Lucres fuhr sich durch sein schneeweißes Haar und ächzte.
Adriel saß neben ihm auf einem umgefallenen Baumstamm, ihren Rucksack
fest an ihren Körper drückend. Verloren starrte sie auf die moosbewachsene,
schlammige Erde vor ihren Füßen.
"Sag, wo kommst du eigentlich her, Lucres?" fragte das Mädchen.
"Hm? Ich? Also..."
Lucres seufzte deprimiert.
"Ich weiß es nicht."
"Du weißt es nicht?"
Adriel starrte ihn ungläubig an.
"Ja, leider. Ich weiß nicht, wo ich herkomme, ich weiß
nicht, wer genau ich bin, ich kenne meine Eltern nicht und erinnere mich
an überhaupt nichts mehr!"
Die letzten Worte quollen mit einem wütenden Unterton vermischt
aus Lucres Mund hervor. Adriel glotze ihn immer noch verstört an.
"Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder?"
"Doch, der ist es, glaub mir. Ich bin vor..."
Lucres stockte kurz, bis er den Faden wiedergefunden hatte.
"...zwei Tagen im Wald aufgewacht, seitdem weiß ich nichts
mehr über mich."
"Wenn das stimmt, ist das wirklich ein schreckliches Schicksal..."
Bei diesen Worten musste Adriel an den Verlauf ihres eigenen Lebens
denken, wurde doch gerade ihre Heimat zerstört und ihr Ziehvater getötet.
Die Tränen unterdrückend biss sich Adriel auf die Lippen.
"Ich habe es mir nicht ausgesucht", meinte Lucres und hockte sich
schließlich auf einen flechtenüberwucherten Stein und vertrieb
so eine kleine, haarige Raupe, die es sich wohl gerade in dem grünlichen
Flaum bequem machen wollte. Für eine kurze Zeit war es jetzt leise,
beide schwiegen und starrten gedankenverloren Löcher in die Luft.
Schließlich brach Adriel die erdrückende Stille.
"Weißt du, als ich jung war, hab ich immer davon geträumt,
später mal auszuziehen und Abenteuer zu erleben. Wie ich mir das immer
ausgemalt habe... Dass ich mit einem tapferen Ritter herumreise und das
Land vom Bösen befreie... Aber jetzt, da ich wirklich herumziehen
muss, erscheint mir das alles nicht mehr wie eine schöne und aufregende
Sache, sondern eher wie ein Albtraum, aus dem man lieber aufwachen möchte.
Früher war es doch am schönsten, als ich mir die Geschichten
meines Vaters angehört und seine Eintragungen im Buch gelesen habe..."
Bei diesen Worten öffnete Adriel ihren Rucksack und zog den
dicken Folianten heraus.
Lucres besah sich das Buch fasziniert. Wie prachtvoll es war!
Auf dem dicken, dunkelledernen Einband schlängelten sich goldene
und kupferne Linien in vollendeten Formen, überall sprossen glitzernde
Kurven auf dem Leder, und neben diesen beschrieben weitere funkelnde Streifen
ein prächtiges Muster.
Hier und da war der Einband auch mit Edelsteinen besetzt, rote und
blaue und weiße, vollendet geschliffen und in eine wunderschöne
Form gebracht, die das Sonnenlicht einfingen und es in einem schillernden
Spiel aus bunten Farben wieder freigaben.
Zwischen den güldenen Ranken erhoben sich aufgemalte Wesen
stolz, es waren Drachen und Lindwürmer, Greifen und Einhörner,
Engel und Teufel. All dies bildete ein komplexes Bild, das, wenn es sprechen
könnte, wohl berichten würde von legendären Schlachten,
Gefechten zwischen Gut und Böse, stolzen Zeiten des Wohlstands und
auch Epochen der Not und des Leids.
Über all dem thronte in weißlich-silbernen, verschlungenen
Buchstaben, gestützt von majestätischen, geflügelten Wesen
und umrankt von goldenen Linien ein Wort, der Titel des Folianten: "Magnus".
Behutsam löste Adriel das samtrote Band, welches das Buch umschlang,
und schlug Magnus auf. Die Zeilen waren in altertümlicher Schrift
verfasst, kurvig und schnörkelig, aber gleichzeitig auch vollendet
und graziös. Sorgsam blätterte Adriel die Seite um, und auf der
Nächsten war alles schon eher neuzeitlicher verfasst, doch trotzdem
noch sorgfältig auf das Papier geführt.
