich, an etwas Schönes
zu denken, damit ihr Herz aufhörte so schnell zu schlagen. Mit einiger
Mühe schaffte sie es schließlich, sich einigermaßen zu
entspannen und schlief schließlich sogar ein.
***
Quatzkotl hatte inzwischen seine Streitmacht
vor der Höhle zusammengezogen. Er überlegte, wie er am besten
vorgehen sollte. Da er diese Höhle nicht kannte, hielt er es für
das beste, zunächst einen Erkundungstrupp loszuschicken, der das Gebiet
erforschen sollte.
Er beauftragte zwei Erddrachen damit, in die
Höhle einzudringen, da ihm diese aufgrund ihrer Erdverbundenheit die
beste Wahl für dieses heikle Unternehmen zu sein schienen. Cillie
verwandelte sich in eine Fledermaus, die sich auf einem der Drachen niederließ.
Im Falle einer direkten Konfrontation mit Janus würde sie schnell
davonfliegen können. Fledermäuse finden sich nämlich auch
im Dunkeln zurecht. Cillie würde ihre Augen nicht gebrauchen müssen
und so nicht in Gefahr geraten, versteinert zu werden.
Die beiden Drachen stampften los. Sie verspürten
beim Eindringen in die Höhle keinerlei Unbehagen, denn zum einen kennen
Drachen von Natur aus keine Angst und zum anderen fühlten sie sich
in der Tat in jeder Höhle wohl. Höhlen waren dunkel, angenehm
kühl und feucht - also ganz nach dem Geschmack der beiden. Das fehlende
Licht bereitete ihnen auch keine Probleme. Drachen, insbesondere Erddrachen,
können in der Dunkelheit nämlich ebenso gut sehen, wie am lichten
Tag. Ihre Augen leuchteten die Gänge aus wie Scheinwerfer als sie
voranschritten.
Der Eingang der Höhle verengte sich nach
kurzer Zeit zu einem schmalen, niedrigen Gang, der leicht geneigt in die
Tiefe führte. Es herrschte Stille. Nur die schnaufenden Atemgeräusche
der Drachen waren zu hören. Nach einiger Zeit erweiterte sich der
Gang zu einer großen Grotte, von der mehrere kleiner Gänge abzweigten,
die sich in der Dunkelheit verloren.
"Was nun?" grunzte einer der Drachen. Erdrachen
sind nicht besonders klug. Die Situation überforderte den Verstand
der beiden.
"Wir fordern weitere Erdrachen an!" beschloss
Cillie, entfaltete die Flügel und flog nach draußen, um mit
Quatzkotl zu sprechen.
Dieser teilte ihr sechs weitere Drachen zu,
darunter Leviathan, der der Aufforderung seines Königs mit Freuden
nachkam und eilends in der Höhle verschwand. In der Grotte erwartete
sie aber eine Überraschung: die beiden ersten Erddrachen waren zu
Stein geworden.
"Janus muss hier gewesen sein!" erkannte Cillie.
"Die beiden haben sich überrumpeln lassen!"
Leviathan stimmte ihr brummig zu.
"Noch nicht einmal Feuer gespieen haben sie.
Das würde ich riechen!" knurrte er erbost. "Das ist eines Erddrachens
nicht würdig."
Was aber nun? Janus konnte in jeder dieser
Abzweigungen stecken und die Angreifer allein durch sein Erscheinen außer
Gefecht setzen. Wie kam man ihm bei?
"Jeder von uns nimmt sich einen der Gänge
vor," bestimmte Leviathan. "Alle fünf Schritte geben wir einen Feuerstoß
nach vorne ab. Die Hexe bleibt hier, denn es wird hübsch warm werden.
Uns macht die Hitze nichts aus. Aber jedem anderen Wesen wird es zu heiß
werden!"
Cillie sah ein, dass sie sich dem Drachenfeuer
nicht aussetzen durfte. Sie löste sich also von ihrem Drachen und
hängte sich kopfüber an die Höhlendecke, wie es Sitte ist
bei den Fledermäusen.
Die Drachen drangen in die Seitengänge
ein. Fauchend entluden sich ihre Feuerlanzen. Selbst in der Grotte wurde
es fast unerträglich heiß. Weiter und weiter marschierten die
Drachen. Hinein in das finstere Versteck des Dämons, dem sie bald
begegnen mussten.
Klirrende Schritte vom Eingang her zeugten
davon, dass Quatzkotl Ritter zu Unterstützung der Drachen herbeigeordert
hatte. Die Helden verteilten sich vor den Gängen und warteten, bis
sich die hohen Temperaturen gelegt hatten. Dann schritten sie den Drachen
nach. Sie waren nicht allein. Zwerge, mit Äxten bewaffnet, und Kobolde
begleiteten sie. Zwerge und Kobolde kannten sich in Höhlen fast so
gut aus wie Drachen. Es war schon eine starke Truppe, die Quatzkotl da
zusammengestellt hatte. Nach und nach verstummte das Klirren der Waffen
und Rüstungen, als die Ritter und ihre Begleiter in den Tiefen der
Gänge verschwunden waren.
Cillie hielt es an ihrer Decke nicht mehr
aus. Sie entfaltete ihre Flügel und schwebte in den Gang, den die
Kämpfer genommen hatten. Sie wollte wissen, wie es drunten aussah.
Dank ihrer Fähigkeiten konnte sie trotz der Dunkelheit ein flottes
Flugtempo vorlegen und erreichte so bald die Nachhut der Truppe.
"Wir haben uns mit Leviathans Gruppe vereinigt,"
teilte ihr ein Kobold mit. "Die Gänge gehen teilweise wieder ineinander
über. Wir haben festgestellt, dass es jetzt nur noch vier Gänge
sind, die weiterführen. Irgendwann müssen wir auf Janus treffen."
Wie zur Bestätigung seiner Worte erklang
plötzlich von vorne großes Geschrei. Ein gewaltiger Feuerstoß
erhellte den Gang. Waffengeklirr zeugte davon, dass zumindest der vordere
Abschnitt der Gruppe in einen Kampf verwickelt wurde. Die hinteren Kämpfer
drängten vor, um die anderen zu unterstützen. Doch zu Cillies
Entsetzen verringerte sich die Zahl der Angreifer schnell. Ein fahles Leuchten
schob sich wie ein furchtbarer Umhang über ihre Verbündeten.
Alle, die direkt in dieses Leuchten hineinblickten, wurden augenblicklich
zu Stein. Bevor sie selbst jedoch von diesem Schein erfasst wurde, erklang
das typische Sausen Drachentöters. Gleichzeitig erhellte der Schein
eines Feuerstrahls die Dunkelheit. Es ertönte ein grausiger Schrei.
Ein urtümlicher, unheimlicher Ruf voller Wut und Schmerz. Das Leuchten
erlosch schlagartig. Eilige Schritte entfernten sich in der Dunkelheit.
Nur ein sanftes Glühen der von dem Feuerstoß des Drachen erhitzen
Wände spendete soviel Licht, dass Cillie sich ein Bild von der Lage
machen konnte.
Alle ihre Begleiter waren ausnahmslos in Stein
verwandelt worden. Mit bebendem Herzen flog sie nach vorne, um mehr zu
sehen. Der Graue stand wie eine Statue da, Drachentöter in seiner
Hand. Leicht nach vorne gebeugt, den rechten Arm nach links gezogen, als
habe er gerade einen Schwertstreich ausgeführt. Und wirklich: Frisches,
schwarzes Dämonenblut schimmerte an seiner Schneide. Die Waffe selbst
war unbeschädigt und ganz sie selbst: Janus Zauberkraft schien ihr
nichts ausgemacht zu haben. Nur für ihren Besitzer kam jede Hilfe
zu spät. In steinerner Unbeweglichkeit stand er da wie alle anderen
aus seiner Gruppe auch.
Cillie nahm ihren ganzen Mut zusammen, verwandelte
sich in einen Meisterdieb und entwand das Zauberschwert der steinernen
Hand des Ritters.
Anschließend machte sie sich auf den
Weg in die Oberwelt.
***
"So geht das nicht weiter, Quatzkotl!" sagte
sie zu ihrem Gatten. "Janus ist in diesem Höhlenlabyrinth einfach
unangreifbar. Wir kommen nicht an ihn heran."
"Er kommt aber auch nicht mehr weg hier,"
gab Quatzkotl zurück. "Ich vermute, dass er seine Menschensammlung
in dieser Höhle versteckt. Er wird seine wertvolle Beute nicht aufgeben
wollen. Wir sind in einer klassischen Patt-Situation. Er kommt nicht weg,
weil wir mit unserer Drachentruppe die Lichtung blockieren, und wir kommen
unsererseits nicht an ihn heran, weil seine Magie einfach zu mächtig
ist."
"Was ist, wenn er einfach herauskommt, um
uns anzugreifen?"
"Das würde ihm nicht viel nützen.
Das tödliche Leuchten, das von seinem Zweiten Gesicht ausgeht, kann
bei Tageslicht nicht so intensiv wirken, wie in der Dunkelheit. Bei guten
Lichtverhältnissen muss er seinem Opfer direkt gegenüberstehen,
um es zu versteinern. Dabei würden wir ihn unter Drachenfeuer nehmen.
Wir können ihm zwar nicht ernsthaft schaden, aber selbst ihm dürfte
die Hitze unerträgliche Schmerzen bereiten. Eine direkte Konfrontation
mit uns wird er bei Tageslicht nicht wagen."
"Was sollen wir also machen?" fragte Cillie
hartnäckig.
"Wir sollten zur Weißen Alraune gehen,"
schlug El Pitto Gnomo vor.
"Genau! Sie ist immer auf unserer Seite gewesen!"
bestätigte Richard. "Vielleicht kennt sie sogar ein Mittel, um die
Versteinerten wieder zurückzuverwandeln."
Quatzkotl nickte. Diese Handlungsweise schien
in der gegenwärtigen Situation die einzig Erfolg versprechende zu
sein.
"Gut!" stimmte er darum seinen Freunden zu.
"Ich bleibe mit meinen Drachen hier. Einem anderen als mir würden
sie ohnehin nicht folgen. Cillie sollte auch hier bleiben. Sie ist die
einzige, die relativ gefahrlos in die Höhle gehen kann, um Erkundungsflüge
zu unternehmen. Ich schlage vor, dass ihr zwei geht."
Richard und der Kobold waren einverstanden,
winkten ihren Freunden noch einmal zu und machten sich dann auf den Weg
zur Alraune.
***
Jannie schreckte durch ein lautes Stöhnen
auf, das unmittelbar unter ihr erklang. Sie hing immer noch an ihrem Seidenfaden
und konnte sich nicht rühren.
Sie schaute herab und sah Janus auf dem Boden
liegen. Er wand sich vor Schmerzen. Der Dämon merkte, dass er beobachtet
wurde und blickte sie hasserfüllt an.
"Das hat man nun davon, wenn man auf dein
Glück vertraut, du hässliches Gör! Unvorsichtig bin ich
gewesen und schon hat es mich erwischt!"
"Was ist denn passiert?" fragte Jannie, die
den Unheimlichen beruhigen wollte.
"Was passiert ist willst du wissen? Ha! Eine
ganze Horde von Drachen ist unter Begleitung von Rittern, Zwergen und Kobolden
in meine Höhle eingedrungen. Normalerweise kein Problem für mich!
Aber einer der Ritter hatte das Zauberschwert Drachentöter dabei.
Normalerweise hätte ich es sofort an seiner magischen Ausstrahlung
erkannt und mich vorgesehen. Ich fühlte mich aber zu sicher. Er traf
mich an der Hüfte und gleichzeitig spie dieser elende Leviathan sein
Feuer auf mich."
Janus schloss die Augen und stöhnte.
"Ahh! Dieser Schmerz!"
"Dann gib doch auf und lass dich versorgen,"
schlug Jannie vor. "Vater kennt gewiss jemanden, der dir helfen kann!"
"Für wie blöd hältst du mich
eigentlich?" schnauzte Janus sie an. "Du vergisst, dass meine magische
Kraft nahezu unendlich ist. Diese Wunde wird sich bald wieder schließen.
Drachenfeuer kann mir normalerweise nichts Ernsthaftes anhaben. Nur in
Zusammenwirkung mit der Schwertverletzung hat es der Drachen überhaupt
geschafft, mich vorübergehend auszuschalten. So ein Pech aber auch!"
"Es kann auch Glück gewesen sein," überlegte
Jannie laut, die sich dachte, dass sie für den Dämonen nicht
mehr von Nutzen war, wenn er zu der Überzeugung kam, dass sie ihm
kein Glück brachte. "Immerhin hat dich das Schwert an der Hüfte
getroffen und nicht deinen Hals durchschlagen."