Die nächste Seite offenbarte ein großes Bild, es stellte
einen gewaltigen, onyxschwarzen, glatten Steinpfeiler da, der von feinen,
goldenen Linien überzogen war, die sich über ihn legten wie ein
Spinnennetz. Das imposante Gebilde stand inmitten eines verschneiten Plateaus,
und dunkle Rauchwolken umkreisten den schwarzen Stein wie eine finstere
Schlange, die genüsslich ihr Opfer verschlang.
Unter der Zeichnung war wieder in uralter Schrift etwas geschrieben:
"Necray Farawanar". Den Text unter diesem Wort konnte man nicht erkennen,
es war wohl eine längst vergessene Sprache, die in diesem Buch einen
Zufluchtsort gesucht hatte.
Lucres´ Atem wurde schwer. Dieses Bild löste in ihm irgendetwas
aus, was genau, wusste er nicht, doch der schwarze, rauchumschlungene Pfeiler,
der sich aus dem Schneetreiben um ihn herum so imposant erhob, ließ
so etwas wie Wut in ihm entstehen.
Lucres konnte nicht verstehen, warum er plötzlich zornig wurde.
Ein Teil von ihm schien diese Zeichnung zu verabscheuen, zu hassen.
"Was ist das?" fragte er Adriel.
"Das?"
Langsam glitt der Finger des Mädchens über die Seite,
bis er das Wort "Necray" berührte.
"Vater hat mir immer erzählt, dass diese Steinpfeiler, die
Necrays, ein Verbannungsort sind. Mehr hat er mir nie darüber erzählt,
außer dass jeder Necray seinen eigenen Namen hat, und dass es nur
sehr wenige davon auf der ganzen Welt gibt, weil sie nur von mächtigen
Zauberern erschaffen werden können."
"Ein Verbannungsort", dachte Lucres noch einmal, doch dann schlug
Adriel das Buch zu und verschnürte es wieder mir dem samtenen Band.
Behutsam ließ das Mädchen den prächtigen Folianten wieder
in ihren Rucksack gleiten.
"Wir sollten uns langsam auf den Weg machen", stellte sie fest,
"die Hauptstadt ist nur ein paar Tagesreisen entfernt."
Lucres nickte nur abwesend. Der Gedanke an dieses Buch ließ
ihn nicht los, an die Schrift, an das Bild, das diese seltsame Wut in ihm
ausgelöst hatte. Er musste Magnus noch einmal genauer durchsehen.
"Kommst du jetzt?" hörte er Adriels Ruf.
Lucres erhob sich langsam von dem flechtenbewachsenen Stein, auf
dem er saß und wandte sich Adriel zu.
"Also, gehen wir", meinte er seufzend, umklammerte noch kurz den
Griff seines Schwertes und trat dann über das brüchige Pflaster
der Straße den Hügeln im Norden entgegen.
* * * * * * * *
In dieser Nacht konnte Lucres kein Auge zu tun. Immer wieder rissen
ihn wirre Gedanken und die Erinnerungen an das Buch Magnus aus dem Halbschlaf,
bis er es schließlich aufgab, sich ins Traumland entführen zu
lassen. Ächzend stützte Lucres sich ab und richtete sich langsam
auf. Unbewusst wanderte sein müder Blick zu Adriels Rucksack, der
neben dem fest schlafenden Mädchen im Gras lag. Zähneknirschend
schlich er auf Adriel zu, den Blick immer noch auf das im Leder versteckte
Buch gerichtet. Zögernd sah er das Mädchen an. Sie wirkte so
unschuldig und friedlich im Schlaf, als hätte sie auf der Welt keine
Probleme und Sorgen.
Schließlich öffnete Lucres mit schlechtem Gewissen den
Rucksack und zog den prächtigen Folianten heraus. Wie schwer er war!
"Arme Adriel", dachte er sich, "immer dieses Buch herumschleppen
zu müssen ist wohl nicht gerade einfach."
Schließlich glitten seine Finger fast liebevoll über
den reichlich verzierten Ledereinband und über die silbrig-weißen
Buchstaben darauf. Dann öffnete er das rote Samtband und schlug Magnus
auf. Das Papier raschelte, als wollte es sich Lucres widersetzen.
Fast die ganze erste Seite war mit einem riesigen, hellsilbernen
"M" ausgefüllt, um das sich wild eine lange Ranke grünen Efeus
schlängelte, dessen Enden zu güldenen Löwenköpfen verformt
waren.
Die zweite Seite war im Gegensatz dazu wesentlich informativer.
Lucres hatte Schwierigkeiten, die verschnörkelte Schrift zu lesen.