Janus richtete sich auf. Die Schmerzen schienen
bereits nachzulassen. Seine Augen sprühten vor Zorn.
"Du willst mich wohl für dumm verkaufen,
was?" zischte er. "Du bringst mir kein Glück, sondern Unglück.
Ich kann dich nicht mehr brauchen!"
Bei diesen Worten drehte er seinen Kopf um
180 Grad. Jannie sah sein Zweites Gesicht. Der Anblick war so unbeschreiblich
furchtbar, so grauenhaft, dass sie sofort zu Stein wurde.
***
Richard und El Pitto Gnomo hatten unterdessen
die Höhle der Alraune erreicht.
"Ihr kommt spät!" sagte die magische
Pflanze vorwurfsvoll. "Ich hatte euch eher erwartet."
"Wir hatten geglaubt, das Problem allein lösen
zu können," entschuldigte sich Richard. "Wir hatten nicht gedacht,
dass Janus ein so harter Brocken ist."
"Ach du meine Güte! Wie kann man nur
so naiv sein, zu glauben, den obersten Fürsten der Finsternis mit
einer Handvoll Drachen zu besiegen!" stöhnte die Alraune. "Drachenfeuer
und Stahl kann ihm nichts anhaben. Das weiß Quatzkotl doch schon."
"Was sollen wir tun? Wie können wir den
Versteinerten helfen? Gibt es Rettung für Jannie und Merling?" sprudelte
Richard hervor.
"Nicht so schnell!" mahnte die Alraune. "Jetzt,
wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist Umsicht geboten. Außerdem
darf ich deine Fragen nicht direkt beantworten. Ich kann immer nur indirekte
Hinweise geben. Das weißt du doch!"
Richard nickte verstehend. Die Antworten der
Alraune waren nicht immer leicht zu verstehen. Aber sie wusste immer einen
Rat.
"Also," fuhr die Alraune fort. "Der Drachen
Feuer und der Schwerter Stahl bereiten keine ernste Qual. Doch bedenket
die Taufe des Letzten Königs und ihr werdet die einzig mögliche
Lösung finden! Die Steinernen sind auch zu retten. Schickt Quetzalkoatlus
nach einem Traumwächter. Der Preis ist hoch, aber er muss ihn zahlen."
Danach schwieg die Alraune. Sie würden
keinen einzigen Ton mehr aus ihr herausbekommen.
"Lass uns zum Schloss zurückkehren. Dort
ist Quetzi. Er ist der Schlüssel zu Lösung unseres Problems,"
schlug der Kobold vor. Richard nickte nachdenklich. Was war nur bei der
Taufe Besonderes passiert? Es wollte ihm einfach nicht einfallen.
***
Auf Schloss Drachenburg war es ruhig. Der Graf
sprach leise mit seinen Rittern, wandte sich aber dann den Ankömmlingen
zu. Auch Winnimee und der Jungdrache kamen heran.
Richard erläuterte kurz die Situation
und schloss mit den Worten:
"Wenn ich nur wüsste, was so Besonderes
auf der Taufe los war. Es will mir nicht einfallen."
"Aber ich!" riefen Winnimee und Quetzi wie
aus einem Munde. Großmutter und Enkel sahen sich lachend an. Beide
hatten zugleich denselben Gedanken gehabt.
"Die Lösung heißt Hydra!" fuhr
Quetzi fort. "Sie kann kein Feuer speien, ist aber dafür so giftig,
dass es selbst für Janus reichen dürfte. Wir müssen nur
dafür sorgen, dass sie nah genug an ihn herankommt, um ihn beißen
zu können."
"Das ist es!" rief El Pitto Gnomo begeistert.
"Magisches Gift! Dass wir nicht eher daran gedacht haben!"
"Ich fliege sofort los und hole die Hydra!"
fauchte Winnimee erregt. "Jetzt geht es Janus endlich an den Kragen."
Rauschend entfaltete sie ihre ledrigen Schwingen
und hob ab. Schnell war sie den Blicken der anderen entschwunden.
"Jetzt bleibt nur noch die Sache mit dem Traumwächter,"
erinnerte sich Richard. "Weiß jemand, was das überhaupt ist?"
"Natürlich," meldete sich Mischa, der
sich ohne seine Schülerin Jannie tagsüber schrecklich langweilte.
Sein Kumpel George spukte nämlich nur in der Nacht. Tagsüber
versteckte er sich nach Geisterart in den Gewölben der Burg.
"Ein Traumwächter dringt in die Träume
von Schläfern ein und lenkt diese. Man bezeichnet die Traumwächter
deshalb auch häufig als die Herren der Träume."
"Ein Wesen, das Träume lenken kann?"
fragte Richard erstaunt. Davon hatte er noch nie gehört.
"Ja," bestätigte der Jungdrache. "Viele
schwere Krankheiten werden durch schlechte Träume verursacht. Ein
Traumwächter ist in diesem Sinne auch ein Heiler. Leider gibt es nicht
sehr viele, und sie sind sehr teuer."
"Die Alraune sagte, dass du den Traumwächter
suchen und auch du den Preis zahlen musst," sagte Richard.
Der kleine Drache schluckte.
"Wenn es denn das Schicksal von mir verlangt,"
erwiderte er tapfer, "so werde ich es tun müssen. Ich weiß nur
nicht, wo ich den nächsten Traumwächter finden kann."
Alle anderen zuckten auch mit den Schultern.
Die Ritter und ihr Graf hatten noch nie in ihrem Leben von einem derartigen
Wesen gehört und auch Richard und El Pitto Gnomo wussten von nichts.
"Fragen wir den Flaschengeist," schlug der
Graf vor und holte die Flasche hervor.
"Hitzli Putzli, Flaschengeist," sprach er.
"Zeige dich! Sag was du weißt!"
Die Flasche wurde durchsichtig. Das auf und
ab hüpfende Männlein fragte: "Was willst du, Graf?"
"Wo finde ich den nächsten Traumwächter?"
"Was willst du mit einem Traumwächter?"
"Beantworte meine Frage, Geist!" befahl der
Alte. "Noch bin ich dein Herr und Meister. Noch gehört dir meine Seele
nicht. Noch musst du mir gehorchen und nicht ich dir!"
"Schon gut!" gab der Geist zurück. "Ich
halte mich an die Spielregeln. Den nächsten Traumwächter findest
du im Riesengebirge. Er heißt Dommerjahn und er ist sehr teuer. Aber
er ist auch der beste. Genaueres kann ich dir nicht sagen. Frag Rübezahl.
Der kann dich zu ihm führen!"
Damit verstummte der Geist. Die Flasche wurde
wieder milchig.
Der Graf blickte auf.
"Das war’s," sagte er. "Mehr werden wir nicht
aus ihm herausbekommen."
"Rübezahl ist doch der mächtige
Berggeist des Riesengebirges," warf El Pitto Gnomo ein. "War er nicht auch
auf Quetzis Taufe?"
"Stimmt, das war er!" bestätigte der
Jungdrache. "Lass uns keine Zeit verlieren. Ich fliege sofort los."
Der schwarze Junge mit dem roten Haar verwandelte
sich in seine natürliche Gestalt: Einen halbwüchsigen kohlpechrabenschwarzen
Drachen, dessen Schuppen prachtvoll in der Sonne schimmerten.
Den Rittern entfuhr ein achtungsvolles "Ahh"
und "Ohh" als sie den schönen Drachen sahen, der seine kleinen Schwingen
entfaltete und elegant davonflog.
Auf Winnimee und die Hydra mussten sie aber
noch bis zum Abend warten.
In der aufkommenden Dämmerung bot die
Hydra einen derart abscheulichen Anblick, dass auch die Ritter und ihr
Graf eingeschüchtert in der Nähe des Bergfrieds zurückblieben:
Neun unruhig auf Schlangenhälsen hin- und herzuckende Köpfe.
Neun mit nadelscharfen Zähnen gespickte Mäuler, von denen unablässig
ein magisches Gift troff, das jeden Menschen schon beim geringsten Hautkontakt
auf der Stelle getötet hätte. Ein plumper Körper auf kurzen,
stämmigen Beinen. Grosse Flügel und eine schrille Stimme. Das
war die Hydra. Der abscheulichste Drachen aller Zeiten.
"Janus ist da, hörte ich?" kreischte
sie. "Kann den Kerl nicht leiden. Ich bin ihm bisher aber lieber immer
aus dem Weg gegangen. Er ist gefährlich!"
"Sie hat Angst!" entfuhr es einem der Ritter
unbedacht.
"Angst?" kreischte die Hydra. Sie warf ein
halbes Dutzend ihrer Köpfe herum und richtete sie auf die Ritter.
"Wer hat das gesagt?"
Natürlich regte sich keiner der Männer
auch nur um einen Millimeter von der Stelle.
"Selber Angst!" zischte sie. "Scheinbar ist
Janus nicht der einzige, der andere in Stein verwandeln kann. Ihr seid
ja vor Angst wie versteinert. Und ihr wollt Helden sein? Pah!"
Dann wandte sie sich an Richard.
"Lass uns abhauen!" schlug sie vor. "Ich kann
den Anblick dieses feigen Gewürms nicht mehr ertragen."
Richard und El Pitto Gnomo leisteten der Aufforderung
der Drachin Folge. Es war nicht gut, die Hydra zu reizen. Beide kletterten
auf ihren Rücken, und in brausendem Drachenflug ging es zur Lichtung.
***
Dort hatte sich in der Zwischenzeit einiges
getan. Auf der freien Stelle zwischen Wald und Höhle standen wahllos
verstreut einige steinerne Drachenstatuen herum.
Als sie landeten kam ihnen Quatzkotl erleichtert
entgegen.
"Endlich seid ihr da! Wir können uns
nicht mehr lange halten. Janus kommt immer wieder für kurze Zeit aus
der Höhle heraus und verwandelt den einen oder anderen von uns zu
Stein, bis er dem massiven Drachenfeuer nicht mehr widerstehen kann und
sich wieder zurückziehen muss. Auf die Dauer wird er aber den Sieg
davontragen. Wir können ihn nicht ernsthaft verletzen, aber er kann
unsere Zahl dezimieren."
"Das werden wir jetzt regeln!" versprach die
Hydra, die von Richard und dem Kobold während des Fluges gut informiert
worden war. "Jetzt nehme ich die Dinge in die Hand."
Sie wendete sich El Pitto Gnomo zu.
"Du nimmst Drachentöter und einen blank
polierten Schild an dich. Wir werden jetzt zusammen mit den übrig
gebliebenen Erddrachen in die Höhle gehen. Der Rest bleibt draußen
und riegelt den Höhleneingang weiterhin ab. Janus darf die Höhle
nicht mehr verlassen! Haltet den Eingang unter Dauerfeuer!"
Als die Gruppe die Grotte innerhalb der Höhle
erreicht hatte sagte die Hydra:
"Ihr durchkämmt die Gänge und sucht
Janus. Wenn ihr auf ihn trefft, zieht ihr euch sofort in Richtung dieser
Grotte hier zurück. El Pitto Gnomo geht euch voran, um euch zu führen.
Allerdings rückwärts. Dabei wird er den Schild wie einen Spiegel
vor sich halten, so dass er gefahrlos das überblicken kann, was hinter
seinem Rücken vorgeht. Janus Zweites Gesicht wirkt nämlich nur
bei direktem Blickkontakt. Euch droht also keine Gefahr. Der Kobold wird
Janus frühzeitig erblicken. Lasst euch auf keinen Kampf mit dem Dämonen
ein. Reizt ihn mit eurem Feuer. Macht ihn wütend, so dass er seinen
klaren Kopf verliert. Wichtig ist, dass ihr ihn hierher lockt, wo ich ihn
erwarte! Los jetzt!"
Die anderen kamen der Aufforderung der alten
Drachin ohne zu zögern nach. Sie war selbst ihren Artgenossen nicht
ganz geheuer.
Langsam, da El Pitto Gnomo infolge seines
Rückwärtsgehens nicht so zügig vorankam wie sonst, zogen
sie ab. Die Hydra blieb zurück und behielt mit ihren neun Köpfen
die Ausgänge im Blick. Sie war bereit. Sollte Janus doch kommen!
Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.
Die Zeit verrann und nichts geschah.
Da drang mit einem Mal das typische Fauchen
an ihr Ohr, das immer dann ertönte, wenn ein Drache Feuer spie. Das
Theater ging also endlich los. Ihre Freunde hatten Janus aufgespürt.
Nach einiger Zeit verebbte das Fauchen. An seine Stelle trat ein Schleifen
und Poltern, das die Ankunft der Drachen und des Kobolds ankündigte.
Die Hydra machte sich bereit. Voller Anspannung wartete sie auf den entscheidenden
Moment.