Der Orden Magnus. Bund der Befreier. Bündnis der Krieger. Licht
in der Nacht.
Gegründet im zweiundzwangisten Jahr des goldenen Löwen
vom glorreichen Streiter Delenois Seymur, dem Bezwinger der vier Plagen.
"Vor etwa achthundert Jahren also..." murmelte Lucres vor sich hin.
Auf den ersten paar Seiten war die Geschichte dieses Ordens aufgeschrieben,
der sich anscheinend der Bekämpfung von Dämonen und anderen Bedrohungen
verschrieben hatte.
Nach dem Triumph über die vier Plagen rief Delenois Seymur
den Bund ins Leben, um sein ganzes Leben der Bekämpfung des Unheils
zu widmen.
Lucres überflog die Zeilen nur noch, bis er wieder zu einem
interessanteren Teil kam.
Die vier Plagen, Brüder des Todes und Fürsten unter den
finsteren Mächten, bezwungen und gebannt von Delenois Seymur.
Der Brennende, der Feuervogel, der wütende Vernichter, der
Bote der Hölle.
Der Steinerne, der Stille bringende Verzehrer, der alles verschlingende
Felr.
Der Formlose, der leuchtende Schrecken, der Bringer des Unheils
und des Todes.
Der Herrschende, der, der die Leere bringt, der Unheilige, der Kontrollierende.
Einst rasend und unaufhaltsam, nun auf ewig gefangen im Hain der
Unreinheit, im schwarzen Stein, dem Necray Farawanar.
Lucres stockte. Rasant blätterte er um, bis er fand, was er
gesucht hatte. Das Bild des onyxfarbenen Pfeilers, des Necray Farawanar.
"Ein Verbannungsort..." wisperte er.
Dann schlug er das Buch zu und steckte es Adriel wieder in den Rucksack.
"Ein Verbannungsort..."
Mit diesen Worten auf den Lippen schlief Lucres ein. Es war eine
leere, traumlose Nacht.
* * * * * * * *
Der Monolith erstrahlte in dieser Nacht in unheimlichem Licht, und
die dunklen Rauchschwaden, die ihn umgaben, verflüchtigten sich langsam.
Die feinen, goldenen Linien auf dem schwarzen Stein leuchteten auf
und begannen zu pulsieren. Das Plateau wurde in ein vielfarbiges, unnatürliches
Licht getaucht.
Dann begann es zu beben. Der ganze Berg wackelte, und Steine und
Eis lösten sich und krachten hinunter. Wie Donner grollte das schreckliche
Beben.
Immer heller strahlten die goldenen Adern des Steins, das gleißende
Licht verschlang gierig die Dunkelheit der Nacht. Wie Peitschenhiebe schnitt
es tiefe Narben in den schwarzblauen Nachthimmel.
Dann zog sich das ganze, güldene Licht wieder zusammen zu einer
einzigen zweiten Sonne, die gleich darauf in einer gewaltigen, strahlenden
Explosion zerbarst. Darauf folgte wieder die Dunkelheit. Die kleinen, pulsierenden
Linien auf dem Monolithen leuchteten nur mehr unscheinbar, und auch das
Beben hatte abrupt aufgehört. Alles schien so zu sein wie vorher,
bis auf die Tatsache, dass nun plötzlich drei schattenhafte Gestalten
auf dem Plateau standen.
Ihre Augen glühten bedrohlich, und der schwarze Rauch, der
sich vor dem Aufflackern es goldenen Lichtes noch um den Monolithen geschlängelt
hatte, zog nun seine Bahnen um die Wesen, die soeben erschienen waren.
Um die Schatten herum war der gesamte Schnee geschmolzen, und auch
um den Monolithen herum hatte sich alles Eis verflüssigt.
"Die Kraft ist gebrochen", ertönte nun die krächzende
Stimme der ersten Gestalt.
"Nein. Nicht ganz", erwiderte der danebenstehende Schatten und deutete
mit seinem rauchumzogenen Finger auf den Monolithen.
"Er steht noch. Der Necray ist nicht zerstört."
"Seht nur, was mit uns passiert ist!" rief das dritte Wesen angewidert.
"Unsere Körper sind noch da drinnen!" keifte die Stimme erbost.
"Wir brauchen Saerym", meinte die erste Gestalt nun.
"Du hast Recht. Aber jetzt, da der Necray uns freigegeben hat, können
wir ihn vielleicht schneller zu uns holen."
Die Gestalten schienen zu lachen. Dumpf und gefühllos scholl
das Gelächter den Berg hinab.
"Lasst uns gehen."
© Rubaan
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