Schließlich tauchte der erste Drachenkopf
auf.
"Schnell raus hier!" rief sie ihrem Artgenossen
zu, der dieser Aufforderung nur zu gerne nachkam. So schnell er konnte
polterte der Drache dem Ausgang der Grotte zu und kroch durch den Gang
dem Ausgang der Höhle zu. Die anderen Ungeheuer folgten ihm. Schließlich
trat auch der Kobold aus dem Gang, der die Drachen freigegeben hatte.
"Pass auf!" keuchte er. "Der Dämonenfürst
kommt. Er hat es geschafft, mindestens drei der Drachen zu versteinern.
Er ist ungeheuer mächtig!"
Doch die Hydra hörte schon nicht mehr
hin. Die Fähigkeiten Janus waren ihr bekannt. Sie durfte sich jetzt
nur nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sonst hatte auch sie keine Chance.
Plötzlich bekam der Kobold von hinten
einen so mächtigen Schlag ins Kreuz, dass er wie ein Ball in die Grotte
flog und keuchend auf dem Rücken liegen blieb. Eine schattenhafte
Gestalt löste sich aus dem Gang und betrat die Grotte. Ein Kopf der
Hydra zuckte gedankenschnell vor - war aber bereits zu Stein geworden,
als er auf den Dämonen traf. Dieser wurde zwar durch die Wucht des
Stoßes auf den Boden geworfen, kam aber mit dem Gift nicht mehr in
Berührung.
Jetzt zeigten sich die Qualitäten des
Koboldes. El Pitto Gnomo sprang auf, schwang das Zauberschwert und drang,
den Schild wie einen Sichtschutz vor sich haltend, auf Janus ein. Seine
magische Kampfkraft wurde durch die Magie des Schwertes gesteigert. Fast
schien es so, als wäre das Schwert nur für den Kobold geschaffen
worden. Der Gesang Drachentöters klang unheilvoll durch die Grotte.
Schnell wie ein böser Gedanke und zielstrebig wie ein Pfeil suchte
es sein Ziel. Der Kobold brauchte nur einen Wunsch zu denken, schon reagierte
das Schwert wie von selbst. Ihre magischen Fähigkeiten ergänzten
sich auf wundersame Weise.
Doch Janus beeindruckte das nur wenig. Schnell
und geschmeidig wich er immer wieder den furchtbaren Streichen des Koboldes
aus. Dabei versuchte er wieder und wieder, den Sichtschutz seines Gegners
zu überwinden, um ihm sein entsetzliches Gesicht entgegenzuhalten.
Wie er es dabei noch schaffte, auch der Hydra auszuweichen, blieb ein Rätsel.
Janus war wirklich der mächtigste Dämon seiner Zeit.
Fast schien es, als würden Kobold und
Drache an ihrer Aufgabe zerbrechen. Schon waren fünf Köpfe der
Hydra zu Stein geworden, da passierte es: Janus stolperte über einen
Stein und strauchelte. Für den Bruchteil einer Sekunde war er darin
überfordert, gleichzeitig auf sein Gleichgewicht zu achten und den
Kobold und die Hydra nicht aus den Augen zu verlieren. Einen Moment lang
übersah er die noch aktiven Köpfe der Hydra. Drei zahnbewehrte
Mäuler zuckten heran. Drei giftsprühende Gebisse schnappten zu.
Ein abgrundtiefer Schrei drang aus dem Mund des Dämons. Sein Zweites
Gesicht verlor seine entsetzliche Aura. Es erlosch wie ein Licht, das der
Wind ausbläst. Janus drehte sein normales Gesicht nach vorne. Unendliche
Qual und Pein stand in ihm geschrieben.
"Bei allen Dämonen und Ausgeburten der
Hölle! Helft mir!" heulte er. "Das Gift der Hydra! Es glüht in
mir. Es verbrennt mich! Nein, dieser Schmerz! Ich halte es nicht aus!"
Dabei wand er sich am Boden wie eine verrücktgewordene Schlange.
El Pitto Gnomo hob sein Schwert, um es in
einem letzten, entscheidenden Schlag auf den Kopf des Dämons niederfahren
zu lassen. Doch die Hydra hielt ihn zurück.
"Lass ihn!" befahl sie. "Dein Schwert wird
ihn nicht töten. Mein Gift auch nicht! Janus ist nicht zu töten.
Er ist unsterblich wie das Universum selbst. Aber er wird diese Schmerzen
bis in alle Ewigkeit zu ertragen haben. Es gibt kein Gegenmittel. Das soll
die Strafe für alle seine Untaten sein!"
***
Sie ließen den hilflosen Janus in der
Grotte liegen und machten sich auf den Weg nach oben, wo sie ihren Verbündeten
über den Ausgang des Kampfes berichteten. Mit Hilfe der Ritter aus
der Burg und dem Rest der ehemals so großen Truppe durchsuchten sie
die Höhle und fanden schließlich Janus' Sammlung versteinerter
Menschen und Drachen. Als sie die letzte Statue ans Licht des Tages holten,
war Janus verschwunden. Er hatte sich wohl mit dem letzten Rest seiner
Zauberkraft in sein Höllenreich zurückgezogen. Alle waren erleichtert.
Nur Richard weinte, als er seine geliebte Tochter Jannie sah.
"Hoffentlich hat dein Sohn Erfolg!" flüsterte
er. Quatzkotl nickte.
"Er muss!" sagte er.
***
Quetzalkoatlus war unterdessen unterwegs, um
den Traumwächter zu suchen. Der Jungdrache war ein entschlossener
kleiner Kerl, dem es gewiss nicht am nötigen Mut fehlte, um seine
wichtige Mission erfolgreich zu Ende zu führen. Dennoch war ihm ein
wenig bang ums Herz. Schließlich war er zum ersten Mal in seinem
Leben allein und ausschließlich auf sich selbst gestellt unterwegs.
Nach zwei Tagen erreichte er das Riesengebirge,
in dem der mächtige Berggeist Rübezahl herrschte. Wie sollte
er mit Rübezahl Kontakt aufnehmen?
Quetzalkoatlus dachte nicht groß darüber
nach, wie er den Herrscher dieses Gebietes am besten rufen sollte, sondern
verhielt sich so, wie es junge Drachen in seinem Alter eben tun:
"Hey! Berggeist! Ich will mit dir sprechen!
Zeige dich!" rief er laut als er über die Berggipfel flog. Doch Rübezahl
ließ sich nicht blicken.
Schließlich wurde es dem kleinen Kerl
zu bunt. Geduld ist nicht gerade die Stärke der Jugend. Und schon
mal gar nicht die junger Drachen.
"Komm raus aus deinem Versteck, du alter Knochen!
Ich muss mit dir sprechen. Weißt du nicht, mit wem du es zu tun hast?"
Da meldete sich der Berggeist - und seine
Antwort war nicht von schlechten Eltern. Der Drache bekam eine so gewaltige
Maulschelle, dass er seinen Flug abrupt unterbrach und zu Boden ging. Japsend
schnappte er nach Luft.
"He!" rief er empört. "Wer wagt es..."
Seine Worte wurden von einer erneuten Maulschelle
unterbrochen, die es ebenfalls in sich hatte.
Quetzi hielt es für das beste, zunächst
einmal den Mund zu halten. Wer immer da zuschlug: Seine Schläge schmeckten
nicht besonders.
Jetzt zeigte sich der Berggeist auch. Er hatte
die Gestalt eines Riesen angenommen, der selbst die höchsten Berggipfel
des Riesengebirges überragte.
"Du ungezogener Lümmel!" schimpfte er.
"Was fällt dir ein, dich dermaßen schlecht zu benehmen! Ich
kenne deinen Vater recht gut. Er würde dein Verhalten niemals billigen.
Bedenke, dass du ein Königssohn bist und ein entsprechendes Verhalten
erwartet wird."
Der Berggeist tobte noch eine ganze Weile
herum, bis sein Zorn verraucht war.
"Entschuldige bitte," gab der Drache kleinlaut
bei. "Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich wusste nur nicht, wie ich mit
dir in Kontakt treten sollte."
"Wenn du dich zu benehmen wüsstest, dann
hättest du schon die richtigen Worte gefunden, Bengel!" dröhnte
Rübezahl. "Es wird Zeit, dass dir jemand Benimm beibringt."
Quetzalkoatlus schwieg betreten. Er war über
seine Fehler genau im Bilde. Schließlich ermahnten ihn seine Eltern
oft genug, nicht so grob zu Jannie zu sein oder mehr Ordnung zu halten.
"Ich meine es doch nicht böse!" sagte
er betrübt. "Ich bin eben so!"
"Schon gut!" knurrte der Herr des Riesengebirges.
"Deine Abreibung hast du jetzt erst einmal weg. Der Rest wird auch noch
kommen. Was führt dich her?"
Quetzi erzählte ihm, was geschehen war.
"Hmm!" brummte der Berggeist. "Das hört
sich nicht gut an! Zum Glück lebt Dommerjahn nicht weit von hier.
Ich werde dich zu ihm bringen. Mehr kann ich aber nicht tun. Du musst ihn
selbst dazu bringen, den Auftrag anzunehmen. Traumwächter sind in
dieser Beziehung heikel. Ein falsches Wort und sie sind beleidigt. Sieh
dich also vor!"
***
Dommerjahn lebte in einem kleinen Versteck
im Wurzelgeflecht einer riesigen Tanne. Er wirkte unscheinbar, als sei
er irgendein weißhaariger alter Gnom. Nichts wies darauf hin, dass
er einer der geheimnisvollen Traumwächter war.
Rübezahl stellte den kleinen Drachen
kurz vor und schilderte dessen Anliegen. Danach löste er sich in Luft
auf. Quetzi war auf sich allein gestellt.
Der Gnom hob den Kopf und sah dem Drachen
tief in die Augen. Diesem wurde ganz seltsam zumute, denn Dommerjahns Augen
waren groß und schwarz und übten eine seltsame Anziehungskraft
aus. Gerade so, als wollten sie ihn in sich hineinziehen.
Nach einer geraumen Weile sprach der Traumwächter.
"Ich habe gesehen, dass du ein gutes Herz hast. Also werde ich deine Bitte
erfüllen, wenn du bereit bist, den Preis zu zahlen."
"Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, wenn
ich dadurch meinen Freunden helfen kann," erwiderte der kleine Drachen
mit fester Stimme aber bebendem Herzen, denn der Gnom war ihm unheimlich.
"Der Preis wird hoch sein, Letzter König!"
betonte der Gnom. "Überlege dir deine Antwort gut, denn es gibt keinen
Weg zurück mehr für dich, wenn du dem Handel einmal zugestimmt
hast."
"Ich bin der Einzige, der allen Versteinerten
ihr Leben zurückgeben kann. Ich muss mich selbst verachten, wenn ich
es nicht tue! Der Handel gilt!"
"Gut! So sei es!" rief der Traumwächter
und erhob seine Arme. "Folgender Handel soll gelten zwischen mir und dem
Letzten König der Magie, dem Sohn des Drachenkönigs Quatzkotl,
dem Enkel Pergotzkatls, des Schwärzesten der Schwarzen, und dem Patenkind
der gräulichen Hydra: Es gilt, die versteinerten Opfer des Dämons
Janus aus ihrer Erstarrung zu erlösen. Für diesen Dienst wird
mir Quetzalkoatlus siebenmal dreizehn Jahre dienen. Wenn er diesen Dienst
zu meiner Zufriedenheit abgeleistet hat, wird er frei sein. Wird er aber
diesen Dienst nicht zu meiner Zufriedenheit ableistet, so wird er mir weitere
sieben mal sieben Jahre dienen und dann weitere sieben mal sieben Jahre
und so fort, bis in alle Ewigkeit, bis aus ihm ein Drache geworden ist,
der zu Recht den Namen ‘Der Letzte König’ tragen wird!"
Jedes Wort Dommerjahns traf Quetzalkoatlus
wie ein Keulenschlag. Er hatte keine Vorstellungen davon gehabt, was der
Preis für die Dienste des Traumwächters sein könnte. Damit
hatte er aber auf keinen Fall gerechnet. Für fast hundert Jahre sollte
er Diener des Gnoms sein. Mindestens! Dies war ein wahrhaft hoher Preis.
***
Der Gnom setzte sich auf den schmalen Rücken
des kleinen Drachens. Gemeinsam flogen sie zurück ins Siebengebirge
und trafen nach zwei Tagesreisen auf der Lichtung im Wald ein.
"Das wird ein hartes Stück Arbeit," brummte
Dommerjahn, als sie eine Runde um den Platz drehten. "Janus hat sich ja
ganz schön ausgetobt! Ein Dutzend Drachen und jede Menge Ritter, Zwerge
und Kobolde. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät."
"Wieso zu spät?" wollte Quetzi wissen.
"Janus Zweites Gesicht schenkt böse Träume.
Das heißt, dass der magische Schock, der jeden trifft, der Janus
Zweites Gesicht sieht, einen tiefen Alptraum auslöst. Dieser Traum
ist so tief, dass niemand von selbst wieder aus ihm erwachen kann. Ich
versenke mich in die Scheinwelt des Träumers, werde Bestandteil des
Traumes und führe ihn wieder zurück in die reale Welt. Das kann
ich aber nur, wenn der Traum noch nicht zu lange gedauert hat."
"Heißt das, dass du unter Umständen
nicht mehr alle Versteinerten wiederbeleben kannst?"
"Leider ja! Auch meine Macht hat ihre Grenzen,"
gab der Gnom zu.
Als sie landeten, kam Quatzkotl gleich auf
sie zu.
"Sei uns willkommen, Traumwächter," grüßte
er höflich und neigte seinen langen Drachenhals. "Es ist uns allen
eine Ehre, einen Traumwächter bei uns zu haben. Wenn du einen Wunsch
haben solltest, dann äußere ihn. Wir sind bereit, dir zu Diensten
zu sein."
Quetzalkoatlus war völlig konsterniert,
seinen Vater so demutsvoll sprechen zu hören. Sonst war er einen anderen
Ton gewohnt. Der Traumwächter musste unter den magischen Wesen trotz
seiner unscheinbaren Gestalt einen sehr hohen Rang einnehmen.
El Pitto Gnomo, der die Reaktion des Jungdrachen
wohl bemerkte, zog diesen ein wenig an die Seite.
"Was hast du?" fragte er.
"So habe ich Papa noch nie erlebt," bekannte
dieser. "Er ist doch König der Drachen. Sogar die Elfen, Zwerge und
Kobolde sind seinem Ruf gefolgt. Vor Dommerjahn aber dienert er ja geradezu!"
"Das hat auch seinen Grund," erklärte
der Kobold. "Drachen, Kobolde und die anderen Wesen, die du bis jetzt kennengelernt
hast, besitzen eine relativ einfache Magie. Drachen können Feuer speien,
sind groß und stark. Das ist nichts Besonderes! Die anderen sind
aus magischer Sicht noch viel einfacher gestrickt. Darum nehmen die Drachen
unter den einfachen magischen Wesen bereits eine Sonderstellung ein. Die
Weiße Alraune dagegen kennt alle Antworten und alle Fragen dieser
Welt. Ihre Magie ist weitaus mächtiger und vielschichtiger. Darum
begegnen wir ihr alle auch mit größter Hochachtung. Bei den
Traumwächtern ist es ähnlich. Sie kennen alle Träume und
die tiefsten Abgründe der Seele. Sie sind so wie die Weiße Alraune
anzusehen und genießen deshalb höchstes Ansehen bei uns. Je
größer und vielfältiger die magische Macht, umso größer
das Ansehen bei den magischen Wesen. Verstehst du das?"
Der Jungdrache nickte zweifelnd. Er hatte
Schwierigkeiten einzusehen, dass ein unscheinbarer Gnom wie Dommerjahn
in höherem Ansehen stehen sollte als sein Vater Quatzkotl, der ein
mächtiger und starker Drache war. Er war wohl noch zu jung, um zu
begreifen, dass geistige Fähigkeiten höher anzusehen waren als
alle physische Kraft.
Der Traumwächter hatte sich unterdessen
an die Arbeit gemacht. Er setzte sich neben die versteinerte Jannie, legte
eine Hand auf ihren Kopf und konzentrierte sich. Bereits nach wenigen Minuten
zeigten sich erste Veränderungen. Die Versteinerung bildete sich langsam
zurück. Es dauerte nicht lange, da schlug sie die Augen auf.
"Wo ist Janus?" fragte sie erstaunt, als sie
sich zurechtgefunden hatte.
Der Traumwächter beruhigte sie:
"Es ist alles in Ordnung. Janus ist besiegt.
Durch den Biss der Hydra wird er bis an das Ende aller Zeiten unter qualvollen
Schmerzen leiden. Es gibt keine Heilung für ihn. All seine magische
Macht wird ihm nichts nützen. Er ist verloren für immer und ewig."
"Ist das nicht eine zu harte Strafe?" Jannies
gutes Herz regte sich.
"Er hat die Strafe bekommen, die ihm das Schicksal
auferlegt hat," erläuterte der Traumwächter. "Das Schicksal ist
nicht immer gerecht. Aber ich glaube, dass Janus die ihm zustehende Strafe
bekommen hat."
"Eines verstehe ich immer noch nicht," bekannte
Jannie. "Janus hatte mich in seiner Gewalt und mir soweit ich weiß
mindestens einmal über das Haar gestrichen. Er hätte Dank meines
Glücks die Auseinandersetzung gewinnen müssen."
Der Gnom lächelte weise.
"Auf gar keinen Fall, mein Kind! Die Magie
deines Haares ist nicht so simpel wie du denkst. Wenn ein böses Wesen
gegen deinen Willen über dein Glückshaar streicht, so wird es
von da an vom Pech verfolgt! Selbst Janus' mächtige Magie vermochte
sich nicht gegen die Wirkung deines Haares durchzusetzen. In den entscheidenden
Momenten des Kampfes, immer dann, wenn es auf das berühmte Quentchen
Glück ankam, hat er Pech gehabt. Das Unglück begann für
ihn schon, als Cillie dein Haarband vor der Höhle fand. Von da an
wussten deine Freunde, wo sie dich suchen mussten. Ohne dein Haarband hätten
sie dich nie gefunden und Janus hätte sich mitsamt seiner Beute unbehelligt
aus dem Staub machen können. Das Unglück setzte sich fort, als
er durch Drachentöter eine Wunde geschlagen bekam, die dann zusätzlich
noch mit dem Drachenfeuer Leviathans in Berührung kam. Sie heilte
schlecht und schränkte seine Beweglichkeit ein. Als dann im entscheidenden
Moment der Stein in seinem Weg lag, war es dann passiert: Straucheln, Fallen,
Biss. Ende der Geschichte!"
Jannie sah den Gnom mit großen Augen
an.
"Dann war ich der Grund dafür, dass Janus
besiegt wurde?"
"Ja, sein entscheidender Fehler war es, dich
zu entführen!" bestätigte der Traumwächter.
Dommerjahn stand auf, um sich zum nächsten
Opfer Janus' zu begeben. Doch Jannie hatte noch etwas auf dem Herzen.
"Dommerjahn," rief sie ihm nach. "Ich kenne
da einen alten Grafen. Und der..."
"Ich weiß schon," schmunzelte der Traumwächter.
"Du willst auch ihm helfen. Ich glaube zwar, dass er sein Schicksal ebenso
verdient hat wie Janus das seine, denn ein Mensch, der seine unsterbliche
Seele des Geldes wegen verkauft, muss die Folgen tragen. Aber, da du für
ihn bittest..."
Er zögerte einen Moment.
"Sei’s drum!" gab er sich einen Ruck. "Es
gibt eine einfache Lösung für das Problem. Die Regel verlangt,
dass der Graf die Flasche billiger verkauft, als er sie selbst gekauft
hat. Wenn du nachdenkst, wird dir jemand einfallen, der als Käufer
in Frage kommt. Die Lösung ist so nahe liegend, dass du auf sie kommen
wirst. Vor allem, da du jetzt weißt, dass es sie gibt! Denk nach!"
Mit diesen Worten wandte er sich dem nächsten
Träumer zu.
***
Jannie wurde nun von ihrem Vater und ihren
Freunden kräftig gedrückt und geküsst. Fast schien es, als
wollten sie sie mit ihrer Liebe erdrücken. Jannie ertrug die Prozedur
so tapfer, wie es sich gehörte, war aber nicht ganz bei der Sache.
"Was bist du so nachdenklich?" wollte Richard
wissen.
Jannie sagte es ihm.
"Der Traumwächter sagte, es gäbe
eine Lösung für des Grafen Problem. Ich komme aber nicht drauf.
Er betonte, dass es ausschließlich ums Geld ginge: Billiger verkaufen
als einkaufen. Eine andere Regel gäbe es nicht. Ich weiß nicht,
wo da die Lösung sein sollte."
"Ihr habt eben alle keine Ahnung!" brummte
da eine wohlbekannte griesgrämige Stimme. "Dazu brauche ich noch nicht
einmal meinen Topf anzuheizen."
Merling war wieder unter ihnen! Dommerjahn
hatte auch ihn aufgeweckt. Der alte Magier sah die Freude in den Gesichtern
seiner Freunde und streckte beide Ärmchen von sich.
"Ich bitte von Gunstbezeugungen, Liebesschwüren
und sonstigem Unsinn Abstand zu nehmen!" rief er.
Merling war eben ein äußerst ungeselliger
Mann. Doch es half ihm nichts. Sekunden später lag er unter einer
dichten Traube von Leuten begraben, die ihn begrüßen wollten.
Als sich alle wieder beruhigt hatten und sich der Staub verzogen hatte,
lag Merling ächzend auf dem Boden.
"Mein Gott! Dass ich so beliebt bin, hätte
ich nicht gedacht!" stöhnte er, freute sich aber doch.
Schließlich rappelte er sich auf.
"Also, das mit dem Flaschengeist des Grafen
geht so: Die Flasche muss für weniger Geld verkauft werden, als sie
eingekauft worden ist. Wer sagt denn nun, dass der Käufer der Flasche
eine Seele besitzen muss?" grinste Merling.
"Und!" strahlte Jannie, der ein Licht aufging,
"wer sagte denn, dass der Käufer sterblich sein muss?"
"Das ist es!" riefen alle im Chor. Und allen
schwebte auch schon ein Käufer vor.
***
Am Abend musste Dommerjahn eine Pause einlegen.
Er war erschöpft und brauchte Ruhe. Alle zogen sich auf die Burg zurück,
wo Richards Gemahlin schon ein großes Fest organisiert hatte. Ein
Dutzend Mastochsen briet an Spießen. Bier und Wein gab es in Hülle
und Fülle. Für jeden gab es genug und gleich zu Beginn der Feier
wurde die Flasche mit Hitzli Putzli verkauft: An Mischa das Skelett, der
die Flasche dem Grafen für einen Heller abkaufte. Auch das Schwert
Drachentöter fand einen neuen Besitzer. Gandolf Wichmann überreichte
es persönlich dem, der es als einziger verdiente: El Pitto Gnomo.
"Nimm es hin, mein Freund und Waffenbruder!"
sagte er feierlich. "Vor Jahrhunderten geschmiedet ist es jetzt am Ziel
seiner Reise angelangt. Nur mit dir und deiner magischen Kraft wird es
seine volle Macht entfalten und seine Erfüllung finden."
El Pitto Gnomo nahm das einmalige Geschenk
gerührt entgegen. Ihm fehlten die Worte, seine Gefühle zu offenbaren.
Aber in seinen Augen standen Tränen.
Als die Weinbecher ihre ersten Runden gedreht
hatten und die Stimmung immer lustiger wurde, zog Quatzkotl sich auf den
Bergfried zurück und blickte über den Rhein und das fruchtbare
Tal. Ihm war wehmütig ums Herz.
"Mach dir keine Sorgen um unseren Sohn! Er
wird nun langsam erwachsen werden!"
Das war Cillie, seine Gemahlin, die sich zu
ihm gesellte.
"Eigentlich mache ich mit keine echten Sorgen,"
erwiderte Quatzkotl. "Mich betrübt nur der Gedanke an die Trennung.
Ich liebe den Jungen sehr und mein Herz tut mir weh bei dem Gedanken, ihn
nicht mehr jeden Tag um mich haben zu können."
"Das ist das Schicksal aller Eltern," gab
die Hexe zurück. "Aber ich habe ein gutes Gefühl. Dommerjahn
ist weise. Er wird unserem Sohn in den kommenden 91 Jahren ein strenger
aber auch ein gerechter Lehrmeister sein. Quetzi mag ihn! Das habe ich
schon gemerkt. Außerdem: Was sind schon 91 Jahre für uns Drachen
und Hexen! Wie im Fluge werden sie vorübergehen."
"Ich mache mir keine Sorgen," antwortete Quatzkotl.
"Ich bin nur traurig!"
So standen sie da, der Drachenkönig und
die Hexe, blickten in die Nacht hinaus und dachten nach über die Zeit,
die da kommen würde. An die Zeit, in der sie selbst alt sein würden
und ihr Sohn Quetzalkoatlus seine Herrschaft als der letzte aller Drachenkönige
antreten würde. - Aber das wird eine ganz andere Geschichte.
© W. H.
Asmek
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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